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3. Das arme Weberdorf

Am Sonntagmorgen hielten vor der Tür des Seidelmannschen Hauses zwei Lastwagen, von denen Arbeiter einige Webstühle abluden.

»Was willst du mit dem Zeug?« fragte der Rentner seinen Bruder. »Ist ja alles alt und abgenutzt.«

Martin Seidelmann streichelte wohlgefällig sein Kinn.

»Das verstehst du nicht. Diese Webstühle habe ich aus einer Konkursmasse erstanden; das Stück kostet mich bare acht Mark. Wer hier von mir Arbeit haben will, muß einen Stuhl von mir nehmen, entweder durch Kauf oder auf Miete. Ich gebe das Stück zu vierzig Mark ab; die Miete beträgt fünfzehn Mark das Jahr. Wird der Stuhl beschädigt, so ist der Mieter vertraglich gebunden, ihn auf seine Kosten wiederherstellen zu lassen oder vierzig Mark dafür zu zahlen.«

Der Rentner machte ein Gesicht, worin alles mögliche zu lesen stand: Staunen, Anerkennung und boshafter Spott zugleich.

»Du verstehst es, mit dem Pfund zu wuchern, das dir verliehen ist«, sagte er.

Zur gleichen Zeit saß der junge Seidelmann im Kontor und schrieb einen Brief an seinen Freund Strauch, um ihm noch einige Anweisungen für Dienstag abend zu geben. Es sollte doch beim Maskenball alles klappen.

Der Brief war nur kurz. Fritz klebte ihn zu, versah ihn mit der Anschrift und klingelte. Ein junger Bursche trat ein, der im Geschäft als Markthelfer tätig war.

»Du läufst jetzt zur Kreisstadt und gibst Kaufmann Strauch diesen Brief! Beeile dich, daß du bald wieder zurück bist!«

Der Markthelfer machte sich sofort auf den Weg. Er war von dem Auftrag nicht sonderlich entzückt, denn er hatte am gleichen Morgen in aller Frühe schon einen beschwerlichen Gang hinauf zur Bergwerksverwaltung tun müssen. Nun sollte er auch noch in die Stadt gehn und rasch wieder zurück sein.

Verdrossen stapfte der junge Mensch durch den Schnee. Da sah er vor sich auf der Straße einen, der offenbar den gleichen Weg hatte. Als der Markthelfer in dem andern den jungen Hauser erkannte, setzte er sich in leichten Trab, um ihn einzuholen. Dann rief er ihn an.

»Heda, Hauser-Eduard, wart doch ein bißchen!«

Eduard war heute schon frühzeitig beim Obersteiger gewesen, hatte sich auf die Empfehlung des alten Wunderlich berufen und nach Arbeit gefragt, doch der Obersteiger hatte ihn trotzdem nicht angenommen. Darum hatte sich Eduard entschlossen, sein Glück in der Stadt zu versuchen.

Er blieb auf den Anruf stehn. Die beiden jungen Männer begrüßten sich kurz mit einem Händedruck.

»Willst auch in die Stadt?« fragte Eduard.

»Hab einen Brief zu besorgen für den jungen Seidelmann.«

»Und ich will mich drin einmal nach Arbeit umtun.«

Der Markthelfer sah Eduard von der Seite an.

»So, so, nach Arbeit fragen! Noch dazu am Sonntag? Wird schwer halten. Die Zeiten sind schlecht, 's ist nirgends ein Unterkommen zu finden. Das ist auch der Grund, daß ich bei den Seidelmanns aushalte. Sonst könnten sie mir gestohlen bleiben, die Leuteschinder. Weiß der Teufel, warum sie hier so das Heft in der Hand haben! Alles können sie, und alles bestimmen sie. Dir brauch ich das ja nicht zu erzählen. Dir haben sie ja übel genug mitgespielt. Erst kündigen sie dir die Aufträge, und dann – wie war denn das im Bergwerk? Ich habe heute früh einen Brief hinaufschaffen müssen zur Verwaltung. Da hörte ich vorher im Kontor so einiges. Ich glaube, in dem Brief hat was von dir gestanden. Du würdest vielleicht um Arbeit nachfragen, und man sollte dir keine geben, denn du seist ein unzuverlässiger Mensch. Was sagst du dazu?«.

Jetzt wüßte Eduard Hauser, wem er seinen Mißerfolg beim Obersteiger verdankte.

»So eine Gemeinheit!« sagte er zornig. »Möchte nur wissen, was sie gegen mich haben!«

Der Markthelfer zuckte die Achseln. Er konnte den Grund der Feindseligkeit seines Brotgebers gegen den armen Weberssohn erst recht nicht erraten, und Eduard kam es nicht in den Sinn, auf dem Weg über Angelika eine Verbindung zu suchen.

So trotteten die beiden nebeneinander der Stadt zu. Wenn der Wind gar zu eisig pfiff und den Burschen den Atem versetzte, schlief das Gespräch ein. Dann aber lebte es wieder auf. Der Markthelfer sprach davon, daß der Brief, den er zu besorgen hatte, für den Kaufmann Strauch bestimmt sei.

»Den kennst du doch?« meinte er. »Er ist mit Fritz Seidelmann zusammen im ›Kasino‹. Wahrscheinlich handelt es sich um den Maskenball, der am Dienstag stattfinden soll. Ach, haben es die Leute gut! Unsereiner kann sich so was nicht leisten. Möchte nur wissen, wen unser Junior eingeladen hat. Strauch geht natürlich mit seiner Braut hin, mit der Marie Tannert.«

So schwatzte der junge Mensch weiter. Eduard gab ihm nur einsilbige Antworten. Er war nicht recht bei der Sache. Die Erwähnung des Maskenballs wühlte in ihm wieder alle Sorge um das Engelchen auf. So hörte er nur oberflächlich, was ihm der Markthelfer erzählte, aber er hörte es doch, und er ahnte nicht, daß ihm das später von Nutzen sein sollte.

In der Stadt trennten sich die beiden. Der Markthelfer ging zum Kaufmann Strauch, Eduard aber fragte da und dort nach Arbeit, überall ohne Erfolg. Schließlich wurde er es müde, immer wieder an einer fremden Tür zu klingeln oder zu klopfen, sein Sprüchlein demütig herzusagen und sich mit einem kurzen Nein abfertigen zu lassen. An einer Straßenecke stand er und sann über sich und sein Leben nach.

Und seltsam, so arg ihn auch die Sorge um seine Zukunft und um das Los der Seinen bedrängte, immer wieder schob sich in den Vordergrund die Angst um das Engelchen. Immer wieder suchte er nach einer Möglichkeit, sie in den Gefahren zu beschützen, denen sie seiner Meinung nach auf dem Maskenfest ausgesetzt war.

Da kam ihm ein Gedanke. Erste Voraussetzung dafür, daß er sie überhaupt in seine Obhut nahm, war seine Teilnahme an dem Maskenball. Er mußte selber hingehn. Aber wie sollte er das anfangen? Es handelte sich ja um eine geschlossene Gesellschaft. Erkennen würde man ihn dort zwar nicht, denn er konnte in Verkleidung kommen, mit einer Maske vor dem Gesicht. Aber er würde doch überzählig sein. Was war da zu tun?

Auf diese Frage fand Eduard zunächst keine Antwort. Wohl aber kam er zu dem Entschluß, sich auf alle Fälle am Dienstagabend beim ›Kasino‹ einzudrängen. Mochte daraus werden, was wollte. Und so erkundigte er sich denn nach einem Maskenverleihgeschäft. Er hörte, daß es in der Stadt nur ein einziges gab, und ging hin. Die Geschäftsräume lagen im ersten Stock. Unten im Flur griff er erst noch einmal in die Tasche und zählte sein Geld. So reich war er noch nie gewesen. Von dem, was ihm der Fremde im Forsthaus geschenkt hatte, war noch eine ganze Menge übrig. Einen ansehnlichen Betrag davon hatte ihm der Vater als Taschengeld belassen. Das durfte er freilich nicht alles vertun. Aber etwas davon zu opfern, um das Engelchen beschützen zu können, dazu war er fest entschlossen. So stieg er die finstere Treppe empor.

Auf sein Klopfen erschien in dem Türspalt ein scharfknochiges Männergesicht mit einer riesigen Brille auf der Nase.

»Was soll's sein?« klang es aus einem breiten, farblosen. Mund.

