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Schopenhauer (Wille).

 

I.

Vierzig Jahre brauchte Schopenhauer beinahe, bevor sein Hauptwerk, durch den schriftstellerischen Erfolg seiner Parerga empfohlen, den Ruhm erlangte, der dem Philosophen, als die Zeit gekommen war, denn doch besser schmeckte als der von ihm so hoch gepriesene Nachruhm. Wieder brauchte Schopenhauer weitere vierzig Jahre, bevor ihm die Ehre zuteil wurde, Titel und Gegenstand eines ganzen Bandes in Kuno Fischers gleichfalls gerühmter Geschichte der neueren Philosophie zu werden.

Kuno Fischer hat seine kleine Lebensaufgabe, eine Siegesallee der großen Philosophen, die er doch wohl für seine Vorgänger ansah, eigenhändig hinzustellen, ganz nach dem Herzen von jungen Leuten gelöst, die nach deutschem Sprachgebrauch den Doktor der Philosophie machen wollen. Er hat Auszüge gemacht. Die Leidenschaft des metaphysischen Bedürfnisses fehlt ihm durchaus. Je gewaltiger das geistige Ringen eines von ihm behandelten Mannes ist, je tragischer die Erkenntnisnot, desto sicherer versagt der Geschichtsschreiber der Philosophie. Je kleiner der Mann, desto zuverlässiger der Auszug Fischers. Bei der Behandlung Schopenhauers kommt aber zweierlei dazu, um Fischers Darstellung unerfreulich zu machen: die relativ bescheidenen Fähigkeiten Fischers, Fleiß und rhetorischer Schwung, sind bei dieser Arbeit schon greisenhaft verknöchert, und ein Haß gegen den prachtvollen Feind der Philosophie-Professoren trübt das Urteil. So hält sich Fischer immer wieder schulmeisterlich tadelnd bei den titanischen Schimpfausbrüchen Schopenhauers auf, um seinerseits auf Schopenhauer zu schimpfen, wirklich aber ohne titanische Kraft. Und Schopenhauer hätte sein grimmigstes Lachen gelacht, wenn er (Seite 61, 62) hätte lesen können, wie Fischer die Tatsache erklärt, daß Schopenhauer nicht lange Dozent blieb, »warum er mit seiner Lehrtätigkeit ein so augenfälliges und selbstverschuldetes Fiasko gemacht hat.« Wir würden den Grund mehr äußerlich in dem Gegensatz zu Hegel sehen, der damals an der Berliner Universität allmächtig war, oder mehr innerlich im Temperamente Schopenhauers, das sich für die Polytechnik der Universitäten nicht ganz geeignet erwies. Auch mag der kleingewachsene, lebhafte Schopenhauer die Reize seines persönlichen Vortrages, seinen persönlichen Eindruck auf die Studenten vorher arg überschätzt haben. Fischer weiß es besser. Schopenhauer war so beschränkt, seine eigenen Ideen vortragen zu wollen, anstatt ein Kolleg zu lesen wie andere Kollegien. Fischer sagt wörtlich: »Nun aber war die Welt als Wille und Vorstellung lange nicht so groß als ein Semester, wenn nämlich ein ganzes Semester hindurch fünf oder sechs Stunden wöchentlich darüber gelesen werden soll. Ich möchte glauben, daß Schopenhauer mit seinem Lehrstoff früher fertig war als das Semester, und dann für immer genug hatte.« Fischer läßt durchblicken, daß er, Fischer, eher als Schopenhauer imstande gewesen wäre, über das Thema ein ganzes Semester zu reden. Fischer wäre nicht früher fertig geworden. Er sagt, wieder wörtlich: »Wer erfahren hat, wie viel Material ein gehaltvoller, wohlgeordneter, didaktisch vorwärtsschreitender Vortrag von 45 bis 50 Minuten Dauer erfordert, wird leicht ermessen, daß eine sechsstündige Vorlesung, die sich durch ein ganzes Semester erstreckt, länger ist als das Werk Schopenhauers, noch dazu in seiner ersten Gestalt.« Fischer hat das »erfahren«, Schopenhauer nicht. Kuno Fischer vereinigte in seiner Person zwei ordentliche Professuren eben der Universität Heidelberg, welche bei der Bewerbung Schopenhauers um einen Lehrstuhl am Ende hinter Göttingen und Berlin zurücktrat, und welche 200 Jahre früher von einem noch größeren die Antwort erhalten hatte: »Ich will nicht Professor sein, nicht einmal in Heidelberg.« Fischer thronte, wo ein Spinoza nicht sitzen wollte, wo ein Schopenhauer nicht sitzen sollte. Schopenhauer schwankte zwischen diesen drei Universitäten; seine Bewerbungsbriefe sind nicht ganz frei von frommen Phrasen.

Kuno Fischer ist jahrzehntelang für einen Philosophen gehalten und ausgegeben worden, weil er Bildung und Ausdauer genug besaß, die Werke wirklicher Philosophen zu lesen und zu exzerpieren. Ein Geschichtsschreiber der Philosophie. Kein schlechter. Aber gerade Schopenhauer war es gewesen, der die Geschichte überhaupt an ihre rechte Stelle gerückt hatte – keine Wissenschaft, nur ein Wissen – und der insbesondere den Geschichtsschreibern der Philosophie die Türe gewiesen hatte. Kein Wunder also, daß Fischer nicht müde wird, Schopenhauer Mangel an historischem Wissen und an historischem Sinne vorzuwerfen. Das erste ist nicht wahr, das zweite ist töricht. Gegenüber den Bahnbrechern der Philosophie, welche unhistorisch waren wie alle revolutionären Geister, gegenüber dem griechischen Bildhauer Sokrates, dem jüdischen Eigenbrödler Spinoza und dem Alleszermalmer Kant ist Schopenhauer vielleicht auch darum der kleinere, weil er so vielseitig interessiert und überaus belesen war. Ein Philologe freilich war Schopenhauer nicht. Töricht aber ist der Vorwurf des mangelhaften historischen Sinnes darum, weil ein Revolutionär, der den Sinn der Welt neu begreifen will, niemals durch Bücherlesen den Sinn der Welt begreifen lernen kann. Fischer war ein Schüler Hegels und lebte in unserm Zeitalter des Historismus. Er kann es sich gar nicht vorstellen, so historisch ist er, daß es einmal ein anderes Jahrhundert gegeben hat als das neunzehnte, das historisierende, und daß es einmal ein anderes Jahrhundert geben könnte.

Das Symbol des Historismus, den Kuno Fischer weder entdeckt, noch vertieft, den er aber verhängnisvoll auf oberste Geistesschöpfungen angewandt hat, das Symbol unseres Historismus ist – ich sage nicht: sit venia verbo – die kalte Hundeschnauze. Noch schlimmer. Dem Historismus, der nirgends systematischer und verheerender regiert hat als in Deutschland, fehlt, was doch zur kalten Hundeschnauze gehört: die feine Nase. Der deutsche Historismus hat eine harte Nase. Vierzig Jahre braucht er, bevor er auf die Witterung gestoßen wird.

Ohne diese kalte Nase würden die Herren sich hüten, die Roheit ihrer Seelensituation so zu verraten wie es Fischer widerfuhr, da er sich (S. 524 bis 525) gegen Nietzsche wendet: »einen ehemaligen Gymnasial- und Universitätslehrer in Basel«. Ich habe mich oft und hart gegen die Einschätzung des großen Dichters und Ethikers Nietzsche als eines Erkenntnishelden gewandt. Wenn aber eins Ehrfurcht verlangt, so ist es die moderne Blutzeugenschaft des Genius, der unfreiwillige Selbstmord, den man Wahnsinn nennt. Fischer aber hat es zustande gebracht, zehn Jahre nach dem Ausbruch von Nietzsches Wahnsinn einen Witz zu reißen darüber, daß Nietzsche ins Irrenhaus kommen würde, und den Witz zu reißen mit dem geistigen Rüstzeug Schopenhauers (S. 525).

Fischer war nicht so gottverlassen, daß er von den ersten Schopenhauer-Aposteln nicht gelernt hätte, den Widerspruch zwischen Schopenhauers Lehre der Weltverneinung und einer egoistischen, oft brutalen, ja am Ende grotesk-eitlen Lebensführung zu begreifen. Ein hinreißendes Buch ist auch dann ein Kunstwerk, wenn es sich mit der Heilsordnung der Welt beschäftigt. Schopenhauer war kein Heiliger. Lessing war kein Schauspieler. Das sind billige Weisheiten. Und das Kapitel, in dem Fischer die Diskrepanz zwischen der Theorie und der Praxis Schopenhauers darstellt, ist gut und berechtigt. Nur durfte just Kuno Fischer, über dessen Schauspielermätzchen viele Generationen von Studenten gelacht haben, nur durfte der Unverstand, der die Seelenqualen eines Schopenhauer nicht sah und nicht hörte, diesen Kämpfer nicht einen Schauspieler nennen. »Nun, er ist auch als Philosoph ein großer Schauspieler gewesen, ein solcher, der die tragischen und komischen Wirkungen in seiner Gewalt hatte.« (S. 146.) Nun, Kuno Fischer hätte gewiß viel darum gegeben, wenn er die tragischen und komischen Wirkungen der Sprache so in seiner Gewalt gehabt hätte wie Schopenhauer.

Die Roheit von Fischers Seelensituation, sein Mangel an Ehrfurcht, sein Mangel an verecundia, das Fehlen jeglicher Distanz zwischen sich und seinem Helden, ist aber an einer anderen Stelle seines Buches noch handgreiflicher. Er spricht (S. 133) von der pessimistischen Rolle Schopenhauers, der Rolle des Schauspielers also: »Die Tragödie des Weltelends spielte im Theater, er saß im Zuschauerraum auf einem höchst bequemen Fauteuil mit seinem Opernglase, das ihm die Dienste eines Sonnenmikroskops verrichtete; viele der Zuschauer vergaßen das Weltelend am Büfett, keiner von allen folgte der Tragödie mit so gespannter Aufmerksamkeit, so tiefem Ernst, so durchdringendem Blick; dann ging er tieferschüttert und seelenvergnügt nach Hause und stellte dar, was er gesehen hatte.« Tief erschüttert und seelenvergnügt. So sah das Seine Exzellenz Professor Kuno Fischer. Und so kommt er (S. 132) zu dem Verdikt, »daß Schopenhauer einer der glücklichsten Menschen war, die je gelebt haben.« Ohne Professor, ohne Exzellenz geworden zu sein. Wer die Ruchlosigkeit dieses Verdikts nicht fühlt, dem will ich sie nicht beweisen. Weil Schopenhauer als Greis sich seines späten echten Ruhmes fast so eitel freute wie Kuno Fischer immer seiner Wohlredenheit, weil ihm Essen und Trinken bis zu Ende schmeckte, darum wird der Kämpfer, der mittendurch zwischen Wahnsinn und Selbstmord in die Einsamkeit ging, vorbei an Mutter und Schwester und Goethe, der Todesschweigen und Totschweigen in den besten Mannesjahren grimmig lachend ertrug, darum wird der Anreger einer neuen Weltanschauung beschimpfend der glücklichste Mensch genannt. Beschimpfend. Denn er spielt ja nur eine Rolle. Wer ihm nur die Rolle geschrieben haben mag? Auch der Dichter des Hamlet und des Coriolan und des Timon war nur ein Schauspieler. Der sich die Rollen selbst geschrieben hatte.

Ich kann nicht die Absicht haben, wie ein Sonntagsprediger oder wie ein Bezirksredner, Schopenhauers Charakter an der Philister-Moral zu messen, die immer die Moral der absterbenden Generation ist. Beschäftige ich mich mit dem Charakter eines Philosophen, dessen Bedeutung ich ganz eng und beschränkt vom Standpunkte einer Geschichte der Sprachkritik betrachten will, so interessiert mich allein die Moral seines Erkenntnisdrangs. Desto besser, wenn ich einem lachenden Heiligen begegne, wie wohl Sokrates einer war, oder einem still entsagenden Heiligen wie Spinoza. Es ist gut, dann »auf die Knie seines Herzens« gezwungen zu werden, um Kleists prachtvollen, aus der alten Bibel stammenden Stilschnitzer zu wiederholen. Es schadet nicht, an Kant, der lange wie ein Halbgott erscheint, kleine menschliche Züge der Eitelkeit, der schlauen Vorsicht und des Eigensinns zu entdecken. Und es ist abseits von der Geistesmoral, wenn Bacon v. Verulam außerhalb seines gedanklichen Schaffens als Geschäftsmann ein Lump war. Sein Lumpentum hat der Staatsbeamte Bacon gebüßt; die Sünde gegen den heiligen Geist hat er nicht begangen. Und auch Schopenhauer, so tief sein Menschliches auch unter dem Menschlichen Kants stehen mag, hat die Sünde gegen den heiligen Geist nicht auf seinem Gewissen. Eines seiner letzten Worte war: es gehe wie es wolle, er habe zum wenigsten ein reines intellektuelles Gewissen. W. v. Gwinner »Schopenhauers Leben« S. 393. Das Buch Gwinners, das jetzt in dritter Auflage vorliegt, ist ein prächtiges Beispiel für die Möglichkeit: den Helden einer Biographie liebevoll und doch nicht offiziös (heuchlerisch) zu behandeln. Was die Klatschsucht der Historie zusammengetragen hat, ist ohne jede Ausnahme gleichgültig für Schopenhauers Geistesmoral. Und darum mußte Schopenhauer gegen die Klatschsucht und die unbewußte Heuchelei des Historiographen in Schutz genommen werden. Der übrigens mit manchem Vorwurf nicht einmal historisch im Rechte ist. Fischer wirft Schopenhauer z. B. die feige Gesinnung vor, Hegel erst nach dessen Tode beschimpft zu haben. Der Historiograph hätte wissen müssen: erstens, daß Schopenhauer vorher nichts veröffentlicht hatte, was nicht im strengsten akademischen Stil geschrieben war, daß Schopenhauer rein schriftstellerisch erst später seinen persönlichen farbigen Stil ausbildete; zweitens, daß zu der Zeit, als Schopenhauer seine ersten Invektiven gegen Hegel veröffentlichte, fast sämtliche philosophische Lehrstühle an den deutschen Universitäten von Hegelianern besetzt waren, und daß die Schüler im Rächen des Meisters gemeiner und gefährlicher sind, als der Meister selbst gewesen wäre; drittens, daß der Berliner Privatdozent Schopenhauer für seine Vorlesung demonstrativ die Stunde wählte, in der Hegel sein Hauptkollegium las, und daß es gleich bei der Disputation pro venia legendi zwischen Hegel und Schopenhauer zu einem persönlich ausgefochtenen Scharmützel kam. Das hätte Kuno Fischer wissen müssen, da ich es sogar weiß.

Von allem, was Fischer gegen Schopenhauers menschliche Moral zusammengetragen hat, macht eigentlich nur eine Kleinigkeit Eindruck. Wie ein Schönheitsfehler. Schopenhauer will in einer Mußezeit, die er für unfreiwillig hält, Kants Kritik ins Englische übersetzen. Er bietet sich an und er preist sich an. Sein Selbstlob hat immer einen großen Zug. Nur alle hundert Jahre einmal komme ein Mensch, der zugleich Kant so gut verstehe und so gut englisch spreche wie Schopenhauer. Aber in dieses Selbstlob mischt sich Reklame, eine kleine Unwahrheit. Er habe zehn Jahre lang als Lehrer der Logik und Metaphysik der Berliner Universität angehört. Schopenhauer hatte wirklich nur ein Semester gelesen und war dann nur nach dem Gesetze der Trägheit noch als Privatdozent weiter registriert worden. Dem Wortlaut nach »A century may pass ere than shall again meet in the same head so much Kantian philosophy with so much English as happen to dwell together in this grey one of mine«; und kurz vorher »I am a German and since 10 years a teacher of Logic and Metaphysics in the university of this capital, as you may satisfy yourself by our Catalogus lectionum« (Brief vom 21. XII. 1829, Briefe, Grisebach S. 62 u. 58). keine falsche Aussage und doch ein widerwärtiger Schönheitsfehler. Wo aber auch da auch nur die kleinste Sünde gegen den heiligen Geist? Ein idealer Zweck: die Übersetzung zu liefern. Und der Zweck heiligt wirklich die Mittel. Dazu kommt, daß Schopenhauer gerade die Lüge sehr gelinde beurteilt hat, sie mitunter als eine berechtigte Waffe gegen Neugier entschuldigt, mitunter als Recht in Anspruch genommen hat. »Kants bei jeder Gelegenheit zur Schau getragener, unbedingter und grenzenloser Abscheu gegen die Lüge beruht entweder auf Affektation, oder auf Vorurteil … Deklamieren ist leichter als Beweisen, und Moralisieren leichter als aufrichtig sein.« (Grundprobl. d. Eth. S. 225) Trotzalledem macht mir diese kleine Lüge Schopenhauers einen häßlicheren Eindruck als alle Brutalitäten seines Privatlebens. Er war ein harter Egoist. Gut. Geht's uns was an?

Er war auch eitel. Außerdem, was er sonst war. An Eitelkeit steht er ungefähr in der Mitte zwischen Kant und Nietzsche. Kant ließ sich gelegentlich einmal zu der fürstlichen Bauernschlauheit hinab oder herab, irgend einen kleinen Verehrer und Apostel für den besten Kenner seiner Ideen brieflich auszugeben. Schopenhauer machte aus dieser Bauernschlauheit am Ende ein System.

