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substantivische Welt.

Wir haben (vgl. Art.  adjektivische Welt) die einzige Welt unserer Erfahrung, die Wirklichkeitswelt, die Welt des Sensualismus kennen gelernt als diejenige Welt, für deren Beschreibung die Sprache ihre Adjektive zur Verfügung hat; wir haben vermutet, daß das Adjektiv zwar der jüngste Redeteil der Grammatik ist, aber der älteste Redeteil in der Geschichte des Verstandes. Wir haben schon dort angedeutet, daß die Sprache für ihren eigenen Gebrauch die substantivische Welt hinzugeschaffen habe, die Welt der Götter und der Geister, die Welt der Dinge und der Kräfte. Diese substantivische Welt ist die mythologische Welt.

Diese Vorstellung wäre eine Banalität, wenn nur gemeint wäre: die abstrakten Substantive, bei denen eine ehrliche Vernunft sich nichts denken kann, gehören einer mythologischen Welt an. Nein. Nicht nur Götter und Geister sind mythologisch, auch die scheinbar wohlbekannten Kräfte der Physik und der Biologie sind mythologische Ursachen; auch die Dinge selbst, die Einzeldinge unserer adjektivischen Erfahrung, sind nur Symbole, unter denen wir die mythologischen Ursachen ihrer adjektivischen Wirkungen zusammenfassen. An den abstrakten Substantiven ist die Sachlage nur leichter begreiflich zu machen.

Die germanischen Sprachen haben mehr als andere die Neigung, die Dinge, von denen wir noch weniger wissen als von den körperlichen Dingen, die Abstracta, durch Doppelwörter zu bezeichnen, die für mein Sprachgefühl etwas Pleonastisches an sich haben. Freundschaft sagt in meiner Beziehung zu N. nicht mehr, als daß wir Freunde seien, besser, daß wir einander freund seien, denn das einzig Wirkliche daran ist ein adjektivisches Gefühl; das jetzige Suffix schaft war ursprünglich soviel wie Beschaffenheit, wurde später zur Bezeichnung eines Sammelbegriffs. Bürgerschaft, Judenschaft sagt nicht mehr als Bürger, Juden; Wissenschaft, der Schulsack voll Wissen, nicht mehr als Wissen allein. Das Suffix heit war auch ein selbständiges Wort und bezeichnete einen Zustand; Freiheit, Gleichheit sagt nicht mehr als frei, gleich; heit hat aber wie schaft die Bedeutung eines Kollektivums angenommen und Christenheit sagt nicht mehr als Christen, freilich würde nur etwa ein deutsch redender Türke Christenschaft sagen; endlich setzt man heit völlig pleonastisch in Gottheit, Schönheit. Ein selbständiges Wort war auch tum; wenn wir Eigentum sagen, so meinen wir nicht mehr als mit dem Adjektiv eigen, das eigentlich das Partizip eines alten vergessenen Verbums eigan ist, besessen bedeutet, im Gegensatz zu einer herrenlosen Sache; nur der Zufall des Sprachgebrauchs unterscheidet zwischen Eigentum, Eigenheit und Eigenschaft; mein Eigen sagte man früher, wo wir jetzt mein Eigentum sagen.

Es ist auch nur ein Zufall der Sprachgeschichte, daß die konkreten Dinge nicht ebenso gezwungene Wortformen haben. Daß wir nicht Pferdeding, Apfelding für Pferd, für Apfel sagen oder etwa Pferdetum, Apfelheit; franz. maison ist aus so einem abstrakten lat. mansio, Bleiberaum, entstanden. In einem gewissen Sinne sind die konkretesten Substantive eben solche Scheinbegriffe wie die abstraktesten Begriffsungeheuer der Scholastik.