»Ich möchte einen Maskenanzug leihen.«

»Bitte, kommen Sie herein! Ist zwar Sonntag, aber wenn die Sache eilt, will ich eine Ausnahme machen.«

Die Stube, in die Eduard trat, hing voll alter Kleider, die einen unangenehmen Geruch verbreiteten.

Der Händler musterte ihn.

»Für wen wollen Sie den Anzug?«

»Für mich.«

»Hm. Es wird nicht mehr viel da sein. Die Herrschaften vom ›Kasino‹ haben bereits meinen ganzen Bestand in Anspruch genommen. Wann brauchen Sie denn das Kostüm?«

»Dienstagabend.«

»Ah, auch zum Kasinoball! Schade. Ich habe gestern noch die beiden besten Anzüge dem Kaufmann Strauch und seiner Braut versprochen. Er will als Türke gehn, Fräulein Tannert als Tscherkessin. Das heißt –«, der Mann mit der riesigen Brille grinste verlegen –, »das habe ich Ihnen nur so im Vertrauen gesagt. Eigentlich darf ich ja nichts verraten. Nicht einmal Fräulein Tannert weiß, daß ihr Verlobter den Türkenanzug gewählt hat. Und nun wollen wir mal nachsehn, was für Sie noch da ist. Ich glaube, ich kann Ihnen nur einen Domino bieten.«

Eduard wußte nicht, was das war, aber er wollte sich keine Blöße geben.

»Zeigen Sie ihn mir, bitte!«

»Einen Augenblick!«

Der Mann ging, Eduard blieb allein zurück. Sein Blick irrte zum Fenster hinaus auf einen winkligen Hof. Einer ist überzählig morgen auf dem Ball, dachte er. Muß dieser eine denn gerade ich sein? Wenn es nun ein andrer wäre, und der andre bliebe weg, dann könnte ich an seine Stelle treten.

Vor ihm stand plötzlich ein halbfertiger Plan, so toll, so unausgereift, wie er nur der Herzensangst eines arglosen, einfachen Burschen um ein vergöttertes Mädchen entspringen konnte. Eduard sann dem seltsamen Einfall nach, da kam der Händler zurück. Was er Domino nannte, war ein alter schwarzer Mantel aus dünnem schlechten Zeug mit einer Kapuze.

»Wollen Sie auch eine Larve dazu?« fragte er. »Ich habe da eine seidne, die das ganze Gesicht bedeckt. Zusammen würde das vier Mark kosten.«

»Ja, ja, ist mir recht«, nickte Eduard gedankenlos.

»Wollen Sie die Sachen gleich mitnehmen?«

»Ich hole sie mir lieber übermorgen.«

»Gut. Aber dann müssen Sie heut eine Mark anzahlen. Es ist zu meiner Sicherheit, weil ich die Maske nun nicht weitergeben kann.«

Eduard zahlte und wendete sich zum Gehn. Da hielt ihn der Maskenverleiher noch einmal zurück.

»Ach bitte, Herr? Auf ein Wort! Mir fällt da etwas ein. Sie könnten mir einen Gefallen tun.«

»Und das wäre?«

»Herr Strauch hat mir gestern, als er das Türkenkostüm bestellte, die Nadel gezeigt, die das ›Kasino‹ für das Maskenfest als Ausweis beim Eintritt ausgibt. Er hat das Abzeichen dann versehentlich hier liegen lassen. Würden Sie es ihm wieder zustellen, damit er es nicht erst vermißt?«

Wunderbare Fügung, dachte Eduard und griff ohne Bedenken zu.

»Wird besorgt«, versicherte er und machte sich eilig davon. Er war jetzt voll froher Zuversicht, daß ihm sein Vorhaben in jeder Hinsicht gelingen müsse, und so vollführte er den unüberlegtesten Streich seines Lebens. Im nahegelegenen Wirtshaus ›Zum Goldenen Ochsen‹ trank er ein Glas Bier und ließ sich Tinte, Feder und Papier geben. Nach kurzem Zögern schrieb er folgenden Brief, wobei er sich bemühte, seine Schrift zu verstellen:

»Herrn Kaufmann Strauch!

Wenn Sie den Maskenball des ›Kasinos‹ besuchen, droht Ihnen schwere Gefahr. Stellen Sie sich krank und bleiben Sie zu Haus! Und sagen Sie vor allem keinem Menschen ein Wort davon, auch nicht von dieser Warnung! Selbst Marie Tannert muß glauben, Sie kommen am Dienstag zum Fest! Ich weiß, daß Sie gehorchen.

Das Buschgespenst.«

Diesen Brief versah er mit der Anschrift und steckte ihn in den nächsten Briefkasten.

Hierauf machte er sich auf den Heimweg.

Wie gesagt, der unüberlegteste Streich seines Lebens war dieser Brief. Hätte er am Tag zuvor in seiner Not die dürre Fichte im Wald wirklich abgesägt und mit heimgenommen, es wäre nicht ärger und nicht anfechtbarer gewesen. Nur mit dem Unterschied, daß sich der junge Mensch keines Unrechts bewußt war, als er sich mit Hilfe dieser Zeilen die Möglichkeit zu schaffen suchte, an Stelle des Kaufmanns Strauch am Dienstagabend unauffällig beim Kasinoball zu weilen, um das Engelchen beschützen zu können. Er wertete in seiner Aufregung nur den Zweck, nicht das Mittel.

Dabei hoffte er felsenfest auf das Gelingen seines Plans und dachte nicht im entferntesten daran, daß sein Versuch fehlschlagen und die übelsten Folgen nach sich ziehn könne. Wie nun, wenn Strauch mit dem Drohbrief zur Polizei ging? Für Eduard lag das einfach nicht im Bereich des Möglichen. Wie er selbst das Buschgespenst abergläubisch fürchtete, so fürchteten es seiner Meinung nach die andern auch. Dabei konnte Kaufmann Strauch keine Ausnahme bilden. Strauch würde, so rechnete Eduard, furchtbar erschrecken, dem Fest fernbleiben und – schweigen.

Das mußte sich ja spätestens am Dienstag zeigen, ob diese Berechnung stimmte oder nicht.

*

Am Morgen des gleichen Tages führte Förster Wunderlich seinen Gast in den Wald und an den Ort, wo die Leiche des Grenzbeamten gelegen hatte. Arndt besah sich alles aufmerksam und ließ seine Augen wiederholt über die drei Tannen und ihre nähere Umgebung schweifen.

»Hat sich denn nicht wenigstens eine Spur gefunden, die bekundete, daß dem Mord ein Kampf vorangegangen ist oder daß die Leiche vielleicht hierhergeschleppt wurde?« fragte er schließlich.

»Keins von beiden.«

»Hm. Sollte der Grenzer meuchlings erschossen worden sein? Dann hätte der Täter im Hinterhalt gelegen, und das ist in diesem Gelände kaum möglich. Hier die drei einzelnen Tannen, drüben die freie Lichtung, links die Blöße und an den beiden andern Seiten der Wald mit den weit auseinanderstehenden Stämmen – wo sollte sich denn da ein Versteck finden?«

»Hinter jedem Baum.«

»Dann müßte der Mörder genau gewußt haben, wann und woher sein Opfer kam. Das ist aber nicht anzunehmen, da hier kein Weg vorüberführt. Wie weit haben denn die Herren vom Gericht die Umgebung abgesucht?«

»Bis hinüber zu den einzelnen Sträuchern dort.«

»So haben sie angenommen, der Mord sei aus dem Hinterhalt verübt worden; ich aber bin andrer Meinung. Sehn Sie – hier hat eine Kugel, die nicht traf, den Stamm einer Tanne gestreift.«

Arndt deutete dabei auf den betreffenden Baum. Der Förster betrachtete die Stelle.

»Wahrhaftig, es stimmt! Das ist uns allen entgangen.«

»Nun weiter! Da hat das Opfer gelegen; hier ist die Kugelspur am Baum. Also muß der Schütze dort gestanden haben. Gehn wir einmal weiter!«

Der Förster folgte dem voranschreitenden Arndt, der alle Einzelheiten des Geländes genau musterte.

»Was suchen Sie denn?« fragte Wunderlich.

»Nichts Bestimmtes. Kommen Sie nur!«

So gingen sie mehrere hundert Schritte in grader Richtung fort. Plötzlich stutzte Arndt, blieb stehn, bückte sich und hob etwas auf.

»Was haben Sie da?« erkundigte sich der Förster.