Man wird sich eines Lachens kaum erwehren, wenn man hier die wichtigsten Stellen nebeneinander gesetzt findet; aber es sollte ein bescheidenes Lachen sein. Dem nicht ganz sauberen Frauenstaedt gegenüber blieb Schopenhauer etwas zurückhaltender; er nennt ihn zwar apostulus activus, militans, strenuus et acerrimus (5. I. 1848), tituliert ihn »Alter Treufreund« (10. VI. 1852) und »hochwürdiger Erzevangelist«, behandelt ihn aber im ganzen doch wie einen Bedienten, den man am Ende eben mit einem Legat abfindet. Aber sonst. An Becker (5. V. 1852): »Sie sind doch unter allen meinen Aposteln derjenige, der mich stets am richtigsten versteht. Ohne alle Schmeichelei gesagt. Aber leider haben Sie eine hartnäckige Buchdruckerschwärze-Scheu! Daher kommt es, daß ich unter 4 Aposteln nur zwei Evangelisten habe, und die sind, wie Gott sie gegeben hat.« An Lindner, doch einen der beiden Evangelisten, die so sind, wie Gott sie gegeben hat, den doctor indefatigabilis (11. II. 1856): »Auf das neue opus, welches Sie mir ankündigen, freue ich mich sehr. (Ein philosophischer Roman von Lindners Frau.) Was darin von Ihnen kommt, wird gewiß sehr gut sein: denn, wohlerwogen, ist von allem, was schon über mich geschrieben worden, das Beste Ihre wenigen Aufsätze in Ihrer Zeitung; – ganz ehrlich gesagt.« Und hoffentlich auch ohne Schmeichelei. Und bald darauf (am 12. XI. 1856) an Asher: »Vor allen Dingen will ich Ihnen noch nachträglich die Versicherung geben, daß, so Viele auch schon über meine Philosophie geschrieben haben, noch keiner das eigentliche Grundverdienst derselben so deutlich und bestimmt hervorgehoben hat, wie Sie in Ihrem Aufsatz über meine Musik … dies ist keine Schmeichelei« (also gewiß ganz ehrlich gesagt), »sondern trockne Wahrheit, die mir bei nochmaliger Durchlesung eingeleuchtet hat. Nur besorge ich, daß jene Zeitschrift nur eine sehr beschränkte Zirkulation hat.«

So geradezu hat es der demütig-große Kant nun freilich nicht getrieben. (Ich zitiere nach der dreibändigen Ausgabe der Briefe, die Reicke im Auftrage der Berliner Akademie gesammelt hat.) Kant verbittet sich artig und bestimmt den Übereifer seines Frauenstaedt, des guten Borowski (II 365); er kennt wissenschaftlichem Wahnsinn gegenüber die Angemessenheit eines verachtenden Stillschweigens (II 140); er kennt schon 1783 die List gelehrter Zeitschriftenredakteure, durch gegenseitige Lobassekuranz Komplimente zu erpressen (I 320). Aber auch er ist nicht ganz frei von Neugier nach gelehrtem Klatsch (an Reinhold 28. XII. 1787: »Ich kann und mag zwar das Spiel nicht mitmachen, allein es unterhält doch und gibt bisweilen eine nützliche Richtung, davon etwas zu wissen.« I 489); er kennt »das geheime Mißtrauen und die Zurückhaltung, welche machen, daß man selbst in seinem innigsten Umgange mit seinem Vertrauten doch einem Teile seiner Gedanken nach immer noch allein und in sich verschlossen bleiben muß« (II 318, Entwurf); er kann, brieflich, mächtig schimpfen, besonders wenn ein früherer Anhänger von ihm abgefallen ist: über die »lächerliche Neuerungssucht« (Fichtes) zur Originalität aus Sand einen Strick drehen zu wollen, um sich her Staub erregen, der sich doch in kurzem legen muß (III 256); über Herders Metakritik, deren »Geschwätz« er kaum einer Widerlegung würdig hielte, wenn der »alte radotierende Wieland« nicht so gewaltig in die Posaune gestoßen hätte, und der Ton »des sonst so gleißnerischen pfäffischen Herders« nicht beleidigt hätte (III 291). Ich will die Beispiele nicht häufen, die Schopenhauers Züge viel vornehmer und würdiger schon bei Kant zeigen. Nur das Verhältnis Kants zu zwei seiner Evangelisten kann ich nicht unterdrücken. Sein Kollege Johann Schultz, ein kleiner Hofprediger und Professor der Mathematik, hat eine Rezension der Kritik geschrieben; Kant redet ihm zu, die Arbeit zu einem selbständigen Buche zu vergrößern, unter großen Lobsprüchen: »Wie tief und richtig Sie in den Geist der Sache gedrungen sind« (I 329). Aber schon zwei Jahre vorher schickt er ihm ein Exemplar der Kritik mit den folgenden anregenden Worten: »Ew. Hochehrwürden bewiesen einmal in einer Rezension, womit Sie meine Inauguraldissertation beehrten, daß Ihre Scharfsinnigkeit unter allen, die über diese Schrift geurteilt haben, die Trockenheit dieser Materie am besten durchdrungen und meinen Sinn am genauesten zu treffen gewußt hatte« (I 257). Hier liegt freilich eine Treue vor, die Schopenhauer nicht kannte; denn noch 1797 antwortet Kant auf eine zudringliche Frage: »Welcher unter den Streitern wohl meine Schriften, wenigstens die Hauptpunkte derselben, wirklich versteht, wie ich solche verstanden wissen will« – unbedenklich: »es ist der würdige Hofprediger und ordentliche Professor der Mathematik allhier, Herr Schultz« (III 393). Das hindert Kant jedoch nicht, Reinhold à la Schopenhauer wie einen Evangelisten zu behandeln, trotzdem Reinhold immer ein unsicherer Kantonist war und die ersten Keime zu Fichtes Wissenschaftslehre bei ihm schon ganz deutlich sichtbar sein konnten. Kant nun hat gewünscht, »die genaue Übereinkunft von Reinholds Ideen mit den seinigen« bekannt zu machen. »Fahren Sie in Ihrer neuen Bahn mutig fort, teurer Mann; Ihnen kann nicht Überlegenheit an Talent und Einsicht, sondern nur Mißgunst entgegen sein, über die man allemal siegt« (28. XII. 1787, I 487). Am 7. März 1788 schreibt er an Reinhold gar über die Vernunftkritik: er, Kant, habe zu deren Bearbeitung vielleicht den ersten Anlaß gegeben, die Vollendung aber, Aufhellung und Verbreitung müsse er von jüngern so geistvollen Männern erwarten (I 504). Noch lebhafter an Schopenhauers Art erinnert es, wenn Kant am 19. X. 1798 schreibt: »So höre ich eben jetzt durch eine (doch noch nicht hinreichend verbürgte) Nachricht, daß Reinhold, der Fichten seine Grundsätze abtrat, neuerdings wiederum anderes Sinnes geworden und reconvertiert habe« (III 256). Aber mit einer Überlegenheit, die groß von Schopenhauer absticht, fügte er hinzu: »Ich werde diesem Spiel ruhig zusehen und überlasse es der jüngeren und kraftvollen Welt, die sich dergleichen ephemerische Erzeugnisse nicht irren läßt, ihren Wert zu bestimmen.«

Hierher gehört auch ein diplomatischer Widerspruch in der Beurteilung des Salomon Maimon, über dessen Manuskript Kant sich eigentlich geärgert hatte; er schreibt an seinen Freund und Schüler Markus Herz, den Protektor Maimons, »daß nicht allein niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen so viel Scharfsinn besitzen möchten, als Herr Maimon.« Diese Worte sollten S. Maimon kommuniziert, aber selbstverständlich nicht veröffentlicht werden (II, 49). Er weiß auch schon, daß Maimon Schüler und Gegner zugleich ist. Aber fünf Jahre später wirft er demselben Maimon Nachbesserung der kritischen Philosophie vor »dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben«; was Maimon damit eigentlich wolle, habe er nie recht fassen können und müsse dessen Zurechtweisung andern überlassen.

Schopenhauer liebte es, mit dem Gedanken zu spielen, er wäre der neue Heiland und seine ersten Anhänger wären seine Apostel und Evangelisten, jenachdem. »Wo zwei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.« Schopenhauer spielt mit der Rolle eines Religionsstifters, aber er sieht klar den Unterschied. Nietzsche, menschlicher als Kant, eitler als Schopenhauer, wirbt um bewundernde Leser wie ein kokettes Weib wirbt; stolzer als Kant und Schopenhauer stößt er aber jeden gefundenen Apostel wieder zurück, höhnisch, ganz einsam; er spielt nicht mit dem Gedanken, er zerbricht an der Sehnsucht, Religionsstifter zu werden. Er will es nicht nur heißen.

Und ein wenig mag die sogenannte Mode mitgewirkt haben, wenn Schopenhauer fünfzig Jahre nach Kant über Menschenmoral so aufrichtig war, daß wieder fünfzig Jahre später Kuno Fischer ihn mißbilligen mußte.

Nur nebenbei wollte ich Schopenhauer gegen das Unverständnis des augenblicklich angesehenen Kuno Fischer verteidigen. Eigentlich aber eigene Stellung gewinnen und, wie ein gewissenhafter Historiker eine Quellenschrift vor der Benutzung prüft, Schopenhauer auf die Moral seines Geistes hin Rede stehen lassen.

Was diejenige Autorität betrifft die wir uns gewöhnt haben, dem Charakter jedes einzelnen Philosophen zuzuschreiben, gehört Schopenhauer also für uns zu den Männern ersten Ranges, trotzdem gerade betreffs seiner oft und nachdrücklich auf die Diskrepanz zwischen seiner Heiligungslehre und seinem oft unheiligen Privatleben hingewiesen worden ist. Wir dürfen da nicht vergessen, daß wir nur die Geschichte der Erkenntnistheorie, zu welcher uns die Geschichte der Sprachphilosophie geworden ist, verfolgen, daß uns aber die Weltanschauungen der großen Denker, soweit sie Moral lehren wollen, nicht viel wichtiger erscheinen als eine Geschichte der Seifenblasen. Die entscheidende Bedeutung Schopenhauers ergab sich seinen Anhängern zunächst jedoch aus seinen Heilspredigten, die aufs engste mit seiner fast dichterischen Darstellung des Unheils zusammenhingen, mit seinem Pessimismus.

Auch für die Autorität eines Religionsstifters sollte sein Privatleben nicht maßgebend sein. Als Religionsstifter ist Mohammed eine große Erscheinung trotz der Bestialitäten und Albernheiten seiner Menschlichkeit. Man kann als Religionsstifter das Bild der Welt verändern helfen und dennoch neben diesem Zuge der Größe entweder als beschränkter oder als gemeiner Mensch sich äußern. Hätte Schopenhauer weniger gepredigt und zwar Wasser gepredigt, sein privates Weintrinken wäre ihm nicht so sehr verübelt worden und hätte seinen blinden Verehrern nicht so viel Sorgen gemacht.

Seinem eigenen ästhetischen Ideal entsprach er sicherlich nicht. Seinem eigenen Ideal entsprach unter den Philosophen, deren Leben uns bekannt ist, einzig und allein der willenlose Intellekt Spinozas. Der jüdische Mann ist seltsamerweise der einzige unter allen Denkern der christlichen Zeit, der den Forderungen entspricht, die die Moral Jesu Christi aufstellt und die uns in indischem Gewande auch als die Heilslehre Schopenhauers entgegentritt. Und wieder ist es dieser einzig christlich lebende Jude, der in seinem Denken die christliche Moral dadurch überwunden hat, daß für ihn etwas anderes als Notwendigkeit nicht mehr in der Welt existierte.

Gerade darum aber, weil wir selbst Ernst machen wollen mit der resignierten Unterwerfung unter eine gottlose Notwendigkeit, darum brauchen wir Schopenhauers Moralideal auf ihn selbst nicht anzuwenden. Mag er ein Knecht der Liebe, des Hungers und der Eitelkeit gewesen sein, er war es nicht in den freiesten Stunden seines hohen Denkens. Wir mögen lachen, wenn der Schüler indischer Säulenheiliger bei der pedantischen Überlegung, welche Stadt er zu seinem dauernden Aufenthaltsorte wählen solle, neben anderem Komfort auch die Güte der Küche feierlich in Erwägung zieht und bis an sein Lebensende der beste Esser einer reichlichen Table d'hôte wird. Wir mögen lachen, wenn der zynische Metaphysiker der Geschlechtsliebe hinter den Weibern her ist. Wir mögen lächeln, wenn der selbstbewußteste Philosoph sich auf dem Gipfel seines Ruhms geschmeichelt fühlt, weil ein preußischer Oberpräsident artig seinen Namen genannt hat. Und wir mögen traurig den Kopf schütteln über die Schwachheit der Menschennatur, wenn der Entdecker des Mitleids als der einzigen Tugend eine arme alte Näherin im Zorn brutal mißhandelte. Alle diese Menschlichkeiten dürfen uns nicht irre machen im Glauben an die starke Wahrhaftigkeit seiner Natur. Besäßen wir seine Selbstbiographie, die leider zum größten Teile vernichtet worden ist, so würden wir wahrscheinlich noch häßlichere Züge aus dem Triebleben Schopenhauers kennen; schwerlich aber würden sie seinen höchsten sittlichen Wert, seine Wahrhaftigkeit nämlich, mehr herabdrücken, als die menschlichen Selbstbekenntnisse Rousseaus das Ansehen ihres Verfassers. Wir können ruhig unterschreiben, was Schopenhauer selbst in der erwähnten Selbstbiographie ausgesprochen hat:

»Bei Anwandlungen von Unzufriedenheit bedenke ich stets, was es heiße, daß ein Mensch, wie ich, sein ganzes Leben der Ausbildung seiner Anlagen und seinem angeborenen Berufe leben könne und wie viele Tausende gegen Eins waren, daß das nicht anging und ich sehr unglücklich geworden wäre. Wenn ich zu Zeiten mich unglücklich gefühlt, so ist dies mehr nur vermöge einer méprise, eines Irrtums in der Person geschehen; ich habe mich dann für einen anderen gehalten, als ich bin, und nun dessen Jammer beklagt: z. B. für einen Privatdozenten, der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten in jenem Injurienprozesse, oder für den Liebhaber, den jenes Mädchen, auf das er kapriziert ist, nicht erhören will, oder für den Patienten, den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andere ähnliche Personen, die an ähnlichen Miseren laborieren: das alles bin ich nicht gewesen, das alles war fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen, den ich eine Weile getragen und dann gegen einen anderen abgelegt habe. Wer aber bin ich denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben, welche vielleicht die bisherigen antiquieren, jedenfalls aber die Denker der kommenden Jahrhunderte beschäftigen wird. Der bin ich, und was könnte den anfechten in den Jahren, die ich noch zu atmen habe?«

Der Schriftsteller Schopenhauer war wahrhaftig. Sein sonstiges Lieben und Hassen kann uns so gleichgültig sein, wie die Haarfarbe des Winzers, dessen Wein wir trinken. Nur wenn der Besitzer des Weinbergs schlecht genug ist, den Wein zu taufen, nur wenn der Schriftsteller feige genug ist, seine Zugehörigkeit zur Landesreligion z. B. in seiner Lehre zu berücksichtigen, nur dann haben wir keine Pflicht, seinen Büchern die Autorität eines ehrlichen Mannes zuzugestehen.

Und noch einmal: die Moral von Schopenhauers Erkenntnisdrang ist die einzige Moral, die den Historiographen Schopenhauers etwas angeht. Er mag seinen Kuno Fischer vorausgeahnt haben, als er am 15. VII. 1857 an Asher schrieb: »Meine Biographie will ich nicht schreiben, noch geschrieben wissen; die kleine Skizze …. genügt. Mein Privatleben will ich nicht der kalten und übelwollenden Neugier des Publikums zum besten geben.« Er kannte seine Menschlichkeit nur allzu gut. Am 12. IX. 1852 schreibt er an Frauenstaedt: »Ich habe wohl ergründet und gelehrt, was ein Heiliger sei, aber ich habe nie gesagt, daß ich einer wäre.« Und am 17. II. 1853 drückt er gegen den gleichen Frauenstaedt, nachdem er ihn wie einen ungetreuen Schuhputzer heruntergemacht und beschimpft hat, seine eigene Geistesmoral also aus: »Voltaires schöne edle Maxime: point de politique en littérature! il faut dire la vérité, et s'immoler, – ist bloß für die Heroen, welche sprechen: das Wahre sage ich, das Rechte tue ich, u. l. m. i. A.« Das Rechte nach der Moral des Geistes; ein Heiliger war Schopenhauer nicht.

Seinen Kuno Fischer hat Schopenhauer nicht nur vorausgeahnt, sondern auch schlecht behandelt. In einem Briefe an Frauenstaedt 6. VIII. 1852 wird Fischer so erwähnt, daß nicht einmal Anfangsbuchstaben in den vorhandenen Ausgaben stehen durften. »Elender …!« Ich habe nun so lange und so viel Menschliches menschlich beurteilt, daß ich so auch Fischers Zorn gegen Schopenhauer verstehen sollte. Voltaires schöne Maxime »il faut s'immoler« ist wirklich bloß für die Heroen.

 

II.

Schopenhauer hat nicht nur manches Licht auf das Wesen der Sprache gelenkt; er hat auch die Kritik der Sprache dadurch gefördert, daß er sie als Werkzeug des Erkennens ehrlicher, schöner und dichterischer handhabte als irgend ein deutscher Philosoph vor ihm. Dazu kommt für mich noch ein anderer Grund, mich eingehend mit Schopenhauers Begriffswelt zu beschäftigen. Wie so viele meiner Altersgenossen, stand ich als Student blind unter dem Einfluß seines Geistes. Ich glaubte, durch seine Werke zur Lösung der Welträtsel gelangt zu sein, und beantwortete mir jede Frage mit seinen Worten. Ich hatte vorher nichts kennen gelernt, was sich mit erkenntnistheoretischen Problemen berührte, und erst über Schopenhauer hinweg gelangte ich langsam zur Kenntnis der philosophischen Anschauungen, die vor ihm aufgestellt worden waren. Seine Formulierung der erkenntnistheoretischen Fragen war mein Ausgangspunkt. So habe ich eine lange Arbeit darauf verwandt, mich von Schopenhauers Begriffen oder Worten zu befreien; und da diese Begriffe oder Worte fast allgemein in den Köpfen des heutigen Geschlechtes spuken – zu den Jüngeren sind sie auf dem Umweg über Nietzsche gekommen –, so dürfte diese Selbstbefreiung auch anderen nützlich werden.

