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Strafe.

 

I.

Mit einem Gefühle, das aus Ärger und Heiterkeit gemischt ist, erinnere ich mich einer Stunde, in welcher ich vor bald vierzig Jahren zum ersten Male einen unglücklichen Versuch machte, meine Gedanken über das Wesen der Strafe vorzutragen. Der vortreffliche A. Merkel hatte ein kriminalistisches Seminar eingerichtet, und im ersten Seminarkolleg sollte ich, nach dem Wunsche des Lehrers, über das Wesen des Eides sprechen. Ich trug, ungeschickt genug, die Ansichten vor, die in diesem Wörterbuche zu lesen sind, und kann nicht sagen, daß ich Beifall gefunden hätte. Merkel rang die Hände. Knüpfte aber doch nachsichtig an den »vernommenen Radikalismus« an und wollte wissen, wie von einem solchen Standpunkte aus der Meineid verhütet werden könnte. Ich war noch nicht gewarnt genug und trug auch noch, wieder sehr ungeschickt, meine Ansichten von dem Wesen der Strafe vor. Meine nächsten Freunde rückten von mir ab; nicht etwa wegen der Kühnheit der Ideen, sondern weil sie meinten, ich schädigte durch so unjuristische Schwärmerei das schöne kriminalistische Seminar. Einen ähnlichen Vorwurf machte mir Merkel auf dem Heimwege; bald aber kehrte seine gewohnte gute Laune und Herzlichkeit wieder. In seiner Wohnung hielt er mir eine Pauke, tadelte nicht nur meine Unkenntnis in den Grundsätzen der historischen Schule, sondern auch meine philosophischen Ausgangspunkte. Er lieh mir aus seiner Bibliothek Hegels »Philosophie der Geschichte« und »Phänomenologie«; er empfahl mir beide Werke, warnte aber zugleich davor, mich durch Hegels Begriffskonstruktionen allzusehr von der Beobachtung der Wirklichkeit abziehen zu lassen. Indem ich dankbar der verdienten Pauke gedenke, erinnere ich an diese Worte Merkels besonders darum, weil noch v. Liszt es für wünschenswert erklärt, bei Merkel, »der wie kein anderer auch heute noch die Gedankenkreise der Jüngern beherrscht«, den Einfluß Hegels nachzuweisen. Mein verehrter Lehrer war ideell ein Schüler Hegels, real aber ein Schüler Jherings; er hatte sich die Aufgabe gestellt, zwischen der klassischen und der modernen Schule des Strafrechts zu vermitteln.

Klarheit über das Wesen der Strafe fand ich weder bei Merkel noch bei Hegel. Hegel spielt doch wohl nur virtuos mit den Begriffen, wenn er im Verbrechen eine Negation des Rechts, in der Strafe eine Negation dieser Negation, also wieder das Recht sieht. Die Strafe sei ein Recht des Verbrechers als eines Mitgliedes der Gemeinschaft. Ich habe auf die Frivolität dieser witzigen Definition schon aufmerksam gemacht (vgl. Art.  recht); man könnte ebenso sophistisch antworten: nach dem uralten (nicht erst von Ulpianus, sondern schon von Aristoteles herstammenden) Grundsatze volenti non fit injuria brauchte man ja dem Verbrecher das Recht auf seine Strafe nicht zu gewähren, könnte an ihm das Unrecht der Straflosigkeit begehen.

Der Begriff der Strafe ist nun von den Vertretern der rasch verflossenen Kriminal-Anthropologie und der aufstrebenden Kriminal-Soziologie so scharf kritisiert worden, daß von dem Begriffe beinahe nur der Wortschall übrig geblieben ist; die Vergeltungstheorie des klassischen Strafrechts, d. h. der unter dem Einflusse der Aufklärungszeit entstandenen Strafgesetzbücher und ihrer ältern Kommentatoren, kann als vernichtet betrachtet werden. Was ist aber die Strafe in der Ethik (die man ja nicht preisgeben will), wenn sie nicht Vergeltung eines Unrechts ist? Die Strafgesetzbücher werden, vom Standpunkte der modernen Strafrechtler gesehen, zu praktischen Regelbüchern für die Kriminalpolizei und für die Gerichte, die beide (von einem idealen Standpunkt) Kriminalpolitik zu treiben, das Verbrechertum zu bekämpfen haben. Das geschriebene Strafrecht ist ein Teil des öffentlichen Rechts geworden, ein Machtmittel; dieses Strafrecht hat seinem Wesen nach nichts zu schaffen mit dem andern Rechte, das zwischen zwei streitenden Parteien das richtige Recht zu finden hat.