»Hier, sehn Sie!«

Arndt hielt ihm ein dreieckiges Stück weiße Leinwand vor die Augen, das sein geübter Blick unter einem dichten Gestrüpp entdeckt hatte. Der Wind mochte es dorthin geweht haben; sonst wäre es wohl längst im Neuschnee begraben worden.

»Ein Fetzen Leinwand!« meinte Wunderlich enttäuscht. »Was soll das?«

»Ich denke, der Fund ist nicht ohne Bedeutung. Dieser Leinwandfetzen scheint von einem größern Stück, einem Tischtuch oder einem Bettuch abgerissen zu sein. Hier ist ein Buchstabe eingestickt, ein T! Nun werden Sie wohl zugeben, daß es nichts Außergewöhnliches ist, wenn man etwa ein Taschentuch im Wald findet, aber einen Fetzen von einem Bettuch – hm! Was meinen Sie dazu?«

»Gar nichts, Herr Vetter. Ich bin ein Forstmann, kein Polizist.«

»Können Sie sich wirklich nicht denken, wozu man jetzt, im Winter und des Nachts, hier im Wald ein Bettuch gebrauchen könnte?«

»Keine Ahnung.«

»Nun, ringsum liegt tiefer Schnee. Den Paschern kommt alles darauf an, unbemerkt zu bleiben. Dunkle Kleidung sticht vom Schnee ab. Was liegt da näher, als daß sie sich ein Bettuch umhängen, um die Grenzer zu täuschen? Dann sind sie, besonders des Nachts, vom Schnee nicht zu unterscheiden.«

»Schockschwerebrett! – Wenn Sie das so erklären, Herr Vetter, dann leuchtet mir's ein.«

»Ich habe sogar selber ein Bettuch mitgebracht, um mich seiner bei meinen Streifen zu ganz demselben Zweck zu bedienen.«

Die beiden gingen inzwischen einige Schritte weiter. Da ragte ein Stumpf aus dem Schnee, ein abgebrochener Wachholderknorren. Und an dem Stumpf hingen zwei weiße Leinenfädchen.

»Was schließen Sie daraus?« forschte Arndt weiter, dem es offenbar Spaß machte, dem Förster auf den Zahn zu fühlen.

»Daß die bewußte Bettuch-Ecke hier an dem Knorren abgerissen ist.«

»Sehr richtig! Die Sache ist so, wie ich vermutete. Der Pascher wurde ertappt und entfloh, von dem Grenzbeamten verfolgt. Er war in ein Bettuch gehüllt und blieb damit hier hängen. Er riß sich los und eilte weiter. Dabei ging der Fetzen mit dem T verloren und wurde vom Wind unter jenes Gestrüpp dort geweht! Drüben bei den Tannen sah der Flüchtling ein, daß er nicht entkommen würde. Deshalb hielt er an, drehte sich um und schoß seinen Verfolger nieder.«

»Heiliges Kanonenrohr, da ...«

Doch Arndt ließ seinem Vetter keine Zeit, sein Erstaunen noch weiter zu bekräftigen.

»Vor allem müssen nun die Unterbeamten des Ermordeten vernommen werden. Sie können angeben, welchen Tagesbefehl sie von ihm erhalten haben. Sie werden auch wissen, ob er hier vorüberkommen mußte, um die Posten nachzusehn, ob ihm also der Pascher aufgelauert haben kann, was ich, wie gesagt, nicht annehme, oder ob das Zusammentreffen zufällig war. Jedenfalls haben wir schon zweierlei gewonnen ...«

»Gewonnen?«

»Ja, zwei wichtige Feststellungen. Glauben Sie, daß sich jemand ein fremdes Bettuch borgt, um es in der angegebenen Weise zu gebrauchen?«

»Nein. Es ist des Paschers Eigentum gewesen.«

»Und da der Buchstabe T darauf steht?«

»Beginnt sein Name mit diesem Buchstaben.«

»Sehn Sie, Herr Förster, das ist das erste. Übrigens sind in dem Tuch jedenfalls zwei Buchstaben eingestickt gewesen. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens war auch dabei; der Riß aber ist zwischen den beiden Buchstaben hindurchgegangen.«

»Und was gewinnen wir als zweites?«

»Da muß ich Sie vor allen Dingen fragen: wohin flieht einer, der verfolgt wird?«

»Natürlich dahin, wo er sicher und geborgen zu sein glaubt.«

»Richtig! Er sucht seine Zufluchtsstätte zu erreichen. Der Mörder ist von den Tannen in grader Linie hierher geflohen. In dieser Richtung liegt die Zufluchtsstätte, die er gesucht hat. Wenn wir dieser Linie folgen, müssen wir wenigstens in die Nähe des Orts gelangen, wo er sich hat verbergen wollen.«

»Herr Vetter, Herr Vetter! Sie sind ein verflixt findiger Kopf! Mir würden solche Schlüsse nicht so leicht einfallen.«

»Übungssache. Und nun wollen wir unsre Untersuchung fortsetzen! Kommen Sie!«

Sie folgten der gedachten Linie durch den Wald, dann quer über die Straße, die aus dem Dorf zum Forsthaus führte, und wieder in den Wald hinein. Arndt ging dabei sehr langsam und beobachtete jeden, auch den kleinsten Gegenstand genau. So verstrich über eine Viertelstunde. Sie näherten sich bereits dem Waldsaum, der sich zum Dorf hinzog und gelangten an eine hohe Eiche, die einige hundert Jahre alt sein konnte. Schon war Arndt zwei, drei Schritte daran vorüber, da blieb er plötzlich stehn und musterte aufmerksam den Boden, der wohl einen halben Meter hoch mit Schnee bedeckt war.

»Was gibts?« fragte der alte Wunderlich.

»Bemerken Sie hier die Löcher im Schnee? Das sind Fußtapfen, die sich schon wieder von neuem gefüllt haben. Sie kommen von allen Seiten auf die Eiche zu und gehn nach allen Seiten wieder auseinander. Hier haben sich mehrere Menschen zusammengefunden, ob zugleich oder einzeln, das ist leider nicht zu erkennen. Was haben sie hier gewollt? Sind es Pascher gewesen? – Hm! – Bildet die Eiche etwa den Ort regelmäßiger Zusammenkünfte? Wollen doch einmal den alten Stamm untersuchen!«

Beide konnten jedoch trotz allem Suchen nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches an dem Baum entdecken. Ihre Mühe blieb ohne Erfolg.

»Lassen wir's genug sein für heut!« entschied Arndt schließlich. »Wollen aber diesen Baum auch fernerhin im Auge behalten. Wir können mit dem, was wir gefunden haben, leidlich zufrieden sein.«

»Sie meinen, daß wir heimgehn?«

»Jawohl, ich wenigstens. Sie wollen wohl noch den Obersteiger aufsuchen.«

»Ja. Ich muß dem Eduard Hauser Wort halten. Werde das gleich jetzt tun. Was fangen wir mit dem Bettuchfetzen an?«

»Wir übergeben ihn der Polizei. Ich möchte in der Sache jetzt noch nicht genannt werden. Tun Sie so, als hätten Sie den heutigen Ausflug allein unternommen und all diese Beobachtungen gemacht. Schlagen Sie auch vor, die Unterbeamten in der besprochenen Weise zu vernehmen.«

»Schön! Soll ich etwas von der Eiche erwähnen?«

»Lieber nicht! Diese Spur will ich selber verfolgen. Wozu soll ich andern Gelegenheit geben, mir den Brei zu verderben? Hier ist der Leinenzipfel. Nehmen Sie ihn mit!«

So trennten sie sich. Arndt kehrte zur Försterei zurück, wo sich nach einiger Zeit auch Wunderlich wieder einstellte. Er erzählte, daß sein Gang zum Obersteiger nutzlos gewesen sei, und den Polizisten habe er gar nicht angetroffen, bei ihm wolle er sein Heil nach Tisch noch einmal versuchen. Im Bergwerk dagegen sei endgültig nichts zu machen; Eduard Hauser käme da nicht an.

Darüber war der Vormittag verflossen. Nach dem Mittagessen machte sich der Alte wieder auf den Weg. Arndt hatte sich in sein Stübchen zurückgezogen und saß mit einem Buch am Fenster, da sah er den Förster zurückkommen. Sofort ging er hinunter in die Wohnstube.

Der alte Wunderlich war aufgeregt, das merkte man ihm sogleich an. Er schleuderte die Pelzmütze auf den Tisch, ließ sich in einen Stuhl fallen und stöhnte. Frau Barbara kannte das als ein sicheres Zeichen, daß ihm etwas Ärgerliches widerfahren war.