Seine erkenntnistheoretischen Gedanken stehen nirgends so dicht beisammen wie in der zweiten Auflage seiner Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, als er diese Schrift mit der Selbstsicherheit der Abstraktion zuerst verfaßte; er war beinahe sechzig Jahre alt, als er sie mit der erhöhten Selbstsicherheit der Rechthaberei zur Grundlage seines fertigen Systems umschuf.

An die Spitze der Untersuchung stellt er das Gesetz der Homogenität, das uns heiße, durch Aufmerken auf die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der Dinge Arten zu erfassen, diese ebenso zu Gattungen und diese zu Geschlechtern zu vereinen, bis wir zuletzt zum obersten, alles umfassenden Begriff gelangen. »Da dieses Gesetz ein transzendentales, unserer Vernunft wesentliches ist, setzt es Übereinstimmung der Natur mit sich voraus.« Hier, an der Schwelle seiner Gedankenwelt, sehen wir sofort, daß unsere Resignation, unsere Einsicht in die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache für Schopenhauer doch immer unerreichbar bleiben mußte. Denn was er ein Gesetz der Vernunft nennt, ist für uns eben nur das Wesen der Sprache, und zwar nicht ihr Gesetz, sondern ihre armselige Entstehung. So gelangt er zu dem unvorstellbaren Begriff, daß die Natur mit sich übereinstimme, während wir uns nur mit der ewigen Frage abquälen, ob die Sprache mit der Natur übereinstimme, ja, ob wir über diese Übereinstimmung jemals zu einem Urteil gelangen können. Unter den Formeln des Satzes vom zureichenden Grunde wählt Schopenhauer die Wolfische als die allgemeinste: »Nichts ist ohne Grund, warum es sei.« Er sieht nicht die Banalität, die dieser Satz für jeden Nichtphilosophen enthält; er sieht nicht, daß ihm eine Definition des Begriffes Grund oder Ursache fehle, daß der Satz außerdem, wie jede Fassung des berühmten Trägheitsgesetzes, nur eine Negation sei, daß er also in seiner allgemeinsten Behauptung etwas vollkommen Unklares von der Nichtwelt aussage.

In einer historischen Übersicht gibt er sich Mühe zu beweisen, daß man vor ihm die verschiedenen Arten des Grundes oder der Ursache nicht deutlich unterschieden habe; er zeigt die Unsicherheit des Aristoteles und führt ein Sophisma des Sextus Empiricus an; ohne herauszufühlen, daß wir noch heute über solche Wortspiele nicht hinausgekommen sind. Er selbst macht von den vier Arten der Ursache, wie sie die Scholastiker aufstellten – den materiellen, den formalen, den wirkenden Ursachen und den Endursachen – reichlichen Gebrauch. Besonders den Unterschied zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund beschreibt er gut und schenkt es dem Spinoza nicht, daß er gegen diese Elementarweisheit gefehlt habe. Man vergleiche dazu aber (im Art.  Optimismus ) die Deutung, die ich dem Satze Spinozas »ordo et connexio idearum etc.« gegeben habe. Über die Lehre Humes, der Satz selbst sei unbewiesen, der Begriff der Kausalität sei also kein philosophischer, geht er leicht hinweg. Jeder Beweis, also auch der der Kausalität, enthalte schon den Begriff des Grundes oder der Ursache; also wäre jeder solche Beweis ein Zirkelschluß. Und Schopenhauer merkt nicht, daß er nur das Wortspiel des Sextus Empiricus dabei wiederholt. Der hatte witziger gesagt: »Wenn einer behauptet, es gebe keine Ursache, so hat er zu dieser Behauptung entweder keine Ursache oder er hat eine. Hat er keine Ursache, so ist seine Behauptung wertlos; hat er eine, so gibt es eben Ursachen.« All solches Sophistisieren, so philosophisch es sich auch einkleiden mag, ist immer nur ein Zeichen dafür, daß uns eine Definition des Begriffes Ursache fehlt. Ich bin weit entfernt davon, diese Definition auffinden zu wollen. Ursache ist ein mythologischer Begriff; wie denn ganz folgerichtig Gott die letzte Ursache genannt wird. Mythologische Figuren lassen sich besser glauben als definieren. Nur sprachlich beschreiben läßt sich das Wort Ursache; wobei ich die Bemerkung einfüge, daß die Vorsilbe ur etymologisch unserm aus vorausgeht und im Althochdeutschen auch als Präposition aus vorhanden ist, so daß Ursache ganz handgreiflich metaphorisch die Sache ist, aus der eine andere hervorgeht oder erschlossen wird. Diese Etymologie lebt aber nicht mehr in unserem Sprachgefühl. Uns ist Ursache immer das, was auf die Frage Warum? als Antwort erwartet wird. Man hat diese Frage sehr feierlich behandelt und man hätte den Menschen wohl auch das fragende Tier nennen können; dann muß man auch die Erwartung einer Antwort feierlich nehmen. Wir aber sehen in der Neugier des Menschen, in seinem ewigen Warum nur die einzige Erkenntnis, deren der Mensch fähig ist: die Erkenntnis seines Nichtwissens. Wir fragen unaufhörlich: Warum fällt dieser Regentropfen, warum trägt dieser Strauch Rosen, warum sagst du das und das? Jede beliebige Antwort, bei der der Frager sich für einen Augenblick beruhigt, nennen wir eine Ursache. Eine Antwort, bei der wir uns dauernd beruhigen könnten, gibt es nicht. In der Wirklichkeit gibt es keine Ur-Sache. Für die Betrachtung der Sprache ist es aber traurig belustigend, daß wir in dem Begriff Ursache nur darum etwas Wertvolles zu besitzen glauben, weil es Fragen auf der Welt gibt. So erklären wir auch den Nominativ damit, daß er der Frage »wer oder was?« entspreche; und wir Narren hören nicht, daß wir mit »wer oder was?« nur darum fragen, weil das eben der allgemeinste Nominativ ist.

Schopenhauers Bild von den Wurzeln des zureichenden Grundes will ich einstweilen übergehen und an seinen vier Klassen zeigen, daß er regelmäßig nicht sieht, wie seine Ursache oder sein Grund jedesmal eine andere sprachliche Bedeutung hat, aber auch nur eine sprachliche.

In seiner ersten Klasse ist die Ursache das, was wir uns alltäglich bei diesem Worte denken. Wir pflegen zu sagen, daß jedes Ereignis eine Ursache habe und haben müsse. Genauer: jede Veränderung in der ganzen weiten wirklichen Welt ist eine Folge des vorausgegangenen Zustandes, der wieder eine Folge des ihm selbst unmittelbar vorausgegangenen Zustandes ist. Wir wissen von dem, was wir Ursache nennen, absolut nichts anderes, als daß es in der Zeit der Folge vorausgehe. Und als ob sich die Sprache über uns lustig machen wollte, heißt Folge, also der der Ursache als ihr Korrelat vollkommen entsprechende Begriff, nichts weiter als das, was der Zeit nach das Spätere ist. Noch eine andere sprachliche Eigentümlichkeit des Begriffes Ursache hätte Schopenhauer bemerken müssen; er hat nur einen Teil davon bemerkt und diesen unrichtig. Wenn ich, zum Beispiel, ein Brennglas in der schicklichen Entfernung von meiner Hand halte und nun durch Wegziehen einer Wolke, die bis dahin die Sonne verdeckt hat, eine Schmerzempfindung in meinem Gehirn notiert wird, so sind alle Bedingungen, die zusammenwirken müssen, die Ursachen meiner Schmerzempfindung: die chemische Zusammensetzung meiner Haut, die physiologische Einrichtung meiner Nerven, die physikalischen Eigenschaften des Brennglases und schließlich der Wind, der die Wolke fortbewegt hat. Formelhaft ausgedrückt: der allgemeine Zustand, der in dem Augenblick vorhanden war, ist die Gesamtheit der Ursachen, welche die Veränderung (meine Schmerzempfindung) zur Folge haben. In Wirklichkeit haben all diese Abstraktionen mit meiner Schmerzempfindung nichts zu tun. Zum Beispiel ist nicht, was man die Wärme der Sonne nennt, abstrakt eine der Ursachen, sondern – um mich der Sprache der augenblicklichen Wissenschaft zu bedienen – die ganz bestimmte Molekularbewegung, die von der in der ganz bestimmten Entfernung in einem ganz bestimmten Augenblick an ihrem Ort befindlichen Sonne ausgeht. Eben so ist nicht das Abstraktum Nervensystem eine Ursache meines Schmerzes, sondern wieder eine ganz bestimmte und wirkliche, an Zeit und Raum gebundene Molekularbewegung. Ich mache für das Folgende darauf aufmerksam, daß diese Art Ursache, die Kausalität oder (nach Schopenhauer) der zureichende Grund des Werdens, zwar aus der Zeit allein erklärt wird, in Wirklichkeit aber jedesmal in Raum und Zeit tätig sein muß.

Es ist nun gewiß, daß jede Veränderung eine Folge des unmittelbar vorausgegangenen Gesamtzustandes ist; es ist ferner gewiß, daß es ein unwissenschaftlicher Sprachgebrauch ist, wenn die zuletzt eingetretene Veränderung des vorausgegangenen Gesamtzustandes gewöhnlich die Ursache genannt wird. Wenn, in dem gewählten Beispiel, meine Schmerzempfindung eintritt, so wird in der Umgangssprache das Wegrücken der Wolke leicht die Ursache genannt werden. Ein bißchen Aufmerksamkeit genügt um einzusehen, daß die Form des Brennglases usw., daß alle anderen Bedingungen des Ereignisses ebensolche Ursachen sind. Für ein empfindliches Sprachgefühl liegt die Sache noch klarer. Das Wegrücken der Wolke ist eigentlich die Ursache, die Hauptursache, die Gelegenheitsursache nur für die mitverstandene stille Frage: »Warum brennt es jetzt

Was ist also das, was wir die Ursache eines Ereignisses nennen? Offenbar doch nur unter allen Bedingungen dieses Ereignisses die, auf die unser Interesse im gegebenen Augenblick gerade die Aufmerksamkeit richtet. Halten wir daneben, daß eigentlich die gesamte Weltlage in jedem Augenblick den nächsten Augenblick bestimmt, daß also unsere Aufmerksamkeit unter Umständen auf die entlegensten unter den unmittelbar vorausgegangenen Veränderungen gerichtet werden kann, so wird der Begriff der Ursache noch unzuverlässiger. In unserem Beispiel ist meine Schmerzempfindung das neue Ereignis. Diese Schmerzempfindung ist in ihrer Stärke beeinflußt durch den Zustand meines Nervensystems, der wieder mit meinem gesamten Körperbefinden zusammenhängt, das wieder abhängig ist von Seelenerregungen, von Blutverhältnissen infolge aufgenommener Nahrung usw. Das Ereignis ist nun nicht eine abstrakte Schmerzempfindung, sondern meine nach Zeit und Raum und Stärke ganz fest umschriebene Empfindung. Ich kann also ganz gut meine Aufmerksamkeit so einstellen, daß ich dieses oder jenes Nahrungsmittel, diese oder jene seelische Erregung, diese oder jene Geistesanstrengung (also wieder eine Richtung der Aufmerksamkeit) die Ursache meiner wirklichen Schmerzempfindung nenne. Es ist für Metaphysiker gewiß bedauerlich, daß man das große Gesetz der Kausalität nicht anders beschreiben kann als: die Summe sprachlicher Bezeichnungen für die einer Folge vorausgegangenen Zustände, auf die unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist. Schopenhauer, der diese Abstraktion Ursache für ein apriorisches Gesetz erklärt und doch heimlich empfinden mag, daß nur die einzelnen Veränderungen wirklich sind, erfindet sich eine besondere Mythologie für die Naturkräfte, die ungefähr wie absolute Statthalter eines noch absoluteren Monarchen, allgegenwärtig und unerschöpflich, die einzelnen Provinzen beherrschen. Er hat recht, wenn er sagt, Naturkräfte seien keine Ursachen; denn Abstraktionen können niemals Ursachen sein. Die menschliche Sprache aber kennt nichts als Abstraktionen, nennt die engeren ebenso wie die weiteren Abstraktionen Ursachen; und so scheint es mir unwesentlich, ob die Anziehungskraft der Erde oder ob die Gravitation die Ursache genannt wird, warum der Stein fällt. (Vgl. Art.  Konditionalismus.)

Der Standpunkt Schopenhauers, den er nach Kant und den Engländern einnimmt, als ob er ihn erobert hätte, führt ihn bald dazu, auch wieder den Elementarschnitzer zu begehen, den er an Spinoza gerügt hat. Er stellt sich vor, daß im menschlichen Gehirn ein besonderes Organ für die Erkenntnis der Kausalität vorhanden sei, der Verstand nämlich. Und es soll nicht geleugnet werden, daß seine deutliche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft sehr nützlich gewesen ist, wenn auch nur zur sauberen Beseitigung beider Begriffe. Das Verstandesorgan aber soll das Monopol besitzen für die richtige Auffassung von Ursache und Folge; daß Schopenhauer die Tätigkeit dieses Verstandes bald vor aller Erfahrung vorhanden sein läßt, bald »nach erlangter Übung« wirksam, das nur nebenbei. Aber er schiebt dem Verstande noch eine Funktion zu, nämlich die Erkenntnis der Welt selbst. Nach dieser Anschauung ist die farbige, lebendige Welt um uns herum einzig und allein im menschlichen Verstand und durch den menschlichen Verstand. Da kann ich den Verdacht nicht loswerden, daß die Veränderungen in unserem Nervensystem, die reale Folgen irgend welcher unfaßbaren realen Ursachen zu sein scheinen und die erst im menschlichen Verstand zu Realursachen unserer Wahrnehmungen werden, zu gleicher Zeit auch für den selben Verstand Erkenntnisgründe für die Annahme seiner Außenwelt sind.

Die Zweiteilung in Verstand und Vernunft zieht sich durch Schopenhauers ganze Erkenntnistheorie. Es ist merkwürdig: beide zusammen machen den menschlichen Intellekt aus, der in Schopenhauers Schädel imstande sein soll, die Welt zu begreifen; keinem der Teile aber des Intellektes würde man so eine Leistung zumuten, weil jedes Tier doch Verstand und jeder Tropf Vernunft hat. Der tröpfischen Vernunft soll es gegeben sein, denken, die Welträtsel in ihren höchsten Abstraktionen begreifen zu können; der tierische Verstand soll genügen, um die Kausalität der Welt zu fassen, die unendliche Kette von Ursache und Wirkung. Man könnte es auch so ausdrücken, daß nach Schopenhauer die Welt Materie sei und daß für eine Einsicht in den Materialismus der tierische Verstand genüge, daß die Welt aber auch immateriell sei und daß die tröpfische Vernunft den Idealismus errate. Mit den wirkenden Ursachen beschäftigt sich der Verstand, mit den Ursachen unserer Erkenntnis beschäftigt sich die Vernunft. An das Vorhandensein von Ursachen glaubt Schopenhauer wie ein Katholik an seine Heiligen. Und so ist es eine unbewußte Schlauheit von ihm, wenn er den Begriff der Ursache nicht auf die Materie selbst oder auf das Weltganze angewendet wissen will. Wie dem theologisch gebildeten Katholiken Gott doch noch über den Heiligen steht, so steht dem Metaphysiker Schopenhauer die Materie über den Veränderungen, die aus Ursachen an ihr vorgehen. Er steckt so tief in seiner eigenen Mythologie, daß er nicht hört, nicht schon aus dem Wortklang heraushört, wie Materie, Weltganzes usw. nicht wirken können, weil sie nicht wirklich sind. Er hat eben nicht erkannt, daß die abstrakte Sprache unbrauchbar ist für Erkenntnis der Wirklichkeit. Dies wird über allen Zweifel klar, wenn Schopenhauer von der Klasse der wirkenden Ursachen zu den Ursachen des Erkennens übergeht, zu den Erkenntnisgründen, von der Naturwissenschaft zur Logik, vom Verstand zur Vernunft.

 

III.

Hundertmal auf seinem Wege kommt Schopenhauer an eine Stelle, wo ihm deutlich werden müßte, daß die Vernunft, durch die sich auch nach ihm, dem Tierfreund, der Mensch vom Tier unterscheiden soll, identisch ist mit der menschlichen Sprache. Sogar die Tatsache, daß die Worte der Sprache niemals an die Wirklichkeit heranreichen können, dämmert ihm auf, wenn er sagt: »Dem Verstand gehören gewisse Gedanken an, die lange im Kopf herumziehen, gehen und kommen, sich bald in diese, bald in jene Anschauung kleiden, bis sie endlich, zur Deutlichkeit gelangend, sich in Begriffe fixieren und Worte finden. Ja, es gibt deren, welche sie nie finden; und leider sind sie die besten: quae voce meliora sunt, wie Apulejus sagt.« Aber auch er steckt zu tief in der Scholastik oder im Wortaberglauben, um aus dem Labyrinth herauszufinden. Er glaubt an die Existenz von Ursachen und sucht darum nach Ursachen für die Wahrheit von Urteilen. Es sind ihm, wie allen, die Erkenntnisgründe. Wir jedoch lernen, daß alle Urteile nur tautologische Auseinanderlegungen von Begriffen oder Worten, daß die Worte oder Begriffe nur Erinnerungen an unsere Sinneseindrücke sind. Tautologien brauchen keinen logischen Beweis. Und Erinnerungen sind, wenn unsere mangelhafte Physiologie sie auch noch nicht beschreiben kann, eben auch nur Wirkungen innerhalb der Wirklichkeitswelt, die also keine Erkenntnisgründe brauchen, sondern nur das, was man auch sonst wirkende Ursachen nennt.