Dieses Strafrecht, mit welchem sich Gesetzgeber, Gelehrte und Richter unaufhörlich beschäftigen, setzt den Begriff der Strafe immer als bekannt voraus; nirgends finde ich auch nur den Versuch, die Frage zu beantworten, was Strafe eigentlich sei. Man hätte vorher wohl auch ein ganz anderes Straf-Recht begründen oder beweisen müssen: das Recht zu strafen. In der Erfahrungswelt trifft man freilich alltäglich die Erscheinung, daß Eltern ein Kind strafen, um ihm z. B. Unsauberkeit abzugewöhnen; in der Mythologie trifft man die Vorstellung, daß Gott die Menschen und die Völker für ihre Sünden bestrafe. Die von Gott gesetzte Obrigkeit nahm von dem Erziehungsrechte der Eltern das Vorbild zu einem Straf-Rechte. Zu dem Rechte, jedem der allgemeinen Wohlfahrt schädlichen Menschen ein Übel zuzufügen, eben die Strafe. Früher, da man an die Mythologie dachte, faßte man die Strafe mehr als Vergeltung auf, jetzt mehr als ein Erziehungsmittel. Praktische Gesetzgeber, wie Napoleon einer war, haben gewöhnlich eingesehen, daß sie als Vertreter der göttlichen Gerechtigkeit eine komische Rolle auf Erden spielen und daß es um die Erziehung erwachsener Menschen durch Strafen eine mißliche Sache sei. In der Praxis hat man das psychologische Mittel gegen das Verbrechertum immer wieder in der Straf androhung der Gesetzbücher gesehen; die Straf vollstreckung war nur die logische Folge der Androhung, die doch sonst ganz unwirksam geblieben wäre. Wirklich mögen manche Martern der alten Strafrechte später nur noch fingiert worden sein; so wurden noch 1813 zu Berlin zwei Brandstifter, die nach dem Gesetze lebendig verbrannt werden sollten, vorher heimlich erdrosselt.

Die Aufklärungszeit (Beccaria) hat das unleugbare Verdienst, viele nichtswürdige Grausamkeiten aus dem Strafvollzuge verbannt zu haben; aber auch die Aufklärungszeit konnte ebensowenig wie die viel tiefere Kriminalsoziologie oder Kriminalpolitik die Frage beantworten: was die Strafe eigentlich sei. Seit Jhering hat man sich daran gewöhnt, in jedem Rechte einen Zweck zu suchen, also auch im Strafrechte. Man sagt jetzt, der Zweck der Strafe sei: den Verbrecher zu bessern oder unschädlich zu machen. Woher aber die Gesellschaft das Recht hernehme, unschädlich zu machen oder zu bessern, das Straf-Recht also, das erfahren wir auch aus dem Zweckbegriffe nicht; denn das Recht soll ja sonst über menschliche Interessen erhaben sein, soll außerhalb von Raum und Zeit wohnen.

 

II.

Bevor ich den Versuch mache, das Straf-Recht über einen andern Mittelbegriff mit dem Rechte in Zusammenhang zu bringen, will ich doch mit einigen Worten eine Vermutung andeuten, wie der Begriff der Strafe doch auch mit dem Begriffe eines Zweckes zu verbinden wäre. Der Zweckbegriff liegt, wie wir gelernt haben, allen aktiven Verben zugrunde. Nun wird es meine Leser nicht überraschen, daß ich das Wort Strafe, weil es der substantivischen oder der mythologischen Welt angehört, gar nicht zu den Wirklichkeiten rechnen kann; aus dem gleichen Grunde scheint es mir ein vergebliches Bemühen, den substantivischen Begriff Strafe einfach definieren zu wollen. Der Begriff, um den es sich handelt, gehört der verbalen Welt an; und wir wissen ohne Definition ganz genau, was wir unter strafen zu verstehen haben: das Zufügen eines Übels, das ein Mensch nach unserer Meinung verdient hat.

