Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1. Im Land der Armut

Es war Samstagmittag vor Fastnacht.

Draußen, hart am Waldrand und fast eine halbe Wegstunde vom Dorf Hohenthal entfernt, erhob sich auf steiler Halde eine finstere, rußgeschwärzte Gebäudemasse, in deren Mitte eine rauchende Esse zum Himmel ragte: das Kohlenbergwerk ›Gottes Segen‹.

Eine Glocke läutete – die Schicht war zu Ende. Im Förderhaus wurde der Personenaufzug mit der Maschine gekoppelt, und bald entstieg dem schwarzen Schlund eine Schar kohlenstaubbedeckter Männer, die seit Mitternacht tief unter der Erde gearbeitet hatten, um an der Oberwelt ihr Leben fristen zu können. Andre fuhren an ihrer Stelle ein.

In den ärmlichen Dörfern des sächsischen Erzgebirges wohnen gläubige Leute. Die Männer der Feierschicht sammelten sich um den Steiger und falteten die Hände. Er sprach ein kurzes Dankgebet, daß Gott sie während der letzten zwölf Stunden gnädig beschützt hatte, und dann stimmten die rauhen Kehlen ein Kirchenlied an;

»Was Gott tut, das ist wohlgetan –
so wollen wir stets schließen.
Ist gleich bei uns kein Kanaan,
wo Milch und Honig fließen,
so wird von Gott doch unser Brot
zur G'nüge dem bescheret,
der ihm traut und ihn ehret.«

Als das letzte Wort verklungen war, begaben sich die Leute zum Zahlmeister, um sich den Wochenlohn zu holen.

Nur einzeln durfte man in das Zimmer des Beamten kommen. Er war ein wortkarger, menschenfeindlicher Mann, der jedem Eintretenden das Geld schweigend hinschob und ihn dann mit einem barschen Wink verabschiedete. Darum fiel es auf, daß er heute die Knappen nach dem Lohnempfang aufforderte, vor dem Haus, zu warten.

Es war bitterkalt; der Schnee lag über einen Meter hoch und fiel noch immer in dichten Flocken. Die Leute zitterten; ihre dünne Kleidung gewährte nicht genügend Schutz gegen den Frost.

Doch der Zahlmeister ließ sich Zeit; erst nach einer geraumen Weile trat er heraus.

»Ich habe euch im Auftrag des Herrn Baron von Wildstein zu eröffnen«, sagte er ohne jede Einleitung, »daß er von jetzt ab für Schicht und Mann zehn Pfennig weniger zahlt. Es ist Winter; die Nachfrage nach Kohlen ist zwar stark, aber der Schnee, der die Straßen ungangbar macht, erschwert den Absatz, und die Betriebskosten werden immer größer. Das ists, was ich euch bekanntgeben soll.«

Die Leute blickten einander bestürzt an. Ein Flüstern und Murren ging durch die Reihen; endlich raffte sich einer – es schien der älteste der Knappen zu sein – zu einer Erwiderung auf.

»Herr Zahlmeister«, begann er zögernd, »das ist eine schlimme Nachricht! – Wissen Sie noch, wieviel ich heut erhalten habe?«

»Ja; sechs Mark!«

»Sechs Mark für eine ganze Woche! Sechs Mark für eine zweiundsiebzigstündige Arbeitszeit unter der Erde! Sechs Mark für sechs zwölfstündige Schichten in steter Lebensgefahr!«

»Ist dir's nicht genug, so such dir andre Arbeit!«

»Das kann ich nicht. Sie wissen das auch, Herr Zahlmeister. Es gibt hier nur Weber und Bergleute. Zum Weben sind meine Augen zu schwach, und dieses Bergwerk ist das einzige in der Gegend. Ich muß bleiben.«

»So beschwer dich nicht!«

»Ich beschwere mich nicht; aber ich denke an die acht Köpfe, die von meinen sechs Mark leben wollen. Herr, wir hungern schon längst – wir hungern und frieren. Was soll aus uns werden?«

»Das geht mich nichts an. Ich erfülle nur meine Pflicht. Ich soll den Entschluß des Herrn Baron mitteilen, und ich habe es hiermit getan. Wer nicht einverstanden ist, der braucht ja nicht wiederzukommen. Ich finde Arbeitskräfte genug.«

Bei diesen Worten drehte er sich um und verschwand wieder im Haus.

Bedrückt wandten sich die Männer ab und wateten in Gruppen durch den Schnee heimwärts.

Nach einer halben Stunde lagen die niedrigen, verschneiten Giebel des Dorfs vor ihnen, lauter ärmliche Hütten. Nur zwei hoben sich von den übrigen ab – das Pfarrhaus und noch ein andres, das auch nichts weit von der Kirche lag und über dessen Tür in goldnen Buchstaben auf einer Marmortafel der Spruch prangte:

»Der Herr behüte dieses Haus
und die da gehen ein und aus!«

Und an der Tür stand auf einem Porzellanschild: ›Seidelmann & Sohn‹.

Als draußen auf dem Schacht das Schichtzeichen erklungen war, hatte auch hier im Dorf Hohenthal der Küster die Mittagsglocke in Bewegung gesetzt. Das war so alter Brauch: mittags zwölf Uhr wurde mit der kleinen Glocke geläutet. In dieses Geläut mischte sich das taktmäßige Geklapper der Webstühle, das seit dem frühesten Morgen schon aus den Wohnungen der Weber in das Schneegestöber hinausdrang.

Die Tür eines Häuschens öffnete sich. Ein Mädchen, in jeder Hand eine Wasserkanne, wollte heraustreten, fuhr aber rasch wieder zurück, als ein scharfer Windstoß ihm eine ganze Wolke Schnee entgegentrieb.

Im gleichen Augenblick sprang ein junger Bursche aus dem Nachbarhaus herbei.

»Grüß Gott, Engelchen!« rief er. »Du willst an den Brunnen?«

»Ja, Eduard.«

»Bei diesem Schneegestöber ist das nichts für dich. – Gib mir die Kannen!«

Er nahm ihr die Gefäße aus den Händen und eilte fort, um für sie das Wasser zu holen. Sie zog sich wieder hinter die Tür zurück, hielt sie aber ein wenig geöffnet, um Eduard nachzublicken.

Er hatte sie Engelchen genannt, eine Verdeutschung von Angelika, was ja die Engelhafte bedeutet. Angelika war etwa achtzehn Jahre alt, ein hübsches, frisches Mädchen. Ihre Kleidung war einfach und sauber. Der rote Flanellrock reichte ihr bis zur Hälfte der Waden; die Winterjacke war vorn ein wenig geöffnet. Das Gesicht blühte unter dem vollen Haar.

Eduard kam mit den gefüllten Kannen zurück. Sie schob die Tür weit auf.

»Komm herein, Eduard! Draußen kannst du heut die Kannen nicht absetzen!«

Er schlüpfte ins Haus und rieb sich pustend die Hände.

»Ein schlimmes Wetter«, meinte er. »Wenn es so fortmacht, werden wir bald nicht mehr über die Straße gehn können.«

»Und doch kommst du herüber, um mir Wasser zu holen? – Ich danke dir.«

Sie bot ihm die Rechte, die er herzhaft drückte.

»Oh, Nachbarn müssen einander aushelfen!«

»Aber du hast deswegen deine Arbeit unterbrochen.«

»Nur wenige Minuten. Das hole ich schnell ein.«

»Und hast's doch so notwendig.«

»Woher weißt du das, Engelchen?«

»Meinst du, ich hätte nicht gehört, daß du die Nacht durchgearbeitet hast?«

Er nickte, und dabei nahm sein hübsches, offnes Gesicht einen trüben Ausdruck an.