»Na, Alterchen?« sagte sie. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Viel, sehr viel!« knurrte er. »Zuerst muß ich euch melden, daß heut nachmittag in der Schenke ein Vortrag stattfindet, gehalten von dem Herrn Rentner Seidelmann.«

»Da geh ich hin! Den muß ich hören!« rief Arndt.

»Wünsche guten Appetit und viel Vergnügen! Ich bin nicht neugierig genug, solche Sachen mitzumachen. Kann dieses Geschwätz von allgemeiner Menschlichkeit und Brüderlichkeit nicht vertragen, und wenn ich in der Kneipe sitze, will ich vollends meine Ruhe haben.«

»Und was hats noch gegeben?« fragte Frau Barbara.

»Ein Unglück.«

»Schon wieder? Erzähle!«

»Der kleine Beyer ...«

»Der Schreiber bei Seidelmanns?«

»Ja. Das Herz könnte sich einem im Leib umdrehen! Du weißt doch, wie lange schon seine Frau bettlägerig ist.«

»Freilich. Der Arzt hat wenig Hoffnung, daß sie jemals wieder aufkommt.«

»Ja, da hat er recht, aber denk dir, der Beyer ist tot.«

Frau Barbara faltete vor Schreck die Hände.

»So plötzlich? – O Gott!«

»Gestern abend nach dem Geschäft ist er ins Städtchen gegangen, um etwas für seine kranke Frau einzuholen. Auf dem Heimweg muß er vor Schwäche zusammengebrochen sein. Im Dunkeln fand ihn niemand, und heut früh lag er erfroren neben der Landstraße. Mit einem Schlitten hat man ihn geholt.«

»Und seine Frau?«

»Ja, ja, die Frau! Jetzt kommt das Schlimmste! Das Unglück sprach sich rasch herum, und ehe noch der Schlitten eintraf, liefen schon die Leute nach Beyers Wohnung. Nicht etwa in schlechter Absicht! O nein! Trösten wollten sie. Oh, die Menschheit ist ja so gut, so liebevoll, so hilfsbereit! Und da stürzt denn ein halbes Dutzend Klatschbasen zu der Kranken in die Stube und schreit ihr vor, man habe ihren Mann tot aufgefunden, jeden Augenblick könne er gebracht werden.«

»Unerhört!«

»Die arme Frau fährt vom Lager auf und stößt einen entsetzlichen Schrei aus. Sie faßt mit den Händen nach dem Herzen. Das Gesicht wird erst rot, dann weiß – und dann, nun ja, dann ist sie gleichfalls tot.«

Frau Barbara schlug die Hände vor die Augen.

Der Förster sprang vom Stuhl auf und lief mit dröhnenden Schritten in der Stube hin und her. Auch Arndt war von einer heftigen Aufregung erfaßt worden, von einer Erregung, die einem aufmerksamen Beobachter seltsam erscheinen mußte. Er als Fremder, der eben erst hier im Gebirge angekommen war, stand doch der Angelegenheit vollkommen fern. Aber er verwandte kein Auge von dem Erzähler.

»Sind diese Beyers brave Leute?« erkundigte er sich.

»Sonderbare Frage!« knurrte Wunderlich. »Würde ich denn so in die Wolle geraten, wenn sie es nicht wären?« Arndt überhörte die kleine Grobheit. Er forschte eifrig weiter.

»Sind Kinder da?«

»Vier Stück sogar, vier arme, ausgehungerte Würmer! Ach, ich möchte gleich der ganzen Welt den Kopf abhacken! Und wissen Sie, was man mit den Kindern gemacht hat? Ins Armenhaus hat man sie geschleppt, wo sie nichts lernen als die Bettelei. Sie müssen nämlich wissen, daß es dort noch schlimmer aussieht als bei den Kalmücken oder bei den Hottentotten. Ein Bund Stroh haben sie, worauf sie schlafen. Essen und Trinken sollen sie auch erhalten – ja, so stehts wenigstens auf dem Papier. Aber wer da nicht verhungern will, der muß hinaus auf die Dörfer und bei den Bauern fechten gehn.«

»So etwas gibts wirklich noch?«

»So etwas gibts noch, Herr Vetter, freilich! Da ist hier im Ort zum Beispiel eine alte Frau, Löffler heißt sie, die hat sich redlich durch die Welt geschlagen, hat ihre Arbeit getan und bei den Seidelmanns lange die Aufwartung gehabt. Eines Tages zerspringt eine Lampe; das brennende Petroleum trifft das Gesicht der Frau und verbrennt ihr auch die Augen. Sie ist blind, kann nichts mehr sehn, nichts mehr verdienen.«

»Und Seidelmanns?«

Der alte Wunderlich lachte laut auf.

»Seidelmanns? Hahaha! Die alte Löffler mußte ins Armenhaus, und nun ist sie über achtzig und tastet sich von einer Tür zur andern, um 'nen Bissen Brot zu erbetteln. Bedenken Sie, in solchem Wetter wie grad jetzt! Eines schönen Morgens wird man sie auch aus dem Schnee ziehn, tot, erfroren, und kein Mensch wird ihr eine Träne nachweinen.«

Arndt war nun ebenfalls aufgesprungen und maß erregt das Zimmer. Die Worte des Försters hatten in ihm einen Sturm entfesselt, dessen Gründe nicht ohne weiteres ersichtlich waren. Was Arndt jetzt bewegte, ließ sich nicht nur als allgemein menschliche Teilnahme deuten.

Aber er äußerte sich nicht darüber, sondern stieg schließlich wortlos hinauf in sein Stübchen, Dort nahm er etwas aus dem Koffer und verließ dann das Haus. Raschen Schrittes wandte er sich dem Dorf zu, jedoch nicht die Straße entlang, sondern durch den Wald.

An einer einsamen Stelle blieb er stehn und blickte sich vorsichtig um. Da er sich unbeobachtet fand, zog er die Jacke aus und wendete sie, ebenso die Mütze. Die vorher dunkle Jacke war jetzt grau, die Pelzmütze hatte sich in eine aus Plüsch verwandelt. Weiter zog er eine Perücke aus der Tasche und einen melierten Vollbart. Als er beides angelegt hatte, sah er aus wie ein Mann in den Fünfzig. So setzte er seinen Weg fort.

Gedanken eigner Art erfüllten ihn.

Wie oft war er hier schon gegangen – vor langen Jahren, wenn er mit den Jugendgespielen durch den Wald tollte! Jeden Fußbreit Boden kannte er hier noch.

Und wie liebte er diesen Wald! Er hätte niederknien mögen auf die heilige Erde der Heimat.

Während er eilig dahinschritt, tauchte die Kindheit vor seinen geistigen Augen aus. Hohenthal, das arme Dorf der Weber und Bergleute, war die Stätte seiner Geburt gewesen. An den Vater konnte er sich nicht mehr erinnern; der war im Bergwerk verunglückt, als der Knabe kaum zwei Jahre zählte. Aber die Mutter – wie eine strahlende, gütige Fee lebte sie in seiner Erinnerung. Ja, wie eine Fee, obwohl sie das gleiche ärmliche Gewand getragen hatte wie die übrigen Dorfbewohner. Alle zwei Wochen einmal war sie ihm am Sonntagnachmittag auf ein kurzes Stündchen erschienen und hatte ihn in die Arme genommen und ihn geherzt. Dann war sie wieder auf vierzehn Tage verschwunden. Sie diente seit dem frühen Tod ihres Mannes bei dem reichen Seidelmann und unterstützte dessen Frau im Haushalt. Und Frau Seidelmann war eine strenge Herrin, die ihrer Angestellten nur wenig Freiheit gestattete. Nicht einmal ihren Jungen, ihre einzige Freude, durfte sie bei sich behalten; sie mußte ihn zu ihren Eltern tun, zu den alten Beyers. Und der Beyer, der jetzt auf so jämmerliche Art ums Leben gekommen war, der war ihr Bruder.

Der kleine Arndt war sieben Jahre alt gewesen, als der furchtbare Schlag kam, der das Leben seiner Mutter zerstörte. Eines Morgens kam der Polizist und holte sie aus dem Haus Seidelmanns. Sie sollte gestohlen haben. Sie, seine Mutter, seine Fee, sein Abgott! Ein kostbares Armband war abhanden gekommen, das Seidelmann tags zuvor seiner Frau zum Geschenk gemacht hatte. Und der Verdacht fiel auf die junge Witwe, die zuletzt in dem Zimmer, wo der Schmuck aufbewahrt wurde, gesehn worden war. Freilich förderte die Haussuchung in der Kammer der Angeschuldigten und im Anwesen der alten Beyers nichts zutage. Aber die Anklage wurde trotzdem aufrechterhalten, und die Beschuldigte wurde ins Untersuchungsgefängnis geschleppt.