Ich wage es, die Wortgeschichte von strafen für diese Anschauung zu bemühen. Die poena der Römer konnte noch recht gut eine substantivische Form haben; das griechische Wort ποινη, das da entlehnt worden war, bezeichnete allerdings ursprünglich selbst eine Handlung, die Handlung der Rache, der Blutrache, aber schon sehr bald das substantivische Blutgeld, mit welchem für einen Mord Genugtuung, Ersatz geboten wurde. Bildlich konnte lat. poena dann jede Strafe sowie eine Geldstrafe bedeuten und als etwas Wirkliches, als ein Substantiv aufgefaßt werden; später konnte schon poena das bedeuten, was wir ein Leiden, einen Schmerz, eine Pein (Lehnwort nach poena) nennen. Der Vollzug der Rache, der Blutrache, war natürlich ebenfalls eine Handlung, aber noch keine bewußt zweckmäßige; man gehorchte bei dieser Handlung mehr dem Zwange einer Reaktion, eines Instinktes, wenn man will, einer gebieterischen Sitte. Den Charakter einer scheinbar oder wirklich zweckmäßigen Handlung nahm das Strafen eigentlich erst an, als sich viele hundert Jahre nach der Kodifikation des römischen Rechts auch ein System für die Reaktion gegen Handlungen herausgebildet hatte, die man nach der Zeitanschauung für Verbrechen hielt.

Ohne in diesem Falle an eine Lehnübersetzung zu denken, möchte ich doch die Verbindung zwischen dem deutschen Verbum strafen und dem lateinischen Substantiv poena durch eine Vermutung herzustellen suchen. Aus dem Lehnworte Pein, welches zuerst die Marter der göttlichen wie der irdischen Gerechtigkeit bezeichnete und später immer mehr verblaßte, hat sich eine einst größere Sippe entwickelt, zu der auch das Verbum peinen gehörte; man braucht nur an das mittelalterliche Strafrecht gemahnt zu werden, um zu wissen, daß peinen (wofür wir jetzt lieber peinigen sagen) ursprünglich martern, quälen bedeutete. Unser strafen (früher straffen) ist ein verhältnismäßig neues Wort, das im Althochdeutschen noch nicht vorkommt; die Herkunft wird als dunkel bezeichnet. Vielleicht finde ich, wenn das D. W. bis zu diesem Worte fortgeschritten ist, dort eine Unterstützung meiner Vermutung, daß strafen von straff herzuleiten sei und daß Straffen, das Straffanziehen, also eine Art der Folter bedeutete und dann nach bekannten »Gesetzen« des Bedeutungswandels für alle Arten der Folter gebraucht wurde. Für das Mittelalter bestand ja das Strafverfahren aus Folter und aus Marter. Man beachte auch, daß bis in die neue Zeit hinein peinliches Gericht und peinliche Frage das Strafverfahren unter Anwendung der Folter bezeichneten. Peinlich ist in seinem Sinne so heruntergekommen, daß der wehleidige Deutsche jetzt (die Entwicklung geht bis auf Luther zurück) darunter einen Vorgang oder einen Anblick versteht, der ihm innerlich unbehaglich ist. Auch für diesen Bedeutungswandel gibt es sehr merkwürdige Analogien. Unser genierlich kommt von franz. gêner, das zuerst körperlich martern (von hebr. gehenna, Hölle) bedeutete, dann moralisch quälen und endlich beengen. Noch wertvoller für unsern Fall ist ital. strapazzare, das in vielen Verbindungen gar nicht mehr an schwere Mißhandlung erinnert (uova strapazzate = Rührei, vestito da strapazzo = Hauskleid, Strapazzier -Anzug), sogar leicht und schlecht arbeiten (un lavoro) heißen kann, und dennoch von ital. strappare, ausreißen, ausrenken herzuleiten ist; und strappare ist wohl gewiß unser straffen.

