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2. Der rätselhafte Besuch

An der Stelle, wo der schmale Waldpfad auf die breite Fahrstraße zum Forsthaus mündete, verhielt der Alte lauschend den Schritt.

»Horch! Hörst du etwas? Da unten kommt ein Schlitten! So spät noch und bei diesem Schneetreiben? Seltsam! Na, Pascher werdens nicht grad sein, denn die fahren für gewöhnlich nicht im Schlitten; oder sie hängen wenigstens keine Schellen an ihre Gäule.«

Sie schritten weiter. Die Straße ging bergan; dennoch wurden die Wandrer von dem Schlitten bald eingeholt. Dicht neben ihnen hielt das Gefährt; der Kutscher grüßte.

»Guten Abend, Leute! Sind Sie hier bekannt?«

»Das will ich meinen!« brummte der Förster, der sich nicht gern mit fremden Menschen abgab.

»Führt diese Straße zum Forsthaus?«

»Allerdings.«

»Wie weit ists noch?«

»Wollen Sie nur bis zur Försterei?«

»Ja. Dieser Herr will zum Förster Wunderlich.«

»Zum alten Wunderlich? Der bin ich selber.«

Jetzt mischte sich der Fahrgast ein. Er schlug den Pelzkragen vorn auseinander, so daß man sein Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart besser sehn konnte. Das sollte wohl die Vorstellung ersetzen, die der Fremde geflissentlich unterließ. »Sie selber sind der Herr Förster? Das trifft sich gut. Wie lange fahren wir noch?«

»Nur fünf Minuten.«

»So steigen Sie bitte mit ein!«

»Danke! Ich kann laufen. Die Straße ist steil und der Schnee tief; ich will die Pferde nicht ...«

»Die sind kräftig, und es handelt sich ja nur um eine kleine Strecke, wie Sie sagen. Kommen Sie!«

Dabei lüftete der Fremde schon die Schlittendecke.

»Na, wie Sie wollen!« meinte der alte Wunderlich. »Ich bin warm angezogen und kann mich hinten auf die Pritsche setzen. Dieser Bursche aber trägt seine Sommerkleider, weil er keine andern hat. Nehmen Sie ihn mit hinein!«

Eduard zögerte; aber der Fremde faßte ihn beim Arm und zog ihn ins Gefährt. Förster Wunderlich stieg hinten auf, und so ging die Fahrt weiter.

Gesprochen wurde dabei kein Wort. Der Wind, der schneidend durch den Wald pfiff und die Schneeflocken vor sich hertrieb, ließ keine Unterhaltung aufkommen. Eduard kuschelte sich in die warmen Decken. Der Fremde, der ihm sorgsam Platz gemacht hatte, kümmerte sich nicht weiter um ihn, und Wunderlich hockte stumm auf seiner Pritsche und sann darüber nach, was dieser außergewöhnliche Besuch wohl zu bedeuten hätte.

Nach fünf Minuten sah man, ein wenig abseits der Straße, das Forsthaus unter hohen, schneebeschwerten Tannen auftauchen. Der Kutscher lenkte auf einen Wink Wunderlichs hinüber; aber noch ehe sie anhielten, öffnete sich die Tür; eine behäbige Frauengestalt erschien, eine Laterne in der Hand.

»Guten Abend, Bärbchen!« rief der Förster. »Hat dich das Schellengeläut herausgelockt? Du hast wohl nicht gedacht, daß dein Alter heut so vornehm ankutschiert kommt, he?«

Die Frau trat mit einem erstaunten Ruf vollends auf die Stufen heraus.

»Freilich, freilich – aber den Schlitten habe ich erwartet!«

»Du? Was hast denn du mit dieser Kutsche zu schaffen?«

»Kaum warst du fort, da brachte ein Lohnfuhrmann aus der Stadt zwei Koffer und erklärte, der Herr, dem das Gepäck gehört, würde im Schlitten nachkommen.«

Der Alte warf einen Blick auf den Fremden, der soeben hinter Eduard ausgestiegen war.

»Also sind Sie der Besitzer der Koffer?«

»Stimmt. Und Sie sollen alles Weitere sogleich erfahren. Wollen nur erst eilen, daß wir ins Haus kommen!«

Dabei drückte der Fremde dem Kutscher ein Trinkgeld in die Hand, worauf der Mann einen tiefen Bückling machte und sich vergnügt wieder auf den Schlitten schwang.

»Sie sehn, mein lieber Herr Förster, daß ich die Schiffe hinter mir verbrenne«, lachte der Fremde gutgelaunt. »Ich kann nun nicht zurück und bin in diesem tollen Schneegestöber auf Ihre Gastfreundschaft angewiesen. Wohl oder übel müssen Sie mir jetzt Zutritt gestatten.«

Der Förster, dem die Art des Mannes gefiel, wehrte ab.

»Ist erledigt. Gehn Sie voran!«

Frau Wunderlich leuchtete ihnen durch den dunklen Flur in die Wohnstube, einen niedrigen Raum, dessen Wände mit Holztäfelung verkleidet waren. Die Möbel waren sehr einfach; aber alles glänzte vor Sauberkeit, und der riesige Kachelofen in der Ecke strahlte eine angenehme Wärme aus.

Der Förster bot dem Fremden treuherzig die Hand.

»Willkommen also, Herr! Legen Sie ab und machen Sie es sich bequem! – Mutter, hast du die Suppe fertig? Sie muß heute für zwei Personen mehr langen.«

»Ja, ja, ich gehe schon«, versicherte die Försterin und lief geschäftig hinaus in die Küche.

Der Fremde hatte Pelz und Hut an einen Wandhaken neben der Tür gehängt.

»Bitte, meinetwegen keine Umstände!« widersprach er. »Ich bin nicht hungrig, und ehe ich daran denken kann, meine Beine unter Ihren Tisch zu stecken, muß ich mich Ihnen doch erst vorstellen, damit Sie wissen, wer Ihnen so unvermutet in Ihre gemütliche Häuslichkeit hereinschneit. Gehört dieser junge Mann zum Haus?«

»Nein. Habe ihn unterwegs getroffen und ihn mitgenommen, um hier etwas mit ihm abzumachen.«

»So besorgen Sie das nur vorher! Ich habe keine Eile.«

»Ist mir recht, denn ich möchte den Eduard nicht warten lassen. Hunger tut weh!«

Der Förster gab Eduard, der bescheiden an der Tür stehngeblieben war, einen Wink, ihm hinaus in die Küche zu folgen. Dort stand Frau Wunderlich am Herd und rührte die dampfende Suppe.

»Hier, Mutter, bringe ich dir einen ganz hungrigen Gast. Gib dem Jungen vor allen Dingen einen Teller Suppe! Bei den Hausers steht es schlimm. – Setz dich da an den Tisch, Eduard! So, hier ist das Brot, hier die Butter und da ein Messer! Kannst ihm auch noch ein Stück Wurst bringen, Bärbchen.«

Eduard setzte sich und langte zu. Die Försterin eilte geschäftig hin und her, den Hungrigen zu versorgen. Inzwischen erzählte ihr Mann, was er von Eduard gehört hatte. Auch die Begegnung im Wald erwähnte er. Und Frau Bärbchen machte große Augen dazu, in denen sich zunächst das helle Staunen und dann ein tiefes, ehrliches Mitleid spiegelte.

»O je, o je, ist das eine Not! Da muß man helfen, so gut man kann. Ich werde ...«

»Ja«, unterbrach sie der Förster, »du wirst dem Eduard dann ein Brot einpacken und etwas Mehl und so Verschiedenes. Vergiß auch nicht Holz und einen Sack Kohlen! Er mag sich die Sachen auf den Handschlitten laden. Ich will nur erst mal hineingehn und nach dem Fremden sehn. Scheint kein übler Mann zu sein, aber doch ein sonderbarer Heiliger, weil er gar so geheimnisvoll tut mit seinem Namen. Weißt du etwa was Genaueres, Bärbchen?«

»Nicht mehr, als was ich dir schon gesagt habe. Die beiden Koffer wurden vorausgeschickt, und nun ist er selber da.«

»Na, werde ihm also ein wenig auf den Zahn fühlen. Versorge mir den Eduard gut! Er mag sich nachher noch bei mir verabschieden.«

Als Förster Wunderlich wieder ins Wohnzimmer trat, hatte es sich der Fremde auf dem Sofa bequem gemacht, als wäre er hier zu Haus. Er lachte dem Eintretenden vergnügt entgegen und hielt ihm die geöffnete Zigarrentasche hin.