»Es mußte eben sein, Engelchen; ich muß ja heut in der Dämmerung fertig werden. Du weißt, daß mein Vater infolge seiner schweren Erkältung innerhalb vierzehn Tagen nur ein Stück vollenden konnte, und deshalb hatte ich drei zu weben.«

»Du machst dich krank. Du darfst den Fleiß nicht übertreiben. – Sag, warum mußt du denn eigentlich so viel bringen, Eduard?«

»Weil wir viel Geld brauchen. Seidelmann hat dem Vater das Darlehn gekündigt.«

»Herrgott, ist's möglich?« rief sie erschrocken. »Der reiche Seidelmann braucht's doch gar nicht!«

»Gewiß. – Aber was hilft uns das? Er sagt, er habe jetzt im Geschäft sehr viel verloren und müsse alle außenstehenden Gelder einziehn.«

»Das glaube ich nicht. Vielleicht hat er einen andern Grund.«

Eine jähe Röte überzog Eduards Gesicht.

»Das ist freilich möglich«, antwortete er sichtlich zurückhaltend. »Und den Grund glaube ich zu kennen.«

»Nun?« forschte sie gespannt.

»Jetzt nicht, ein andermal! Du wirst mit dem Essen zu tun haben.«

»O nein, das ist schon vorbei! Es gab des Vaters Leibgericht, grüne Klöße und Rauchfleisch. Was habt ihr denn heut?«

Eduard errötete noch tiefer als vorhin; um es nicht merken zu lassen, wandte er sich zur Seite.

»Ich weiß es wirklich nicht, Engelchen. Wenn ich in so eiliger Arbeit stecke, nehme ich mir nicht die Zeit, darauf zu achten, was Mutter kocht. Ich werde es ja sowieso gleich erfahren. Leb wohl, Engelchen!«

»Leb wohl! Kommst du am Abend zu uns?«

»Ja, ich komme.«

Er sprang wieder hinaus ins Schneegestöber.

Das Häuschen, in das er eilte, war noch kleiner als das von Angelikas Eltern. Der Flur bestand aus festgeschlagenem Lehm; rechts war ein Abstellraum und ein Ziegenstall, links die Wohnstube. Sie besaß nur zwei Fenster, und vor jedem stand ein Webstuhl. Grad als Eduard in die Stube trat, hörte er die Mutter sagen: »Komm, Vater, steig aus dem Stuhl! Wir wollen essen!«

Langsam und schwerfällig folgte der Weber dem Wink. Er ging gebeugt, und sein Haar war, wie auch das der Mutter, vor der Zeit ergraut. Armut und Sorgen hatten das getan.

Auf den Ruf der Mutter regte es sich auch in den Ecken und Winkeln der Stube. Fünf Kinder, außer Eduard, eilten dem blankgescheuerten Tisch zu, während die Mutter eine Schüssel Kartoffeln herbeibrachte.

Der Vater faltete die Hände.

»Wir wollen beten!«

Alle neigten andächtig die Köpfe.

»Du schenkst uns, Gott, so väterlich
jetzt Speis' und Trank, wir preisen dich;
denn alles, was uns stärkt und nährt,
wird uns durch deine Hand beschert.
Sieh, deine Gaben nehmen wir
mit Freuden, Vater, hin von dir!
O laß uns den Genuß gedeihn
und dir dafür auch dankbar sein!«

Jetzt erst setzte sich der Mann. Das war das Zeichen zum Beginn der Mahlzeit. Die Kinder langten gierig zu, als ständen lauter Leckerbissen auf dem Tisch, und es gab doch nur eine Schüssel Kartoffeln in der Schale und dazu nichts als Salz, das die Mutter braun geröstet hatte, um ihm einen besondern Geschmack zu verleihn.

Da öffnete sich die Stubentür, und ein altes, dürres Männchen trat ein.

»Guten Tag, Gevatter Hauser!« grüßte der Besucher, der sich bemühte, einen Hustenanfall zu unterdrücken. »Ihr seid beim Essen? Da will ich nicht stören. Ich komme ein andermal wieder.«

»Bleib nur!« wehrte Hauser ab. »Nimm dir dort den Schemel! Uns störst du nicht.«

Der Alte hockte sich neben den Ofen und befühlte die Kacheln.

»O weh!« murmelte er. »Kein Feuer mehr!«

»Der Gevatter will sich wärmen«, sagte der Weber zu seiner Frau. »Leg noch einmal an, Mutter

Frau Hauser zog ein bekümmertes Gesicht.

»Die Kohlen sind alle, Vater.«

»So nimm Holz!«

»Ist auch keins mehr da. Es reichte grad noch, die Kartoffeln zu kochen.«

»Und wieviel Geld hast du noch?«

»Zehn Pfennige!«

»So laß nachher Kohlen holen dafür! – Hast du schon gegessen, Gevatter?«

Der Alte schüttelte den Kopf und blickte verlangend auf die Schüssel, die sich zusehends leerte.

»Heut noch nicht. Ich war – hm, ich war bei Herrn Seidelmann und wollte ihn fragen, ob – hm, na ja – aber der gibt nichts.«

»So komm her und greif zu!«

Das Männchen ließ sich das nicht zweimal sagen. Anstatt sechzehn, waren nun achtzehn Hände bestrebt, den Inhalt der Schüssel verschwinden zu lassen.

Als die letzte Kartoffel verzehrt war, erhob sich Vater Hauser.

»Wir wollen beten!«

Alle falteten die Hände.

»Wir danken dir, Herr Jesus Christ,
daß du unser Gast gewesen bist!«

Und daran fügte der Weber die Strophe:

»Nun, wir sind auch diesmal satt,
da uns Gott vergnügt gespeiset
und vergnügt getränket hat.
Seine Güte sei gepreiset!
Er wird ferner unserm Leben
Speis' und Trank und Notdurft geben.«

Er löste die gefalteten Hände. Da streckte der Gast dem Weber die hagere Rechte entgegen.

»Hab Dank, Gevatter! Du weißt nicht, was du an mir getan hast. Vorhin habe ich gesagt, ich hätte heut noch nichts gegessen. Nun aber will ich dir gestehn, daß schon seit vorgestern abend kein Bissen über meine Lippen gekommen ist«.

»Guter Gott!« rief Häuser. »Mutter, schneid ihm noch ein Stück Brot ab!«

Die Frau hustete verlegen.

»Auch das Brot ist alle, Vater.«

»Haben wir wirklich gar nichts mehr?«

»Nicht ein Krümelchen!«

Hauser warf ihr einen Blick zu, und sie verstand ihn sofort. Sie nahm ein Tuch um und verließ die Stube. Nach einer kleinen Weile kam sie wieder. Sie war zum Bäcker gelaufen und hatte die für Kohlen bestimmten zehn Pfennige für ein Stück Brot ausgegeben.

Der Alte war so gerührt daß ihm Tränen in die Augen traten.

»Vergelt's euch Gott! Aber nehmen kann ich's nicht. Eure Kleinen brauchen es ebenso notwendig wie ich.«

»Nimm und iß!« gebot Hauser. »Eduard geht nachher mit den vier Stücken, die heut fertig werden, zum Seidelmann. Da bekommen wir Geld und können das Nötigste kaufen. Du aber hast keine Aussicht, etwas zu verdienen.«

»Ja, ja, das ist wahr«, nickte der Alte, indem er zögernd zugriff. »Früher war es anders. Da war ich der einzige Bader der Umgegend. Jetzt sind noch andre da, und meine Hand ist zittrig geworden, so daß ich das Messer nicht mehr führen kann. Die Zeiten werden halt immer schlechter und die Menschen mit ihnen. Wißt ihr schon, was in letzter Nacht geschehn ist?«

»Was denn?«

»Als der Förster heut früh trotz allem Wetter durch den Wald geht, bleibt sein Hund plötzlich bei einer Schneewehe stehn und ist nicht fortzubringen, und als der Förster nachforscht, entdeckt er eine Leiche.«

»Ach du lieber Himmel! Erfroren?«

»Nein – ermordet!«

Die Hausers standen entsetzt und wußten kein Wort zu sagen. Eduard fand zuerst die Sprache wieder.