Wenn wir uns nicht gewöhnt hätten, durch eine verwegene Analogiebildung fast allen Substantiven die gleichen Kategorien des Kasus, der Zahl und sogar des Geschlechts beizulegen, so würden wir an diesen Kategorien die Bildhaftigkeit, die Unwirklichkeit der Substantivbildungen sofort erkennen. Würden sofort herausfühlen, daß die abstrakten Substantive kein Kasusverhältnis zueinander haben können, kein Zahlenverhältnis zu uns und erst recht keine Ähnlichkeit mit dem Geschlechtsunterschiede der Tiere. Die Bildhaftigkeit des Geschlechtsunterschiedes ist auch bei den allermeisten konkreten Substantiven offensichtlich; das Kasusverhältnis der konkreten Substantive aber ist auch nur, wie die Sprachwissenschaft längst nachgewiesen hat, metaphorisch nach dem Bilde einiger räumlichen Verhältnisse entstanden und täuscht uns nur eine Kenntnis von Beziehungen vor, über die wir immer nur bildlich etwas aussagen können; auch die Zahl der konkreten Substantive ist nicht in der Erfahrungswelt, ist nicht in einem einzigen wirklichen Dinge, ist nicht einmal eine Wirkung der Dinge auf uns, sondern nur in der verbalen Welt, in dem Ordnungsbedürfnisse des Menschen. Denn die Zahlen sind keine Wahrnehmungen, sind nicht adjektivischer Art.

Der menschliche Verstand, der nach einem uralten, gewiß schon vom Tiere ererbten Instinkte die gemeinsamen Ursachen der adjektivischen Eindrücke als Substantive auffaßt, täuscht sich also eine substantivische Welt genau mit den gleichen Mitteln vor, wie der optische Scherz des Physikers uns durch geschickt gestellte Spiegel und richtig gewählte Linsen die Anwesenheit eines Körpers vortäuscht. Ich habe schon irgendwo gesagt, daß wir mit Recht einen Apfel wahrzunehmen glaubten, wenn uns ein höherer Taschenspieler zugleich Form, Farbe, Konsistenz, Geschmack und Geruch eines Apfels vortäuschen könnte. Nur daß wir uns mit dem sogenannten wirklichen Apfel sättigen, daß wir ihn verdauen können; aber auch das liegt doch nur wieder an adjektivischen Wirkungen des wirklichen Apfels, die uns ein noch höherer Taschenspieler vortäuschen könnte.

Es ist kein Zufall, daß die Beziehungen der substantivischen Welt durchaus (sprachlich) auf Beziehungen des Raums zurückgehen. Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raums, ist die Welt des Seins. Wir müssen völlig von der wichtigsten Bedingung aller Wahrnehmung abstrahieren, von der Zeit, wenn wir eine Welt des Seins festhalten wollen. In der Zeit gibt es nichts Bleibendes, gibt es kein Sein, gibt es nur ein Werden. (Vgl. Art.  verbale Welt.)

Auch diese Weisheit ist sehr alt, wenn auch nicht so alt wie der Instinkt, eine substantivische Welt festzuhalten. Wir wissen zwar nicht genau, was Herakleitos mit den Sätzen gemeint habe, die uns überliefert sind; ich glaube auch nicht, daß alles griechisch gewesen sein kann, was Hegel in den dunkeln Philosophen hineingelegt hat. Soviel aber ist sicher, daß Herakleitos die Unwirklichkeit des Seins erkannt hat und nur im Werden einen Begriff sah, der über die Erfahrungswelt hinausführen konnte. »Alles fließt«; es gibt also kein bleibendes Sein. »Man kann in den gleichen Fluß nicht zweimal hinabsteigen.« Man achte darauf, daß Herakleitos seine Beispiele vom Feuer und vom Wasser nahm, und daß uns heute noch die Erscheinungen der Flamme und des herabstürzenden Wasserfalls die besten Beispiele sind, an denen wir die Unwirklichkeit der substantivischen Welt begreiflich machen können.

Auf ein ganz anderes Gebiet gehört es, wenn wir im Banne der Sprache, weil wir immer das Unsagbare sagen möchten, die Sehnsucht nach Dingen-an-sich hinter der adjektivischen Welt tief empfinden und die Symbole der substantivischen Welt für solche Dinge-an-sich nehmen; in diesem Sinne könnte man die substantivische Welt auch die Welt der Mystik nennen.