Fassungslos stand der kleine Franz diesem Ereignis gegenüber. Mit seinen Fäustchen hatte er sich auf den Polizisten geworfen, der die Mutter nach der ergebnislosen Haussuchung bei den Großeltern fesselte. Das Ende war ein Weinkrampf gewesen, und schließlich hatten die Großeltern ihn halb besinnungslos zu Bett gebracht.

Die Mutter hatte die Schande nicht lange überlebt. Die Scham und die Sorge um ihren Liebling zehrten ihre Lebenskraft auf, und noch war die Untersuchung nicht abgeschlossen, da trug man sie hinaus auf den Friedhof.

Da kurz danach auch die Großeltern starben, kam der Kleine ins Armenhaus; das war zur damaligen Zeit etwas Alltägliches. Aber man muß die Zustände in diesen Anstalten der ›Wohltätigkeit‹ gekannt haben, um zu wissen, daß der Junge die Hölle zu ertragen hatte. Beiseitegestoßen und von jedermann mit scheelen Augen angesehn, ohne irgendwelchen Unterricht, so verlebte er die nächsten zwei Jahre.

Dann vollzog sich der große Umschwung in seinem Leben. Ein reiches, nicht mehr junges Gutsbesitzerehepaar kam in die Gegend. Es sah den hübschen, wenn auch verwahrlosten Knaben auf der Straße und fühlte sofort Teilnahme für ihn. Die beiden erkundigten sich nach den häuslichen Verhältnissen des Kindes, und der Vorsteher der Anstalt glaubte, den beiden reinen Wein einschenken zu müssen. Seine Bemerkungen waren nur im Flüsterton gemacht, aber die scharfen Ohren des kleinen Franz verstanden sie doch.

»Die Mutter hat gestohlen und ist im Gefängnis gestorben.«

Mit blitzenden Augen fuhr der Knabe auf.

»Das ist nicht wahr! Meine Mutter hat keinen Diebstahl begangen! –«

Das übrige verlor sich in heftigem Schluchzen, und weinend lief das Kind davon.

Dieses offenkundige Ehrgefühl des Kleinen gab den Ausschlag. Das Ehepaar nahm ihn mit sich und ließ ihm eine sorgfältige Erziehung angedeihen. Und die braven Leute hatten es nicht zu bereuen. Immer mehr wuchs ihnen der Knabe ans Herz, und schließlich taten sie den letzten Schritt zur Krönung ihres Liebeswerkes: sie nahmen den Knaben an Kindes Statt an.

Aber auch im Besitz eines neuen makellosen Namens vergaß Franz die Schatten der Vergangenheit nicht. Und tausendmal gelobte er sich, den Namen seiner Eltern wieder ehrlich zu machen und seiner Mutter noch im Grab den guten Ruf wiederzugeben.

Franz war zwanzig Jahre alt, als seine Pflegeeltern rasch hintereinander starben. Er sah sich auf einmal im Besitz eines Vermögens, das ihm wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war. Aber nicht das Geld reizte ihn, ebensowenig die gesellschaftliche Stellung, die er sich nun in der großen Welt gewinnen konnte. Ihn trieb einzig der Gedanke an die Pflicht der toten Mutter gegenüber. Ihr wollte er sein Vermögen und seine Kraft weihen.

Ja, seine eigne Kraft? Nicht einem fremden Anwalt wollte er den Fall übergeben – nein, er selber übernahm es, das Geheimnis des Irrtums zu lüften, dem seine unglückselige Mutter zum Opfer gefallen sein mußte. Freilich waren dazu erhebliche Vorbereitungen nötig. Eine zu lange Zeit war seit damals verstrichen, und er selber war seiner Heimat und seinen Landsleuten fremd geworden. Auch waren Nachforschungen anzustellen, wozu einem Laien die Voraussetzungen fehlten, nämlich die Kenntnis des Rechts und all der Schliche und Kniffe, über die ein guter Detektiv verfügen muß.

Aber Franz war zäh. Er warf sich mit Feuereifer auf die Aufgabe, sich zum Detektiv heranzubilden. Und es zeigte sich bald, daß er zu diesem Beruf wie geschaffen war. In einigen verzwickten Fällen, in denen die geübte Polizei versagte, gab er ihr wertvolle Fingerzeige, die zur Ermittlung und Festnahme der Verbrecher führten. Dadurch erwarb er sich bei den Polizeibehörden großes Ansehn, worauf er, zumal er nicht zur Zunft gehörte, besonders stolz sein konnte.

Als dann das geheimnisvolle Buschgespenst von sich reden machte, bot er der Polizeiverwaltung seine Dienste an. Zuerst freilich vergebens. Aber als die Beamten bei der Fahndung nach dem Unheimlichen versagten, ja, als dieser rätselhafte Bösewicht sein Unwesen nur um so ärger trieb, als jetzt sogar ein Grenzoffizier ermordet wurde, zögerte man nicht länger, den erfolgreichen Außenseiter heranzuziehn.

So erhielt Franz endlich die Ermächtigung, sich an Ort und Stelle zu begeben und nach freiem Ermessen, wenn auch in behördlichem Auftrag, zu handeln.

Und nun war er hier in Hohenthal, um dem Schrecken der ganzen Gegend das Handwerk zu legen. Aber noch mehr lag ihm das Andenken an seine Mutter am Herzen. Würde es ihm gelingen, ihren Namen von dem Makel des Diebstahls zu reinigen? Franz war allen Schwierigkeiten zum Trotz voll Zuversicht. Vor zwei Tagen war er am Grab der Mutter gewesen und hatte sich und ihr gelobt, nicht eher zu rasten, bis die Aufgabe gelöst sei.

Arndt war derart mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er zuletzt gar nicht mehr auf den Weg geachtet hatte, und so bemerkte er jetzt mit Erstaunen, daß Hohenthal schon vor ihm lag. Er schritt die Hauptgasse hinunter, an deren äußerem Aussehn sich in den letzten achtzehn Jahren kaum etwas geändert hatte, und klopfte am Pfarrhaus an. Als er dann grüßend in die Studierstube des Pfarrers trat, fand er dort einen alten, ehrwürdigen Mann mit mildblickenden Augen und einem Johannesgesicht.

»Was wünschen Sie?« fragte der Geistliche, indem er eine Zeitung beiseitelegte.

»Ich komme mit einer Bitte, Herr Pfarrer.«

»Wer da bittet, dem wird gegeben. Setzen Sie sich und tragen Sie mir Ihr Anliegen vor! Ich glaube, ich habe Sie noch nie gesehn. Sie scheinen nicht aus unsrer Gegend zu sein.«

»Ich bin allerdings hier fremd, Herr Pfarrer. Ich kam erst jetzt hier an und hörte von dem Unglück, das eine brave Familie betroffen hat.«

»Sie denken an die Beyers? Ja, das ist allerdings ein Herzeleid, eine Heimsuchung. Haben Sie einen Grund, Anteil an Beyers zu nehmen? Ich meine, besondern Anteil, über das Maß hinaus, das uns die allgemeine Nächstenliebe gebietet.«

»Ich fühle hier als Mitmensch«, wich Arndt aus. »Darum möchte ich etwas für die beklagenswerten Kinder tun. Ich hörte, daß sie sich im Armenhaus befinden.«

»Leider! Wer will oder vielmehr wer kann sich ihrer hier in dieser Gegend der armen Leute unentgeltlich annehmen?«

»Vielleicht gibt es eine Familie, die den Kleinen gegen ein Pflegegeld Aufnahme gewährt. Der Weber Hauser ist Ihnen doch bekannt? An ihn dachte ich. Ihm möchte ich sie am liebsten anvertrauen.«

»Hauser ist ein aufrechter Mann und ein ehrlicher Christ; er ist sehr arm und hat selber Kinder, aber für die Verwaisten wäre kein besserer Pflegevater zu finden als er. Überdies ist er verwandtschaftlich verbunden mit Beyers.«

»Nun, dann bitte ich, Herr Pfarrer, die nötigen Geldmittel von mir anzunehmen. Hier sind hundert Mark zur Beerdigung der Toten und hier zweihundert Mark, von denen Sie nach Bedarf an Hauser zahlen können! Endlich ist hier noch dieses Päckchen! Es enthält weitere fünfhundert Mark, die zur Aufbesserung der hiesigen Armenhausverhältnisse benützt werden sollen. Ich lege alles vertrauensvoll in Ihre Hände.«

Der Pfarrer starrte den Fremden zunächst sprachlos an.