Zu der Beobachtung, daß all seine tiefsinnigen Spekulationen nur Belustigungen der Sprache seien, konnte Schopenhauer durch seine eigene Bemerkung kommen, daß in den romanischen Sprachen für Erkenntnisgrund und Vernunft nur ein einziges Wort vorhanden ist, wie im Französischen raison; daß ferner der griechische Ausdruck, der umfassend für Vernunft und alle mögliche geistige Tätigkeit ausreichen muß, λογος, vor allem Wort bedeutet. Im Deutschen klingt es noch nach etwas, wenn man sagt, die Vernunft herrsche über die Erkenntnisgründe; im Französischen wäre es eine greifbare Albernheit. Ein König, der mit seinem einzigen Untertan identisch ist, würde doch auf der Welt wenig Achtung einflößen.

Schopenhauer glaubt an Ursachen des Werdens, die auch in der Umgangssprache Ursachen genannt zu werden pflegen; er glaubt ferner an ein Erkennen und an dessen Ursachen, die er mit dem technischen Ausdruck Erkenntnisgründe bezeichnet; er glaubt endlich, außer an die Wirklichkeitswelt und ihre Erkenntnis, an ein besonderes, von beiden verschiedenes Sein der Dinge und denkt dabei zunächst an die Lage der Dinge im Raum, an ihre geometrischen Verhältnisse. Die geometrischen Verhältnisse oder Gesetze müssen aber nach der Gewohnheit unseres Denkens auch auf irgend etwas zurückzuführen sein, das ihre Grundlage bildet, den Grund ihrer Lage, und diesen nennt Schopenhauer die Ursache des Seins, was sich als ratio essendi viel vornehmer ausnimmt. Die Zusammenwerfung der wirkenden Ursachen und der Erkenntnisgründe unter dem gemeinsamen Begriff der Ursache ist so alt und für das Bedürfnis der Menschheit, ihre Unwissenheit wenigstens symmetrisch aufzubauen, so verlockend, daß auch die besten Köpfe nicht leicht begreifen, wie wenig die Begriffe Ursachen und Gründe miteinander zu tun haben. Daß aber die Anreihung der Grundlage des Seins an diese beiden Begriffe ein unbewußter Wortwitz sei, sollte doch schneller klar werden können. Das den Ursachen und Gründen Gemeinsame ist doch wenigstens ihr zeitliches Verhältnis zu ihren Folgen und Folgerungen. Die Ursache geht der Wirkung zeitlich voraus, sie kann auf die Wirkung nicht folgen; es gibt keine sogenannte Wechselwirkung zwischen Ursache und Wirkung. Ferner geht der Erkenntnisgrund der Schlußfolgerung zwar nicht in Wirklichkeit voraus, aber doch jedesmal im bewußten Denken; eine Wechselwirkung zwischen Erkenntnisgrund und Folgerung ist also wenigstens in der bewußten Logik ein Unsinn. In den Raumverhältnissen der Geometrie aber, für die Schopenhauer besondere Seinsgründe aufstellen möchte, ist die Wechselwirkung die selbstverständliche Regel. In den Verhältnissen zwischen den Seiten eines Dreieckes und seinen Winkeln kann man unzweifelhaft die Winkel die Grundlage für die Seiten nennen und umgekehrt; die Ellipse wird durch ihre Brennpunkte und Leitstrahlen bestimmt und umgekehrt; jeder Schüler der Geometrie kennt diese Wechselwirkung. Daraus allein ist ersichtlich, daß die Grundlagen des geometrischen Seins mit den unbedingt vorausgegangenen Ursachen von Wirkungen begrifflich nicht das mindeste zu tun haben können, daß ein Zufall der Sprachgeschichte nur ähnliche Worte verwendet hat und daß man mit gleichem Recht Bauer (Landmann) und Bauer (Käfig) geistreich unter einen Gesamtbegriff knebeln könnte. Ganz leise deute ich hier auch darauf hin, daß Schopenhauer bei dieser besonderen Behandlung der Raumbegriffe eine Konfusion anrichtet. Es ist doch für ihn klar, daß Raum und Zeit zusammengehören, wenn er auch den Gedanken, daß die Zeit die vierte Dimension der Wirklichkeit sei, nicht anschaulich aufzufassen vermag. Nun vollzieht sich der ewige Wechsel in der Welt, der Wirklichkeit oder Kausalität heißen kann, einzig und allein in der Zeit; also gehört der Begriff der Zeit unweigerlich zu dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Ihm wird deshalb nicht wohl dabei, wenn er die Grundlage des Seins auch für die Zeit aufsucht, für die Arithmetik, deren Zahlen man sich als in der Zeit ablaufend vorstellen kann. Immer wieder kehrt er zur Geometrie zurück, die er gern (eben als eine neue Klasse von Begriffen) auf die Anschauung begründen möchte, statt auf Erkenntnisgründe, wie es die Lehrbücher seit zweitausend Jahren tun. Aber das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung erfordert nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum; jede Veränderung geht in der Zeit vor sich, aber auch im Raum. Was also am Raum wirklich ist, das kann schon bei der ersten Klasse der Ursachen nicht übersehen werden.

Ein Beispiel, das Schopenhauer selbst falsch verwertet, wird uns zeigen, wie die Sprache sich zu günstiger Stunde dagegen sträubt, den Begriff der Ursache oder des Grundes so sinnlos zu zerspalten, wie es Schopenhauer den Scholastikern nachtut. Es ist offenbar das Verhältnis von Ursache und Wirkung, wenn draußen die Junisonne scheint und darauf die Quecksilbersäule im Thermometer bis zum fünfundzwanzigsten Strich steigt. Es ist offenbar ein sogenannter logischer Gedankengang, wenn ich aus meinem kühlen Zimmer durch die Fensterscheibe die Quecksilbersäule bis zum fünfundzwanzigsten Strich steigen sehe und danach vermute, draußen sei es bedeutend wärmer als in meiner Stube. Es ist endlich ein geometrisches Verhältnis, wonach der fünfundzwanzigste Strich auf dem vierten Teil der hundertteiligen Skala gefunden worden ist. Allgemein kann man es so ausdrücken, daß jedesmal ein Grund vorhanden war; aber doch nur, weil unser deutsches Wort Grund eben so vieldeutig, so undefinierbar ist wie etymologisch unerklärbar. Unsere Konjunktion des Grundes weil weist auf Grund und Ursache hin, denn sie ist ja ursprünglich eine Zeitpartikel. Trotzdem ist die Sprache wieder fein genug, die verschiedenen Klassen der Ursachen nicht vermischen zu lassen. »Das Thermometer steigt, weil es warm ist«. Das ist ein klassischer Fall für das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Weil wir die Beobachtung auf den allgemeineren Satz der Ausdehnung durch die Wärme zurückführen können und weil das Thermometer nach der Entdeckung solcher Weisheit erfunden wurde, sind wir geneigt, in unserem Satz eine Erklärung zu sehen. Wir nennen es ja immer eine Erklärung, wenn wir neben eine Wirkung ihre sogenannte Ursache stellen, wie wir Gestern sagen, bevor wir Heute aussprechen. Leisten wir auf solchen Selbstbetrug Verzicht, so wird unser Satz nur bedeuten und lauten können: »Das Quecksilber steigt, sobald es warm ist.« Mit der Feststellung dieser sprachlichen Gewohnheit ist natürlich nichts ausgesagt über Humes Gleichsetzung von Zeit und Ursache.

Nun zum Erkenntnisgrund. Kein Mensch mit einigem Sprachgefühl wird mit gutem Gewissen sagen können: »Es ist draußen warm, weil das Quecksilber gestiegen ist«. Das weil gibt nach jetzigem Sprachgebrauch die Ursache an; wenn der Erkenntnisgrund eine Ursache wäre, könnte die Konjunktion nicht so prüde sein, sich zu weigern. Wir aber können höchstens sagen: »Weil das Quecksilber steigt, darum sage ich, meine ich (usw.), es werde draußen warm sein«. Man achte auf den Unterschied. Erst wenn ich statt der Tatsache mein Urteil setze, kann ich das Steigen des Thermometers einen Grund oder eine Ursache nennen; und es ist dann eine wirkliche, eine wirkende Ursache. Früher mußte die Sonne mir erst direkt auf die Haut brennen, bevor meine Empfindung zu dem Urteil führte, es sei warm; jetzt vollzieht das Gehirn schon aus der Entfernung das Urteil, durch das Auge. Der Tod des Hirsches ist eine Wirkung, einerlei, ob eine starke Hand ihn mit einem Steinbeil erschlagen hatte oder ob mein nervöser Finger nur den Hahn eines Schießgewehrs berührte.

Auf die Einteilung des Thermometers in hundert Grade und auf die räumliche Grundlage dieser Striche gar die Konjunktion weil anzuwenden, verweigert die Sprache durchaus.

Schopenhauers angestrengte Bemühungen, die vier Klassen des Grundes oder der Ursache … ich weiß nicht, ob zur wirkenden Ursache, zum Erkenntnisgrunde, zur mathematischen Unterlage oder zum Motiv seines Systems zu machen, erinnern mich an eine Bemerkung von W. K. Clifford in einem Vortrage »Über die Ziele und Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens«. Die Schrift ist ein Mischmasch von Straßenweisheit und feinster Kritik. Clifford sagt: »Das Wort Ursache hat 64 Bedeutungen bei Platon und 48 bei Aristoteles. Das waren Männer, die so genau wie nur möglich wissen wollten, was sie meinen; wie viele Bedeutungen aber nun das Wort in den Schriften von Leuten gehabt hat, die sich nicht bemüht haben, zu wissen, was sie meinten, wird hoffentlich niemals zusammengerechnet werden.« Würde man bei Schopenhauer oder bei irgend einem anderen Philosophen solche Worte jedesmal genau so definieren, wie sie an jeder Stelle allein gemeint sein können: wir würden ebenso viele Bedeutungen wie Stellen erhalten. Jedenfalls hat bei Schopenhauer das Wort in seiner grundlegenden Abhandlung keine einheitliche Bedeutung; und wo die verschiedenen Bedeutungen dennoch zusammenfallen, da ist ihm dieser merkwürdige Vorgang nicht bewußt. Das ist besonders deutlich bei der vierten Klasse seiner Ursachen: den Ursachen des menschlichen Handelns, den Motiven.

Es ist eins der stärksten Verdienste Schopenhauers, daß er die Unfreiheit der menschlichen Willensakte immer rücksichtslos behauptet und in seiner Preisschrift meisterhaft bewiesen hat. Nach seiner Lehre ist die Bewegung des Steines um nichts notwendiger als die Tat eines bestimmten menschlichen Charakters auf ein wirkendes Motiv hin. Es mußte ihm also klar werden und ist ihm auch klar, daß die Motive des menschlichen Handelns zu den wirkenden Ursachen gehören, also in seiner Sprache zu der ersten Klasse der zureichenden Gründe. Freilich ist uns der materielle, der physiologische Zusammenhang zwischen einem ausgesprochenen Wort und unserer darauf notwendig folgenden Handlung nicht bekannt, wir haben nur abstrakte Worte für die Zwischenglieder des Prozesses; aber wir wissen schon, daß wir auch für die Veränderungen in der physikalischen Welt nur Worte haben, daß uns auch da der eigentliche Vorgang ein Mysterium ist. Es lag also für Schopenhauer ursprünglich und vom Standpunkt seiner Erkenntnistheorie kein Grund vor, die Motive zu einer besonderen Klasse der Ursachen zu machen. Aber immer wieder verwechselt Schopenhauer die wirklichen menschlichen Handlungen mit dem abstrakten menschlichen Willen, den er noch mythologisch ins Ungeheure vergrößert, bis er aus ihm die letzte Ursache, den Urgrund der beiden Welten, der Wirklichkeitswelt und der metaphysischen Welt, gestalten kann. Dieser menschliche Wille wäre aber (nach Schopenhauers mystischem Glauben) ein gar zu armseliges Ding, wenn er zu der ersten Klasse der »Objekte für das Subjekt«, wenn er zu der ersten Klasse der Ursachen gehören würde. Dann wäre der menschliche Wille eben nichts weiter als das Wesen, der Charakter des einzelnen Menschen, wie die Eigenschaften lebloser Dinge für ihn das Wesen und der Charakter dieser Dinge sind. Da Schopenhauer den menschlichen Willen, dieses Abstraktum des gefälschten Selbstbewußtseins, für etwas höchst Reales hält, eigentlich für das einzige Reale im Weltgebäude, so wird ihm dieses Abstraktum, das wir alle in unserem Selbstbewußtsein als ein vieldeutiges Wort vorfinden, zu einer unvergleichlichen Entdeckung; und die Beobachtung, daß Menschen nach Motiven handeln, trennt sie auf einmal von der übrigen Welt. Motivation muß darum etwas total anderes sein als Ursächlichkeit. »Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehen.« Mit diesem Satz ist Schopenhauer ungefähr bei der »intellektuellen Anschauung« Schellings angelangt, für die er sonst nicht Spott genug hat. Das alles dem Willen zuliebe, seinem grundlosen Gott; von diesem Wortaberglauben uns zu befreien, ist fast noch wichtiger als die Einsicht, aus wie unzuverlässigen Worten das System der »Vierfachen Wurzel des zureichenden Grundes« aufgebaut ist.

 

IV.

Für uns, die wir nicht einen Augenblick vergessen können, daß die Sprache mit dem Denken zusammenfällt, daß die Begriffe der Sprache sich auf ihre Herkunft hin legitimieren müssen, daß die Sprache oder das Denken mit illegitimen Begriffen nichts anzufangen weiß, für uns wäre Schopenhauers legendarischer Wille bald beiseite geschafft. Wollte ich fremde Begriffe jedoch nur von meinem Grundgedanken aus kritisieren, so würde ich denselben Fehler begehen, den Schopenhauer in dem Satz begeht: »Die Motivation ist die Kausalität, von innen gesehen.« Will ich Schopenhauers Willen, der zu einem Scheinbegriff der gebildeten Menschheit Europas geworden ist, bekämpfen, dann darf ich meinem eigenen Grundgedanken als vielleicht bloßen Worten nicht vertrauen, dann muß ich vielmehr die Unhaltbarkeit des Begriffs aus ihm selbst heraus nachweisen. Hier wie auch sonst bei der Kritik fremder Ansichten, fremder Worte gilt: gehe ich von meinem Grundgedanken aus, so schwäche ich ihn, indem ich ein System aus ihm herausspinne. Vernichte ich fremde Ansichten und Worte voraussetzungslos, so stärke ich meinen Grundgedanken, indem ihm immer wieder neuer Stoff von selbst zugeführt wird, von selbst freilich nur so weit, wie mein Gedankengang nicht von dem unbewußten Trotzen auf mein Recht, also von meinem Interesse gelenkt wird.

Es wird aber nicht schwer sein, nachzuweisen, daß der Wille zur Vorstellungs- oder Erscheinungswelt gehört, so gut wie die Motive zu den Ursachen gehören. Vorher aber müssen wir uns klar machen, womöglich mit den einfachsten Worten und ohne Rücksicht auf irgend eine Psychologie, was wir eigentlich unter dem Wort Wille verstehen. Das Wort in Schopenhauers Sinn geht uns bis dahin nichts an. Aber auch der Wille als eine geheime Kraft der menschlichen Seele, als Etwas, über dessen Freiheit oder Unfreiheit man streiten kann, ist offenbar ein mythologisches Abstraktum. Man müßte ein mittelalterlicher Wortrealist sein, um im Willen, weil das Wort einmal vorhanden ist, auch das Subjekt irgend einer Tätigkeit zu sehen.

Es ist ausgemacht, daß unsere Kenntnis von der Welt aus den Sinneseindrücken besteht, die wir empfangen. Alle unsere Sinneseindrücke oder Wahrnehmungen, die sich dann zu Vorstellungen und Begriffen addieren, haben aber neben ihrem spezifischen Wert, als zum Beispiel dem, was wir sehen, hören usw., noch eine stärkere oder schwächere Beziehung zu unserem Interesse. Ich will die technischen Ausdrücke der neuern Psychologie hier nicht anwenden, sondern nur sagen, daß all unsere Sinneseindrücke uns entweder angenehm oder unangenehm sind; dieses Verhältnis zu unserem Gefühl ist in den meisten Fällen so schwach, daß wir es gewöhnlich gar nicht beachten. Aber das Gefühl ist da und muß wohl immer in irgend einem – wenn auch noch so schwachen – Grade vorhanden sein, damit wir unsere Aufmerksamkeit überhaupt auf den Sinneseindruck lenken. Unsere Wahrnehmungen sind also Wirkungen äußerer Ursachen, die unser Interesse, wenn auch noch so leise, berühren. Für den Gefühlswert dieser Berührung haben wir nur deshalb keine allgemeinen Worte, weil wir mit Gefühl eben das zu bezeichnen pflegen, wofür wir keine Worte haben. Wir sind also bei unseren Wahrnehmungen der leidende Teil; unser Leib, insbesondere seine spezifischen Sinnesorgane, erleiden die Wirkungen äußerer Ursachen.