»Bitte, Herr Förster, nehmen Sie eine, damit ich mir auch eine anbrennen kann! Ich habe verteufelten Appetit danach.«

Aber Wunderlich lehnte ab.

»Danke, Herr! Mit diesen Dingern habe ich mich nie befreunden können. Ich bleibe bei meiner Pfeife. Rauchen Sie in Gottes Namen! Sehn Sie hier, ich zünde mir meinen gewohnten Tabak an. So, und nun können wir uns ein wenig miteinander beschäftigen. Der Junge wird inzwischen draußen gefüttert, der arme Teufel. Es geht ihm wirklich schlecht. Sind schlimme Zustände hier im Gebirge. Sie haben vermutlich gar keine Ahnung davon.«

»Hm«, machte der Fremde. »Ich glaube, ich kenne mich in diesen Dingen aus. Wer ist denn der junge Mensch?«

Damit war das Gespräch abermals bei Eduard Hauser angelangt. Der Förster wiederholte noch einmal genau den Bericht, den er schon seiner Frau in der Küche gegeben hatte. Auf diese Weise kam er selber wieder nicht auf seine Kosten. Er erfuhr immer noch nicht, wer der seltsame Gast seines Hauses nun eigentlich war. Und als er seine Erzählung von den Hausers und ihrer Not zu Ende gebracht hatte, kam Eduard aus der Küche herein, um sich beim Förster zu bedanken und zu verabschieden.

Aber man ließ ihn so schnell nicht fort. Der Fremde, dessen Mitleid mit der armen Weberfamilie erwacht war, hielt ihn noch eine Weile fest.

»Der Förster hat mir von Ihnen mancherlei erzählt. Sagen Sie, junger Mann, können Sie verschwiegen sein?«

Verwundert über die eigentümliche Frage, blickte Eduard Hauser auf den Fremden.

»Gewiß«, sagte er zögernd.

»So nehmen Sie dies beides! Das eine ist der Betrag Ihrer Darlehnsschuld an Seidelmann, und das andre soll für Sie sein, weil Sie der Versuchung zu stehlen so tapfer widerstanden haben.«

Er griff zweimal in seine Börse und drückte Eduard erst in die Rechte und dann in die Linke einige Goldstücke.

Vor freudigem Schreck vergaß Eduard, die geöffneten Hände zu schließen.

»Schockschwerebrett!« rief der Förster. »Ist das Spaß oder Ernst, Herr?«

»Mein voller Ernst und für mich ein großer Spaß.«

»Können Sie denn so ein Heidengeld mir nichts, dir nichts fortgeben?«

»Ich tue mir keinen Schaden dabei.«

»Zum Kuckuck, Herr, das ist eine Sache! – He, Eduard, was sagst du dazu? Dieser Seidelmann kriegt sein Sündengeld, und für dich bleibt auch noch genug übrig. Sieh, nun wird noch alles gut. Morgen früh rede ich mit dem Obersteiger. Denke, daß er dir schon mir zuliebe Arbeit schaffen wird. – Ja, ja, mein Junge, der alte Herrgott lebt noch!«

Jetzt erst gewann Eduard die Sprache wieder. Eine solche Summe hatte er noch nie in den Händen gehabt.

»Herr«, sagte er mit zitternder Stimme, »das kann ich nicht annehmen!«

»Lassen Sie mir nur die Freude!« wehrte der Fremde ab. »Ich bin nicht arm und helfe Ihnen gern. Aber ich stelle die Bedingung, daß Sie schweigen. Niemand als Ihr Vater darf erfahren, von wem Sie das haben; selbst Ihre Mutter braucht es nicht zu wissen, denn Frauen sind in bezug auf Verschwiegenheit nicht immer zuverlässig.«

Eduard spürte, daß ihm die freudige Erregung die Tränen in die Augen trieb. Erst jetzt schloß er die Finger um seinen Goldschatz. Dabei sah er wie träumend zu dem Geber auf.

»Und was soll ich meinem Vater antworten, wenn er mich, nach Ihnen fragt?«

»Sagen Sie ihm, ich sei ein Vetter des Försters und bliebe einige Tage zu Besuch hier!«

Der alte Wunderlich machte große Augen, sagte jedoch nichts. Eduard aber steckte das Geld sorgfältig ein und erhaschte sich schüchtern die Hand des Fremden.

»Herr, ich weiß vor Glück nicht, was ich tun soll. Sie helfen uns aus großer Not. Gott hat Sie uns wie einen rettenden Engel gesandt. Ich möchte ihn bitten, daß ich Ihnen einmal meinen Dank beweisen kann.«

»Nun, vielleicht ist das möglich. Jetzt aber eilen Sie! Wer Glück bringt, der soll nicht zögern.«

Wie im Traum ging Eduard Hauser mit dem Förster hinaus. Der Fremde hörte an der hellen, verwunderten Stimme der Försterin in der Küche, daß die beiden ihr das Geschehene erzählten. Er setzte sich wieder auf das Sofa und versank in tiefe Gedanken, bis der Förster mit seiner Frau zurückkehrte.

»Weiß Gott«, knurrte der alte Wunderlich, »wirklich wie ein Engel sind Sie gekommen; der Junge hat recht. Sie sind ein braver Mann; aber was Sie da von dem Vetter sagten – hm – das stimmt nun doch nicht. Bärbchen ist ohne alle Verwandtschaft, und auch ich kann in allen Töpfen herumstochern, ohne einen Menschen aufzugabeln, der mein Vetter wäre.«

Der Fremde strich sich lächelnd den schwarzen Bart.

»Allerdings bin ich nicht mit Ihnen verwandt; ich mußte dem Burschen aber doch etwas antworten. Da hier kein Mensch wissen soll, wer ich bin, habe ich mich einfach für Ihren Vetter ausgegeben. Ich hoffe, das wird mich bei den Leuten im Ort am besten ausweisen und mir überflüssige Fragerei ersparen.«

»Das wohl; aber, hm, nehmen Sie mir's nicht übel – wenn ich schon auf diese Weise zu einer Vetternschaft komme, so möchte ich selber wenigstens wissen, wer denn eigentlich mein Gevatter ist!«

»Da haben Sie recht. Ich werde Ihnen gern Rede stehn. Ist dieser Eduard Hauser bereits fort?«

»Ja. Er trabt wie ein Weihnachtsmann die Straße hinab.«

»Was für Leute haben Sie sonst noch im Haus?«

»Den Försterburschen und einen alten Waldhüter.«

»Wo stecken sie?«

»Sie schlafen schon, weil sie früh beizeiten hinaus müssen.«

»So sind wir hier ungestört?«

»Das klingt ja außerordentlich geheimnisvoll. Aber Sie können unbesorgt sein. Der Bursche schläft wie ein Ratz; ihn brächten jetzt keine zehn Pferde aus den Federn. Und der Alte stört uns erst recht nicht. Der schläft zwar nicht mehr so fest, aber es fällt ihm im ganzen Leben nicht ein, uns zu belauschen. Ist eine treue und ehrliche Haut.«

»Also kann ich frei reden. Sie wundern sich natürlich, wie ein völlig fremder Mensch mit zwei Koffern um diese Zeit seinen Einzug bei Ihnen halten kann, und so will ich zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich von einem Mann geschickt werde, der ein guter Freund von Ihnen zu sein behauptet.«

»Ein Freund? Hm! Bin in meinem Leben mit dem Wort Freund nicht sehr freigebig gewesen. Die Menschheit ists nicht wert. Mein liebster Freund ist mir mein altes Bärbchen hier. 's gibt wohl, auch noch einige, die mir gewogen sind – aber Freunde? Da habe ich wirklich nur einen einzigen, den ich so nenne. 's ist der alte Meyer, der früher Förster in Wildstein war.«

»Jetzt wohnt er in Dresden, in der Elbstraße.«

»Stimmt! Sie wissen wirklich Bescheid.«

»Ja. Er sagte mir, daß Sie mich nicht von der Tür weisen würden.«

»Das hat er gesagt, der alte Meyer? Ja, dann darf ich ihn auch nicht Lügen strafen. Also nochmals willkommen, Herr! – Hast du die Koffer ins Stübchen schaffen lassen, Bärbchen, und auch alles hübsch vorgerichtet?«

»Natürlich!«

»Nun, so lauf geschwind und sieh nach, ob es noch etwas Eßbares im Haus gibt oder ob uns der Eduard alles davongeschleppt hat! Sie müssen nämlich wissen, daß mein Bärbchen das Letzte hingibt, wenn sie jemand helfen kann.«

Frau Wunderlich wollte sich entfernen; der Fremde aber hielt sie zurück.