»Wer ist's denn? Einer von hier?«

»Der Grenzoffizier, der Leutnant! Eine Kugel ist ihm durch den Kopf gegangen.«

»So sind's die Pascher gewesen!«

»Das Buschgespenst selber hats getan.«

»Woher weiß man das?«

»Der Tote hatte einen Zettel in der Tasche: ›So wird es einem jeden ergehn, der die Pascher belästigt. – Das Buschgespenst.‹«

»Das ist entsetzlich!« stöhnte Frau Hauser.

»Ja«, nickte der Alte. »Das ists auch. Am Morgen ist einer der Grenzaufseher in der Schenke gewesen und hat erzählt, daß in der vergangnen Nacht ein Zug von mehr als dreißig Schmugglern über die Grenze geschlichen ist. Die Beamten haben sie nur von ferne gesehn, aber nicht fassen können.«

»Nicht fassen können? Die Grenzer haben doch ihre Gewehre.«

Der Alte tat einen tiefen Seufzer.

»Was helfen Gewehre gegen Menschen, die das Buschgespenst beschützt?«

Da mischte sich Hauser wieder in das Gespräch.

»Das ist nicht christlich gedacht, Gevatter. Alles in der Welt geht seinen natürlichen Gang, und der Herrgott sorgt dafür, daß immer das Gute den Sieg behält. Er wird auch hier keine Ausnahme dulden. – Wer ist denn deiner Meinung nach das Buschgespenst?«

»Der leibhaftige Gottseibeiuns muß es sein!« schauderte der Alte. »Ich kann's bezeugen, denn ich habe das Gespenst mit eignen Augen gesehn. Der Himmel bewahre jeden vor einer solchen Begegnung! Den Tod hätte ich haben können davon.«

Den Hausers kroch ein Frösteln durch die Glieder. Scheu und ungläubig starrten sie den Sprecher an. Die Kinder drängten sich ängstlich zusammen. Vater und Mutter tauschten einen bedeutsamen Blick, als wollten sie sagen: Es hat also doch seine Richtigkeit, was die Leute im Dorf über das Buschgespenst schwatzen! Der Gevatter ist ein zuverlässiger Mann; was er bezeugt, muß gelten.

Sie waren so befangen, daß keiner eine Frage tat, obwohl ihnen das Verlangen, Genaueres zu hören, aus den Augen leuchtete.

Nur Eduard überwand das Gruseln so weit, daß er sich sachlich nach dem Nächstliegenden erkundigte, wobei er es freilich nicht hindern konnte, daß ihm die Stimme ein wenig zitterte.

»Warum hat denn der Gevatter noch nie davon erzählt, daß er das Buschgespenst gesehn hat?« fragte er.

»Hast leicht fragen, mein Sohn«, seufzte der Alte, »hast leicht fragen! Meinst wohl gar, der Gevatter hätte sich das jetzt nur so ausgedacht? Nein, nein, red mir nicht dazwischen! Es braucht keine Entschuldigung. Ich will dir die Frage beantworten. Zuvor aber muß das Kleinzeug da aus der Stube!« Er wies auf Eduards jüngere Geschwister. »Wenn ich schon rede, darf es nur vor Leuten sein, auf die ich mich verlassen kann.«

Die fünf Kinder wurden in die Kammer geschickt. Sie gingen gehorsam, ohne Widerrede. Nebenan aber drückten sie sich am Türspalt die Nasen platt und schoben einander abwechselnd beiseite, so sehr brannten sie darauf, etwas von der Schilderung zu erlauschen, die der Gevatter von seinem Erlebnis mit dem Buschgespenst gab. Ihre Bemühungen waren freilich umsonst, denn der Alte sprach leise, mit vorsichtig gedämpfter Stimme. Nur sein trockenes Husten, das er vergebens zu bekämpfen versuchte, und ab und zu die staunenden, ängstlichen und beschwörenden Zwischenrufe der Eltern und Eduards drangen bis in die Kammer zu den Kleinen.

»Das Buschgespenst selber hat mir Schweigen geboten«, begann der Alte, sobald sich die Tür hinter den fünf Kindern geschlossen hatte. Dabei sah er sich scheu um, als rechnete er mit der Möglichkeit, das unheimliche Wesen, gegen dessen Warnung er soeben handelte, könne plötzlich als Rächer hinter ihm erscheinen. Dann sprach er weiter: »Und es hat mir gedroht ...«

»Um Gottes willen, Gevatter!« stammelte die Frau. »Ich mag nichts hören!«

Eduard aber und der Vater winkten ihr zu schweigen. »Erzähl weiter!« mahnte Hauser den Alten. »Wie ist das alles geschehn, wann und wo?«

»Vor vier Wochen etwa war's«, berichtete der Gast, »da überraschte mich die Dunkelheit beim Holzsuchen im Wald. Ich hatte mich zu oft auf meine Kiepe setzen müssen, um auszuruhn, denn mein Magen knurrte, und die Beine zitterten, mir vor Schwäche. Endlich hatte ich meine Last aufgehuckt und stapfte durch die Schwedenschlucht, um den Weg zum Dorf abzukürzen.«

»Aha«, brummte Hauser, »durch die Schwedenschlucht!« Dort ists von jeher nicht geheuer.«

»Daran dachte ich auch«, nickte der Alte, »während ich Schritt für Schritt im hohen Schnee tat. Rechts über der Böschung stand der Mond. Er machte ein seltsames Gesicht, wie mir schien, gar nicht so freundlich wie sonst. Links ragten die dichten Büsche, ihr kennt sie ja. Der Wind raschelte drin. Das war, als wisperten da hundert Geisterstimmchen. Plötzlich strich etwas Schwarzes dicht an meinem Kopf vorbei. Für gewöhnlich hätte ich wohl gedacht: ein Uhu! Aber an jenem Abend war alles um mich so unheimlich, das schielende Mondgesicht, das Wispern und nun das Rauschen hart vor mir und der dunkle Schatten, eben alles so, daß mir vor Schreck der Stock aus der Hand fiel, auf den ich mich stützte.«

Der Sprecher machte eine Pause. Die Erregung versetzte ihm den Atem. Die Hausers schwiegen, gebannt von fieberhafter Spannung. Es war so still in dem Zimmer, daß man die Kinder nebenan am Türspalt hörte. Dann fuhr der Alte fort:

»Ich bücke mich, den Stock aufzuheben. Wie ich mich wieder aufrichte – ja, was soll ich sagen? – rein erstarrt bin ich, kein Glied habe ich gerührt und keinen Laut von mir gegeben. Rechts oben am kahlen Hang steht eine weiße Gestalt, vom Mondlicht hell beschienen. Die Gestalt hebt gebieterisch den Arm, und dann klingt eine Stimme, so hohl, so unheimlich, als käme sie aus einem Grab: ›Was tust du hier, armseliges Menschlein?‹ – Was ich geantwortet und getan habe, weiß ich nicht. Ich bin wie von Sinnen gewesen vor Schreck. Fast glaube ich, ich habe dem Unheimlichen das mühsam gesammelte Holz schenken wollen samt der Kiepe und auch die letzten drei Pfennige in meiner Tasche dazu. Er aber hat mir zugerufen: ›Ich mag deinen Kram nicht. Ich bin das allmächtige Buschgespenst. Scher dich heim, und wehe dir, wenn du im Dorf von unsrer Begegnung erzählst! Ich erscheine dir um Mitternacht und drehe dir den Hals um!‹ – Ihr könnt euch denken, Hauserleute, daß ich da ums Leben gelaufen bin. Halb tot bin ich heimgekommen und habe gegen keinen Menschen von der Sache gesprochen.«

»Und jetzt hast du's doch gewagt. Warum?« forschte Hauser.