Handeln wir nun, so liegt derselbe Vorgang vor, nur in umgekehrter Richtung. Dann ist die Außenwelt leidend und wir sind tätig. Äußere Ursachen bewirken unter dem Namen der Motive unsere Bewegung als eine Wirkung; und diese Wirkung wieder wird zur Ursache einer äußeren Veränderung. Genau ebenso ist die Entzündung des Pulvers im Gewehrlauf die Wirkung vom Aufschlagen des Hahnes, aber auch die Ursache von der Ausdehnung der Gase und vom Heraustreiben der Kugel. In der ewigen Kette der Kausalität (ich kann die Begriffe Kausalität und Ursache nicht vermeiden) ist immer und überall jede Veränderung die Wirkung einer vorausgegangenen und die Ursache einer zukünftigen Veränderung. Jedes Geschehen auf der Welt, jede minimalste Veränderung ist ein Zwischenglied zwischen einer entfernteren Ursache und einer entfernteren Wirkung. Bei den menschlichen Handlungen ist das der einzige Unterschied, daß unser eigener Leib das Zwischenglied ist. Und während bei den äußeren Sinneseindrücken dieses Leibes der Gefühlswert oder die Beziehung zu unserem Interesse ein geringerer ist und darum gewöhnlich keinen besonderen Namen hat, ist der Gefühlswert unserer Handlungen ein sehr starker und hat darum einen besonderen Namen erhalten: das Wollen. Die Sprache setzt mich hier in Verlegenheit. Ich habe vorhin das Abstraktum Wille abgelehnt und nur die einzelnen Willensakte gelten lassen. Nun aber entdecken wir, daß diese einzelnen Erscheinungen des Wollens gar keine Akte oder Handlungen sein können, sondern nur sie begleiten oder vielmehr ihnen vorausgehen, um Augenblicke vorausgehen. Unsere Bewegungsgefühle sind uns bekannt; sie sind so deutlich, daß sie uns ein Bild der unmittelbar folgenden Handlung vorausgeben, und die Folgen dieser Handlung sind uns aus unserer Erfahrung nicht mehr und nicht weniger bekannt als andere Erscheinungen der äußeren Welt. Viel lebhafter also als bei den Sinneseindrücken, die in Milliarden auf uns einstürmen, haben wir darum bei oder vor unseren Handlungen das Gefühl, ob sie oder ihre Folgen uns angenehm oder unangenehm sein werden. Dieses Gefühl nun drücken wir, weil es uns nah angeht, mit einem Begriff aus; wir sagen das eine Mal: Ich will, das andere Mal: Ich will nicht. Die Frage, ob dieses Gefühl sich zwischen das Bewegungsgefühl und die wirkliche Handlung drängen kann, ob die Ausführung der Handlung von diesem Gefühl abhängig ist, wäre in anderem Zusammenhang zu beantworten. Hier handelt es sich nur darum, festzustellen, daß der sogenannte Wille als Kraft ein mythologisches Abstraktum ist, in seinen einzelnen Erscheinungen jedoch nur ein Gefühl, also ein Gefühlseindruck, der sich von den spezifischen Sinneseindrücken eben nur durch seine Unbestimmtheit unterscheidet. Er ist eine besondere Art des sogenannten Gemeingefühles, sofern er sich nicht auf den unmittelbaren Zustand unseres Leibes bezieht, sondern auf unsere Erwartung vom künftigen Zustand. Unser Gemeingefühl läßt uns, wenn wir nichts dazu und nichts davon tun können, sagen: »Ich fühle mich wohl«; oder: »Ich fühle mich nicht wohl«; die Erwartung: »Ich werde mich danach wohl fühlen« oder: »Ich werde mich danach nicht wohl fühlen« drücken wir aus durch: Ich will oder Ich will nicht. Ich glaube nicht, daß ich noch etwas hinzufügen muß, um mir zugestehen zu lassen, daß diese Gefühle, die wir Erscheinungen unseres Willens zu nennen gewohnt sind, einzig und allein unserer Vorstellungswelt angehören. Schopenhauer also, der die Betrachtung der Welt als einer Vorstellung von den Engländern und Kant übernommen, die Betrachtung der Welt als Wille jedoch neu (freilich von Fichte beeinflußt) Gwinner hat durch Vergleichung der von Schopenhauer gelesenen und angestrichenen Exemplare von Fichtes späteren Schriften die Beeinflussung nachgewiesen; schon Herbart hatte sie vermutet. Aber es bleibt doch der Unterschied bestehen zwischen hingeworfenen Ideen und ihrer folgenreichen Durcharbeitung. hinzugefügt hat, hätte als Inhalt seines Hauptwerkes richtiger angegeben, es handle von der Welt als unserer Vorstellung und von der Wichtigkeit der sogenannten Willenserscheinungen in dieser Vorstellungswelt. Das Wollen ist schon darum völlig ungeeignet zur Welterklärung oder Weltbeschreibung, weil es der unklaren und dunklen Gefühlswelt angehört und es doch sinnlos ist, die Begriffswelt durch die Gefühlswelt erhellen zu wollen, das Halbdunkel durch das Ganzdunkel.

In meiner Sprache hätte ich diese Analyse des Willensbegriffs kürzer so ausdrücken können: das Wollen gehört der verbalen Welt an, der Welt des Werdens, genauer der Welt des menschlichen Handelns; die Befriedigung und die Nichtbefriedigung eines Wollens gehört eigentlich der adjektivischen Welt an, der Welt der Erfahrung; der Wille gehört der substantivischen oder der mythologischen Welt an, kann nur dann, wenn man diese mythologische Welt (aber ohne es klar ausdrücken zu können) mit einer mystischen Welt gleichsetzt, der Welt des Seins zugerechnet werden. Und es geht nicht an, das Willens gefühl der adjektivischen und das Wollen der verbalen Sprache erklären zu wollen durch den Willen, der allein der substantivischen Sprache angehört. Ich glaube nur nicht, daß Schopenhauer an so etwas dachte, als er den Willen zum einzig Realen machte. (Vgl. die Art.  adjektivische, substantivische und verbale Welt.)

 

V.

Ich werde nun an einzelnen Punkten zu zeigen suchen, welche Konfusion Schopenhauer dadurch angerichtet hat, daß er unser erkennendes Organ in Verstand und Vernunft gespalten, und dadurch, daß er die zu erkennende Welt in Vorstellung und Wille auseinandergelegt hat.

In seiner Abhandlung über die vierfache Wurzel des zureichenden Grundes hat Schopenhauer eine umfassende Erkenntnistheorie zu geben gesucht. Die Erkenntnis der Welt besteht nach allgemeinem Sprachgebrauch darin, daß wir für alles, was ist, den Grund suchen, warum es sei. Mit dieser Frage steht der Mensch der Welt gegenüber, das Subjekt dem Objekt. Schopenhauer lehrt – und ist da in Übereinstimmung mit schlechten Sprachgewohnheiten – vier Klassen des Begriffes Grund: die Ursache des Geschehens, den Grund einer Einsicht, die Grundlage geometrischer Verhältnisse und das Motiv des Handelns. Wir haben den mathematischen Begriff des Seinsgrundes eben erst ausgeschieden und haben die Motive als gewöhnliche Ursachen erkannt. Danach bleiben nur zwei Klassen übrig: die Ursachen des Geschehens oder Werdens und die Gründe des Erkennens; der uralte Unterschied zwischen wirkenden Ursachen und Erkenntnisgründen. Nach Schopenhauer ist der Verstand der Statthalter der ersten Provinz, die Vernunft die Statthalterin der zweiten. Und über die Verschiedenheit der beiden Geschlechter ließen sich ebenso billig wie geistreich anmutige Bemerkungen machen, die sogar Schopenhauer nicht ganz verschmäht hat. Er hat vor der Sprache eine so hohe Achtung, daß er selbst aus ihren Schnörkeln noch zu lernen sucht.

Halten wir einstweilen Schopenhauers Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft fest. Ihm ist Verstand die Geistesfähigkeit, die Wirkungen auf ihre Ursachen bezieht, die also sowohl die ewige Kette zwischen Ursachen und Wirkungen in der Außenwelt begreift als auch diese selbe Außenwelt überhaupt erst aus ihren Wirkungen auf unsere Sinnesorgane errät; ihm ist, mit einem Wort, der Verstand das Organ für die wirkliche Welt. Es ist klar, daß nach dieser Definition jedes Tier, auch das niedrigste, einen in seiner Art vollkommenen Verstand besitzen muß. Die Qualle hat Verstand genug, um die Außenwelt nach ihrem Interesse zu begreifen und sich so als Subjekt dem Objekt gegenüber zu erkennen, wenn auch schwerlich mit dem Bewußtsein und der Gewohnheit, so schöne philosophische Ausdrücke zu gebrauchen. Die Qualle ist aber egoistisch genug, ihren Verstand über dieses Verhältnis nicht hinausschweifen zu lassen. Das Verhältnis der Objekte zueinander interessiert sie nicht; sie hat die Verdunstung des Wassers in der Sonnenwärme nicht studiert und darum auch die Dampfmaschine nicht erfunden. Sie fällt weder kausale Urteile noch begreift sie das Gesetz der Kausalität.

Schopenhauer selbst besteht wiederholt darauf, daß auch dies Begreifen von Ursache und Wirkung zwischen den Objekten der Außenwelt zu den Arbeiten des Verstandes gehöre. Es entspricht ganz dieser Auffassung, wenn er so große Entdeckungen wie die der Gravitation durch Hooke (Sch. haßt Newton und verteidigt darum heftig Hookes Priorität) und die des Sauerstoffes durch Lavoisier diesem Verstand zuschreibt, der sich vom tierischen Verstand nur dem Grade nach unterscheide. Schopenhauer kommt der Wahrheit nah genug, wenn er an dieser Stelle solche Entdeckungen unmittelbare Einfälle nennt, während die Schlußfolgerungen, die zu den Formulierungen solcher Entdeckungen führen, der Vernunft nur gestatten sollen, die Entdeckung anderen Leuten deutlich zu machen. Wenn in meiner Sprachkritik gelehrt wird, daß jeder Fortschritt in der Welterkenntnis nur von Beobachtungen herkomme, daß alle Sprache aber nur den Zweck der Erinnerung und Mitteilung habe, so dürfte damit Ähnliches gesagt sein. Nur verzichte ich dabei auf die beiden Gottheiten Verstand und Vernunft und erfahre vielleicht nebenbei, was die allverehrte menschliche Vernunft eigentlich sei, nämlich nicht mehr und nicht weniger als die arme menschliche Sprache. Nach Schopenhauer entsteht statt der Wirklichkeit der bloße Schein, wenn der Verstand sich irrt, statt der Wahrheit der Irrtum, wenn die Vernunft sich irrt. Wir erfahren aus unserer Kritik der Logik, was es mit der Wahrheit auf sich habe: wahr ist, was dem Sprachgebrauch nicht widerspricht; die Wahrheit besitzt, wer seine Muttersprache mit gutem Gedächtnis richtig anwendet. Schopenhauer brauchte nur mit einem festen Schritt aus seinem metaphysischen Nebel herauszutreten, um die Identität seiner Vernunft und unserer Sprache zu erkennen. Er sagt, die Vernunft bringe ihre wichtigsten Leistungen durch Hilfe der Sprache allein zustande: Kultur und Staat, Wissenschaft und Religionen, Denken und Dichten. Was mag da die Vernunft selbst, also das Denkorgan, für ein merkwürdiges Werkzeug sein, wenn sie ihre einzige Leistung, das Denken eben, durch die Sprache allein zustande bringen kann? Ist die Sprache etwa nur ein Hilfswerkzeug des Werkzeuges Vernunft? Oder sollte die Vernunft hinter der Sprache am Ende nur der Gott sein, der hinter dem Donner steckt? (Vgl. Art.  Wahrheit.)

Wenn in der »Jungfrau von Orleans« der Donner sich gegen Johanna ausspricht und der Pöbel mit dem Hof und dem Erzbischof aus dem Donner die Sprache eines Gottes vernimmt, so nennen wir das Aberglauben; der Dichter behandelt den Aberglauben als poetisches Motiv. Wollte aber ein Philosoph unter den Zuhörern nun gar auseinandersetzen, der Donner sei ein mangelhaftes Werkzeug Gottes, Gott habe seine Gedanken deshalb nicht klar genug aussprechen können, so werden wir wohl endlich ungeduldig werden. So aber scheint mir Schopenhauer zu spekulieren, wenn er, nicht gar weit von der richtigen Beobachtung, zugibt, die Sprache, als das unentbehrlichste Mittel des Denkens, sei doch zugleich ein beschwerendes und hinderndes Mittel, »weil sie den unendlich nuanzierten, beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewisse feste, stehende Formen zwinge und, indem sie ihn fixiere, ihn zugleich fessele«. Hätte Schopenhauer diese Spur mit seinem überlegenen Scharfsinn und seiner weit höheren Fähigkeit abstrakten Denkens weiter verfolgt: ich hätte mein Buch ungeschrieben lassen können. Aber Schopenhauer glaubt nun einmal an die Vernunft als einen Gott und an die Sprache als ihren Propheten. Das Hindernis, das er in der Mangelhaftigkeit der menschlichen Sprache deutlich sieht, werde durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Teil beseitigt, sagt er. Ganz richtig, denn die Inhalte der entsprechenden Worte verschiedener Sprachen decken sich niemals vollständig und so besitzt, wer mehrere Sprachen genau kennt, vielleicht mehr Gedanken oder Begriffe als einer, der nur eine spricht. So aber faßt Schopenhauer die Sache nicht auf. Der gespenstische Gedanke seiner mythologischen Vernunft soll beim Sprachenlernen aus einer Form in die andere gegossen werden, in jeder seine Gestalt etwas verändern (welche Gestalt?) und sich mehr und mehr von jeglicher Form und Hülle ablösen, wodurch sein selbsteigenes Wesen deutlicher ins Bewußtsein trete und er auch seine ursprüngliche Modifikabilität wiedererhalte. Schopenhauer verrät nicht, in welcher unbekannten Sprache ihm dieses Gedankengespenst seine abenteuerliche Biographie mitgeteilt habe. Eine Marotte ist es dabei, zu glauben, daß seine geliebten alten Sprachen für die Mitteilung solcher Gedanken geeigneter gewesen seien als unsere modernen Patois, wie er hübsch grob sagt. Schade daß die Meister der alten Sprachen ihr Werkzeug so schlecht benutzt haben, daß Aristoteles ein Ignorant war im Verhältnis zu unseren Schullehrern und Cicero ein Schwätzer in jedem Vergleich. Hätte Schopenhauer nicht den Gott hinter dem Donner gesucht, nicht die Vernunft hinter der Sprache, er hätte auch nicht von Nachteilen der Vernunft reden können, wo es sich nur um die Mängel der menschlichen Sprache handelt. So führt er drolligerweise als einen Nachteil der Vernunft die Möglichkeit des Wahnsinnes auf; mit demselben Recht könnte man es einen Nachteil des Reichtumes nennen, daß man ihn verlieren könne.

 

VI.

Und nun wollen wir endlich sehen, durch welchen Gedankengang Schopenhauer dahin gelangt, das Geheimnis der Welt mit dem Wort Wille zu erklären. Wir haben gesehen, daß der Wille, ein uns sprachlich so überaus vertrauter, sachlich dagegen so überaus unbekannter Begriff, nichts anderes ist als eine dunkle Gefühlsvorstellung, vor allem also nur eine Vorstellung, und zwar eine solche, bei der wir niemals bis zu einer deutlichen Anschauung, zu einem spezifischen Sinneseindruck vordringen oder zurückgehen können. Wir haben gesehen, daß für unsere Weltanschauung der Wille nur Erscheinung ist, nur ein Scheinwesen, das selbst der Erklärung bedarf und darum noch schlechter als andere Begriffe geeignet sein dürfte, irgend etwas in der Welt zu erklären, geschweige denn das Weltganze selbst. Wir werden nun erfahren, wie Schopenhauer, wenn er beim Wort genommen wird, bekennen muß, daß auch für ihn der Wille nur ein Begriff war neben anderen Begriffen, eine leere Worthülse, die er noch dazu für elastischer hielt, als die Elastizität der Sprache gestattet. Sein ganzer Gedankengang ähnelt einem Taschenspielerkunststück; doch soll ihm das nicht zum Vorwurf gereichen, denn wer das Wesen der Sprache durchschaut hat, wird in jedem philosophischen Gedankengang, ja, vielleicht in jedem Versuch des Menschen, seine eigene Anschauung einem anderen einzureden, das versteckte und fast immer unbewußte Taschenspielerkunststück erblicken: es werden zwei Gegenstände, die nur ähnlich sind, miteinander vertauscht, es wird ein Wort in ähnlichen Bedeutungen wiederholt, als ob die Bedeutungen identisch wären. Eine kritische Geschichte der Philosophie von diesem Gesichtspunkt aus wäre das furchtbarste und verzweifeltste Werk, dessen das menschliche Gehirn fähig wäre.

Schopenhauer weiß besser als irgend ein anderer vor ihm, daß der menschliche Leib für den menschlichen Geist ein Objekt der Außenwelt ist, von dem der Geist auf demselben Wege Kenntnis erhält wie von anderen Objekten, durch die Sinnesorgane nämlich. Er weiß aber auch die banale Wahrheit, daß uns, jedem Individuum für sich, der eigene Leib außerdem doch noch in anderer Weise bekannt ist. Es ist einerlei, ob wir diese andere Weise das Selbstbewußtsein nennen, ob wir es – wie ich versucht habe – auf das unbewußte Gedächtnis des eigenen Organismus zurückführen oder ob wir diese intimere Kenntnis des eigenen Leibes an die Gefühlswerte knüpfen, die wir bei jeder von außen kommenden Wahrnehmung und bei jeder nach außen gehenden Handlung unseres Leibes schwächer oder stärker mitempfinden. Die Gefühlswerte bei Wahrnehmungen oder Sinneseindrücken kennt Schopenhauer nicht oder will sie nicht kennen, um die anderen Gefühlswerte, die Begleiterscheinungen der Handlungen, zum Schwungbrett für seinen Sprung in die Metaphysik zu benützen. Dabei täuscht er sich zum erstenmal, da er nicht nur ähnliche Bedeutungen gleicher Worte vertauscht, sondern ganz keck weit entlegene Begriffe oder Worte verwechselt.