»Halt! Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht hungrig bin. Wenn es bei Ihnen mit dem Abendbrot nicht eilt, so möchte ich Ihnen erst sagen, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin.«

»Nun, mein Hunger ist noch zu ertragen. Und da Sie nun einmal geladen haben, so schießen Sie auch los!«

Die drei saßen jetzt beisammen wie gute alte Freunde. Wunderlich ließ seine Pfeife gewaltig qualmen, Frau Bärbchen faltete in Andacht und Spannung die Hände über der Schürze; der Fremde tat noch einen Zug an seiner Zigarre und begann seinen Bericht.

»Ich heiße Arndt; und da ich Gründe habe, hier als Ihr Vetter zu gelten, so bitte ich Sie, mich Vetter Arndt zu nennen.«

»Wenn Sie es so wollen – gern. Also, Herr Vetter, was führt Sie zu uns?«

»Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit. Sie sollen mir entdecken helfen, wer die geheimnisvolle Person ist, die man hier das Buschgespenst nennt. Ich muß Ihnen dabei verraten, daß ich eigentlich Detektiv bin.«

Der Förster ließ einen leisen Pfiff hören.

»Ah – hm – so, so! Ein Geheimer!«

»Erraten! Und nun sagen Sie: Hat man hier wirklich keine Ahnung, wer das Buschgespenst ist?«

Wunderlich zog die Brauen hoch, erwiderte aber nichts. Das gab seiner Frau Gelegenheit, in das Gespräch einzugreifen. Sie gehörte zu den Leuten, denen ein Gruseln über den Rücken lief, sobald nur der Name des Buschgespenstes erwähnt wurde. So saß sie denn auch jetzt verängstigt da und blickte den Fremden scheu von der Seite an.

»Lieber Herr«, sagte sie schüchtern, »ein Gespenst ist eben ein Gespenst oder meinetwegen ein Geist. Wie soll man da wissen ...«

Im Gesicht des Fremden war ein überlegenes Lächeln aufgetaucht. Das sah Förster Wunderlich, und darum fiel er seiner Frau in die Rede.

»Schwatz nicht, Bärbchen! Mußt nicht denken, daß ein Herr Geheimer an Märchen glaubt! Hab' doch ich selber immer schon erklärt, daß es keine Gespenster gibt. Hinter diesem Geist, der die einfältigen Leute hier an der Grenze zum Fürchten macht, steckt ein Mensch von Fleisch und Blut. Soviel ist klar.«

Vetter Arndt nickte zu dieser Rede beifällig.

»Sie haben recht, Herr Förster. Gespenster gibt es nicht. Wohl aber gibt es Menschen, die an Geistererscheinungen glauben, und andere, die sich solchen Aberglauben zunutze machen. Und solch ein Bursche ist das Buschgespenst. Darum war auch meine Frage berechtigt. Unsereiner hat ja Erfahrungen in derartigen Dingen. Ich wette, daß das Gespenst den Leuten, die es schrecken will, in den verschiedensten Masken erscheint. Können Sie mir darüber etwas sagen?«

»Hm«, brummte der Förster, »das Buschgespenst soll weiß aussehn wie frisch gefallener Schnee, und groß soll es sein wie ein Riese und soll feurige Augen haben wie rollende Räder. Aber da weiß keiner etwas Genaues. Das ist sicher alles nur Geschwätz. Das andere aber hat seine Richtigkeit: Es gibt hier einen Unbekannten, der sich als Beschützer der Pascher aufspielt. Der erscheint in kurzer, enganliegender Jacke, mit breitkrempigem Hut und hohen Schaftstiefeln. Um den Leib trägt er einen Gurt mit Messer und Revolver, vor dem Gesicht eine Maske, und über der Schulter hat er ein Gewehr hängen. Dieser Unbekannte behauptet, im Namen des Buschgespenstes zu erscheinen. Er preßt Leute, die in Not sind, zur Pascherei, fördert und beschützt die Schmuggler auf alle Art und spielt denen übel mit, die etwas gegen das Treiben der Pascher unternehmen.«

»Dann wiederhole ich meine Frage von vorhin«, erklärte Arndt. »Hat man denn keine Ahnung, wer dieser Mann ist?«

»Keine. Er kommt, als hätte ihn plötzlich der Wind hergeweht, und verschwindet wieder, als hätte ihn die Erde verschluckt. Glauben Sie mir, Herr Vetter, es ist kein Wunder, daß sich die Dorfbewohner vor ihm fürchten!«

»Also ein gerissener und verwegener Verbrecher, bestimmt kein gewöhnlicher Mann.«

»Nein, gewiß nicht. Es gehört schon ein tüchtiger Kerl dazu, solch eine verzweifelte Bande wie die Schmuggler zu leiten und im Zaum zu halten. Der Unbekannte scheint manchmal allwissend und allgegenwärtig zu sein, ein wahrer Teufel!«

»Lassen Sie den Teufel aus dem Spiel! Bleiben wir bei den Menschen! Ich hörte auf der letzten Haltestelle, daß hier gestern abend wieder ein Verbrechen verübt worden ist.«

»Ein Grenzoffizier ist erschossen worden«, nickte Wunderlich; »jedenfalls von einem Untergebenen des Paschers.«

»Und man hat keine Spur des Täters gefunden?«

Auf diese Frage wollte Wunderlich von dem Zettel erzählen, der in der Tasche des Toten gesteckt hatte; aber der neue Vetter wehrte ab.

»Weiß schon, weiß. Das ist natürlich nur ein Trick des Verbrechers, womit er sein Treiben verschleiern will. Er versteckt sich gewissermaßen hinter das Gespenst und macht sich die abergläubische Furcht der Grenzbewohner zunutze, wie ich schon sagte. Hier aber meinte ich eine regelrechte Fährte im Schnee. War da nichts zu sehn?«

»Der Wind hat alles verweht«, erklärte Wunderlich. »Wir haben nach Kräften gesucht; ich war selber dabei. Vielleicht ist es möglich, im Frühling noch etwas zu finden, wenn der Schnee fortgetaut ist. Ach, mein lieber Herr, es ist ein wahrer Jammer! Man möchte sich gradezu fürchten, jetzt hier im Wald zu wohnen. Ich habe mein Leben jedenfalls nur meiner Vorsicht zu verdanken; ich tue meine Pflicht als Förster und menge mich niemals in die Angelegenheiten der Pascher. Das ist allein Sache der Grenzbeamten.«

»Wollen Sie mir damit andeuten, daß ich nicht auf Ihren Beistand rechnen kann? Meine Aufgabe ist es ja, das Geheimnis des Buschgespenstes zu lüften.«

»Hm! So habe ich das nicht gemeint. Hier liegt ein gemeiner Mord vor, und er ist in meinem Wald geschehn – da habe ich als Förster die Pflicht, den Fall aufzuklären. Nur glaube ich, Herr Vetter, es wird für die Geschichte von Vorteil sein, wenn ich mich bei den Nachforschungen nicht grad in den Vordergrund dränge. Sie werden mir darin später recht geben.«

»Mag sein, und ich verlange auch gar nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir heimlich helfen. Es darf ja auch von mir kein Mensch ahnen, weshalb ich hier bin.«

Der Förster nickte bedächtig. Er begann, sich für das Vorhaben des angeblichen Vetters zu erwärmen.

»Haben Sie schon einen Plan?« forschte er. »Auf welche Weise wollen Sie denn die Sache anpacken?«

»Darüber bin ich mir noch nicht klar. Vor allem werde ich mich hier ein wenig umsehn.«

»So wünsche ich Ihnen Glück, Herr Vetter, obwohl ich am Gelingen zweifle.«

»Sie zweifeln von vornherein? Weshalb?«

Der Förster überflog Arndts Gestalt mit einem prüfenden Blick.