»Herr«, sagte er endlich, »sind Sie denn so reich, daß Sie solche Summen zu verschenken haben?«

»Ich kann das Geld entbehren.«

»Ja, ja, ich glaube Ihnen. Sie müssen meine Frage verzeihn. – Ihr – Ihr Äußeres ...«

»... ist nicht danach, ich weiß. Doch die Sache hat trotzdem ihre Richtigkeit. – Darf ich also hoffen, daß Sie meine Wünsche erfüllen?«

»Gewiß, gewiß! Ich werde die Kinder selber zu Hauser bringen. Und nun sagen Sie mir nur eins, werter Herr: wem verdanke ich diese Gaben?«

»Grade das liegt nicht in meinem Sinn, Herr Pfarrer. Ich möchte ungenannt bleiben. Fragt jemand nach dem Geber, so sagen Sie, das Geld käme von einem Unbekannten. Guten Abend!«

Im nächsten Augenblick war Arndt zur Tür hinaus.

Der Pfarrer stand starr und regungslos.

Da steckte seine Schwester den Kopf zur Tür herein.

»Um Gottes willen, was ist denn mit dir?«

»Etwas ganz Ungewöhnliches ist mir begegnet«, stotterte er.

»Etwas Schlimmes? Was wollte der fremde Mensch bei dir? Ich habe ihn hereingelassen, weil er so höflich fragte.«

»Schon gut, du brauchst nicht zu erschrecken. Der Fremde hat mir etwas sehr Schönes gebracht. Er hatte das Aussehn eines einfachen Arbeiters, aber er muß etwas andres sein, denn er hat mir Geld gegeben, sehr viel Geld!«

»Viel Geld? Für wen denn?«

»Für die Beyers, und für – ach, laß das jetzt! Ich muß ihm nach! Ich muß mich bei ihm bedanken – ich muß ihn näher kennenlernen und ausführlicher mit ihm sprechen! Er soll erfahren, was uns hier nottut! – Ich laufe ihm nach – du wirst nachher das Nötige hören!«

Mit diesen Worten eilte er zur Tür hinaus.

Vor dem Haus blickte er die Gasse hinauf und hinab, konnte aber niemand entdecken. Oder doch, da bog soeben ein schwarzbärtiger Mann um die Ecke und kam grad auf den Pfarrer zu.

»Guten Abend!« grüßte er. »Nicht wahr, heut wird hier im Ort ein Vortrag gehalten? Wo ist das?«

»In der Schenke. Gehn Sie die Gasse hinab, so werden Sie das Gasthaus sehn! Es ist jetzt vier Uhr; um fünf beginnt der Vortrag. – Doch sagen Sie mir: Ist Ihnen nicht eben ein Mann begegnet, der von hier kam?«

»Ich wüßte nicht.«

Der Geistliche ahnte nicht, daß der, den er suchte, vor ihm stand. Während des kurzen Gesprächs des Pfarrers mit der Schwester hatte Arndt Zeit genug gehabt, in einem versteckten Winkel hinter dem Haus die Jacke zu wenden und sowohl die Kopfbedeckung als auch den Bart zu vertauschen.

Nun bedankte er sich höflich für die Auskunft und ging. Er hatte sich den Spaß gemacht, den Pfarrer nach der Schenke zu fragen, obgleich er den Weg dorthin genau kannte.

*

Im Wirtshaus herrschte reges Leben, so daß Arndts Erscheinen kaum beachtet wurde. Am Stammtisch der Gaststube saßen diejenigen von den Dorfbewohnern, die sich vor Beginn des Vortrags noch ein Glas Bier leisten konnten.

Arndt ging in den Saal hinauf. Dort warteten die Ärmeren auf die Ankunft des Rentners August Seidelmann. Er sah hier viele Gesichter, die der Hunger, die Sorge und das Elend gezeichnet hatten, junge und alte. Sie alle waren gekommen, weil sie sich entweder Trost, vielleicht gar Hilfe von dieser besondern Stunde versprachen oder weil sie von den Seidelmanns abhängig waren und fürchteten, ihr Wegbleiben könne übel vermerkt werden.

Auf einer kleinen Bühne stand ein Klavier, daneben ein Notenpult, worauf ein Gesangbuch lag. Zu beiden Seiten waren gepolsterte Sessel aufgestellt, für wen, das wußte niemand zu sagen.

Ein Flüstern und Tuscheln war rings im Saal. Niemand wagte, eine laute Unterhaltung zu führen.

Arndt wurde auch hier nicht beachtet. Er gewann unbemerkt eine Ecke und ließ sich dort nieder.

Wohl eine halbe Stunde mußte er noch warten. Der Raum füllte sich immer mehr und mehr. Dann kam ein Zug von mindestens zwölf Personen zur Tür herein; voran der Rentner Seidelmann im Gehrock. Ihm folgten die Inhaber der Firma Seidelmann, Vater und Sohn, sowie die Hausfrau; ferner die Angestellten, und endlich die leitenden Beamten des Bergwerks ›Gottes Segen‹. Ohne Gruß schritten sie auf die Bühne zu und nahmen auf den Polstersesseln Platz.

Der Rentner aber trat hinter das Notenpult, schlug das Gesangbuch auf und machte die Anwesenden darauf aufmerksam, daß ein gemeinsamer Gesang seinem Vortrag vorangehn solle. Er las die Verse, die gesungen werden sollten, einzeln vor; Fritz Seidelmann, sein Neffe, setzte sich ans Klavier und spielte die Begleitung. Erst ließen sich nur einzelne Stimmen hören; bald aber fielen auch andre ein, und endlich erklang das Lied laut und kräftig.

Nun erhob der Rentner Seidelmann seine Stimme zu dem Vortrag. Das Thema lautete: ›Die Zeiten sind schwer – Brüderlichkeit tut not.‹

Man mußte zugeben, daß der Rentner eine gute Rednergabe besaß. Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse. Er schilderte das Elend mit beredten und klugen Worten in seiner nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich, dessen wahre Ursachen aufzuzeigen. Er sprach vielmehr von dem Mangel an Brüderlichkeit und Opfersinn, der unter den Menschen herrsche. Und nun glitt er mit seinen Ausführungen hinüber auf ein Gebiet, wo er mit schönen Worten prunken und mit gefälligen Redensarten meisterlich spielen konnte, so daß es sich anhörte, als sei er in seinem Innern ganz erfüllt von Teilnahme an der Not der andern, während er in Wahrheit denen, die nahrhaftes Brot brauchten, nur Steine bot.

Aber die armen Weber, Bergleute und Häusler erkannten das nicht. August Seidelmann war ja so wunderbar geschickt, sie jedoch waren arglos und einfältig in ihrem Urteil. Ihnen schien es wie ein Wunder, daß ein Vertreter der Klasse der Besitzenden so wohlwollend und scheinbar brüderlich zu ihnen sprach. Sie fühlten sich hingerissen und gerührt und dankten ihm am Schluß seines Vortrags mit aufrichtigem Beifall. Als er dann wieder zum Gesangbuch griff und noch eine Strophe des vorhin begonnenen Liedes anstimmte, fielen die Zuhörer fast mit Begeisterung ein.

Dann ließ sich der Rentner von einem Angestellten seines Bruders eine blecherne Büchse reichen und begann einzusammeln, zunächst bei seinen Verwandten. Man hörte die Geldstücke schwer in die Büchse fallen. Dann kamen die Angestellten dran, und endlich ging er weiter, von Reihe zu Reihe.

Mehrere, die kein Geld bei sich trugen, borgten sich beim Nachbar eine Kleinigkeit; jedenfalls steuerten alle bei. So arm sie auch waren, sie wollten zeigen, daß sie nicht ohne Sinn für Brüderlichkeit seien. Viele opferten buchstäblich den letzten Pfennig, den sie besaßen. Zu Haus gab es ja noch Kartoffeln und Salz.

Auch der Pfarrer, der erst ziemlich spät erschienen war, warf seine Gabe in die Büchse.