Was unser Selbstbewußtsein von der Kenntnis der Außenwelt nämlich so von Grund aus trennt, ist der entscheidende Umstand, daß wir uns bei der Wahrnehmung der Außenwelt als passiv fühlen, als das passive Endglied der Verkettung von Ursache und Wirkung, daß wir uns dagegen, sobald wir handeln, als aktives Zwischenglied in dieser selben Kette fühlen. Es war nun ein genialer Gedanke Schopenhauers (auf Fichte als auf den Anreger ist schon hingewiesen worden, noch nicht in gebührender Weise auf Reinhold) auf dieses Gefühl der Aktivität, auf dieses Selbstbewußtsein, auf dieses Wertgefühl hinzuweisen als auf eine Tatsache, auf welche die philosophische Welterkenntnis niemals genügend Rücksicht genommen hatte. Vor ihm hatte Kant die Anstrengungen der letzten Jahrhunderte in das resignierte Ergebnis zusammengefaßt, daß alle wahrgenommene Welt nur eine Erscheinung für uns sei, für uns wohlgemerkt, daß die wirkliche Welt aber, die der Dinge für sich (nicht für uns), das sogenannte Ding-an-sich, dem menschlichen Geist ewig unnahbar bleiben werde. Hätte ein revolutionärer Geist wie Schopenhauer seinen genialen Einfall bescheidentlich ausdrücken wollen und können, er hätte ihn ungefähr so formulieren müssen: Locke hatte eine Kritik der Sinnesorgane geschrieben (daß es zugleich der Anfang einer Kritik der Sprache war, konnte Schopenhauer noch nicht sehen); Kant versuchte über diese Leistung dadurch hinauszugelangen, daß er eine Kritik der Gehirntätigkeit unternahm, die er denn auch die Kritik der Vernunft nannte; aber Kant begnügte sich damit, die Wahrnehmungen der Sinnesorgane und die in der Vernunft bereitstehenden Vorstellungen zu unterscheiden, er traf die Kritik der Vorstellung tiefer und feiner, aber er sah im wesentlichen nichts anderes als Vorstellungen; wenn man Kants Leistung, wie es wohl geschehen darf, nur als eine Vertiefung der Psychologie auffaßt, so kann man sagen, daß Kant das bewußte Denken allein untersuchte; Schopenhauer dagegen (und das ist sein neuer Einfall) bemerkte die außerordentliche Wichtigkeit der Vorstellungen, die nicht aus unseren Sinneswahrnehmungen hervorgehen, und wurde so der Begründer einer Philosophie des Unbewußten. Sein genialer Einfall ist weit fruchtbarer als der des Descartes; Descartes rief eines Tages in heller Verzweiflung aus, er wisse nicht gewiß, was er denke; er wisse gewiß nur, daß er denke; darauf setzten die Engländer und Kant die noch traurigere Resignation, daß all unser Denken uns nur einen Schein der vorausgesetzten Wirklichkeit biete; und nun setzte Schopenhauer seinen Trumpf darauf. Hatte Descartes gerufen: »Ich denke, also bin ich«, so antwortete Schopenhauer jetzt: »Ich denke nicht nur, ich bin auch«; was ich denke, ist bloße Vorstellung; was ich bin, ist Wirklichkeit.

Und jetzt bitte ich um ein wenig Aufmerksamkeit. Schopenhauer hatte recht. Mein Selbstbewußtsein, der Gefühlswert meiner Wahrnehmungen und Handlungen, mein Lebensgefühl geben mir allerdings einen Zipfel der Wirklichkeitswelt in die Hand, der meinem bloßen Denken unzugänglich war. Die gesamte gedachte Welt ist unkontrollierbare Erscheinung, deren reale Grundlage, deren Ding-an-sich wir nicht annähernd zu fassen oder zu ahnen vermögen. Ein einziges Objekt ist uns von zwei Seiten bekannt: unser Ich. Wir kennen es wie alle anderen Dinge der Welt als eine Erscheinung zwischen anderen Erscheinungen, als ein Objekt zwischen anderen Objekten; daneben aber kennen wir es auch von seiner anderen Seite, von inwendig, als Ding-an-sich. Wir sind es ja selbst. Dürfen wir aber im Ernst sagen, daß wir es von inwendig kennen? Was man so kennen nennt. Wir kennen eben nichts als das, was wir durch unsere Sinne kennen. Die sogenannte Kenntnis unseres Ich, die inwendige Kenntnis, ist aber nicht durch die Sinne vermittelt, ist nur ein dumpfes Gefühl der Lebensförderung oder Lebensstörung, ist also nicht das, was wir sonst immer mit dem Worte Kenntnis zu bezeichnen pflegen, ist keine Vermehrung unseres Wissens, ist eben nur ein Gefühl. Der Einfall Schopenhauers hat also keinen größeren Wert als den, ein vortreffliches Beispiel zu sein – das einzig mögliche Beispiel übrigens – für den Wert, den die Objekte (die Erscheinungen für uns) sich selbst beilegen. Schopenhauers Betonung dieses Gefühles ist das einzig mögliche Beispiel dafür, was die Erscheinungen auf die Frage antworten würden: Wofür haltet ihr euch selbst? Es ist für uns, die wir tiefer hineinblicken, ein bedenklicher Nebenumstand, daß es nur für die Welt der Erscheinungen eine Sprache gibt, daß also das Ding-an-sich gar nicht anders antworten kann, als indem es unaufhörlich stammelt: Ich, ich, ich.

So wäre denn der Einfall dankenswert, auf unser Lebensgefühl als auf etwas hinzuweisen, das in unserem Gehirne noch außer den Sinneseindrücken und den aus ihnen addierten Kenntnissen zu finden sei; und es lag nahe, ihn, wie üblich, metaphorisch zu benützen. Hinter unserem eigenen Leib, den wir mit unseren Augen, Händen usw. als ein Objekt unter Objekten wahrnehmen, steckt das Lebensgefühl des Individuums: so mag hinter allen Objekten auch etwas stecken. Nur läßt es sich nicht ausdrücken. Ich gehöre zu der Welt der Erscheinungen; außerdem bin ich aber – und zwar weiß ich das von mir einzig und allein – auch ein Ding-an-sich, ein Ding für mich. Also heraus mit der Sprache! Was bin ich als Ding-an-sich, als Ding für mich? Ich, ich, ich! Ich bin ich! Über diese blödsinnige Tautologie, über dieses Lallen gelangt die Sprache nicht hinaus.

Schopenhauer aber versuchte die Sprache zu zwingen, indem er zunächst das Gefühl unserer Aktivität mit dem Willen gleichsetzte, unsere Handlungen mit den einzelnen Willensakten, um das vorhin abgelehnte Wort mit Schopenhauer wieder zu gebrauchen. Ohne einige Konfusion in den Begriffen konnte das natürlich nicht abgehen; und in diese Konfusionen will ich an einem entscheidenden Punkt Ordnung zu bringen suchen.

Wenn irgend eine Wahrnehmung für mich das Motiv zu einer Handlung wird, wenn, um das alltäglichste Beispiel zu gebrauchen, der Anblick von Eßwaren oder die gehörte Bezeichnung eines Nahrungsmittels für mich ein Motiv zum Essen wird, so liegt zwischen der Wahrnehmung und meiner Handlung der Wille, diese Handlung auszuführen. Selbst wenn ich mir des Zeitunterschiedes nicht bewußt bin, selbst wenn der Wille nur als Begleiterscheinung meiner Handlung empfunden wird, selbst dann werde ich voraussetzen, daß der Wille der Handlung vorausgegangen sei. Feuere ich ein Gewehr ab, so verläßt die Kugel mit lautem Knall den Lauf in demselben Augenblick, wo der Hahn aufschlägt; und doch bin ich wissenschaftlich davon überzeugt, daß der Stoß auf die Zündmasse deren Entzündung vorangegangen sein müsse, diese wieder dem Verbrennen des Pulvers usw. Was zeitlich voneinander verschieden ist, kann aber schon darum nicht identisch sein. Schopenhauers Gleichstellung von Handlung und Willensakt ist darum von vornherein abzulehnen. Er sagt: »Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv unbekannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittelbar und einmal in der Anschauung für den Verstand.« Das ist wenigstens deutlich. Der Wille soll nicht, wie die naive Empfindung – das heißt doch so viel wie der allgemeine Sprachgebrauch – besagt, eine Ursache unserer Handlung sein, sondern die Handlung selbst, von innen gesehen. Das hat freilich nur dann einen Sinn, wenn es in unserer Welterkenntnis noch etwas anderes gibt als Vorstellungen; dann ist eben der Wille dieses Andere und Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung ist legitimiert. Er legt also – wie eben wohl philosophische Systeme entstehen müssen – sein System vorher in die Worte hinein, um es nachher mit logischen Schlüssen herauszulocken. Ist aber der Wille eine Vorstellung, wie wir es erklärt haben, so kann er in der Wirklichkeitswelt nur entweder ein Glied in der Kette der Kausalität sein oder er ist eine Scheinvorstellung. Entweder wir bezeichnen mit dem Worte Wille die uns sonst unzugängliche und nur durch das Gefühl wahrgenommene, physiologisch durchaus noch nicht zu erklärende Gehirnveränderung, die ein Zwischenglied ist in der Kette zwischen Ursache und Wirkung, insbesondere zwischen Motiv und Handlung, oder aber wir bezeichnen mit dem Wort Wille gar nichts. Der Zeitunterschied zwischen Wille und Handlung zeugt dafür, daß dem Willen irgend etwas in der Wirklichkeitswelt entsprechen müsse; und der Sprachgebrauch meint auch etwas Wirkliches bei dem Begriff Freiheit des Willens, ob man nun die Freiheit des Willens lehrt, wo dann der Wille eine höchst mächtige Gottheit wäre, oder die Unfreiheit des Willens, wo dann der Wille als ein Glied in die Kette der Notwendigkeit eingefügt ist. Schopenhauer jedoch muß jeden Unterschied zwischen Handlung und Wille austilgen, muß den Willen und die Willensakte aus der Kette von Ursache und Wirkung hinausweisen, also aus der Wirklichkeitswelt, um dann in einer neuen Mythologie denselben Willen zum Allerwirklichsten machen zu können, zu seinem obersten Gott. Es geschieht, was in der Geschichte der Philosophie jedesmal geschehen muß, wenn ein positives System aufgestellt wird. Es wird ein Wort der Bedeutung entkleidet, die es im Sprachgebrauch hat; anstatt darauf das Wort als eine leere Hülse fallen zu lassen, wird irgend einer der obdachlos gewordenen höchsten Begriffe hineingestopft und schließlich das alte Wort in seiner neuen Bedeutung wieder in Gebrauch genommen, als ob die Sprache sich um den Sinn ihrer Worte nicht zu kümmern hätte. Der alte Sprachgebrauch besagte, daß das Wort Wille die Vorstellung von einem Gefühl bedeute, das unseren Handlungen häufig vorauszugehen pflegt. Schopenhauer lehnt diese Bedeutung ab; der Wille sei keine Vorstellung, der Wille sei die Handlung, von innen gesehen; statt aber das Wort Wille deshalb aus seinem Wörterbuch zu streichen, schließt er ungefähr so: Wir suchen seit Kant etwas, das nicht Vorstellung ist; der Wille ist keine Vorstellung; und weil die ganze übrige Welt nur unsere Vorstellung ist und als solche ein Rätsel, darum ist der Wille des Rätsels Lösung. Und an dieser Stelle, da er den Willen als den Schlüssel des Weltgeheimnisses entdeckt zu haben glaubt, verrät er uns, die wir dem Wert der Worte mißtrauen, ein schlechtes Sprachgewissen, wenn er erklärt: das Individuum würde das Wesen seiner Handlungen ebenso wie das Wesen unorganischer Objekte eine Qualität, eine Kraft, einen Charakter oder ähnlich nennen, wäre dem Individuum nicht dadurch, daß es zugleich Objekt und Subjekt ist, das Wort des Rätsels gegeben; »und dieses Wort heißt Wille«. Man halte dieses Zitat für keine Schikane. Schopenhauer hat zur Erklärung der Wirklichkeitswelt in der Tat nur ein Wort zur Verfügung; oder vielmehr weniger als ein Wort: denn nachdem er dem Wort Wille seinen sprachgebräuchlichen Inhalt genommen hat, bleibt doch nichts als der leere Wortschall übrig, ein Geräusch, ein tönender Lufthauch.

Schopenhauer ist aber ein ehrlicher Mann. Weil er selbst an seinen Gott, den Willen, glaubt, vergißt er die Begriffsfälschung, die er vorgenommen hat, und spricht wenige Seiten später ganz vertrauensvoll davon, daß dieser Wille uns alle wünschenswerten Aufschlüsse über das Ding-an-sich gebe. Wie der robuste Himmels- und Auferstehungsglaube der Urchristen auf die religiöse Verzweiflung des Altertums folgte, ganz ebenso selbstsicher und triumphierend folgt Schopenhauers Willensglaube auf Kants Resignation. Man muß nicht glauben, daß sich philosophische Überzeugungen gar so sehr von Mythologien unterscheiden; nur daß die Schwierigkeit des Jargons die philosophischen Sekten sich nicht so weit ausbreiten läßt.

 

VII.

Der Kampf gegen das Wortgespenst des Schopenhauerschen Willens wäre überflüssig, wenn das Paradoxon, die Welt sei Wille, ohne Folgen geblieben wäre. Das Paradoxon aber, das vor Schopenhauer gelegentlich und flüchtig schon von Augustinus, von Scotus Erigena und von Duns Scotus ausgesprochen war, das durch Schopenhauer wie ein schlechtes Wortspiel zu Tode gehetzt worden ist, wurde nach Schopenhauers Tode von den deutschen Philosophieprofessoren in ein sauberes System gebracht, von Paulsen nach dem Vorgang von Tönnies hübsch und lateinisch Voluntarismus getauft, und von Wundt gründlich und unfein mit einigem gesunden Menschenverstand und mit der sogenannten empirischen Psychologie versöhnt. Der persönliche Reiz von Schopenhauers Darstellung ging dabei verloren, aller Zusammenhang mit einer großzügigen Weltanschauung und die Originalität, welche die Gewaltsamkeit des Wortgebrauchs erträglich machte; dafür erhalten wir bei Wundt einen schmutzfarbigen Mischmasch von Abstraktionen, eine Logik, die schließlich voluntas und intelligentia gleichsetzt, und für Leser, die es so verstehen wollen, den lieben Gott für den höchstwollenden und höchstintelligenten Weltwillen erklärt. Es wäre ungerecht, Schopenhauer für einen solchen cant verantwortlich zu machen; doch historisch geht der heutige Voluntarismus auf das Paradoxon Schopenhauers zurück, und darum ist es noch in dieser Stunde nicht zu spät, lebhafte Kritik zu üben an Schopenhauers Lehre vom Primat des Willens. Vom Primat des Willens spricht nämlich gegenwärtig fast jeder Handbüchler der Psychologie so geläufig, als ob Schopenhauer in seiner berühmten Diatribe (W. a. W. u. V. II. Kap. 19) diesen Primat für alle Zeiten bewiesen hätte. Ich aber will zeigen, mit immer bescheidener Beschränkung auf eine Kritik der Worte, daß Schopenhauer bei beiden Substantiven des Titels »Vom Primat des Willens« sich etwas klar Mitteilbares nicht vorgestellt hat.

Der gebildete Leser wundert sich. Der gebildete Leser weiß ganz genau, was der Primat ist: das lateinische Wort primatus mit dem richtigen deutschen Artikel, wodurch sich das Wort von das Primat der Halbgebildeten unterscheidet. Und soll man den Primat durch Lehnübersetzung übertragen, so setzt man dafür: die erste Stelle (primus locus), den ersten Rang, den Vorrang. Im lateinischen Wörterbuch finde ich nur zwei recht interessante alte Anwendungen des Worts: für das Erstgeburtsrecht und für den Sieg eines Rennpferdes. Das darf uns nicht stören; Worte haben ihre Geschichte. Der Primat, wenn vom Willen die Rede ist, soll bedeuten, daß der Wille seine Stelle vor dem Intellekt einzunehmen habe. Die erste Stelle der Zeit nach oder dem Werte nach? Und wenn dem Werte nach: ist der Wille das erste in der logischen Rangordnung oder in der Rangordnung der Vornehmheit? Und wenn nach der Rangordnung der Vornehmheit: ist der Wille das erste nach menschlichem Werturteil oder nach einer übermenschlichen metaphysischen Bewertung? Schopenhauer entscheidet sich überall da, wo er den Primat des Willens zum Grundcharakter seiner Philosophie macht, für die letzte Annahme. Aber alle andern Bedeutungen des Wortes Primat spielen verwirrend und unklar in seine Darstellung hinein. Den zeitlichen Primat, den der moderne darwinistische Voluntarismus lehrt, scheint Schopenhauer abzulehnen; da er gegen den Lamarckismus (Darwins grundlegendes Buch erschien erst kurz vor seinem Tode) Front macht und die Unveränderlichkeit der Arten, als platonischer Ideen, behauptet und weil er in seiner Metaphysik seinem Willen, also dem metaphysischen Willen, die Verstandesanschauungen von Raum und Zeit abspricht, so könnte er darauf bestehen, daß er einen zeitlichen Primat nicht gemeint habe. Aber Schopenhauers Wille objektiviert sich doch nacheinander im Unorganischen, in der Pflanze und im Tier; nacheinander, wenn nicht alle unsere Vorstellungen von einem Werden unseres Planeten in Trümmer gehen sollen. Im Kap. 24 des 2. Bandes der W. a. W. u. V. (S. 355) läßt er den Willen sich in Amerika, der alten Welt und in Australien verschieden objektivieren. »Auf der der jetzigen Erdoberfläche zunächst vorhergegangenen war es stellenweise bereits zu Affen, jedoch nicht bis zum Menschen gekommen.« Es ist also nichts mit der Zeitlosigkeit des Willens, der Primat ist gelegentlich auch zeitlich.