»Hm, Sie sind kräftig gebaut und scheinen gewandt und beweglich zu sein. Aber ob Sie den Mühen und Gefahren gewachsen sind, denen Sie hier entgegengehn, das fragt sich noch. Sie müssen bedenken, man hat schon allerlei versucht, dem Buschgespenst auf die Spur zu kommen und das Treiben der Pascher zu unterbinden, und alles war ohne Erfolg. Sollten Sie da mehr Glück haben?«

Arndt zuckte die Schultern.

»Das wird sich zeigen. Jedenfalls werde ich alles daransetzen, das geheimnisvolle Buschgespenst zu fangen, in dessen Händen die Fäden aller verbrecherischen Machenschaften hier an der Grenze zusammenlaufen. Ich weiß nicht, ob ich mich vor dem Unbekannten, Mann gegen Wann, fürchten müßte; auch kann ich nicht sagen, ob ich ihm, der doch jedenfalls ein gut Teil Verschlagenheit besitzt, an List gewachsen bin. Aber versucht muß es werden. Einen Vorteil habe ich dabei vor ihm voraus.«

»Und der wäre?«

»Ich weiß um seine Schliche, er dagegen hat keine Ahnung von meiner Absicht.«

Hier erlaubte sich der Förster, ein wenig überlegen zu lächeln, und da ihn sein Gast fragend ansah, bekannte er offen seinen Zweifel.

»Vorläufig«, sagte er, »vorläufig, Herr Vetter! Im übrigen, meine ich, wird dieser gerissene Bursche mit der Zeit dahinterkommen, daß ein bestimmter Mann, nämlich Sie, ihm auf der Fährte liegt.«

»Sie sagen: ein bestimmter Mann. Wie nun, wenn ich es fertigbringe, nicht immer als ein und derselbe zu erscheinen? Sie werden wohl wissen, daß eine gewisse Verwandlungskunst zu meinem Handwerk gehört.«

Der Förster lächelte immer noch oder vielmehr schon wieder.

»Habe davon gehört, denke aber, daß man eine Perücke und einen falschen Bart ohne weiteres erkennt.«

»So? Das denken Sie? Wollen einmal sehn!«

Arndt stand auf und trat an die Ofenbank auf der ein gefülltes Waschbecken stand. Während er einen Zipfel seines Taschentuchs in das Wasser tauchte, fragte er über die Schulter zurück: »Für wie alt halten Sie mich?«

»Vierzig ungefähr.«

»Und jetzt?«

Er griff sich an den Kopf, ein Ruck, er drehte sich um. Sein schwarzes Haar war plötzlich blond. Der Förster riß die Augen auf, während seine Frau einen Ruf der Überraschung ausstieß.

Arndt aber lächelte.

»Nun, hatten Sie bisher gemerkt, daß ich eine Perücke trug?«

»Nein, wahrhaftig nicht, und ich habe mir Sie genau angesehn, als ich noch nicht wußte, woran ich mit Ihnen war.«

»Sehen Sie! Und nun will ich Ihnen noch mehr zeigen.«

Der Fremde nahm auch noch den Bart ab. Dann fuhr er sich mit dem feuchten Taschentuch zwei-, dreimal wie glättend übers Gesicht.

»So. Was sagen Sie nun, Herr Förster?«

»Heiliger Strohsack, das hätte ich allerdings nicht für möglich gehalten! Vorhin sahen Sie aus wie vierzig, dann wie dreißig, und nun erscheinen Sie mir noch jünger. Das ist allerdings ein Kunststück, das Ihnen so leicht keiner nachmacht, Herr Geheimer! Jetzt glaube ich's fast, daß Sie einem Verbrecher, dem Sie auf der Spur sind, dreimal nacheinander vor der Nase herumspazieren können, ohne daß der Betreffende merkt, daß ihm immer nur ein und derselbe vor Augen steht. Meinst du nicht auch, Bärbchen?«

Die brave Försterin nickte nur. Worte fand sie nicht. Sie war ganz Staunen und Bewunderung. Arndt aber erzählte den schlichten Leuten, die in ihrem einsamen Weltwinkel so gut wie gar nicht mit dem lauten Treiben der Welt da draußen in Berührung kamen, von den Schlichen und Kniffen, deren er sich bei der Ausübung seines schweren, gefahrvollen Berufs bedienen mußte. Er berichtete von allerlei Verkleidungsstücken, zum Beispiel von einem Rock, den man auch umgewendet tragen konnte, an dem einzelne Teile einzuschlagen waren, der vier Ärmel hatte, den man sogar in einen Mantel zu verwandeln vermochte. Er erzählte, wie man Gang, Stimme und Gebärde verändert, je nachdem man einen schlichten Mann oder einen hohen Herrn, einen Jüngling oder einen Greis darstellen will.

Das alles waren blanke Wunder für die Förstersleute. Ihre Achtung vor dem Vetter Arndt wuchs von Minute zu Minute, und damit wuchs auch die Zuversicht des Försters in das Gelingen der Pläne, die hier gegen das Buschgespenst geschmiedet wurden.

Wunderlich dachte sich schon gänzlich hinein in die Ereignisse, die nun kommen würden, und begeisterte sich mehr und mehr für die Helferrolle, die er dabei spielen sollte. Im Lauf dieser Erwägungen kam ihm dann noch ein Bedenken, das er dem Vetter Arndt denn auch sogleich vortrug.

»Herr«, meinte er, »jetzt wird mir bald selber bange, ob ich Sie auch immer erkennen werde, wenn ich Ihnen da oder dort einmal in einer Ihrer Masken begegne.«

»Gut, daß Sie daran denken«, nickte der Geheime. »Ich ersehe daraus, daß Sie mir brauchbare Dienste leisten werden. Wir müssen ein Erkennungszeichen ausmachen, und zwar eines, das keinem andern auffallen kann. Wie wäre es mit folgendem Vorschlag: wenn wir uns am Tag von weitem sehn, werde ich mit der rechten Hand vom linken Ohr zum rechten greifen.«

»Hm. Und des Abends im Dunkeln?«

»In einem solchen Fall werde ich trachten, sofort nahe an Sie heranzukommen. Dann flüstere ich Ihnen zu: ›Der Fremde‹. Sind Sie einverstanden?«

»Natürlich! Das gefällt mir sogar ganz ausgezeichnet. Es ist so recht abenteuerlich und klingt grad wie in einem Roman.«

»Also wären wir einig und hätten nur noch die Hauptsache zu erledigen: Kann ich nach all meinen Darlegungen nunmehr auf unbestimmte Zeit bei Ihnen wohnen?«

»Da braucht es doch keine Frage«, meinte Frau Barbara.

»Versteht sich von selbst«, brummte der Förster. »Sie arbeiten für eine gute Sache, an der ich den lebhaftesten Anteil nehme, und dann – na ja, dann gefallen Sie mir überhaupt. Ich kann das nicht herausfinden und erklären; aber es ist mir grad, als wären wir schon lange Zeit miteinander bekannt.«

»Ja, so geht es einem zuweilen, lieber Herr Vetter.«

»Und nun immer noch etwas Wichtiges! Wie soll ich Sie bei der Behörde anmelden?«

»Das tue ich selber. Ich werde dafür sorgen, daß mir weder die Polizei noch die Grenzbeamten etwas in den Weg legen. Denn als Geheimer habe ich meine Ausweise. Das lassen Sie also getrost meine Sorge sein! Ich muß Sie nur noch bitten, einen Preis für Wohnung und Essen zu bestimmen.«

»Das fehlte noch! Einer, der kommt, den armen Leuten hier aus dem Elend zu helfen, soll mich bezahlen? Das wäre noch schöner. Sie kriegen, was wir selber haben, und das ist umsonst. Punktum!«

»Gut, abgemacht, und das übrige vorbehalten! Hier meine Hand! Die Frau Muhme mag jetzt sehn, ob sie noch etwas zu essen für uns findet; Sie aber, Herr Vetter, zeigen mir vielleicht inzwischen einmal, wo ich hausen soll, und wo meine Koffer sind.«

Die Försterin lief eilfertig in die Küche. Wunderlich aber erhob sich bedächtig.