Schließlich erklärte der Rentner, daß er als Anreger dieser wohltätigen Sammlung seinen Bruder, den Kaufmann Seidelmann, zum Kassenwart ernenne. Ihm übergab er angesichts der Versammlung die Büchse, und dann entfernten sich die Ortsgrößen so stolz, wie sie gekommen waren, während die Armen zurückblieben, um sich noch eine Weile von dem Gehörten zu unterhalten.

*

Zu Haus öffneten die Seidelmanns die Büchse, um das Geld zu zählen.

»Sechsundzwanzig Mark!« sagte der Kaufmann. »Das ist zwar nicht viel, aber es wird doch reichen, unsre Unkosten zu decken. So haben wir wenigstens nicht noch Schaden von deinem brüderlichen Einfall.«

Der Rentner sah dem Sprecher verweisend ins Gesicht.

»Spar dir solche Worte! Du weißt ganz genau, daß ich mit meinem Vortrag einen sehr nützlichen Zweck verfolgt habe. Man muß den Leuten, denen das Wasser tagaus, tagein an der Kehle steht, wenigstens ab und zu eine schöne Geste bieten, damit unter ihnen nicht das Unkraut der Unzufriedenheit und der Aufsässigkeit wächst. Sonst könnten einmal böse Tage auch für andre kommen, die heute noch nicht zu klagen haben. Also bitte! Wir wollen abrechnen. Was hast du für Unkosten gehabt? Ich wüßte eigentlich nichts davon.«

»Ich habe das Klavier geliehen und es von meinen Arbeitern hinüberschaffen lassen. Das sind zwei Posten.«

»Und wieviel berechnest du dafür?«

»Ich denke, fünf Mark wären nicht zuviel.«

»Du bist wirklich bescheiden. Nun fehlt nur noch, daß sich Fritz sein Tastengeklimper auch noch bezahlen läßt.«

Der Sohn und Neffe meldete sich aus dem Hintergrund. »Ich verzichte, lieber Onkel«, erklärte er salbungsvoll. »Was ich getan habe, geschah aus Brüderlichkeit und Opfersinn.«

»Sehr gut!« spottete der Rentner nun auch seinerseits. »Du bist ein gelehriger Starmatz. Du kannst gut nachplappern.«

Dann zog August Seidelmann einen Zettel aus der Tasche.

»Hier habe ich meine Auslagen notiert. Acht Mark kosten mich allein die Eisenbahn und der Schlitten. Dazu kommt mein Verzehr unterwegs: ein Grog, ein Kaffee, zwei Kognak, ein Schnitzel mit Schmorkartoffeln. Ich denke, wenn ich dir die verlangten fünf Mark gebe« – dabei schob er seinem Bruder das Geld hin – »dann wird es ungefähr stimmen zwischen uns. – Im übrigen müssen wir uns jetzt wohl auf den Empfang der Gäste vorbereite. Es war doch richtig, daß für heute abend einige Herren zum Abendbrot gebeten sind?«

»Ja«, nickte der Herr des Hauses, »der Pfarrer wird kommen, der Bürgermeister, der Knappschaftsarzt und noch ein paar andre Größen von Hohenthal. Ich denke, sie werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wir können dann hinübergehn ins große Zimmer. Fritz muß leider noch auf einen Sprung fort, wie er mir sagte.«

»Heut abend noch?« wunderte sich der Rentner.

»Wohl oder übel, lieber Onkel.« Fritz Seidelmann stand in der Tat schon wieder an der Tür. »Du weißt, daß unser Kasinoball bevorsteht. Es sind dafür noch allerlei Vorbereitungen zu treffen.«

Damit verabschiedete sich Fritz vom Vater und Onkel und verließ wenige Minuten später das Haus.

Oben in dem großen Zimmer versammelten sich inzwischen nach und nach die Gäste. Man nahm an der reichgedeckten Tafel Platz. Martin Seidelmann bat den Pfarrer und den Bürgermeister, rechts und links von ihm Platz zu nehmen. Der Rentner unterhielt sich mit dem Knappschaftsarzt, der zugleich Armenarzt von Hohenthal war. Dieser vielgeplagte Mann kam soeben erst wieder von einem Krankenbesuch. Er erzählte dem Rentner davon. Es handelte sich um eine arme, alte Frau.

»Was fehlt der Frau?« fragte August Seidelmann.

»Was soll ihr fehlen? Die Elendskrankheit hat sie, die Auszehrung, wie hier fast alle Leute.«

»Keine Rettung?«

Der Arzt hob die Schultern.

»Wie soll man eine Kranke retten, für die die Gemeinde bezahlen muß? Man darf ihr ja nichts verschreiben.«

Der Rentner zog die Brauen zusammen.

»Mein Lieber, sagen Sie das nicht! Sie haben voriges Jahr der Knappschaftskrankenkasse bedeutende Ausgaben verursacht.«

»Meinen Sie etwa die achthundert Mark Gehalt, die ich bekomme?«

»Darüber rede ich nicht. Aber es sind einhundertvier Mark für den Apotheker verausgabt worden. Denken Sie, soviel Geld in einem einzigen Jahr!«

Der Arzt beugte sich zu dem Alten hinüber, so daß niemand hören konnte, was sie sprachen.

»Wissen Sie, Herr Seidelmann«, flüsterte er, »für wieviel Kranke diese Summe reichen mußte?«

»Das geht mich nichts an. Mich kümmert nur die verausgabte Summe. Ich bin der Bevollmächtigte des Barons Wildstein, des Hauptinhabers der Gruben, und meines Bruders, der mit Kapital an dem Bergwerk beteiligt ist, und habe deren Belange zu wahren.«

»Sollen Sie auch. Aber Sie müssen dabei wenigstens einigermaßen auch den Tatsachen Rechnung tragen. Diese einhundertvier Mark sind für zweihundertunddreizehn Krankheitsfälle berechnet worden, Herr Seidelmann! Da haben also im Durchschnitt mehr als zwei Kranke nur für eine Mark Arznei erhalten Nicht einmal fünfzig Pfennig auf den Kopf und das Jahr! Das darf ich keinem Menschen sagen, sonst ...«

»Das fehlte auch noch. Sie sind Beamter des Barons. Übrigens haben Sie nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen waren ...«

»Oh, oh!« fiel ihm der Arzt in die Rede. »Soll ich etwa bekannt werden lassen, daß der Gesundheitszustand der Bevölkerung grad in meinem Bezirk der elendeste des ganzes Landes ist?«

Hier wurde das Gespräch unterbrochen. Der Hausherr feierte in einem Trinkspruch seinen Bruder und rühmte die edelmenschliche Gesinnung, die der Rentner heut in seinem Vortrag offenbart habe. Fröhlich klangen die Gläser aneinander.

Niemand bemerkte die alte Frau, die in diesem Augenblick leise eingetreten war und sich mit beiden Händen am Türpfosten hielt. Die Frau war blind. Ihr Haar hatte der Wind zerzaust, und ihre Kleidung bestand nur aus dünnen Fetzen. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern.

Man setzte sich wieder, da entdeckte Martin Seidelmann den ungebetenen Gast.

»Was?« fuhr er auf. »Die alte Löffler? – Was will denn die bei uns?«

»Oh, nehmen Sie es mir nicht übel!« sagte die Frau, während ihr die zahnlosen Kinnladen vor Frost zusammenschlugen. »Ich suche den Herrn Pastor Seidelmann.«

Der Rentner fühlte sich dadurch, daß sie ihn Pastor nannte, geschmeichelt. Er gab seinem Bruder, der eine hastige Erwiderung auf der Zunge hatte, einen Wink und stand auf. »Ich bin der Gesuchte, liebe Frau. Was wollen Sie?«

»Ich war heut in der Schenke. Ein Junge hat mich hingeführt. Ich wollte –«

»Was? In der Schenke waren Sie?«, fragte er rasch. »Sind Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?«

»Ja, schon seit langer Zeit.«

»Und da gehn Sie in die Schenke? Ich denke, Sie müssen zur bestimmten Zeit zu Hause sein?«

»Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir uns selber um Brot bemühn müssen. Außerdem hatte ich den Hausvater um Erlaubnis gefragt. Ich wollte Ihre Rede hören.«

»Ah! Das ist etwas andres! – Nun, was wollen Sie jetzt hier?«

Die Alte sann einige Augenblicke nach, um die rechten Worte zu finden.