Dann wird der Primat logisch genommen, wenn der Wille um seiner Einfachheit willen gepriesen wird. Der Wille wird ferner an unzähligen Stellen als das Vornehmere im Menschen gepriesen und endlich und bekanntlich ergibt sich der Primat des Willens daraus, daß der metaphysische Wille das ἑν και παν ist, das Ding-an-sich, die Welt selbst. Der Thronfolger Kants hat so nicht verschmäht, das unerkennbare Ding-an-sich ganz genau zu kennen, zu beschreiben und zu schildern. Wenn das Ding-an-sich der Wille ist, dann gebührt diesem Willen allerdings jeder Primat, jeder Vortritt: der zeitliche, der logische, der menschliche und der übermenschliche. Wenn Schopenhauer mit diesem Willen als Welt nur eine klare und mitteilbare Vorstellung verbindet, dann mag es sogar nicht sonderlich darauf ankommen, ob die Zuteilung des Primats sprachlich unsauber ist oder nicht. Ich muß aber sagen, daß Schopenhauer mit dem Worte Wille, also mit dem wichtigsten Worte seines Gedankensystems, gespielt hat wie ein Virtuose. In Kap. 28 des 2. Bandes von W. a. W. u. V. (S. 398) spricht er vom Willen zum Leben und sagt da: »Eine solche Charakteristik ist darum möglich, weil wir als das innere Wesen der Welt etwas durchaus Wirkliches und empirisch Gegebenes erkannt haben. Hingegen schon die Benennung Weltseele, wodurch manche jenes innere Wesen bezeichnet haben, gibt statt desselben ein bloßes ens rationis: denn Seele besagt eine individuelle Einheit des Bewußtseins, die offenbar jenem Wesen nicht zukommt, und überhaupt ist der Begriff Seele, weil er Erkennen und Wollen in unzertrennlicher Verbindung und dabei doch unabhängig vom animalischen Organismus hypostasiert, nicht zu rechtfertigen, also nicht zu gebrauchen. Das Wort sollte nie anders als in tropischer Bedeutung angewendet werden: denn es ist keineswegs so unverfänglich, wie ψυχη oder anima, als welche Atem bedeuten.« Silbe für Silbe ließe sich diese berechtigte Polemik Schopenhauers gegen die Benennung Weltwille oder Wille kehren. Auch Wille ist ein ens rationis, ist die Vorstellung von einer Erscheinung. Auch Schopenhauers Wille hypostasiert ein Erkennen und ein Fühlen in unzertrennlicher Verbindung, unabhängig vom animalischen Organismus: »das Wort sollte nie anders als in tropischer Bedeutung angewendet werden.«

Also will ich die behauptete Vieldeutigkeit auch des zweiten Substantivs, die Vieldeutigkeit des Willensbegriffs, bei Schopenhauer selbst nachweisen und dazu etwas weiter ausholen, damit der Gegensatz zwischen meiner Lehre und der Schopenhauers dem Leser deutlich und mir wieder bewußt werde. Sonst könnte ich der Kritik selbst eines Schopenhauer überdrüssig werden.

Schopenhauer fand den Willen genau an der Stelle, wo alle sehnsüchtigen oder modernen Philosophen das Wesen, den innersten Kern des Menschen gesucht und gefunden hatten: im Ichgefühl. Ich habe vorhin schon gezeigt, daß Schopenhauer dem Descarteschen »Ich denke, also bin ich« entgegengehalten hatte: »Ich denke nicht nur, ich bin auch.« Das war in meinem Ausdruck schon fast ein Kompromiß mit dem Wundtschen Voluntarismus. Im Geiste Schopenhauers hätte ich besser gesagt: »Ich denke, aber ich muß vorher gewollt haben.« Nicht nur individuell und aktuell denken gewollt, sondern auch überhaupt leben gewollt. Also noch strenger im Sinne Schopenhauers: volo ergo sum.

Lange nach Descartes hatte Kant, hart wie der Hammer einer Hammermühle, der nicht mehr von einer menschlichen Faust regiert wird, die Lehre von der Phänomenalität der Sinnenwelt hingestellt, die ehrlich gefundenen Bausteine der Engländer zu einem Monument aere perennius getürmt. Alle Physik nur ein Blendwerk des Gehirns, für Metaphysik kein Raum. Der Kant dieser zehn Jahre war wohl der härteste Mensch, der je gelebt hat. Dann kam die Sehnsucht über ihn, für sich oder seine Mitmenschen die Moral zu retten, und er suchte in seiner Metaphysik der Sitten nach dem eigentlichen Selbst des Menschen; auch er fand, was er suchte: das eigentliche Selbst war der Wille, d. h. der gute Wille, der von der Kausalität einer guten Intelligenz gelenkte Wille. Alle Voraussetzungen von Schopenhauers Willensmetaphysik sind schon in dieser Sehnsucht Kants (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, III. Abschn.) vorgebildet.

Die ersten Apostel Kants, die durch ihren Ehrgeiz zu seinen ersten Kritikern wurden, übernahmen seine Sehnsucht sicherer als seine harte Kraft. Reinhold und Salomon Maimon suchten das eigentliche Selbst schon im Ich; mit ungleich stärkerem Persönlichkeitsgefühl schlug Fichte diesem seinem eigentlichen Selbst auf die Brust und gründete auf das Ich seine Metaphysik. Schopenhauer mit seinem überlegenen Abstraktionsvermögen, mit seiner unerhörten abstrakten Gestaltungskraft hörte da aber immer nur die blödsinnig lallende Tautologie Ich, Ich, Ich heraus und wollte mit aller Gewalt etwas, was menschliche Erkenntnis nicht vermag: aus der Tautologie heraus. Und so machte er die gelegentliche Wortfolge Kants, das eigentliche Selbst sei der Wille, zum Angelpunkte eines Gedankensystems und wurde zum Sklaven seines Systems. Das Ding-an-sich ist der Wille; aber nicht mehr der gute Wille unter der Kausalität des guten Intellekts, sondern ein blinder Wille, der in andern Gedankensystemen gar nicht mehr Wille heißt, sondern Trieb, Streben, Strebungen, tendences, appetits. Gleich im Anfang seines Kapitels vom Primat des Willens (S. 225) häuft Schopenhauer die Synonyme: streben, wünschen, fliehen, hoffen, fürchten, lieben, hassen, lauter Modifikationen des Wollens: »was, wenn es nach außen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt darstellt.« Alle glänzende Rhetorik und auch Sprachkraft Schopenhauers kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er vom individuellen und aktuellen Willensgefühl des Menschen ausgeht, daß es schon eine Metapher, ja die banalste Metapher der Gemeinsprache ist, wenn nun Schopenhauer den nicht aktuellen Willen des Menschen, den individuellen Charakter ebenfalls den Willen nennt. Diese Begriffsvertauschung ist für Schopenhauer überaus wichtig. Denn Charakter ist das Wesentliche im menschlichen Individuum, und es ist für einen systematischen Philosophen wirklich nur ein Kinderspiel, für »das Wesentliche« oder vom Standpunkte des Betrachters Wichtige das Wesen zu setzen, d. h. das logisch oder substantiell zugrunde Liegende. So wird der Wille, zuerst nur das begleitende Willensgefühl jeder aktuellen Äußerung, zum bleibenden primären Wesen, bald darauf zum zeitlos-zeitigenden Schöpfer Leibes und der Seele. Das wäre aber nur der menschliche, meinetwegen allgemein tierische Wille. Soll der Willensbegriff metaphysisch werden, Schöpfer der Welt, soll der Wille ganz und gar an Stelle des alten Judengottes treten, so muß eine neue und kühnere Begriffsmetapher helfen. Die Handlungen des Menschen, deren Begleitgefühl uns als Wille bekannt ist, sind Kraftäußerungen. Nennen wir also jede Kraftäußerung fortan den Willen, den Willen in der Natur. Wille ist jetzt auch die Lebenskraft im unbewußt animalischen Dasein, Wille die Lebenskraft in der Pflanze, Wille die Schwerkraft im Stein. Warum nicht? Die Metapher ist hübsch und anregend. Vergäße man nur nicht, daß es eine Metapher ist. Schopenhauer vergißt es und glaubt triumphierend das Ding-an-sich entdeckt zu haben, weil er die vor aller Intelligenz wirkende Kraft im Steine Wille genannt hat. Es ist wirklich so, daß er diesen Begriff metaphysisch nennt, weil er ihn metaphorisch angewandt hat. Er hat in seinem eigentlichen Selbst, in seinem Ich etwas gefunden, was die Sprache mitunter den Willen nennt, und deshalb formt er sich eine neue Sprache, in der das Ding-an-sich der Wille heißt. Ich kenne mich von innen als den Willen, also ist die Welt Wille, abgesehen davon, daß sie Vorstellung ist.

Der Widerspruch in Schopenhauers Willensbegriff ist natürlich nicht unbemerkt geblieben; schon Herbart hatte darauf aufmerksam gemacht, daß Wille als Ding-an-sich kein Objekt sein könne und doch als die allervertrauteste Erscheinung eingeführt werde. Auch die Aufhebung des Universalwillens durch Verneinung des Privatwillens blieb ein ungelöstes Rätsel; noch wenige Wochen vor Schopenhauers Tode quälten ihn junge Verehrer, österreichische Kadetten, mit solchen Fragen.

Schopenhauer mußte, in die Enge getrieben, selbst zugeben, daß er den Willensbegriff metaphorisch ausgedehnt habe. In seinem Hauptwerk (Bd. II S. 204 3, S. 225) stehe allerdings »der Wille ist die Substanz des Menschen«; aber dabei stehe auch, daß dies »bildlich und gleichnisweise« zu verstehen sei.

Nichts törichter als einem Wortsysteme Widersprüche vorzuwerfen. Widerspruch gehört zum Sprechen. Nur in der Natur gibt es keinen Widerspruch; aber kein System des Denkens kann Natur sein, nicht einmal eine Klassifikation kann Natur sein. Man kann nicht sprechen ohne Widerspruch. Wenn aber ein Gedankensystem sich just durch die architektonische Schönheit seiner Fassade auszeichnet, und dann die Architektur, ja sogar der Sinn der Innenräume dem Sinne der Fassade widerspricht, dann ist es nicht mehr schülerhaft, dem Philosophen seine Widersprüche vorzuwerfen.

Schopenhauer hat in einem der Anfälle seiner begreiflichen Ruhmredigkeit seine Zersetzung des Ich in Wille und Intellekt mit der Zersetzung des Wassers durch Lavoisier verglichen. Ich neige zu einem Agnostizismus, der zugibt, nicht einmal das zu wissen, was Sauerstoff und was Wasserstoff eigentlich sei. Aber die Chemiker arbeiten doch mit beiden sogenannten Elementen ohne Widerspruch. Ganz anders steht es um die Elemente Wille und Intellekt. Der Wille wird frei genannt von den Formen der Erscheinung, von Raum und Zeit, von Vielheit, von den principiis individuationis. Doch diese schöne Beschreibung trifft nur auf die letzte Inkarnation des Willens zu, auf die metaphysische. Das einzelne Menschenindividuum ist mitsamt allen seinen Willensakten, die Schopenhauer darum streng vom Willen unterscheiden muß, nicht frei von Zeit und Raum. Ja, der Wille, der angeblich frei ist von den Formen der Erscheinung, ist nach Schopenhauer selbst so sehr nur Erscheinung, daß die Frage gar nicht zu beantworten ist, was er etwa sonst sein könnte. Das behauptet Schopenhauer von demselben Willen, den er sonst als bekannt voraussetzt, ja, in jedem dünnen Selbstbewußtsein noch vorgefunden haben will. Sodann lehrt Schopenhauer, der Satz vom Grunde oder die Kausalität sei auf den Willen nicht anwendbar, während doch seine ganze bewunderungswerte Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens auf die Motivation also auf eine Form der Kausalität aufgebaut ist. Natürlich hilft auch hier wieder die Unterscheidung des gemeinen Willens vom metaphysischen Willen. Der metaphysische Wille nimmt das Allerheiligste in die Hand wie irgend ein gemeiner Priester, und alle Welt hat auf die Kniee zu fallen. Die Wandlung vollzieht sich a tempo. Der gemeine Wille im Menschen, im Tier ist Wille zum Leben. Unzählige Male wird uns versichert: dem Willen sei das Leben absolut gewiß, weil der Wille gar nichts anderes sei als Wille zum Leben. Der Wille aber im fallenden Steine oder gar der Wille, der nach Verlust seines labilen Gleichgewichts sein stabiles sucht und findet, der ist doch auch Wille; wir wollen hoffen, daß er der metaphysische Wille ist.

In den höheren Stockwerken wird der Widerspruch zwischen den Innenräumen und der imponierenden Fassade noch größer. Wir wissen, daß der Wille wie ein absoluter Herrscher über den armen Sklaven Intellekt gebietet. Da ist es doch merkwürdig, daß nach Schopenhauers Ästhetik (deren ästhetische Pracht ich anerkenne) dieser arme Intellekt erst dann Schöpfer von Kunstwerken werden kann, wenn er frei geworden ist von dem vornehmen Herrn, dem Willen. Wie verträgt es sich mit dem Primat des Willens, daß der sekundäre Intellekt erst willensfrei die höchste Staffel der Menschheit (abgesehen von der Staffel der Heiligkeit) erklimmen kann? Und wie steht es um den ästhetischen Genuß beim sogenannten Publikum, das sich doch gerade nach Schopenhauer durchaus nicht aus lauter willensfreien Intellekten zusammensetzt? Die Durchschnittsmenschen, die aber doch nicht willensfrei sind und ihrer Nachbarin oder des folgenden Nachtessens begehren, genießen trotzdem einigermaßen die neunte Symphonie. Mit welchem Organ? Einen willensfreien Intellekt besitzen sie ja nicht. Und sollte nicht auch beim Genie Schopenhauer die Freude oder der Genuß, die Bejahung also beim Anhören eines schönen Stückes dem großen Gebiete der Willensgefühle angehören? Freilich nicht des metaphysischen Willens, denn der hat keine Gefühle mehr und begnügt sich mit der Auffindung des stabilen Gleichgewichts, sobald er das labile verloren hat.

Es tut Schopenhauer ja nicht mehr weh. Also weiter im Scherz. Aus der herrlichen Ästhetik Schopenhauers hinaus in seine geborgte Ethik. Der metaphysische Wille ist tanti, sich von sich selbst zu befreien, durch die sogenannte Verneinung des Willens. Es ist ganz hoch oben wie ganz tief unten. Hat der metaphysische Wille das labile Gleichgewicht in all seinen Inkarnationen oder Objektivationen verloren, schwindelt ihm vor all seinen Erscheinungsformen als Stein, Pflanze, Tier, Mensch und Genie, so fällt er um und sucht seinen Schwerpunkt in seiner Selbstverneinung. Ich habe niemals verstehen können, auf welche Weise die Selbstverneinung eines einzigen Individuums, die doch nicht Selbstmord ist, den rasenden Willen zur Ruhe bringen kann. Wenn's aber möglich wäre, wer ist es denn, der das Wunder vollbringt? In der Ethik, wie in der Ästhetik nicht der hochmögende, allmächtige, alleinzige, gottgleiche Wille, sondern der arme Teufel von Intellekt. Und weil Schopenhauer an dieser Stelle selbst deutlich erkannt hat, wie der Sklavenaufstand des Intellekts gegen den Willen seiner Lehre vom Primat zugleich und von der Unfreiheit des Willens widerspricht, darum hat er für seine Apostel den mystischen Satz aufgestellt: Die Verneinung des Willens ist der einzige Fall von Willensfreiheit.

Und noch eins. Der metaphysische Wille ist in krassem Gegensatz zu dem, was man vor Schopenhauer mit dem Worte Wille benannt hat, unmotiviert, erkenntnislos, grundlos, ganz blind; eigentlich blödsinnig, was ja mit dem Wesen der Welt, wie Schopenhauers Pessimismus es erkannt hat, ganz gut zusammentrifft. Dieser blinde und blödsinnige Wille aber hat nun dem Leben einen Zweck gesetzt, dem Weltlauf ein Ziel. Selbsterkenntnis des Willens und folglich Verneinung des Willens ist das Ziel, das der metaphysische Wille, der erkenntnislose, sich gesetzt hat. Selbsterkenntnis durch den armen menschlichen Intellekt. Der blinde starke Wille auf dem Rücken des lahmen sehenden Intellekts. Wer hat diesen Gesellschaftsvertrag ersonnen: der Blinde oder der Lahme? Und wenn der sehende Intellekt den blinden Willen endlich abgeworfen hat, am Ziele, wer bleibt als Sieger übrig? Der allmächtige Wille liegt im Dreck, und der endlich völlig willensfreie Intellekt ist ja gar nicht mehr da, weil es doch außer dem Willen überhaupt nichts gibt. Es war wirklich logisch, daß aus dem System Schopenhauers die Philosophie des Unbewußten hervorging.

Dem widerspricht es nicht, daß Schopenhauer die vernunftlose Welt aus dem vernunftbegabten Menschen erklären will. An einer bedeutsamen Stelle seines Hauptwerks, in der »Epiphilosophie«. Seit den ältesten Zeiten habe man den Menschen als Mikrokosmus angesprochen; Schopenhauer habe den Satz umgekehrt und die Welt als Makranthropos nachgewiesen. »Offenbar aber ist es richtiger, die Welt aus dem Menschen verstehen zu lehren, als den Menschen aus der Welt« (W. a. W. u. V. II 739). Richtiger? Doch wohl nur naiver, menschlicher, sprachlicher. Wortgläubiger konnte Schopenhauer die Herkunft seiner Ideen aus der menschlichen Sprache nicht aussprechen, als durch die Erklärung der Welt als eines Makranthropos. Denn wenn er den Irrtum des Rationalismus vermeidet, wenn er die Welt nicht aus dem Denken oder Sprechen herausspinnt, so verfällt er dem schlimmeren Irrtum: er spinnt die Welt heraus aus einem Worte, aus dem blinden Willen. (Vgl. Art.  Mikrokosmus.)