»Kommen Sie! Das Fremdenstübchen befindet sich im ersten Stock. Vornehm sind wir nicht eingerichtet; aber ein weiches Bett werden Sie haben, einen Tisch, einen Stuhl, einen Spiegel und sogar einen Stiefelknecht. Den habe ich mir aus einem birkenen Zwiesel geschnitten.«

Er lachte und führte den Gast die Treppe hinauf in einen kleinen behaglichen Raum, wo schon die Koffer standen.

Draußen war inzwischen der Mond aufgegangen, und der Schneefall hatte aufgehört. Der Förster trat ans Fensterchen und deutete hinüber zum Wald.

»Sehn Sie da drüben die drei Riesentannen? Nahe bei der mittleren hat der ermordete Grenzer gelegen.«

»Also gar nicht weit von hier?«

»Gar nicht. Wollen wir morgen vormittag einmal zusammen hingehn?«

»Ich wollte dieselbe Frage soeben aussprechen. Wir gehn, und Sie haben die Güte, mir an Ort und Stelle alles ausführlich zu berichten. Vielleicht komme ich dabei auf einen Gedanken.« –

Dann war der Mann, der das geheimnisvolle Buschgespenst zur Strecke bringen wollte, allein. Er stand am Fenster des Stübchens – das Licht hatte er ausgelöscht – und starrte sinnend hinaus in die Mondnacht, hinüber zu den drei Tannen, bei denen man den toten Grenzbeamten gefunden hatte.

Er sah, wie sich ein verlorener Mondstrahl im Geäst der riesigen Bäume fing und sich in ihrem schweren Schneebehang spiegelte. Mit leiblichen Augen sah er das. Darüber hinaus aber malte ihm die Phantasie ein vollständigeres Bild. Ihm war, als läge der Ermordete noch drüben im Schnee, und dann schien eine weißverhüllte Gestalt neben der Leiche aufzutauchen, lautlos, gespenstisch. Und plötzlich hob sich die Rechte des Toten wie eine Schwurhand, und eine dumpfe Stimme sagte: ›Ich klage an, dich klage ich an, dich, das Buschgespenst!‹

Da sank die weiße Gestalt in sich zusammen, und an ihrer Stelle stand, wie durch Zauber geschaffen, ein Mann in Joppe, Filzhut und Schaftstiefeln, vor dem Gesicht eine Maske, über der Schulter ein Gewehr.

Und wieder ertönte die Stimme: ›Ich klage an, dich klage ich an, dich, das Buschgespenst!‹ Diesmal aber kam noch ein Nachsatz hinzu, der wie der Hilferuf eines Ertrinkenden klang: ›Schandtat um Schandtat wird hier verübt. Wo bleibt der Rächer?‹

Dem Mann am Fenster war es, als hallten die letzten Worte schaurig mahnend nach. Da richtete er sich hoch auf.

»Ich bin der Rächer«, sprach er laut und deutlich vor sich hin. »Viel alte Schuld ist hier zu sühnen, Schuld auch, um die nur ich noch weiß. Und ich werde nicht ruhen, bis die Gerechtigkeit den Sieg errungen hat.«

Er wendete sich ab vom Fenster, indessen draußen eine schwarze Wolke über den Mond zog. Ein Nachtvogel strich schweren Fluges an den alten Tannen vorbei und eilte hastig waldeinwärts, als wäre er ein Späher des Buschgespenstes und müßte seinem Herrn und Gebieter die Botschaft zutragen, daß im Forsthaus ein Fremder aufgetaucht sei, der sich unterfing, den Rächer zu spielen.

*

Unterdes hatte Eduard Hauser seinen Heimweg fast beendet. Bei dem Gedanken an die Seinigen schlug ihm das Herz laut vor Freude. Einen Schlitten voll Holz und Kohlen zog er hinter sich her, darauf einen großen Korb voll Eßwaren – das waren Dinge, die ihm vor einer Stunde noch als unerreichbare Schätze erschienen waren.

Die Straße führte fast immer bergab. So stellte er sich auf die Kufen des Schlittens, ließ ihn laufen, was er laufen wollte, und lenkte ihn nur in den Kurven mit dem linken oder dem rechten Fuß.

An der Tür des Häuschens, das die Seidelmanns seinem Vater demnächst wegpfänden wollten, ließ er sein Gefährt einstweilen stehn und eilte in die Wohnstube. Hier saßen die Seinen fröstelnd um den Tisch. Beim Ofen aber kniete das Engelchen. Eduard traute kaum seinen Augen. Es war wirklich Angelika Hofmann, die sich da bemühte, mit einigen Scheiten Holz und einem kleinen Häufchen Kohlen ein Feuer anzufachen.

»Der Eduard kommt!« riefen die Geschwister.

»Gott sei Dank!« seufzte die Mutter; man sah ihr an, welche Angst sie um ihn ausgestanden hatte.

Engelchen sprang von der Diele auf.

»Aber, Eduard, wo warst du denn so lange? Wir alle haben große Sorge um dich gehabt.«

Eduard rieb sich die erstarrten Hände.

»Hu, abscheulich kalt! Zeit, daß ihr Feuer macht! – Hat euch der Nachbar ausgeholfen, Mutter?«

»Ein paar Scheitchen Holz und zwei Schaufeln Kohlen hat er uns geborgt. Mehr könnte er nicht tun, sagte er, weil er mit seinem Vorrat noch bis zum Winterende reichen müsse.«

»Habt ihr Kartoffeln gekocht?« erkundigte sich Eduard weiter.

»Noch nicht. Das Holz wollte nicht brennen.«

»So, so, ihr habt also gehungert.« Eduard war gar nicht wie sonst; er brachte es fertig, zu all dem Elend, das er hier vor Augen hatte, zu schmunzeln. Und nun platzte er auch noch übermütig-froh heraus: »Und ich habe zu Abend gegessen wie ein König!«

»Was denn, was?« drängten sich die Geschwister neugierig um ihn.

»Graupensuppe, eine große Schüssel voll, und Butter und Brot und Wurst dazu!«

»Oooh!« dehnten die Geschwister staunend und ein wenig sehnsüchtig und neidisch dazu.

Vater und Mutter sahen einander fragend an. Jetzt verstanden sie ihren Eduard nicht mehr. Auch das Engelchen machte ein verwundertes Gesicht.

Eduard aber lachte.

»Wartet, ihr sollt auch euer Teil haben!«

Er sprang hinaus und holte erst den Eßkorb herein.

»Hier, Mutter, ist ein gutes Mittel gegen den Hunger!«

Mit diesen Worten war er schon wieder draußen, um das Holz und die Kohlen in den Abstellraum zu schaffen. Nur etwas davon nahm er mit in die Stube, um einmal richtig einzuheizen.

Aber er kam vorerst gar nicht dazu. Gar zu fragend hingen aller Augen an ihm, Augen, in denen neben grenzenlosem Staunen die helle Freude zu lesen stand. Frau Hauser hatte stumm die Hände gefaltet. Engelchen wußte nicht, was das alles bedeuten sollte. Der Vater aber verschaffte sich kurz Gewißheit.

»Nun sag mal, Junge, woher hast du das alles?«

»Vom Förster Wunderlich und seiner Frau.«

»Das begreife ich nicht. Die Wunderlichs sind gute Menschen, das weiß das ganze Dorf. Aber wie kommen sie dazu, dich so zu beschenken?«

»Das will ich euch erzählen. Vorher aber packt nur erst einmal aus und seht richtig nach, was ich alles mitgebracht habe! Da ist Brot und Butter und eine ganze Wurst, auch ein Stück Speck! Und da ist Mehl und Zucker und Kaffee!«

»Kaffee, Kaffee!« jubelten die Geschwister. Die Kleinen hatten früher schon einmal Kaffee zu trinken bekommen. Sie wußten, was für ein Genuß das war.

Es gab ein allgemeines Auspacken und Staunen und Jubeln. Dann mußte die Mutter gleich das Brot anschneiden, um den ärgsten Hunger der Kinder zu stillen. Vater Hauser aber bestand darauf, wissen zu wollen, wie das alles zugegangen war. Er war ein Mann des nüchternen Verstandes und glaubte nicht recht an Märchen.