»Herr Pastor«, sagte sie dann zögernd, »Sie haben von der Not und dem Elend gesprochen und von der Hilfe, die es dagegen gibt. Not und Elend sind hier überall, aber zu den Elendesten gehöre ich.«

»Ja. Sie sind schlimm dran. Blind zu sein, ist eine schwere Heimsuchung des Himmels. Beten Sie nur recht fleißig! Vielleicht läßt er Sie ein Mittel zur Heilung finden.«

Hier räusperte sich der Pfarrer laut. Er war ein bescheidner, stiller Diener des Herrn, keine Kampfnatur; aber was er da hörte, war ihm doch zuviel.

»Ach, Hilfe gibt es für mich keine«, antwortete die Blinde. »Mir fehlen ja die Augäpfel. Ich habe sie im Dienst verloren. Könnte ich da nicht von meinem einstigen Arbeitgeber eine Unterstützung erhalten, Herr Pastor?«

»Wieso? Mein Bruder hat Ihnen den Arbeitslohn pünktlich bezahlt, solange Sie tätig waren. Wenn Sie nicht mehr arbeiten, haben Sie auch nichts mehr zu verlangen.«

»Könnten Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen? Seit jenem Unglück führe ich das jämmerlichste Leben, das es nur geben kann. Die andern können hinausgehen auf die Dörfer, wo es eher ein Stückchen Brot gibt als hier. Ich aber taste mich im Ort von Haus zu Haus, wo lauter arme Leute wohnen. – Sie haben eine so schöne Rede gehalten, so schön und so rührend –«

»Die Rede hat Ihnen gefallen?«

»Oh, sehr! Sie sprachen von Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft. Da dachte ich: du gehst nachher zu ihm. Wer so schön von der Nächstenliebe zu reden weiß, der hat sicherlich ein gutes Herz.«

August Seidelmann zog seine Stirn in Falten.

»Sie kommen also betteln? Wissen Sie nicht, daß das ungehörig ist?«

Es sah aus, als horchte die Blinde in die Stille hinein, die angesichts der peinlichen Auseinandersetzung in dem großen Zimmer herrschte. In ihren erschlafften Zügen spiegelte sich eine lebhafte seelische Erregung. Und plötzlich huschte der Schein eines bitteren Lachens über ihr Gesicht.

»Ach so, jetzt weiß ich, woran ich bin! Der Herr hat zwar viel schöne Worte in aller Öffentlichkeit für uns arme Leute gehabt, aber wenn's ans Geben geht, sieht die Sache anders aus.«

»Was wollen Sie damit sagen?« begehrte der Rentner auf.

Die Alte lehnte noch immer am Türpfosten und sprach wie über seinen Kopf hinweg, scheinbar in weite Ferne hinein.

»Was ich damit sagen will? Daß ich Sie für einen Engel gehalten habe, den der liebe Herrgott zu uns gesandt hat, und daß ich nun einsehe, wie einfältig ich war. Sie sind eben auch nur ein Mensch und nicht einmal einer von den gutherzigen.«

Allmählich hatte die ganze Tafelrunde auf das Gespräch des Rentners mit der alten Löffler gelauscht, und die letzten Worte brachten eine allgemeine Aufregung hervor.

»Unverschämtheit! Freches Weib!« ertönte es rund um den Tisch.

»Werft sie hinaus!« schrie der Rentner, indem er seine Hand gegen die unbequeme Bittstellerin ausstreckte.

In diesem Augenblick erhob sich der Pfarrer.

»Warten Sie, Frau Löffler!« sagte er so laut, daß jedermann ihn verstehen konnte. »Ich gehe mit Ihnen. Wer Sie in dieser Weise fortjagt, der treibt auch mich hinaus.«

Er war schon an der Tür.

»Was? Sie wollen doch nicht etwa wegen dieses Weibes mein Haus verlassen?« fragte Martin Seidelmann verdutzt.

»Nicht wegen der Frau, sondern wegen der Behandlung, die ihr hier widerfährt. In einem christlichen Haus fertigt man einen demütig Bittenden, der in Not ist, nicht in dieser Weise ab. – Im übrigen kann ich Ihnen erklären, daß der Blinden schon geholfen ist. Ich bin zwar nur ein kargbesoldeter Pfarrer, aber ein Stückchen Brot und einen warmen Trunk habe ich doch für sie übrig.«

»Sie greifen dem geordneten Gang der allgemeinen Fürsorge vor!« meldete sich der Rentner.

»Soll das ein Hinweis auf die Spende sein, die Sie heut für die Notleidenden gesammelt haben? Darf ich vielleicht fragen, wieviel die Sammlung ergeben hat?«

»Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig«, erklärte August Seidelmann hochmütig. »Sie sind nicht von der Obrigkeit eingesetzt, die Verhältnisse unsrer Kasse zu prüfen.«

»Gut. Aber warum sammeln Sie, wenn Sie jetzt behaupten, daß man mit Wohltaten der Fürsorge vorgreife?«

Bleich vor Wut trat der Rentner auf den Geistlichen zu.

»Herr Pfarrer, Sie haben heut meinen Vortrag gehört. Dabei haben Sie wohl auch bemerkt, daß ich mich wenigstens ebenso gut auf die Worte der Nächstenliebe verstehe wie Sie. Ich bin ein Christ, aber –«

»Nein, Sie sind kein wahrer Christ, Herr Seidelmann!« schnitt ihm der Pfarrer das Wort ab. »Sie tragen nur die Maske eines Christen und werfen lediglich mit schönen Worten der Nächstenliebe um sich, aber an den Taten lassen Sie es fehlen. Sonst würden Sie sich diesem Elend gegenüber anders verhalten. Ich als Seelsorger habe die heilige Pflicht, mich eines derartigen Falles anzunehmen. Wir sind einstweilen fertig miteinander, mein Herr! Und dieser Frau wird geholfen werden.«

Eine gedrückte Stimmung lag über der ganzen Gesellschaft. Deshalb versuchte der Bruder des Rentners, der den Ruf seines Hauses retten und sich obendrein nicht gern mit dem Geistlichen verfeinden wollte, in letzter Minute zu vermitteln.

»Sie wollen die Löffler doch nicht für immer bei sich behalten, Herr Pfarrer?« fragte er unsicher.

»Das ist nicht nötig. Ich werde dafür sorgen, daß die Bewohner des Armenhauses überhaupt nicht mehr zu betteln und zu hungern brauchen.«

»Ihren guten Willen in Ehren, Herr Pfarrer, aber wie wollen Sie das anfangen? Unsre Gemeinde ist zu arm, um mehr tun zu können als bisher.«

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich über das Gesicht des Geistlichen.

»Ich habe Geld genug!« antwortete er.

»Sie? Sie sind arm, soviel ich weiß!«

»Das bin ich auch; aber es hat sich eine mildtätige Seele gefunden, die eine beträchtliche Summe für unser Armenhaus stiftete.«

»Das wäre! – Wieviel denn?« spottete August Seidelmann.

»Ich durfte mich um Ihre Kasse nicht kümmern, mein Herr, und werde Ihnen nun auch über die meinige keine Auskünfte geben.«

»Oh, das steht denn doch anders! Bei Ihnen handelt es sich um eine Gemeindeangelegenheit, und mein Bruder, der Kaufmann Seidelmann, leitet das Armenwesen des Ortes. Unter seiner Verwaltung steht auch das Armenhaus. Sie werden ihm das, was Ihnen eingehändigt wurde, ausliefern.«

»Leider ein Irrtum. Der Geber hat die Summe ausdrücklich mir in Verwaltung gegeben. Nur ich habe zu bestimmen, in welcher Weise darüber verfügt werden soll.«

»So ist diesem Geber die Gemeindesatzung unbekannt. Wer ist überhaupt der Mann?«

»Auch darüber bin ich Ihnen keinen Bescheid schuldig, könnte Ihnen auch gar keinen geben, da mir selber der Spender fremd ist. Seinen Namen hat er mir nicht genannt. Ich werde mir diese ganze Angelegenheit reiflich überlegen, um in der nächsten Gemeinderatssitzung darüber berichten und meine Anträge stellen zu können. Gute Nacht, meine Herren!«

Der Pfarrer nahm die Blinde bei der Hand und führte sie hinaus.

Hinter ihm setzte eine lebhafte Unterhaltung ein. Das Peinliche des Auftritts war rasch überwunden, dagegen war mit der Erwähnung des unbekannten Wohltäters ein fesselnder Gesprächsstoff aufgetaucht, der nun auf das ausführlichste erörtert wurde.


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