Hatte sich das Verbum strafen erst über peinen hinweg für lat. punire eingebürgert, so konnte das abgeleitete Substantiv Strafe leicht für alle Bedeutungen von poena eintreten. Und als die christelnde (nicht jüdische und nicht christliche: »Mein ist die Rache«) Vergeltungstheorie und das neuzeitliche Strafrecht erst das Wort Strafe vorfanden, glaubten sie auch, es müsse etwas Rechtes bedeuten; zugrunde lag aber immer nur der Begriff strafen aus der verbalen Welt der vernünftig oder unvernünftig gewollten Zwecke.

 

III.

Auch ich will nun den Versuch machen, das Straf-Recht zu begründen, das Recht der Gesellschaft, ihre Verbrecher zu bestrafen, mit dem übrigen Rechte in begrifflichen Zusammenhang zu bringen; ich fürchte nur, es wird auf einen Widerspruch hinauslaufen.

Die Gesellschaft, der Staat nimmt das Recht in Anspruch, bestimmten Menschen straffrei ein Übel zuzufügen, sie an Leben, Freiheit, Vermögen oder Ehre straffrei zu verletzen. Ob die Strafe den Verbrecher unschädlich machen, abschrecken oder bessern will, immer widerspricht die Theorie der Moral Kants, welche ja den einzelnen Menschen immer nur als Selbstzweck, niemals als Mittel betrachtet. Auch dem Naturrecht widerspricht die kaltblütige Hinzufügung solcher Übel, wenn man nicht uralte Begriffe des Rechts zu Hilfe nimmt: das Notrecht, den Notstand, besonders die Notwehr. Beim Notstande ist es von den Juristen anerkannt, daß er kein eigentliches Recht begründe, sondern nur einen faktischen Zustand, der bei der Gebrechlichkeit der Menschennatur Straflosigkeit zur Folge habe. Die Gesellschaft oder der Staat verlangen Gleichgültigkeit gegen den Notstand, d. h. Heroismus, nicht von jedem Bürger, sondern nur vom Soldaten und vom Matrosen. Wenn ich mich bei einem Schiffbruche auf ein Brett zu retten suche und dabei einen Menschen, der das Brett umklammert hält, ins Wasser stoße, also töte, so habe ich ohne Recht und dennoch straffrei gehandelt. Die Sachlage liegt bei der Notwehr sehr oft nicht anders; wenn ich einen Einbrecher totschieße, der mir meine Uhr vom Nachttische stehlen wollte, so handle ich ebenfalls straffrei, aber das Recht der Notwehr wird in das Verhältnis hinein konstruiert. Der seit Beccaria allgemein geltende Satz, daß Verbrechen und Strafe in einem richtigen Verhältnisse zu stehen haben, wird übersehen, weil man zwischen Notwehr und Strafe unterscheidet. Weil man – im Banne juristischer Begriffe – gegenüber bedrohlichen Akten des Notstandes ein Recht der Notwehr anerkennt, nicht aber ein Recht der Notwehr gegen Akte der Notwehr. Das ist ganz richtig, solange man den Fechtboden der Jurisprudenz nicht verläßt. Wenn der Ertrinkende sich an einen Balken angeklammert hat und ich im Notstande ihn ins Meer zurückstoßen will, um mich selber zu retten, so darf er gegen meinen Akt des Notstandes Notwehr üben und mich straffrei niederstechen. Hat aber ein Einbrecher rechtswidrig nach meiner Uhr gegriffen und ich halte ihm meinen Revolver entgegen, so darf er mich nicht straffrei umbringen. Die einen Menschen schädigende Handlung des Notstandes ist nur eine Tatsache, dieselbe Handlung der Notwehr heißt ein Recht.