So erzählte denn Eduard, was er im Wald erlebt hatte. Er bekannte ganz offen, daß er beinahe zum Holzdieb geworden wäre. Auch davon sprach er, daß er eine Minute lang geglaubt hatte, zwischen den verschneiten Stämmen das Buschgespenst zu sehn. Schließlich kam er zu der Begegnung mit dem Förster.

Nun aber bog er ab. Er verschwieg das Zusammentreffen mit dem Fremden. Der Mann, der ihm die Goldstücke so freigebig in die Hand gedrückt hatte, sollte sich nicht über ihn ärgern müssen. Der Unbekannte hatte ihn zwar nur ermahnt, den Geber des Geldes nicht zu nennen, ausgenommen seinem Vater gegenüber. Aber Eduard entnahm daraus, daß es geraten sei, von dem Fremden vor der ganzen Familie überhaupt nicht zu sprechen. Also erzählte er nur, daß ihn die Wunderlichs gastlich aufgenommen und überdies auch noch reich beschenkt hätten, nachdem er ihnen von seiner Not berichtet hatte.

Engelchen war die erste, die sich dazu äußerte.

»Das finde ich sehr anständig von dem Alten«, erklärte sie. »Eine solche Tat hätte ich dem Brummbär eigentlich gar nicht zugetraut. Habe immer gedacht, er könnte nur mit mir freundlich sein, während er andre Leute meist anzuknurren pflegt.«

Vater Hauser aber deutete sich die Freigebigkeit des Försters auf seine Art.

»Jetzt kann ich mir denken, wie alles gekommen ist. Wunderlich hat von dir gehört, wie dir die Seidelmanns mitgespielt haben. Da hat er gedacht: Wartet, euch will ich zeigen, daß die Hausers nicht bloß von eurer Gnade abhängig sind! Er ist nämlich nicht gut zu sprechen auf die Seidelmanns. Das weiß ich, er hat es mir selber einmal gesagt.«

Die kleinen Geschwister kauten bereits an ihren Butterbroten. Die Mutter machte sich schon daran, Kartoffeln zu waschen und aufs Feuer zu setzen. Engelchen räumte die kostbaren Vorräte in den Schrank. Eduard aber saß am Tisch und strahlte einen um den andern der Reihe nach an.

Da war es ihm, als hätte er aus dem Mund der Mutter plötzlich einen leisen Seufzer vernommen. Das machte ihn stutzig. Was hatte denn die Mutter zu seufzen, wenn ihnen plötzlich das Glück ins Haus geschneit war? Er fragte sie offen darum, und sie gab ihm ebenso rückhaltlos Bescheid.

»Sieh, Eduard, du hast uns gewiß eine große Freude bereitet, und ich bin dem lieben Herrgott von Herzen dankbar, daß er uns so unvermutet aus der ärgsten Not geholfen hat. Aber die Sorgen sind wir darum noch lange nicht los. Was soll denn weiterhin werden? Wie lange werden die Vorräte reichen? Es kommt ja nichts hinzu, wenn wir keinen Verdienst mehr haben. Und dann ist die Schuld fällig. Wie sollen wir denn die zurückzahlen? Eines Tages werden wir wieder nichts zu essen und obendrein nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf haben.«

Die Rede der Frau wischte mit einemmal die heitere Stimmung wieder aus, die über den Menschen in dem kleinen Raum gelegen hatte. Finster drohend stand abermals die Sorge auf der Schwelle. Aber Eduard scheuchte sie von neuem mit einem raschen Wort hinweg, eigentlich mehr mit einer raschen Geste.

Er griff in die Tasche, in der die Goldstücke des Fremden steckten, und zählte die blanken runden Dinger eins nach dem andern lächelnd auf den Tisch.

»Da und da und da und da!« Es wurde eine ganze Reihe. »Langt das nun? Oder ist es nicht mehr, als wir brauchen, um Seidelmann zu bezahlen? Seht, das bleibt noch übrig, und der Förster hat mir auch noch versprochen, sich im Bergwerk beim Obersteiger für mich zu verwenden, daß ich dort Arbeit bekomme. Wollt ihr noch mehr?«

Jetzt freilich jubelte die Mutter auf in einem Glücksgefühl, wie es die schlichte Frau in ihrem ganzen Leben kaum je gekannt hatte. Das Engelchen erstarrte fast vor ehrfürchtigem Staunen. Nur Vater Häuser runzelte bedächtig die Stirn.

»Junge«, sagte er mit ernster Betonung »jetzt kommt mir aber die Geschichte ein wenig sonderbar vor. Das Geld kannst du nicht auch von Wunderlich haben.«

»Hab' ich auch nicht.«

»Sondern?«

»Das muß ich dir unter vier Augen erzählen, Vater.«

Die Augen des alten Webers tauchten tief in die des Sohnes. Es war eine stumme Frage und eine stumme Antwort. Dann nickte der Vater.

»Ich mißtraue dir nicht, Junge. Aber das mußt du zugeben, das Gold liegt nicht auf der Straße. Also komm mit mir hinaus in die Kammer und sage mir, was du zu sagen hast!«

Eduard folgte dem Vater, nachdem er ihm das Geld in die Hand gedrückt hatte. Drüben berichtete er von dem Fremden, der im Schlitten gekommen und im Forsthaus abgestiegen war. Er wußte nicht viel über diesen Mann zu erzählen, nur eben, daß sich der Unbekannte als Vetter des Försters vorgestellt habe und so wunderbar hilfsbereit gewesen sei. Häuser schüttelte ein über das andere Mal den Kopf, fand aber keinen Grund, dem Sohn nicht zu glauben. So gingen die beiden schließlich wieder hinüber in die Stube, wo ihnen Blicke voll Spannung entgegensahen.

»Es ist gut«, erklärte Hauser, »Eduard hat mir alles berichtet. Wir können das Geld getrost nehmen. Die Sache ist rechtlich und einwandfrei. Die Goldstücke sind das Geschenk eines edelmütigen Freundes der Armen. Und nun kommt! Wollen uns gemeinsam an den Tisch setzen und endlich einmal alle Sorge und Not vergessen!«

Das Feuer knisterte im Ofen, und das Wasser begann im Topf zu singen. Nach und nach würde es warm in dem niedrigen Raum, und auch die Menschen wurden warm und lebendig. Um so merkwürdiger mutete es an, daß grad Engelchen, die doch überhaupt keine Sorgen hatte, so einsilbig dabeisaß.

Eduard hatte das bald bemerkt, und als sie heimging, begleitete er sie, um das geliehene Holz und die zwei Schaufeln Kohlen gleich wieder zurückzugeben. Dabei forschte er nach dem Grund ihrer Schweigsamkeit.

»Hat dich jemand von uns gekränkt, Engelchen?«

»Nein, Eduard, gewiß nicht.«

»Du wurdest ernst, während wir fröhlich waren.«

»Nur weil ich an den Vater dachte, der so unfreundlich gegen den deinigen war. Er hätte ihm die kleine Gefälligkeit am liebsten abgeschlagen.«

»Und warum?«

Sie kannte den Grund, mochte ihn aber nicht nennen. Auch war ja die Ursache ihrer Schweigsamkeit eine ganz andre. Sie hatte an das Vergnügen gedacht, zu dem sie aufgefordert worden war. Das Paket mit dem Maskenanzug und der Einladungskarte des ›Kasinos‹ war bereits bei ihr abgegeben worden. Sie hatte sich im Geist in den Ballsaal versetzt – und wie sehr stach dieses Bild gegen die ärmliche Stube der Hausers ab! Hatte der Vater nicht letzten Endes recht mit seinen Vorhaltungen? Waren Hausers wirklich die Leute, mit denen sie verkehren durfte – sie, die sogar vom ›Kasino‹ eine Einladung bekam?

»Kennst du den Grund?« drängte Eduard.

»Nein«, antwortete sie zögernd. Es war das erstemal, daß sie den Nachbarssohn belog. Eduard suchte inzwischen von sich aus nach einer Erklärung.

»Vielleicht sind wir deinem Vater nicht gut genug?« meinte er.