Ich wiederhole noch einmal, was meine Vorstellung von der Schopenhauers scheidet. Beide Male ist das Ichgefühl eine Täuschung. Das Individuum Schopenhauers ist eine Täuschung der Maja, eine Täuschung ist der individuelle menschliche Intellekt, der trotzdem zu Taten des Genies und der Heiligkeit wachsen kann, weil es dem metaphysischen Willen grundlos so beliebt. Für mich ist das Ichgefühl eine Täuschung, weil der menschliche Intellekt nichts ist als Gedächtnis und dieses rätselhafte Gedächtnis uns das Ichgefühl vorgaukelt. Der metaphysische Wille Schopenhauers ist mir eine Metapher in dritter Potenz; ich kenne in Wahrheit keinen anderen Willen als den, der eine der Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins ist. Für Schopenhauer ist das Ich, das ihm sonst eine Täuschung ist, doch wieder ein Wunder: die wunderbare Identität eines zugleich wollenden und erkennenden Subjekts. Ich kann überall zwischen mir und der Welt nur die beiden Bewegungsarten erblicken: die der Welt auf meine sensiblen Nerven, die meiner motorischen Nerven auf die Welt. Die Begleitgefühle bei der Arbeit der sensiblen Nerven heißen so ungefähr Interesse; die Begleitgefühle bei der Arbeit der motorischen Nerven heißen so ungefähr Wille. Vom Ding-an-sich weiß ich nichts. Ich für mich bin, ich-für-mich heißt: das Gedächtnis. Ich mißtraue der Sprache und ihren Begriffen oder Worten auch da noch, wo ich meiner Sache am sichersten bin; Schopenhauer nur scheinbar, nur durch seine Sprachkraft, ein nüchterner Erkenntniskritiker oder Philosoph, ist in Wahrheit auch darin ein Muster Nietzsches, daß er das Wort meistert wie ein Wortkünstler, wie ein Dichter. Und sich an seinen eigenen höchsten Worten berauscht, an den Essenzen und Quintessenzen seiner Lehre. Entfährt ihm doch einmal (W. a. W. u. V. I. 133) der Ruf, das Wort Wille solle uns wie ein Zauberwort das innerste Wesen jedes Dinges aufschließen. Und der ehrliche Geistesriese Schopenhauer, der doch die unfreie Natur desselbigen Willens so unumkehrbar festgelegt, der die Selbsttäuschung des Selbstbewußtseins »Ich kann tun, was ich will« (Grundprobl. d. Ethik S. 41 f.) mit so heiligem Lachen überzeugend nachgewiesen hat, eben dieser Schopenhauer kommt zu seinem Zauberwort Wille nicht leichter als durch ein Saltomortale und durch ein Taschenspielerkunststück dazu. Auch ich stand viele Jahre unter dem Banne des Mannes, der es fertig brachte, während eines Saltomortale ein Taschenspielerkunststück zu machen. Die Sache verhält sich aber so.

Schopenhauer stellt sich auf die innere Entdeckung Kants, daß der eigene Leib dem eigenen Bewußtsein nicht nur als Erscheinung wie andere Erscheinungen bekannt ist, sondern noch in einer ganz anderen, toto genere verschiedenen Art im Bewußtsein vorkommt. Als Erscheinung also, hätte Kant hinzugefügt, auch wenn man diese ganz andere Art Wille nennen will. Schopenhauer dekretiert nun (W. a. W. u. V. I. 123), daß diese Erscheinung nicht Vorstellung sei, sondern … was? Anderswo (Grundprobl. d. Eth. S. 39) weiß er ganz genau, was das Wort Wille in der Sprache bedeutet: den uns intim bekannten Vorgang, welcher als Wirkung auf ein Motiv statt hat; »wir bezeichnen ihn durch einen terminus ad hoc: Willen.« Ewig wiederholt Schopenhauer das Aperçu, daß uns unser Selbst von innen intimer und besser bekannt sei als von außen. Er übersieht, daß diese Intimität der Selbstbekanntschaft erkauft ist mit einem absoluten Mangel an Erkenntnis. Daß die Intimität der Selbstbekanntschaft nur ein Gefühl ist, sprachlos, diskursiv nicht zu fassen, daß daher die Überlegenheit des Gefühls über unser Denken aus der Vorstellungswelt stammt. Wir sind uns von innen wirklich intim bekannt (man hört doch die Tautologie!), aber nicht besser als von außen. Ahnung, Sehnsucht, Glück, Religion meinetwegen läßt sich darauf begründen, nur eines nicht: nur Erkenntnis nicht. Schopenhauer aber macht den Kopfsprung in sein Inneres und weiß ganz gut, daß der Denker den Kopf oben behalten sollte. Fast verlegen sagt er (W. I, 131), »das Ding-an-sich … mußte … Namen und Begriff von einem Objekt borgen, von etwas irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer seiner Erscheinungen.« Und unmittelbar vorher, im schweren ersten Satze des § 21 entschlüpft ihm gar das Eingeständnis, daß der Wille sich auf eine Weise kundgebe, »in der man Subjekt und Objekt nicht ganz deutlich unterscheidet, jedoch auch nicht im ganzen, sondern nur in seinen einzelnen Akten, dem individuo selbst kenntlich wird.«

Schopenhauer macht also mit vollem Bewußtsein den Kopfsprung in sein intimes Innere, um sich das Zauberwort seiner Welterklärung in dem Willen zu holen, den er ganz scharf und deutlich erkannt hat als der objektiven Erscheinungswelt angehörig, als menschlichen Willen, als eine Vorstellung aus dem Reiche der Kausalität. Und nun führt er das Taschenspielerkunststück aus, das er einmal (W. a. W. u. V. I. 132) mit der Offenheit der ganz großen Taschenspieler, Diplomaten und Philosophen vor den Ohren der Zuhörer auseinandersetzt. »Man hat jedoch wohl zu bemerken, daß wir hier allerdings nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche ebendeshalb der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte …. Daher würde in einem immerwährenden Mißverständnis befangen bleiben, wer nicht fähig wäre, die hier geforderte Erweiterung des Begriffs zu vollziehen, sondern bei dem Worte Wille immer nur noch die bisher allein damit bezeichnete eine Spezies, den vom Erkennen geleiteten und ausschließlich nach Motiven, ja wohl gar nur nach abstrakten Motiven, also unter Leitung der Vernunft sich äußernden Willen verstehen wollte, welcher, wie gesagt, nur die deutlichste Erscheinung des Willens ist.« Hier scheint mir alles zugestanden zu sein, was ich irgend über die Metaphorik in Schopenhauers Willensbegriff eingewandt habe. Wer die geforderte Erweiterung des Begriffs zu vollziehen unfähig wäre, der käme aus den Mißverständnissen nicht heraus. Ganz richtig. Wer aber die vollzogene Erweiterung des Begriffs vergäße, wer die Metaphorik seiner eigenen Sprache vergäße, wer mit variablen Worten genau so rechnete wie mit konstanten Worten, der verführte wohl zu noch ärgeren Mißverständnissen. Und das ist das unentrinnbare Schicksal des wortabergläubigen Philosophen. Eine denominatio a potiori nennt es Schopenhauer, wenn er alle bewegenden Kräfte des Weltalls unter dem Begriff des menschlichen Willens zusammenfaßt, der übrigens nur nach einer veralteten Psychologie die bewegende Kraft des menschlichen Handelns ist. Es fällt mir schwer, hier, an der Keimstelle des Schopenhauerischen Gedankens die Kritik nicht bis in den letzten Schlupfwinkel zu tragen. Es fällt mir schwer, nicht zu fragen: wo Schopenhauer erst das Recht zu einer Umbenennung hernimmt? Ob ihm denn nicht eingefallen ist, daß denominatio im rhetorischen Sprachgebrauche der terminus technicus für uneigentliche Benennung ist, also für eine Metapher, soviel wie Quintilians annominatio, doch wohl ganz gewiß eine lateinische Lehnübersetzung von παρονομασια, mit Anlehnung an das nahe μετωνυμια? Doch diese Fragen würden an den Anfang der Logik zurückführen, also an deren Ende. Ich will also nur das Eine fragen: mit welchem Rechte spricht Schopenhauer von einer Namengebung, von einem Wortspiel a potiori, wo er alle bewegenden Kräfte des Weltalls nach dem menschlichen Willen umtauft? Hat er wirklich den unüberbietbaren circulus vitiosus nicht wahrgenommen? Er setzt den Begriff Wille keck als das höhere genus über die niederen species, die Kräfte; vor Schopenhauer hat man (mehr schlecht als recht) in dem Begriff Kraft das höhere genus gefunden, die denominatio ebenso a potiori gemacht und unter dem Begriff Kraft auch den Willen subsumiert. Das war schlecht, wie gesagt; denn die neuesten Logiker (Schuppe, Erkenntnistheoret. Logik 581) lehren sehr gut, »daß eigentliche Art- und Gattungsbegriffe von Dingen gar nicht denkbar sind ohne, wenn nicht eine Erkenntnis, so doch eine Annahme über die Entstehung der Dinge.« Zu diesen Dingen scheinen mir Kraft und Wille in ihrem Verhältnisse von Art und Gattung ebenfalls zu gehören. Und hat Schopenhauer wirklich nicht wahrgenommen, daß der höhere Rang des Willensbegriffs in unzähligen Fällen darum sprachlich herauskommt, weil er ihn in den Begriff hineingelegt hat? Daß der höhere Rang des Kraftbegriffs ebenso oft herauskäme, wenn er vorher hineingesteckt worden wäre?

Endlich aber: ist denn eine solche Hammelherdenregel wie a potiori fit denominatio wirklich an ihrer Stelle, wo es sich um die Grundlegung einer neuen Weltanschauung handelt? Ich vermag die Hammelherdenregel (»das ist eine Herde Schafe, auch wenn ein paar Ziegen darunter sein sollten«) nur bis zum heiligen Thomas von Aquino zurückzuverfolgen. Sie mag in der theologischen Logik ihre Meriten haben. Doch schon der kluge Krug hat bemerkt: »Es gilt jener Grundsatz nur für das gemeine Leben, und auch hier nur in solchen Fällen, wo es eben nicht auf große Genauigkeit ankommt.«

Es widert mich fast, auf die Beweise einzugehen, die Schopenhauer für den behaupteten Primat des Willens aus der Sprachwissenschaft holt (W. i. d. N. S. 95 ff.). Jeder metaphorische Gebrauch des Verbums wie des Hilfsverbums wollen, die Anwendung des Wortes Begierde in der Chemie, jede Zufallswendung der Sprache soll die Wahrheit seiner Philosophie diesem Monomanen erhärten helfen. »Die Sprache also, dieser unmittelbarste Abdruck unserer Gedanken, gibt Anzeige, daß wir genötigt sind, jeden innern Trieb als ein Wollen zu denken; aber keineswegs legt sie den Dingen auch Erkenntnis bei. Die vielleicht ausnahmslose Übereinstimmung der Sprachen in diesem Punkt bezeugt, daß es kein bloßer Tropus sei, sondern daß ein tief wurzelndes Gefühl vom Wesen der Dinge hier den Ausdruck bestimmt.« Zunächst: es ist natürlich, in der Sprache, aus der ein Wort genommen ist, die Bestätigung für einige Anwendungen des Wortes zu finden. Sodann: die Prämisse ist falsch, daß die Sprache nicht in ebenso metaphorischer Weise den leblosen Dingen Erkenntnis beilege; in der Fabel, im Märchen sprechen und denken die Dinge. Endlich: im handschriftlichen Nachlaß Schopenhauers (Frauenstaedt 338) findet sich dazu eine fast drollige Notiz. Der primäre Wille sei θελημα, der sekundäre menschliche Wille βουλησις. »Die Verwechslung dieser beiden, für welche nur Ein deutsches Wort vorhanden, ist Quelle des Mißverstehens meiner Lehre.« Schopenhauer hätte mit der Benützung dieses Scherzes bei Philologen kein Glück gehabt; βουλησις, das er für den verachteten bewußten Willen in Anspruch nimmt, ist schon im Griechischen ein abstraktes Wort, das die bewußte Absicht bedeutet; und θελημα gar ist erst dem neuen Testament entnommen. Während Schopenhauer aber in dieser Notiz seines Nachlasses den Willen nach erfolgter Wahlbestimmung, das consilium (Lehnübersetzung), die βουλη weit abweist von seinem primären und metaphysischen Willen, beruft er sich in dem eben erwähnten Abschnitt »Linguistik« (W. i. d. N. 96) auf jeden zufälligen Gebrauch des Verbums βουλομαι. Da fraß der Teufel Fliegen.

 

VIII.

Ich habe zu zeigen versucht, daß Schopenhauer mit der Gläubigkeit eines scholastischen Wortrealisten die Wirklichkeit seiner abstrakten Begriffe lehrte, daß er also bei der Ausarbeitung seiner Philosophie, praktisch, von einer Kritik der Sprache wieder weit entfernt war. Mit außerordentlichem Scharfsinn hat er das Verhältnis nah verwandter Begriffe aufgedeckt; er unterscheidet etwa zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Freiheit des Tuns und Freiheit des Willens, zwischen dem Willen und den Willensakten, aber es fällt ihm nicht ein, daß alle seine Unterscheidungen nur Phantasiegebilde betreffen, nur verabredete Wortzeichen, nicht aber Tatsachen der Natur. So oft Schopenhauer jedoch theoretisch an die Untersuchung der Sprache herantritt, nähert er sich zuerst einer kritischen Auffassung der Sprache. In seinen Werken wären viele Belegstellen für meine Grundauffassung zu finden; doch wären diese Zitate niemals ganz in seinem Sinne, weil bei ihm kritische und abergläubige Gedanken über die Sprache wirr durcheinandergehen. So spricht er in seinem schlau-unschlauen curriculum vitae (das er in Berlin zum Zwecke seiner Habilitation einreichte) davon, daß er in den Jünglingsjahren auf Reisen war, anstatt die Schulbank zu drücken, und sagt: »Besonders erfreue ich mich dessen, daß mich dieser Bildungsgang frühzeitig daran gewöhnt hat, mich nicht mit den bloßen Namen von Dingen zufrieden zu geben, sondern die Betrachtung und Untersuchung der Dinge selbst und ihre aus der Anschauung erwachsende Erkenntnis dem Wortschalle entschieden vorzuziehen, weshalb ich später nie Gefahr lief, Worte für Dinge zu nehmen.« Mit schönen und starken Worten hat er auch in seinen Werken oft die Wertlosigkeit des logischen Fortschreitens im Denken behauptet und auf die unmittelbare Anschauung als die einzige Quelle der Erkenntnis hingewiesen; da er aber noch nicht weiß, daß alle Logik in den Gewohnheiten der Sprache steckt und daß selbst der sprachliche Ausdruck für eine Anschauung von den hergebrachten Worten, also von der Anschauung vergangener Generationen, abhängig ist, darum bindet er seine kühne und mindestens höchst individuelle Weltanschauung an unkontrollierbare Worte und nichts hält ihn ab, diese Worte ganz logisch und ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit zu einem System zu knüpfen; darum scheut dieser revolutionäre Denker auch nicht davor zurück, unaufhörlich und häufiger als andere Selbstdenker sich auf Autoritäten zu berufen, Sätze von alten Philosophen heranzuziehen, vieldeutige Sätze, deren einzelne Worte ganz gewiß nicht den Begriff enthalten konnten, den Schopenhauer ihnen zweitausend oder ein paar hundert Jahre später beilegt.

Damit hängt sein Glaube zusammen, daß durch Hinzulernen fremder, besonders alter Sprachen »sich immer mehr der Begriff vom Worte ablöse.« Er bemerkt nicht, daß es – wie gesagt – um das Denken eine kümmerliche Sache sein muß, wenn man in jeder Sprache anders denken muß, daß uns also unser Denken von der Sprache diktiert wird, in der wir denken, daß Denken und Sprechen dasselbe sein muß. Und so sehr ist Schopenhauer in seinem scholastischen Realismus befangen, daß er nicht den natürlichen Schluß zieht: wenn man in jeder Sprache anders denkt, so sind die Gewohnheiten jeder Sprache die Herren über unsere Begriffe; daß er vielmehr den ganz unnatürlichen Schluß zieht: wenn man in jeder Sprache anders denkt, so löst sich durch die Erlernung vieler Sprachen der Begriff immer mehr vom Worte los. Was kann das für ein Begriff sein, der losgelöst von verschiedenen und Ähnliches bedeutenden Worten verschiedener Sprachen, also losgelöst von jedem Wortzeichen, immer noch irgend eine Stelle in unserem Denken einnehmen soll? Was kann das für ein Begriff sein, wenn es nicht irgend eine Begriffsrealität in Wolkenkuckucksheim ist? So wird Schopenhauer, so meisterhaft er die deutsche Sprache beherrscht, jedesmal, von seinen Theorien verführt, zu einem abergläubigen Knecht der Sprache. Er will, um desto freier denken zu können, die Begriffe von den Worten der einzelnen Sprachen lösen. Ebenso gut könnte er das Problem des Fliegens dadurch lösen, daß er sagte: Je mehr Fortbewegungsarten wir erlernen, je mehr wir uns im Gehen, Fahren, Reiten, Segeln, Eisenbahnfahren usw. einüben, desto mehr lösen wir den Begriff der Fortbewegung von der Erde los, bis wir, losgelöst von der Erde, von der Spitze des Turmes aus durch die Luft fliegen können. Auch er wäre zu Boden gestürzt, wie alle Systemerfinder vor ihm, wenn sein Fliegen im reinen Reich der wortlosen Begriffe mehr gewesen wäre als ein Traum.


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