Verlassen wir aber den Boden der formalen Jurisprudenz, sehen wir den Kampf ums Dasein der Gesellschaft, den Kampf gegen das Verbrechertum als eine Summe von Tatsachen an, dann verwischen sich Notwehr und Notstand, das Recht wird fraglich und das Notrecht der Gesellschaft oder des Staates tritt an seine Stelle, das Notrecht, welches Enteignung, Belagerungszustand und alle Ausnahmegesetze entschuldigen hilft. Salus publica suprema lex. Die Aufrechterhaltung des Zustandes, den man das allgemeine Wohl nennt, geht der Allgemeinheit über Recht und Gesetz. Die Kriminal-Soziologie hat uns gelehrt, den Begriff des Notstandes weiter auszudehnen. Hunger begründet sicherlich einen Notstand. Wenn nun durch wucherische Gesetze das Brot verteuert worden ist und zehn hungernde Menschen einen Bäckerladen plündern, so hat der Bäcker gegenüber diesem Akte des Notstandes das Recht der Notwehr und wird in diesem Rechte von Polizei und Militär geschützt. Brechen aber hunderttausend hungernde Menschen im Notstande los, um durch Akte der Gewalt die wucherischen Gesetze abzuschaffen, so heißt dieser Vorgang eine Revolution und schafft neues Recht, wenn die Revolution siegreich gewesen ist.

Ich kehre zu den Rechtsbegriffen zurück, die ein Recht der Notwehr behaupten; jetzt werde ich deutlicher zeigen können, warum das Straf-Recht dem Rechte der Notwehr so ähnlich ist. Das deutsche Strafgesetzbuch definiert (§ 53): »Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem andern abzuwenden.« Schon diese Definition dehnt das Recht der Abwehr unlogisch genug auf Angriffe gegen andere aus. Das Straf-Recht und das Strafrecht sehen von der Bedingung eines gegenwärtigen Angriffs ab und versuchen durch das Strafverfahren sowohl vergangene als künftige Angriffe abzuwenden; die ersten durch das Prinzip der Vergeltung, die letzten durch die Prinzipien der Unschädlichmachung, der Abschreckung und der Besserung.

Es hat eine lange Zeit gebraucht, bevor die Gesellschaft und der Staat dazu gelangten, aus der allgemeinen Notwehr ein System zu machen. Das älteste Strafrecht, die Rache, folgte dem gegenwärtigen Angriff, als Reaktion oder instinktiv, so schnell wie möglich; das Prinzip der Vergeltung wurde unklar mitverstanden und ist heute nicht klarer geworden. Vieltausendjährige Arbeit der menschlichen Vernunft hat langsam dazu geführt, lang vergangene Übertretungen jedes kleinsten Gesetzchens nachträglich zu verfolgen; und neuestens denkt diese Vernunft in der Kriminalpolitik darüber nach, wie künftige Verbrechen wirksamer als durch Abschreckung verhütet werden könnten. Wir haben einsehen gelernt, daß das Strafen unsinnig ist, wenn es nicht eine zweckmäßige Handlung ist.

 

IV.

Diese wesentlich sprachkritischen Ausführungen leiten vielfach zu den gleichen Ergebnissen wie die Arbeiten der modernen Strafrechtslehre und lehnen die Vergeltungslehre der klassischen entschieden ab. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich auch der Wehleidigkeit unserer Zeit, der sogenannten Humanisierung aller Strafen das Wort reden will. Schopenhauer, der Prediger des Mitleids, verteidigte im Strafrecht eine ungemeine Härte. Ist das Strafen ein zweckmäßiges Handeln, so hat es gar keinen Sinn, sobald es voraussichtlich seinen Zweck nicht erreichen kann. Die halben Maßregeln unserer Strafrechte haben dazu geführt, daß der gewöhnliche Richter gegenüber einem geschickten, rücksichts- und skrupellosen Verteidiger wenig Macht mehr hat und daß unsere Gefängnisse für die schlimmsten Verbrecher ihren Schrecken fast verloren haben. Die meisten Tagesfragen, über welche wie über Dogmen gestritten wird, sind Fragen der Zweckmäßigkeit.