»Was du gleich denkst!« beugte sie schnell vor. »Möglich, daß er nur darum so kurz gegen deinen Vater war, weil er grad viel im Kopf hatte.«

»Hat er etwa von den Seidelmanns ein schwieriges Muster erhalten? Ich will ihm gern helfen die Fäden auszurechnen.«

Das hatte Eduard schon oft getan; er war ein geschickterer Weber als Hofmann. Aber Engelchen wehrte ab.

»Die Sache betrifft gar nicht ihn, sondern mich.«

»Dich? Wieso?«

Angelika reckte das kleine Näschen ein wenig stolz und hochmütig in die Luft.

»Ich habe ein Paket bekommen.«

»Und das geht deinem Vater im Kopf herum? Das verstehe ich nicht. Sprich doch deutlicher! Du bist so sonderbar. Was war denn in dem Paket?«

Angelika war im Grund ihres Wesens ein braves, gutes Mädchen, aber sie hatte eine Charakterschwäche, die sie wohl von ihrem Vater ererbt hatte: das war die Eitelkeit. Die Einladung des Unbekannten, der ein Mitglied des ›Kasinos‹, also ein wohlhabender, vornehmer Mann sein mußte, hatte ihr mächtig geschmeichelt. Darüber konnte sie sogar bis zu gewissem Grad ihre Zuneigung zu Eduard Hauser vergessen. Deshalb brachte sie es jetzt fertig, ein wenig mit ihm zu spielen, indem sie ihm die Neuigkeit, über die er sich gewiß nicht freute, so nach und nach mitteilte.

»Es hat eben eine ganz besondre Bewandtnis mit diesem Paket«, zierte sie sich. »Rate einmal, was darin war!«

»Wie soll ich das wissen? Vermutlich ein Geschenk.«

»Ja und nein. Das Paket enthielt ein Maskenkostüm ...«

»Ein ... was?«

»Ein Kleid, wie man es zu einem Maskenball trägt. Weißt du nicht, was das ist?«

Eduard wurde immer verwirrter. Was redete das Engelchen da von einem Maskenball? Er hatte gehört, daß am Fastnachtsdienstag im Gasthof des Orts ein solches Vergnügen stattfinden sollte, veranstaltet vom ›Kasino‹. Aber das war eine Sache, die ihn nichts anging. Die Mitglieder des ›Kasinos‹ gehörten den Kreisen der Wohlhabenden an, die sich von den einfachen Webern ängstlich und überheblich abschlossen. Diesen Maskenball konnte das Engelchen also nicht meinen, denn die Hofmanns waren eben auch nur arme Weber.

Bald aber wurde er eines Bessern belehrt. Angelika tischte ihm brockenweise die volle Wahrheit auf. Da glaubte er zunächst, nicht recht gehört zu haben.

»Du willst auf den Kasinoball gehn? Du hast eine Einladung dazu bekommen? Von wem?«

»Das weiß ich nicht.«

»Höre, Engelchen, darauf kann ich mir keinen Reim machen. Ein Mensch, der nicht einmal seinen Namen nennt, fordert dich zu einem Vergnügen auf und schickt dir sogar das Kostüm dazu, und das findest du alles richtig und in Ordnung? Was sagen denn deine Eltern dazu?«

Gerade diesen Ton hätte der gute Eduard nicht anschlagen dürfen. Angelika war das einzige Kind und der gehätschelte Liebling des alten Hofmann. Darum konnte sie es nicht vertragen, daß jemand sie schulmeisterte – so nannte sie derartige Belehrungen. Sogleich stiegen in ihr Trotz und Verletztsein auf. Sie warf übermütig das hübsche Köpfchen zurück.

»Kannst sie ja selber fragen, was sie dazu sagen! Vielleicht gibt dir Vater die richtige Antwort. Ich finde es unerhört, daß du mich wegen einer Sache tadeln willst, die selbst meine Eltern billigen. Daß du's nur weißt: Vater kennt den Herrn, der mir die Einladung geschickt hat, und ist stolz auf die Auszeichnung, die seiner Tochter widerfahren soll.«

Eduard erschrak heftig vor dieser Strafrede.

»Aber Engelchen!« stammelte er.

»Ach was, du bist ja nur neidisch, daß du nicht auch dabeisein kannst. Wenn du mich wirklich so gern hättest, wie du immer tust, würdest du mir das harmlose Vergnügen gönnen.«

Eduard in seinem Schreck und seiner Verwirrung lenkte ein.

»Ja, ja, ich gönne es dir ja auch. Mir war das nur alles so – so rätselhaft und ungewöhnlich.«

»Ist auch etwas Ungewöhnliches, daß ein Mädchen aus Hohenthal eine Einladung zu einem Kasinoball bekommt.«

»Nun ja – nun eben. Und deshalb – deshalb dachte ich ...«

»Du dachtest, du müßtest mir dreinreden, und das war gar nicht nett von dir. Solltest dich lieber mit mir freuen! Ich war so stolz und wollte dich gerade fragen, ob du dir das Kostüm einmal ansehn willst.«

»Ich will ja sowieso mit zu euch, um das Holz und die Kohlen abzuliefern.«

»Nein, so geht das nicht. Gib mir das Geborgte nur her! Ich nehme es selber mit hinein. Es ist schon spät, und der Vater könnte verdrießlich werden, wenn ich dich mitbringe und mich dir im Maskenanzug vorstelle.«

»Ach so, du willst mir das Kleid gleich an dir vorführen? Das hätte ich freilich gern einmal gesehn.«

Jetzt gefiel Eduard dem Engelchen wieder besser. Daß er neugierig darauf war, zu wissen, wie sie sich in dem schmucken Kleid ausnahm, das schmeichelte ihr. Darum machte sie ihm einen Vorschlag, der ungewöhnlich viel Entgegenkommen bedeutete.

»Ich will dir etwas sagen: geh ruhig nach Haus! Vater wird sich jetzt bald zur Ruhe legen, dann ziehe ich mich um und komme noch einmal auf einen Husch hinüber zu euch. Mutter wird's erlauben. Also warte!«

»Ja, ja, ich warte.« Eduard wußte nicht, ob er sich über diese Zusage freuen sollte oder nicht. Er wußte überhaupt nichts. »Auf Wiedersehn, Engelchen!«

Er gab ihr die Hand. Sie war eigentümlich kalt. Aber diese Kälte war nicht nur eine Wirkung des winterlichen Frostes; sie kam von innen heraus, von der großen seelischen Erregung, in der sich Eduard befand. Engelchen zuckte zusammen vor dieser Berührung und zog ihre Rechte rasch aus der seinigen. Dann nahm sie ihm hastig den Korb mit dem Holz und den Kohlen ab und verschwand in der Haustür.

Eine Weile stand er und sah ihr nach, bevor er sich zum Gehn wandte. In ihm war eine grenzenlose Leere. Mühsam sammelte er seine Gedanken. Er sann über sich und das Engelchen nach.

Schon als kleine Kinder hatten sie sich gekannt. Er war dem Mädchen ein Freund und ein guter Kamerad gewesen zu aller Zeit. Er hatte nie daran gedacht, sie auch nur einen einzigen Tag entbehren zu müssen; das lag für ihn überhaupt nicht im Bereich der Erwägung. So waren sie aufgewachsen miteinander und nebeneinander. Es war ihm nie eingefallen, sich dabei Rechenschaft über sein Herz zu geben. Bis heute mit einemmal die doppelte Gewißheit niederschmetternd über ihn kam, daß er sie liebte mit jeder Faser seines Herzens, und daß er sie verloren hatte, noch bevor er sich dieser Liebe bewußt geworden war.

So stand er da. Die eisige Kälte der Winternacht umwehte ihn; in seinen Schläfen pochte es; sein Herz hämmerte laut.

»Engelchen«, seufzte er, »ich wollte, ich wäre tot!«

*

Als Engelchen daheim ins Wohnzimmer trat, waren ihre Eltern noch wach. Der Vater begann sogleich wieder von der Einladung zu sprechen und von dem Glück, das ihr daraus erwachsen könne; die Mutter breitete das mit goldnen und silbernen Flittern besetzte Kleid vor ihr aus und gab Ratschläge, wie es hier und da noch zu verschönern wäre.