Für freundliche Leute, die in der Anerkennung meiner sprachkritischen Ideen schon so weit vorgeschritten sind, daß sie diese Ideen alt und bekannt nennen, will ich noch eine jüngere Autorität nennen als den schwer zugänglichen Herakleitos; ich fürchte nur, daß auch bei diesem neuern Forscher eine gründliche Kritik der Sprache nicht zu finden sein wird.

Dem sprachkritischen Gedanken, daß die der Erkenntnis zugängliche Welt allein die adjektivische Welt ist, daß die substantivische Welt nur mit Hilfe von Hypothesen oder von Hypostasen vorgestellt werden kann, scheint sich schon vor 300 Jahren ein Mann genähert zu haben, dessen Verdienste um die Logik durch seine bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiete der Physik in den Schatten gestellt worden sind: Galilei. Ich verdanke diesen Hinweis einer Abhandlung Prantls: »Über Galilei und Kepler als Logiker.« (Sitzungsberichte der Münchner Akademie II, S. 394 f.) Gegenüber dem wahren und innern Wesen der Dinge bekennt Galilei sich zu einem klaren Agnostizismus. Die Eigenschaften und Wirkungen der Dinge aber (Prantl selbst übersetzt so) könnten wissenschaftlich erkannt werden, da brauche man an dem Siege der Wissenschaft nicht zu verzweifeln. Ich setze die Stelle in den Originalworten (aus einem Briefe Galileis) her: »O noi vogliamo speculando tentar di penetrar l'essenza vera ed intrinseca delle sustanze naturali, o noi vogliamo contentarci di venire in notizia di alcune loro affezioni. Il tentar l' essenza, l' ho per impresa non meno impossibile e per fatica non meno vana nelle prossime sustanze elementari che nelle remotissime e celesti … Ma se vorremo fermarci nell' apprensione di alcuni affezioni, non mi pare che sia da disperar di poter conseguirle anco nei corpi lontanissimi da noi, non meno che nei prossimi.«

Übrigens bemüht sich Prantl, aus einer gelegentlichen und notgedrungenen Versicherung des vorsichtigen Galilei den Beweis zu ziehen, daß dieser in Wirklichkeit kein Gegner der aristotelischen Logik gewesen sei; Prantl vergißt, daß zu Anfang des 17. Jahrhunderts von Aristoteles abzufallen fast ebenso gefährlich war, wie von der Kirche abzufallen. In Italien wenigstens. Die logische Freiheit des Galilei, die ihn bis zu sprachkritischen Ideen führen konnte, äußert sich sehr stark und fein in einem Wortspiele, welches davon ausgeht, daß im Italienischen organo zugleich das Werkzeug (also auch das Organon des Aristoteles) und die Orgel bedeuten kann. Galilei leugnet noch nicht, daß Aristoteles uns eine gute Logik hinterlassen habe; aber er leugnet bereits, daß Aristoteles ein guter Logiker gewesen sei; man könne ein vortrefflicher Orgelbauer sein, ohne die Orgel spielen zu können. Auch diese schöne Stelle will ich in der Originalsprache hersetzen. »Concedetemi in tanto, che io esponga le mie difficultà … dicendovi, che la logica, come benissimo sapete, è l' organo col quale si filosofa; ma siccome può esser, che un artefice sia eccellente in fabbricare organi, ma indotto nel saperli sonare, cosi può esser un gran logico, ma poco esperto nel sapersi servir della logica; siccome ci son molti che sanno per lo senno a mente tutta la poetica, e son poi infelici nel compor quattro versi solamente: altri posseggono tutti i precetti del Vinci, e non saprebber poi dipingere uno sgabello. Il sonar l' organo non s' impara da quelli che sanno far organi, ma da chi gli sa sonare; la poesia s' impara dalla continua lettura dei poeti: il dipignere s' apprende col continuo disegnare e dipignere; il dimostrare dalla lettura dei libri pieni di dimostrazioni, che sono i matematici soli, e non i logici.« (Dialoghi sui massimi sistemi, Ausg. Sonzogno, S. 46.)


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