Über die Frage der Todesstrafe sollte man einmal die Mörder abstimmen lassen; vielleicht würde die Mehrheit den Tod (man könnte ihnen ja Euthanasie gewähren) lebenslänglicher Arbeit im Zuchthause vorziehen. In meinem Gedankengange, der das sogenannte Strafrecht zu einer Machtfrage des Staates zurückverwandelt, wiegen die Bedenken gegen die immerhin seltene Marter der Todesstrafe nicht schwerer als die Bedenken gegen die Martern der blödsinnig zahllosen Freiheitsstrafen. Es handelt sich um eine Frage der Kriminalpolitik. Auch Goethe hat sich – nur ein Loeper konnte das abstreiten – für Beibehaltung der Todesstrafe ausgesprochen. Nicht berufen möchte ich mich freilich auf die eiteln Tagesgrößen, welche sich jüngst herdenweise über die Todesstrafe geäußert haben, wie man sonst Rundfragen über Tabakrauchen und den Nachmittagsschlaf aus Eitelkeit zu beantworten pflegt. Über solche Dinge mag und soll man hart urteilen, aber nicht roh: ohne Sentimentalität, aber ohne Frivolität.

Gegen die Prügelstrafe sind wieder fast nur sentimentale Bedenken vorgebracht worden. Von niederträchtigen Verbrechen könnte sie wirksam abschrecken. Die Volksmeinung, auf die man sich so gern beruft, ist nur gegen Soldatenmißhandlungen empört, die doch mit der Frage gar nichts zu tun haben, und gegen die brutale Behandlung der armen Teufel, die unsere Gefängnisse füllen. Gegen niederträchtige Verbrecher wendet das Volk die Prügelstrafe als Lynchjustiz gern an, und die Gebildeten tadeln es gar nicht. Natürlich müßte die Prügelstrafe mit besonderen Kautelen umgeben werden, damit die Roheit einzelner Gefängnisbeamten sich nicht austoben könnte; der Vollzieher der Prügelstrafe würde freilich so unehrlich bleiben, wie es der Henker in der Anschauung des Volkes noch heute ist.

Was gegen die Deportation geredet wird, das kann ich nicht verstehen. Es kann doch nicht bezweifelt werden, daß aus einem Verbrecher nur dann ein brauchbares Mitglied einer Gesellschaft werden kann, wenn er in eine neue Umwelt, in eine neue Gesellschaft versetzt wird. Die neue Bevölkerung von Amerika stammt von Kolonisten, unter denen sich sehr viele Abenteurer und (nach dem Sprachgebrauche der alten Welt) Verbrecher befanden; und diese Amerikaner können sich doch sehen lassen.

Die Freiheitsstrafe ist wohl unentbehrlich, trotzdem Liszt über sie das berechtigte Urteil gefällt hat (Kultur der Gegenwart: Systematische Rechtswissenschaft S. 203): »Am Schluß des 19. Jahrhunderts konnte festgestellt werden, daß wir weder wissen, was wir mit der Freiheitsstrafe eigentlich wollen, noch wie sie zu vollstrecken sei.« Da wir an eine Vergeltung der Tat durch die Strafe nicht mehr glauben, sondern den Täter zweckdienlich strafen wollen, so müßte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe viel besser als bisher nach den Motiven des Täters abgestuft werden. Eine Einteilung der verbrecherischen Motive ist sehr gut von dem Verfasser des schweizerischen Entwurfs (Stooß) versucht worden, dann psychologisch noch feiner von Liszt. Aber die schweizerische Einteilung in edle, achtungswürdige Die moralisch gleichgiltigen Motive (des Leichtsinns, des Übermuts) fehlen., gemeine und niederträchtige Motive könnte einstweilen der Schablonisierung der Gerichtshöfe ein Ende machen. Es versteht sich übrigens jetzt für alle Fachleute von selbst, daß die massenhaften kleinen Freiheitsstrafen für jede Lappalie und die Umwandlung von Geldstrafen in kleine Freiheitsstrafen dumm, zweckwidrig und schmachvoll für unsere Zeit sind, weil die Gefängnisse sich zu Verbrecherschulen ausgebildet haben.