»Weil ich sonst erstickt wäre. Irgend jemand mußte ich mein Herz ausschütten.«

»Wohl, wohl, Gevatter. Und du kannst sicher sein, daß die Hausers nicht schwatzen.«

»Das weiß ich, und mir ist jetzt wirklich wohler. Ihr aber habt gehört, wer das Buschgespenst ist: der Leibhaftige in Menschengestalt! Der Himmel, behüte uns vor seinem Treiben! – Und nun will ich endlich gehn. Ihr habt zu arbeiten. Da ist jede Minute kostbar. Nochmals tausend Dank für alles!«

Er drückte allen die Hand. Hauser begleitete ihn nach alter Sitte bis zur Haustür. Grad als sie dort standen, klingelte ein zweispänniger Schlitten vorüber, worin ein pelzvermummter Mann saß.

»Ein Fremder«, meinte der Alte.

Hauser aber belehrte ihn eines andern.

»Nicht doch! Hast du ihn denn nicht erkannt? Ja freilich, deine Augen werden schlecht. Es war doch der Rentner Seidelmann, der Bruder des hiesigen Kaufmanns.«

»Der Brüderlichkeitsapostel? O weh! Das bedeutet nichts Gutes. Wenn der in den Ort kommt, gibt es allemal ein Unglück. – Schlimme Zeiten, schlimme Zeiten, Gevatter! Leb wohl!«

*

Als Angelika Hofmann die Wasserkannen zur Mutter in die Küche getragen hatte und in die Stube trat, stand ihr Vater am Tisch und überprüfte ein soeben vollendetes Stück Webearbeit. Auch diese Stube war klein, hatte aber ein behäbigeres Aussehn als die der Hausers. Bei Hausers hatten die Eltern sechs hungrige Mäuler zu stopfen; hier war Angelika das einzige Kind.

Der Vater warf ihr einen mürrischen Blick zu.

»Wo warst du?«

»Ich habe Wasser geholt.«

»Du selber?«

Sie machte sich verlegen am Fenster zu schaffen. So konnte sie dem Vater den Rücken zukehren.

»Nun, wirds?« fragte er scharf. »Antwort!«

»Der Eduard ist für mich gegangen«, gestand sie leise.

»Der Eduard und immer der Eduard!« brummte er. »Dieser Habenichts!«

»Wir sind auch nicht reich.«

»Um so mehr Grund, nach Reichtum zu trachten!«

Angelika warf dem Vater einen erstaunten Blick zu.

»Wir und Reichtum?« fragte sie. »Das kann wohl vor dem Jüngsten Tag nicht zusammenkommen.«

»Red nicht so dumm!« murrte Hofmann. »Du bist jung und hübsch. Da ists gar nicht so ausgeschlossen, daß ein wohlhabender Bursche ein Auge auf dich wirft.«

Sie wandte sich verschämt ab. Aber der Alte war zäh; er trat dicht an sie heran.

»Nun, wie stehts damit?« drängte er. »Alle laufen sie dir nach und ...«

»Ich mag keinen!« stieß sie hastig hervor.

»Keinen? Sieh einmal an! Das soll wohl heißen: keinen außer den Eduard?« Aus des Vaters Worten klang gehässiger Spott. Dann wurde er wieder herrisch und grob. »Antwort will ich! Oder ist er etwa nicht dein Schatz?«

»Nein!« wehrte sie sich.

Der Vater aber lachte kurz auf.

»Mir machst du das nicht weis. Oder meinst du, ich wüßte nicht, was hinter meinem Rücken geschieht?«

»Nichts, gar nichts geschieht!«

»So? Hat er noch nicht von Liebe und dergleichen zu dir gesprochen?«

»Kein Wort!«

Weil Angelika das gar so klar und bestimmt versicherte, lenkte der Alte ein wenig ein.

»Ich habe ja nichts gegen ihn – ist ja ein ganz netter Junge – aber drüben bei ihm ist die Armut zu Haus. Ihr paßt nicht zueinander. Ich fürchtete schon, ihr wäret im stillen einig miteinander. Um so besser, wenn's nicht an dem ist; denn mein Ja hätte ich nie dazu gegeben. Jetzt weißt du, woran du bist, und kannst dich danach richten.«

Er legte sein Arbeitsstück zusammen, zog den Rock an und ging, um das Gewebe bei Seidelmann abzuliefern.

Eine Viertelstunde später trat er im Haus der Seidelmanns durch eine Tür, an der das Wort ›Kontor‹ zu lesen war. Ein junger Mensch stand da mit verdrießlicher Miene an einem Pult und schrieb. Es war Fritz Seidelmann, der Sohn des Kaufmanns Martin Seidelmann. Er war nur mittelgroß, aber kräftig gebaut, hatte jedoch in seinem Äußern etwas Stutzerhaftes, und dementsprechend war auch sein Auftreten. Sein Gesicht, das im Augenblick nicht gerade die beste Laune anzeigte, hellte sich auf, als er den Weber Hofmann erblickte.

»Aha, Sie sind es!« antwortete er auf den bescheidenen Gruß Hofmanns. »Wieder ein ganzes Stück fertiggebracht in dieser Woche?«

»Ja, ein ganzes. Es hat mir aber große Mühe gemacht. Das Garn war ungewöhnlich schlecht.«

»Oho! Das glauben Sie ja selber nicht«, spreizte sich Fritz Seidelmann. »Sie wissen doch, daß ich für Sie immer das beste aussuche.«

Hofmann machte ein pfiffig-ungläubiges Gesicht.

»Sie zweifeln daran?« fuhr der junge Seidelmann fort. »Das ist nicht recht von Ihnen, denn ich bevorzuge Sie ständig. Ich zahle Ihnen mehr als jedem andern. Für solche Arbeit gebe ich, wenn sie fehlerfrei ist, acht Mark; Ihnen habe ich immer zehn gegeben.«

»Ja, Herr Seidelmann«, wagte der Weber einzuwenden, »ich bin aber auch Ihr bester Lieferer.«

Fritz Seidelmann lachte spöttisch.

»Was bilden Sie sich ein, Hofmann! Sie arbeiten durchaus nicht so gut. Im Gegenteil, keiner bringt mir so fehlerhafte Stücke wie Sie. Wissen Sie, wer mein bester Arbeiter ist? Der Eduard Hauser! Er hat nie einen Fehler im Gewebe und schafft doppelt so viel wie Sie. Wenn ich ihm trotzdem nicht gerade grün bin, so hat das seine Gründe. – Na, zeigen Sie die Ware mal her!«

Er sah die Arbeit oberflächlich durch.

»Hm!« mäkelte er. »Hier ist ein Fadenbruch! Haben Sie das nicht selber gemerkt?«

»Freilich, aber es läßt sich doch nicht mehr ändern.«

»Das wird Abzug geben.«

»Wegen eines Fadenbruchs?«

»Natürlich! Zwei Mark weniger diesmal!«

Der Weber fuhr zusammen. Zwei Mark waren für seine Verhältnisse ein bedeutender Betrag.

»Zwei Mark?« stotterte er. »Das werden Sie mir doch nicht antun!«

»Warum nicht? Ihre Arbeit ist wirklich nicht mehr wert. – Aber – hm – vielleicht läßt sich über die Sache reden, vorausgesetzt daß Sie vernünftig sind.«

Hofmann machte ein erstauntes Gesicht und sah den jungen Seidelmann fragend an.