Angelika war nur halb bei der Sache. Sie dachte an den Unbekannten, der sie als Balldame begehrte. Sicher war er ein vornehmer Herr und dazu ein heimlicher Verehrer von ihr. War das nicht bedeutsam genug, um deshalb die Jugendfreundschaft mit Eduard Hauser beiseitezuschieben? Es lag jetzt vielleicht in ihrer Hand, eine reiche Frau zu werden, sich und die Eltern mit einem Schlag herauszureißen aus der Enge und Bescheidenheit ihres bisherigen Lebens.

Den Weber Hofmann begann schließlich die Einsilbigkeit seiner Tochter und das Geplapper seiner Frau über Spitzen und Schleifen und Bändchen zu langweilen. Er stand auf, gähnte und dehnte sich.

»Ich geh ins Nest. Ihr könnt ja an dem Putz noch herumbasteln, solange es euch gefallt. Verbrennt nur nicht unnütz die ganze Nacht über das Licht! Morgen ist auch noch ein Tag. Gute Nacht!«

Er trollte sich in die Schlafkammer. Jetzt wurde Engelchen munter. Sobald sie sicher war, daß sich der Vater ausgezogen und niedergelegt hatte, offenbarte sie der Mutter ihr Anliegen.

»Ich möchte das Kleid gern einmal anziehn und auf einen Sprung hinüberhuschen zu den Hausers.«

»Jetzt noch? In der Kälte?«

»Ich nehme mein Tuch um. Ach, laß mich nur! Ich habs den Hausers versprochen. Sie freuen sich darauf. Und ich bin doch auch stolz auf das Kleid und möchte mich wenigstens jemand im Dorf einmal so zeigen.«

Da gab die Mutter nach, weil sie auch nicht frei war von törichtem Stolz auf die hübsche Tochter. Nach wenigen Minuten stand das Engelchen als Italienerin da. Die Mutter wollte sie von allen Seiten bestaunen, aber es blieb ihr nicht viel Zeit dazu. Engelchen nahm ihr Umschlagetuch aus dem Spind und huschte zur Tür hinaus.

»In einem Viertelstündchen bin ich wieder zurück.«

Dann trat sie drüben bei den Hausers in die Stube, wo Eduard allein auf sie gewartet hatte. Die Geschwister waren längst ins Bett gebracht worden, und auch die alten Hausers hatten sich zur Ruhe gelegt, weil Eduard ihnen sagte, Engelchen würde noch einmal kommen und sich in einem neuen Kleid vorstellen, aber das sei eine Überraschung nur für ihn. Da gönnten sie ihrem großen Jungen die Freude, denn sie spürten, wie es um ihn stand, und meinten, der Eduard und das Engelchen würden schließlich allen Schwierigkeiten zum Trotz doch einmal ein Paar werden.

Eduard ließ das Mädchen eintreten. Zunächst sah er nur ihr strahlendes Gesicht und das große Umschlagetuch, das ihre Gestalt bis weit hinab verhüllte. Dann aber fiel diese Hülle, und da stand Eduard geblendet und erschrocken zugleich.

Engelchen drehte und wendete sich vor ihm auf den Zehenspitzen, daß das kurze Röckchen flatterte. Sie wartete begierig auf den Ausruf des Entzückens, der ihrer Ansicht nach jetzt unbedingt kommen mußte. Aber Eduard blieb still, befremdlich still, und als sie in seinen Zügen forschte, las sie dort alles andre, nur kein Entzücken.

»Nun, wie gefalle ich dir?« fragte sie ein wenig unsicher.

Da tat der Bursche einen tiefen Seufzer, denn es kostete ihn Mühe, so ehrlich zu sein, wie er hier sein mußte.

»Gar nicht!« bekannte er.

Dem Mädchen stieg eine leise Röte ins Gesicht. Dazu zog sie ein Mäulchen.

»Dann hätte ich mir ja den Weg sparen können. Willst du mir nicht wenigstens sagen, weshalb ich dir nicht gefalle?«

Darauf holte Eduard schwer Atem. Es war nicht so leicht, das in Worte zu kleiden, was er empfand. Er war ein schlichter Dorfbursche und kannte die Frauen und Mädchen nicht anders, als er sie täglich sah, in ihren geschlossenen Blusen und den langen Röcken aus grobem Stoff. Das Maskenkostüm aber, das Angelika trug, ließ Hals und Arme frei, das Mieder war weit ausgeschnitten, und das Röckchen reichte nur gerade bis zu den Knien.

»Ich kann das nicht so sagen«, knurrte er verlegen und verdrossen. »Du wirst schon selber wissen, wie ich's meine. So – so bloß läuft doch kein anständiges Mädchen herum, noch dazu vor fremden Männern.«

Damit hatte er nun freilich etwas Schlimmes angerichtet. Jetzt wußte das Engelchen, das sich verletzt und getroffen fühlte, nichts mehr von Jugendfreundschaft und Kameradschaft dem jungen Menschen gegenüber, der es wagte, ihr in dieser Weise die Wahrheit zu sagen. In ihren Zügen stand plötzlich abweisende Kälte. Mit einer schnippischen Geste fertigte sie ihn ab.

»Da sieht man, daß du nichts von der vornehmen Welt verstehst. Dieses Kleid hier ist die Tracht einer Italienerin. Solche Mieder und solche Röcke sind in Italien Mode. Dort geht jedes Mädchen auf der Straße so. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung. Es tut mir leid, daß ich mir deinetwegen überhaupt den Weg hierher gemacht habe.«

»Engelchen«, unterbrach er sie, »sei doch vernünftig und ...«

»Wärst du lieber vernünftig gewesen und hättest mir zum Dank für meinen guten Willen nicht solche Ungezogenheiten gesagt!«

»Ich war ja nur so sehr erschrocken. Ich – wahrhaftig, ich habe mich richtig geschämt.«

»Schäm dich lieber, so etwas auszusprechen!«

»Ich habe mir vorgestellt, daß du beim Ball vor den fremden Männern so herumläufst. Wenn ich nur daran denke, ist mir's, als müßte ich ersticken. Engelchen, ich bitte dich, ich bitte dich von ganzem Herzen, geh nicht zu dem Vergnügen!«

Dieser Ton, aus dem flehende Angst und aufrichtige Liebe sprachen, hätte zu andrer Stunde gewiß Eindruck auf das Mädchen gemacht, die im Grund ihres Herzens Eduard ebenso liebte wie er sie, nur daß sie sich ihrer Liebe noch nicht bewußt geworden war. Jetzt aber war sie verletzt in ihrer Eitelkeit, war beleidigt und gereizt. Da ging die Erregung mit ihr durch. Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf.

»Laß mich in Ruh mit deinen Redensarten! Es ist genau so, wie ich dir schon gesagt habe. Du gönnst mir das Vergnügen nicht und bist neidisch, daß du nicht dabeisein kannst. Du denkst überhaupt nur an dich. Deshalb soll ich auch zu Haus bleiben, und mir den schönen Abend versagen. Aber das fällt mir gar nicht ein. Außerdem kann ich auch gar nicht anders, der Vater hat es mir gradezu befohlen, der Einladung zu folgen. So, nun weißt du Bescheid. Gute Nacht!«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Eduard wollte noch etwas sagen, aber er brachte kein Wort über die Lippen. Er war körperlich und seelisch wie gelähmt. Lebendig war es nur in seinem Kopf, wo die unsinnigsten Gedanken einen tollen Wirbel vollführten.

Und aus diesem Wirbel heraus wuchs allmählich eine einzige klare Vorstellung: Engelchen weiß nicht, was sie tut. Sie läuft blind in eine furchtbare Gefahr hinein. Du bist ihr Kamerad gewesen von Jugend an, du mußt sie beschützen, auch gegen ihren Willen!

Dann grübelte er über das Wie, grübelte die ganze Nacht hindurch, ohne daß sich ihm ein gangbarer Weg zeigte. Am andern Morgen war ihm der Kopf schwer und wirr, so daß er sich immer wieder zwingen mußte, an der Freude der Eltern und Geschwister teilzunehmen, von denen so plötzlich die drückendste Not abgefallen war.

»Ich gehe zum Obersteiger und frage dort nach Arbeit«, versicherte er dem Vater. Bei sich dachte er: Und dann muß ich irgend etwas unternehmen für das Engelchen ... irgend etwas!


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