Bei allen diesen Fragen handelt es sich wesentlich um Abschreckung oder um Unschädlichmachung des Verbrechers; der höhere Zweck der Kriminalpolitik fordert aber Verhütung künftiger Verbrechen durch ökonomische Besserung der sozialen Lage und durch moralische Besserung des verbrecherischen Individuums. Um die erste Forderung hat die Kriminal-Soziologie sich verdient gemacht. Die moralische Besserung als Zweck der Strafe wird jetzt von humanen Gefängnisleitern und etwas vorsichtiger auch von modernen Strafrechtlern in den Vordergrund gestellt.

 

V.

Die Verhütung künftiger Verbrechen durch Besserung der sozialen Verhältnisse hat eigentlich schon Beccaria gefordert, da er am Schlusse seines Buches »Über Verbrechen und Strafen« den Satz aufstellt: »Das sicherste aber schwerste Mittel, Verbrechen zu verhüten, ist die Vervollkommnung der Erziehung«; er denkt dabei an die Pädagogik Rousseaus. Die Verantwortung wird der Gesellschaft und ihren Einrichtungen seitdem von allen Sozialreformern immer leidenschaftlicher zugeschoben; diese Einseitigkeit ist schon von Merkel parodiert worden mit den Worten: »Nicht die Gesellschaft ist berufen, Anklage gegen den Verbrecher zu erheben, sondern dieser gegen die Gesellschaft« (Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht). Ich gestehe, daß ich an ein Erlöschen des Verbrechertums im sozialen Zukunftsstaate nicht glaube; es wird auch dann Verbrechen geben aus allen bisherigen Motiven des Verbrechens (ich folge der sehr beachtenswerten Einteilung von Liszt): Verbrechen aus Leichtsinn, aus beschränktem Altruismus (Mitleid usw.), aus Not, aus Liebesleidenschaft, aus andern Leidenschaften, aus Ruhmsucht, aus Fanatismus, aus Arbeitsscheu, aus Abenteuersucht, aus Gewinnsucht, aus Roheit. (Selbstverständlich mischen sich die Motive oft.) Die Frage nach der Verhütung künftiger Verbrechen, nach der zweckmäßigen Bestrafung, nach der Besserungsfähigkeit der Verbrecher wird also auch im Zukunftsstaate immer noch gestellt werden müssen.

Die alte Vergeltungstheorie, die nirgends logischer durchgeführt ist als – wie gesagt – bei Hegel, sieht in dem Substantiv Verbrechen eine Negation des Rechts, in dem Substantiv Strafe die Wiederherstellung des Rechts; noch Schopenhauer lehrt im Grunde ähnlich, daß nicht der Täter, daß vielmehr die Tat zu bestrafen sei, ein Begriff aus der substantivischen Welt. Man denkt heute nicht mehr so; was immer man als Wirkung des Strafens erhofft, immer meint man den verbrecherischen Menschen: der Täter wird unschädlich gemacht, wird abgeschreckt, kann unter Umständen gebessert werden. Ich will eine Vergleichung zwischen Tat und Täter einerseits, der Krankheit und dem kranken Menschen anderseits nicht durchführen; aber es ist besonders in die Augen springend, daß der gute Arzt zufrieden sein muß, wenn unter seiner Behandlung der vorher kranke Mensch sich besser fühlt, besser geworden ist (vgl. Art.  krank). Übrigens haben ja Ärzte und Juristen Krankheiten und Verbrechen in weit engern Zusammenhang gebracht, als dieser mein Vergleich. Die Kriminalpolitik geht ja, wie v. Liszt bemerkt hat, langsam die gleichen Wege wie die Irrenpflege in ihrem Kampfe gegen die Vorurteile. Ich habe schon (vgl. Art.  moral insanity II S. 115) es für gleichgiltig erklärt, ob man unverbesserliche Verbrecher im Zuchthause unschädlich machen wolle oder im Irrenhause. Wieder berufe ich mich jetzt auf Liszt: »Die Unterscheidung zwischen der Sicherheitsstrafe gegen unverbesserliche Verbrecher und der Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker ist nicht nur praktisch im wesentlichen undurchführbar, sie ist grundsätzlich zu verwerfen« (Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft VIII, S. 82).