»Vernünftig? Wüßte nicht, daß Sie mich jemals von der unvernünftigen Seite kennengelernt hätten. – Darf man sich erkundigen, was das heißen soll?«

Im Ton seiner Worte schwang jetzt die Pfiffigkeit mit, die sich vorher schon einmal in seinen Zügen ausgeprägt hatte. Der junge Seidelmann aber, der sonst den Webern gegenüber so gern den Herrn herauskehrte, übersah das Gebaren Hofmanns, lehnte sich nachlässig mit dem Rücken an sein Pult und nickte wie wohlwollend vor sich hin.

»Ich will Ihnen sogleich erklären, worum es sich handelt. Sie kennen doch das ›Kasino‹ in der Kreisstadt?«

»Hm! Ich weiß nur, daß eine Gesellschaft junger Herren, die alle mehr Geld haben als wir Weber, diesen Namen führt. Sie gehören ja wohl auch dazu, Herr Seidelmann.«

»So ist es. Und nun hören Sie! Ich habe die Herren dieses Klubs für nächsten Dienstag hierher gebeten. Wir wollen uns ein bißchen die Zeit vertreiben. Es soll im Gasthof einen kleinen Maskenball geben. Dazu brauchen wir natürlich Tänzerinnen, und ich habe da an Ihre Tochter gedacht.«

Fritz Seidelmann machte absichtlich eine Pause. Er wollte die Wirkung seiner Worte auf Hofmann beobachten. Wie er den Vater des schönen Mädchens kannte, war dieser blind vernarrt in sein Kind und hoffärtig und eitel obendrein. Also würde er vermutlich stolz sein auf das Anerbieten, das ihm hier gemacht wurde.

Und richtig, in Hofmanns Zügen spiegelte sich zunächst Erstaunen, dann Freude. Er lächelte geschmeichelt. Seidelmann dachte: eigentlich sieht er jetzt furchtbar dumm aus. Aber das war dem Sohn des Kaufmanns nur recht. Mit dieser Dummheit rechnete er ja bei der Verfolgung seiner Ziele.

»Das Engelchen – wollen Sie – einladen? – Ins ›Kasino‹?«

Seidelmann zog bedeutsam die Brauen hoch.

»Allerdings will ich das, und ich hoffe, daß Sie die Ehre zu schätzen wissen: Sie müssen bedenken, daß meine Freunde ihre Damen von auswärts mitbringen, alles achtbare junge Mädchen. Ihre Tochter wird sich da in der besten Gesellschaft befinden und –«

»Aber ich bitte Sie, Herr Seidelmann«, unterbrach ihn der eitle Vater, »wie können Sie so reden! Das Engelchen wird außer sich sein vor Freude, wenn ich ihr die Einladung bringe.«

»Hoffentlich. Es ist ja auch wirklich eine Auszeichnung für sie, um die sie der ganze Ort beneiden wird. Und ich habe schon an alles gedacht. Ich werde Ihrer Tochter ein Kostüm als Italienerin schicken. Sie sollen keine Unkosten dabei haben. Es war mir nur darum zu tun, mich Ihrer Einwilligung zu versichern, mein lieber Hofmann. Und die Hauptfrage bleibt natürlich, ob Angelika auch wirklich bereit ist, zu kommen.«

»Na, das ist doch selbstverständlich!« versicherte Hofmann.

»Meinen Sie? Junge Mädchen haben manchmal ihren Kopf für sich, besonders wenn sie hübsch sind und die Burschen ihnen überall den Hof machen. Ihre Tochter hat doch sicher schon einen Auserwählten?«

»Kein Gedanke!«

»Na, soviel ich weiß, läuft ihr Eduard Hauser nach.«

»Mag er laufen, der Betteljunge! Der und mein Engelchen, das wäre etwas! Ich würde das nie dulden.«

»Da haben Sie vollständig recht. Ein so hübsches Mädchen kann einen andern haben als diesen Habenichts. Doch zurück zu unsrer Sache! Ich kann mich also darauf verlassen, daß das Engelchen am Dienstag als meine Dame auf den Maskenball kommt?«

»Ich bürge dafür.«

»Und nun die Hauptsache: das Mädchen darf nicht wissen, von wem die Einladung stammt.«

»Ah so!«

»Nun klar! Es ist ja ein Maskenfest, wo einer den andern nicht erkennen soll.«

»Ich verstehe«, nickte der Weber arglos.

»Und Sie halten Wort? Nichts verraten?«

»Ich verspreche es Ihnen, Herr Seidelmann«

»Gut. Und nun will ich auch einmal nachsichtig sein und den Fadenbruch übersehn. Hier – zehn Mark!«

Hofmann strich demütig das Geld ein und ging, glücklich darüber, daß seine Tochter auserwählt war, von dem Sohn des wohlhabenden Unternehmers zum Ball geladen zu werden.

Er dachte an den Neid der andern Mädchen im Ort. Er stellte bei sich fest, daß Fritz Seidelmann in Angelika offenbar ganz vernarrt sein müsse. Und schließlich verlor er sich in Zukunftsträume. Seine Grübeleien endeten in dem Gedanken: Engelchen soll nur gescheit sein – dann feiern wir bald eine reiche Hochzeit!

Seidelmann dagegen blickte dem Weber mit einem überlegenen Lächeln nach. Und in der Hoffnung auf den Kasinoabend rieb er sich vergnügt die Hände.

In diesem Augenblick klingelte draußen der Schlitten heran, den Hauser und der alte Bader gesehn hatten; er hielt vor Seidelmanns Grundstück.

Fritz war aufmerksam geworden und trat ans Fenster. Zu seinem Erstaunen gewahrte er in dem Schlitten den Bruder seines Vaters.

Donnerwetter, der Onkel! ging es ihm durch den Sinn. Er kommt unangemeldet. Da ist sicherlich irgend etwas Wichtiges geschehn oder im Werk!

Er eilte hinaus, den Oheim zu begrüßen, der sich inzwischen schon aus den Decken und Pelzen geschält und den Schlitten verlassen hatte.

»Willkommen, Onkel!« rief der junge Seidelmann. »Das ist eine angenehme Überraschung!«

Der Onkel schloß den Neffen feierlich in seine Anne. Er benahm sich dabei wie etwa der Heldenvater an einem Schmierentheater. Überhaupt schien an diesem Mann alles gemacht und gekünstelt, sein Gang, seine Haltung, sein Augenaufschlag, auch seine Art zu sprechen.

»Wo ist dein Vater, mein lieber Fritz?«

Das klang, als sagte der Rentner August Seidelmann den Satz einer wohleinstudierten Rolle her. Und sein Neffe verstand es meisterlich, sich auf die Art des Besuchers einzustellen. Die Antwort paßte ganz zu der Frage.

»In seinem Zimmer, lieber Onkel.«

Während der Kutscher den Lohn für die Fahrt umständlich einsteckte, traten Onkel und Neffe ins Haus und stiegen die Treppe hinauf in die Wohnung der Seidelmanns. Dort kam ihnen der Hausherr schon entgegen. Es gab abermals eine Begrüßung mit viel schönen Redensarten, aber eine wirkliche Herzlichkeit, wie sie unter Verwandten herrschen soll, war dabei nicht zu spüren. Höchstens die Hausfrau, die für einige Minuten im Flur erschien, um den Schwager ebenfalls zu empfangen, bildete dabei eine Ausnahme. Aber sie gab in diesem Heim offenbar nicht den Ton an. Ihr Wesen war unbeholfen und verschüchtert, und niemand kehrte sich daran, als sie sich wieder zurückzog.

Als die drei Männer dann im Arbeitszimmer des Kaufmanns beisammensaßen, boten sie schon eher das Bild behaglich versammelter Familienglieder. Die Brüder Seidelmann sahen einander fast zum Verwechseln ähnlich, und der Sohn und Neffe paßte nach Gesichtsschnitt, Haltung und Gestalt genau zu ihnen. Nur daß Martin und Fritz Seidelmann im Blick ihrer Augen mehr Tatkraft und Entschlossenheit verrieten, der Rentner August mehr Pfiffigkeit und Verschlagenheit. Sie hatten es sich jeder auf seine Art bequem gemacht. Der Onkel zog seine Schnupftabakdose, nahm eine Prise und erkundigte sich, wie es denn in letzter Zeit gegangen sei.

»Man hört in der Stadt nichts Gutes aus dem Gebirge«, fügte er hinzu. »Die Zeitungen schreiben, die Menschheit sei hier oben am Verhungern. Ihr beide seht mir noch gar nicht danach aus.«

Er belachte seine Worte grob und breit. Der Kaufmann aber schmunzelte.

»Das Wort vom Verhungern gilt nur mit Unterschied, mein Lieber. Der Tüchtige setzt sich immer durch, auch wenn die Zeiten einmal hart sind.«

In den Zügen des Rentners ging plötzlich eine seltsame Veränderung vor. Er zog die Brauen hoch und machte ein mißbilligendes Gesicht.

»Wir wollen mit solchen Dingen nicht scherzen, lieber Bruder! Dieser Winter ist für viele Menschen wirklich schlimm, und man soll nicht nur an sich selbst denken, sondern auch an die andern, die vom Glück weniger begünstigt sind.«

»Oho!« warf Martin Seidelmann ein. »Willst du uns vielleicht wieder einmal Moral predigen? Ich bitte dich sehr, verschone uns mit deinen Redensarten von Brüderlichkeit und allgemeiner Menschlichkeit!«

»Nicht doch! Ich denke ganz im Gegenteil daran, meine Ideen hier einmal in die Öffentlichkeit zu tragen. Du weißt, mein Herz ist voll Milde und Erbarmen. Die Not, die hier herrschen soll, hat mich so erschüttert, daß ich eine Sammlung zum Besten der hungernden Gebirgsbewohner veranstaltet habe. Ich werde hier einen Vortrag über meine Weltanschauung halten. Der Reinertrag wird meiner Sammlung zufließen. Bis jetzt habe ich schon zweitausend Mark beisammen, um sie unter die zu verteilen, die einer solchen Gabe am würdigsten sind.«

Fritz, der sich in einer Ecke des Zimmers niedergelassen hatte, grinste nur. Der Kaufmann aber lachte gerade heraus.

»Der Witz ist gut, August. Der Würdigste bist natürlich du selber. Oder meinst du etwa, daß mein Sohn und ich auch dazugehören?«

August Seidelmann vermied es, auf die recht eindeutigen Anspielungen seines Bruders einzugehn. Er hielt sich nur an dessen letzte Frage.

»Hm«, brummte er, »würdig oder nicht, nötig scheint ihr es jedenfalls nicht zu haben. Ich lese heute plötzlich an deiner Tür die Inschrift ›Seidelmann & Sohn‹. Das sieht ja ganz so aus, als wärest du mit einemmal ein großer Geschäftsmann geworden.«

»Ist auch der Fall. Ich bin jetzt das, was man in unsrer Gegend einen Verleger nennt.«

»Verleger? Wie ist das gemeint?«

»Das will ich dir erklären. Es gibt doch bekanntlich große Fabrikanten, deren Geschäft so bedeutend ist, daß sie weder Zeit noch Lust haben, sich mit Heimarbeitern abzugeben. Sie verkehren mit den Hauswebern nur durch Mittelspersonen. Das sind die Verleger.«

»Verstehe. Und ein solcher Mittelsmann bist du?«

»Ja. Die örtlichen Verhältnisse haben mich dazu bestimmt. Es gibt hier Weber in Menge, und die Leute finden in dieser Gegend keine Arbeit. Da habe ich mich nun mit mehreren Fabrikanten in Verbindung gesetzt, die mir das Garn und die Muster senden und mir für das Stück einen bestimmten Arbeitslohn zahlen. Ich vergebe die Arbeit an die Hausweber und behalte dafür von dem Lohn eine Kleinigkeit für mich.«

»Und wieviel beträgt diese Kleinigkeit?«

»Je nachdem! Bekomme ich für ein Stück zwanzig Mark, so erhält der Arbeiter acht, höchstens zehn.«

»Hm, ein glattes Geschäft!« meinte August Seidelmann, der Menschenfreund.

»Gewiß. Außerdem ist für mich auch noch ein anderer Verdienst dabei. Bekomme ich für das Stück vierzig Pfund Garn zum Verarbeiten, so erhält der Weber nur fünfunddreißig. Davon muß er das Stück liefern. Reicht ihm das Garn nicht aus, so ist er gezwungen, das Fehlende bei mir zu kaufen.«

Hier wurde die Schilderung des Kaufmanns, die jedem anständigen Menschen die Röte der Empörung ins Gesicht treiben mußte, durch die Meldung unterbrochen, die Mittagsmahlzeit sei aufgetragen. Die drei begaben sich also ins Eßzimmer und setzten sich zu Tisch. Dabei spannen sie die vorher begonnene Unterhaltung fort, und der angebliche Menschenfreund August Seidelmann hätte nun Gelegenheit gehabt, seinem eignen Bruder, der sich hier als ein Ausbeuter der Armut offenbarte, derb ins Gewissen zu reden. Aber er dachte nicht daran. Er gab sich vielmehr ganz dem Genuß der leckeren Gerichte hin, kaute mit vollen Backen, trank dazwischen ab und zu einen Schluck Wein und brummte nur bisweilen etwas vor sich hin, was nicht recht zu verstehn, dem Tonfall nach aber keinesfalls ein Wort des Tadels oder der Entrüstung war.

Die Seidelmanns nahmen sich mit dem Essen reichlich Zeit. Unten aber im Kontor warteten indessen die Hausweber, die nach Hofmann gekommen waren, den Ertrag einer Arbeitswoche abzuliefern und den geringen Lohn für ihren Fleiß zu erheben.

Unter ihnen war auch Eduard Hauser. Er hatte seine vier Stück Kleiderstoff gebracht und wartete mit brennender Ungeduld auf sein Geld, denn die Seinen zu Haus hatten weder Feuerung noch Lebensmittel.

Endlich erschien Fritz Seidelmann. Er fertigte zuerst die andern ab und ließ Eduard Hauser bis zuletzt auf die Abrechnung warten, obgleich er ihm als einem der ersten die vier Stücke Stoff abgenommen hatte. Schließlich waren alle andern abgelohnt, und nun ließ sich Fritz herbei, auch die Stücke Eduard Hausers zu prüfen. Seine Stirn zog sich dabei in tiefe Falten.

»Was ist denn das? Ich glaube gar, hier ist ein Fadebruch!«

Eduard horchte auf.

»Ein Fadenbruch? So etwas ist bei mir noch nie vorgekommen.«

»Und doch ist einer da, und was für einer!«

»Unmöglich, Herr Seidelmann!«

Fritz Seidelmann warf dem jungen Weber einen strengen Blick zu.

»Denken Sie etwa«, sagte er mit erhobener Stimme, »ich hätte keine Augen? Und warum sollte das so unmöglich sein?«

»Weil ich die Stücke vorher genau durchgesehn habe.«

»So schauen Sie her! – Hier!«

Er hielt Eduard den Fehler, der in der Tat vorhanden war, aber von Hofmann stammte, vor die Augen. Eduard nahm den Stoff in die Hand und prüfte ihn sorgfältig.