Vielleicht wird einmal in harter Zeit ein hartes Volk den Ärzten erlauben, unheilbar Kranken den Todeskampf abzukürzen, wird der Kriminalpolizei (im weitesten Sinne des Wortes, also: die Richter eingeschlossen) gebieten, unverbesserliche Verbrecher schnell und schmerzlos aus der Welt zu schaffen. Wir sind nicht so hart; wir glauben noch an den Satz des Seneca: nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; und wir wollen so oft wie möglich an die bessernde Wirkung der Bestrafung glauben. Um diesen Glauben gegenüber den furchtbaren Tatsachen der Kriminal-Statistik aufrecht halten zu können, haben die modernen Kriminalisten die Unterscheidung zwischen Augenblicksverbrechen und Zustandsverbrechen durchzuführen gesucht, haben sie alle Augenblicksverbrecher für besserungsfähig erklärt und unter den Zustandsverbrechern diejenigen, bei denen der Hang zum Verbrechen noch nicht unausrottbar geworden ist. Es ist offenbar, daß extreme Fälle von Augenblicksverbrechen vom Standpunkte des Zweckgedankens straflos bleiben müßten; wenn jemand einen Mann umbringt, der an der Braut des Mörders Notzucht verübt hat, so ist kaum anzunehmen, daß der Mörder ein zweites Mal in seinem Leben in die gleiche Lage kommen werde, und er braucht um der Verhütung eines künftigen Verbrechens willen weder gebessert, noch abgeschreckt, noch unschädlich gemacht zu werden. Aber auch die Einteilung der Zustandsverbrecher oder der Gewohnheitsverbrecher in besserungsfähige und unverbesserliche ist theoretisch leichter als praktisch durchzuführen. Wer soll denn darüber entscheiden, ob so ein Gewohnheitsverbrecher einen unausrottbaren Hang habe oder nicht? Doch nicht etwa ein sog. Sachverständiger?

Eine weitere Schwierigkeit dieser Unterscheidung steckt in einer Konsequenz. Die unverbesserlichen Verbrecher müßten unschädlich gemacht werden. Bestrafung hätte nur noch den besserungsfähigen Verbrechern gegenüber den Sinn, den moderne Strafrechtler der Strafe beilegen. Verlangt man gar von der Strafe, daß sie den Verbrecher zur Einkehr in sich selbst, zur Reue bewege, zu einer echten Reue, so stellt man sich einen Idealverbrecher vor, gegen welchen jede Strafe eigentlich überflüssig wäre.

Man sieht, unser geltendes Strafrecht, das im wesentlichen auf dem Code pénal Napoleons beruht, müßte radikal geändert werden, wenn es den Anschauungen unserer Psychologie und Kriminalpolitik entsprechen sollte; und darum, weil so gut wie alles geändert werden müßte, wird in den neuen Entwürfen so wenig geändert.

Ich habe in allen diesen Notizen den Boden der Jurisprudenz nur selten verlassen; hätte ich die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Frage bemühen wollen, dann wäre von dem Straf-Rechte der Gesellschaft noch weniger übrig geblieben. Dann hätte ich sagen müssen: daß der Begriff der Zurechnung oder Verantwortung mehr rätselhaft als deutlich ist, daß selbst die Dramatiker auf das Begriffspaar Schuld und Sühne verzichtet haben, der harte Ibsen wie der weiche Hauptmann; daß die Begriffe der Persönlichkeit, des Charakters sich in Nebel auflösen, wenn das Ichgefühl eine Täuschung ist; daß endlich die Werturteile gut, besser von Menschen ebenso bildlich gebraucht werden, wie wenn man sagt, der Tiger sei böse. Vielleicht aber enthebt mich die Zurückführung des Strafrechts auf die gemeinsame Notwehr der Verpflichtung, so abstruse Fragen aufzuwerfen.


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