»Herr Seidelmann«, sagte er dann ruhig und bestimmt, »dieses Stück ist nicht von mir.«

»Wieso? Was soll das heißen?«

»Ich kenne meine Arbeit und auch die meines Vaters.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, man hätte Ihnen diese vier Stücke hier im Kontor vertauscht?«

»Böswillig gewiß nicht, Herr Seidelmann, aber Sie müssen versehentlich die Arbeit eines andern, die vielleicht neben der meinen lag, in die Hand genommen haben.«

»Ausgeschlossen! Ich irre mich nicht.«

»Dann weiß ich einfach nicht, was ich denken soll.«

»So will ich Ihre Gedanken sogleich ein wenig munter machen. Wissen Sie, welchen Wert ein solches Stück hat?«

»Wohl über sechzig Mark.«

»Zweiundsiebzig Mark! Und Sie haben es verdorben! Sie müssen Schadenersatz leisten! Das Stück werde ich nicht los. Hier haben Sie's zurück – es ist Ihr Eigentum! Und dafür bezahlen Sie mir jetzt zweiundsiebzig Mark!«

Eduard Hauser war es, als hätte er einen Keulenschlag erhalten.

»O Gott!« stammelte er. »Ich habe ja nicht einmal zweiundsiebzig Pfennige!«

»Das wird sich finden. Zunächst aber will ich die drei andern Stücke durchsehn.«

Fritz Seidelmann suchte und forschte, fand aber keinen Fehler. Da nahm er den Fadenzähler, ein Vergrößerungsglas, zur Hand, um Kette und Einschuß zu prüfen.

»Ah!« sagte, er dann. »Das ist nicht übel! Wieviel Schuß haben Sie auf den Zoll zu liefern?«

»Fünfzig.«

»Und ich zähle hier nur fünfundvierzig. Nein, mein Lieber, das ist kein Kleiderstoff, das ist ein Lappen, ein Lumpen! Wer soll solches Zeug kaufen? Durch derartig minderwertige Arbeit wird der Ruf unsres Hauses verdorben. Ich kann Ihnen keinen Auftrag mehr geben.. – Und nun sagen Sie, können Sie zweiundsiebzig Mark bezahlen?«

Eduard war keiner Antwort fähig. Er sah den Kaufmannssohn an wie ein Irrer.

»Ich weiß Bescheid«, erklärte Fritz Seidelmann. »Die Sache ist erledigt, und ich will den Schaden auf mich nehmen, nur um den Ärger loszuwerden. Sie erhalten aber natürlich keinen Arbeitslohn, und Arbeit gibt es für Sie auch nicht wieder.«

»Herr Seidelmann!« stöhnte Eduard Hauser. »Wollen Sie uns unglücklich machen?«

»Was geht mich Ihre Familie an? Jeder ist seines Glückes Schmied. Arbeiten Sie besser! Basta! – Guten Tag!«

Er legte die Webstücke beiseite, wandte sich ab und ging hinaus.

Für Eduard war das alles wie ein böser Traum. Er stand mitten in dem Raum und wußte nicht, ob ihn nicht ein Spuk narrte. Endlich raffte er sich auf; hier gab es nur noch ein Mittel: er mußte mit Seidelmann, dem Vater, sprechen.

Schweren Herzens begab er sich nach dessen Privatkontor und atmete schon auf, als er wenigstens vorgelassen wurde. Dann aber minderte sich seine Zuversicht rasch wieder da er in dem Zimmer den Kaufmann, Fritz Seidelmann und den Onkel versammelt fand.

»Was wünschen Sie?« fragte Martin Seidelmann streng.

»Ich wollte Sie bitten, sich doch gütigst die –«

»Ah, die vier Stücke Kleiderstoff ansehn?« unterbrach ihn der Kaufmann rasch. »Das ist nicht nötig. Mein Sohn hat mich von dem Vorgefallenen unterrichtet. Sein Urteil ist für mich maßgebend, also für Sie erst recht. Sie kommen noch sehr gut weg.«

»Aber, Herr Seidelmann, ich weiß von keinem Fadenbruch, und sämtliche Webstücke haben fünfzig Schuß. Ihr Sohn muß sich verzählt haben. Ich gestehe, daß wir ohne einen Pfennig sind und in dieser Kälte weder Feuerung noch Lebensmittel besitzen!«

»Was geht das mich an? Hätten Sie besser geliefert! Mein Sohn wird schon recht haben. Sie haben in letzter Zeit zuviel fertiggemacht. Bei solcher Überstürzung muß ja die Arbeit liederlich ausfallen.«

»Herr Seidelmann, ich habe Tag und Nacht gearbeitet, weil Sie uns die hundertzwanzig Mark gekündigt haben!«

»Ach was! Es bleibt bei der Bestimmung meines Sohnes. Sie erhalten Von mir keine Arbeit mehr. Und wenn bis Ende des nächsten Monats die gekündigte Summe nicht gezahlt wird, nehme ich Ihrem Vater die Bude weg!«

»Mein Gott, das wäre entsetzlich!«

Da erhob sich der Onkel und wies mit ausgestreckter Hand nach der Tür.

»Gehn Sie! Ich kann derartige Auftritte nicht mit ansehn! Gehn Sie!«

Eduard taumelte hinaus. Er spürte etwas wie Ekel. Es war ihm wüst im Kopf, und sein Herz hämmerte in heftigen Schlägen. Unterwegs übermannte ihn die Schwäche; er setzte sich in den tiefen Schnee, legte das Gesicht in die Hände und weinte wie ein Kind.

So hätte er sitzenbleiben mögen die ganze Nacht. Vielleicht wäre die Froststarre über ihn gekommen und er wäre eingeschlafen auf Nimmererwachen. Aber er dachte an die Seinigen, an die Eltern und Geschwister. So riß er sich hoch und stapfte weiter nach Haus.

Dort löste seine Nachricht Jammer und Entsetzen aus. Die Mutter rang die Hände, und die Brüder und Schwestern weinten. Der Vater hatte Eduards Bericht wortlos angehört; nun atmete er schwer, als wollte ihm die Sorge die Luft abschnüren, und strich sich wie ein Erwachender mit der Hand über die Stirn. Er war tatsächlich aus einem schönen Traum gerissen worden, und dieser Traum hatte in der Erwartung bestanden, Eduard werde für ehrliche Arbeit auch Geld heimbringen.

»Ich gehe zum Nachbar Hofmann«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Er wird mir wenigstens einige Kohlen borgen. Dann kann uns Mutter die Kartoffeln kochen, die noch übrig sind.«

Hauser nahm den Korb und ging.

Eduard sah ihm nach und überlegte, daß dieser Gang wohl wenig Zweck hätte. Der Nachbar hatte ja selber nichts übrig, und wenn er dem Vater etwas gab, so war es ein Körbchen Kohlen. Wie lange konnte das vorhalten? Nein, hier mußte noch anders vorgesorgt werden.

Er setzte die Mütze wieder auf, holte sich die Handsäge aus dem Abstellraum und schritt zum Dorf hinaus, dem Wald zu.

Er gab sich zunächst keine Rechenschaft darüber, ob sein Beginnen berechtigt war oder nicht. Viele arme Leute gingen in den Wald, um ganze Körbe voll Leseholz heimzutragen. Aber das geschah im Sommer. Jetzt konnte man unter dem Schnee nicht suchen, jetzt gab es höchstens dürres Unterholz zu brechen. Andre wieder schlichen sich des Nachts hinaus, holten sich ganze Stämme herein und spalteten sich ihr Winterholz daraus. Es gab überall im Forst abgestorbene Bäume und Bäumchen, deren Holz zum Verfeuern trocken genug war.

Eduard wußte im Wald eine dürre Fichte. Sie war nicht schwer zu finden, und willenlos, noch ganz unter dem Eindruck des Geschehenen, stapfte er durch den Schnee seinem Ziel zu.

Die Fichte stand am Rand einer kleinen Lichtung nicht weitab vom Weg. Vor dem dürren Baum machte Eduard halt, hob wie prüfend die Säge und kniete im Schnee nieder, um das Werkzeug anzusetzen. Dabei schweifte sein Blick zufällig noch einmal über den jenseitigen Buschrand. Er konnte die Bäume und Sträucher da drüben nur undeutlich erkennen, denn der unablässig rieselnde Schnee schob sich wie ein Schleier davor.

Da plötzlich ließ Eduard die Säge sinken. Ein Schrecken lief ihm durch alle Glieder. Wie gebannt starrte er über die Lichtung hinweg.

Bewegte sich da hinter den Stämmen, die der antreibende Schnee in schlanke weiße Säulen verwandelt hatte, nicht eine gespenstische Gestalt?

Dem Burschen schlug das Herz bis in den Hals. Sein erster Gedanke war: das ist das Buschgespenst! Es belauscht und belauert dich und will dich auf unrechter Tat ertappen!

Und jetzt erst wurde es ihm erschreckend klar, daß er im Begriff gestanden hatte, einen Forstdiebstahl zu begehn. Jetzt erst erkannte er, daß ihn Not und Sorge und Verwirrung beinahe in Schuld gebracht hätten.

Langsam, schwerfällig richtete er sich auf. Dabei äugte er noch immer ängstlich hinüber in das Halbdunkel des Waldes. Er strengte seine Augen mächtig an. Von der Erscheinung war nichts mehr zu sehn. Was er für ein weißes Gewand gehalten hatte, waren wohl nur die schneebehangenen Zweige kleiner Nadelbäume. So sagte er sich jetzt, da er ruhig über die Dinge nachdachte. Aber das Gruseln lag ihm immer noch in den Gliedern. Das war eine Folge der Erzählung des Alten, dem das Buschgespenst in der Mondnacht begegnet war.

Endlich wandte sich der Bursche mit einem tiefen Seufzer ab. Nein, nein, dachte er, zum Stehlen soll mich auch die ärgste Not nicht verleiten! Bei ehrlichem Willen muß sich schließlich doch eine Arbeitsmöglichkeit für mich finden. Und als er einmal so weit war, kam ihm auch schon ein Einfall: Ich werde morgen ins Bergwerk gehn und dort nach Arbeit fragen!

Wenn der Mensch im Unglück einen festen Entschluß faßt, so ist ihm schon halb geholfen. Eduard fühlte sich mit einemmal ruhig und zuversichtlich. Er verließ den Ort, wo er beinah zum Dieb geworden wäre.

Der Schnee leuchtete, und ringsum war tiefe Stille. Als Eduard aber einem schmalen Waldpfad folgte, der zum Fahrweg führte, vernahm er Schritte, die ihm entgegenkamen. Er blieb erschrocken stehn.

Im Geist sah er schon wieder das Buschgespenst vor sich. Seine Gedanken verwirrten sich abermals. Da traf ihn der Klang einer männlichen Stimme.

»Eduard Hauser? Du bists? Was treibst du denn zu dieser Zeit und bei diesem Wetter hier im Wald?«

Es war der Förster Wunderlich, der von der Wildfütterung kam. Er warf einen mißtrauischen Blick auf die Säge in Eduards Hand. Der junge Mensch übersah diesen Blick in seiner Aufregung, aber er stand trotzdem wie ein ertappter Bösewicht vor dem Förster und senkte den Kopf.

»Feuerholz wollte ich holen. Die Eltern und die Geschwister frieren zu Haus. Im letzten Augenblick aber ...«

»Ist denn heut nicht Liefertag gewesen beim Seidelmann? Mir scheint, Eduard Hauser, du warst im Begriff, eine Dummheit zu begehn. Hätte dir das nicht zugetraut.«

Mit einem tiefen Seufzer holte sich der Gescholtene Kraft und Mut zu einer ausführlichen Beichte. Er erzählte, wie es daheim stand, erzählte, wie es ihm bei Seidelmann gegangen war.

Der Förster war als ein rauher Mann bekannt, aber das war nur äußerlich; im Innern verbarg er ein tiefes Gemüt und ein Herz voll Wohlwollen und Menschenliebe. Er hörte den Bericht Eduards aufmerksam an. Dann knurrte er vor sich hin.

»Ja, ja, so ist es? Diese Seidelmanns haben hier das Heft in der Hand, und das benutzen sie, die armen Hausweber auszubeuten. Ich wollte, Gottes Strafgericht käme einmal über diese Burschen!«

Der Förster ballte die Faust und schüttelte sie in der Richtung des Dorfes.

»Na«, meinte er dann in einem andern Ton, »ich will nichts gesagt haben – und weh dir, Hauser, wenn du etwas gehört hast? Die Seidelmänner haben das Geld, und wo das Geld ist, da ist auch das Recht. Punktum!«

Eduard Hauser wußte zuerst gar nicht, was er zu den Reden des Försters sagen sollte; dann aber blitzte in ihm Verständnis auf.

»Ja, Herr Förster«, wagte er einzuwerfen. »Deshalb habe ich auch unrecht mit dem Fadenbruch, obgleich ich genau weiß, das Stück ist nicht von mir.«

Der Förster wischte sich den Schnee aus den Augen und betrachtete den jungen Burschen wohlgefällig.

»Du bist ein braver Kerl und ein tüchtiger Arbeiter; das steht fest. Wer weiß, welchen Grund dieser Seidelmann hat, dich ins Elend zu stürzen! Hast du ihm vielleicht einmal auf die Hühneraugen getreten?«

Eduard schüttelte nur den Kopf.

»Oder bist du ihm irgendwie im Weg?«

»Wie sollte das sein? Sein Weg ist ja ein ganz andrer als der meine.«

»Das stimmt. Aber einen Grund hat er jedenfalls, dieser Zierbengel, dir eins auszuwischen. Doch das kümmert uns jetzt nicht weiter. Hauptsache ist die Zukunft. Was gedenkst du nun zu tun? Ein Spitzbube wärst du beinah schon geworden – durch diesen Schuft. Ein Glück, daß der Grund und Boden bei dir so gut und fest ist. Da hats nicht so viel Gefahr wie bei andern. Oder willst du etwa unter die Pascher gehn?«

»Lieber verhungere ich.«

»Na, na, das Verhungern ist nicht so leicht!«

»Ich habe mir vorgenommen, mich morgen früh an den Obersteiger zu wenden. Vielleicht gibt er mir Arbeit.«

»Ins Bergwerk willst du, Junge?«

»Es bleibt mir doch nichts andres übrig.«

»Freilich, aber du verstehst nichts von der Sache und wirst nur als ungelernter Arbeiter bezahlt.«

»Immerhin besser, wöchentlich wenig zu verdienen, als monatlich gar nichts.«

»Richtig. Und darum möchte ich mich gern deiner annehmen. Leider aber weiß ich nicht, wie. Im Winter wird im Wald nicht gearbeitet. Da ist nichts zu machen, Hauser, beim besten Willen nicht!«

»Dann Gute Nacht, Herr Förster. Und ich bitte um Entschuldigung ...«

Der Alte sah den Burschen halb verdutzt, halb unwirsch an.

»Entschuldigung? Mensch, du bist wohl nicht recht bei Trost? Denkst du, ich hätte kein Herz hinter den Rippen? Und von wegen ›Gute Nacht, Herr Förster‹, da gibts nichts! Ich selber bin auch nur ein armer Schlucker, aber für brave Menschen, die noch weniger haben als ich, liegt alleweil ein Stückchen Brot in meinem Schrank.«

Eduard stand mehr beschämt als erfreut da.

»Herr Förster ...«, begann er zögernd.

»Was denn noch?«

»Ich habe nicht betteln wollen und –«

»Halt den Schnabel, Junge!« schnitt ihm der Alte grob die Rede ab. »Was fällt dir ein? Bei mir gibts keine Spinnefixereien. Wir armen Teufel müssen zusammenhalten. Punktum! – Und nun komm mit, daß wir nicht noch länger in dem armseligen Wetter herumstehn!«

Er stapfte weiter, und Eduard folgte ihm.


 << zurück weiter >>