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minderwertig.

Die Minderwertigkeit ist ein etwas anständigerer Begriff als moral insanity; während moral insanity gewöhnlich nur begüterten Angeklagten von gut bezahlten Advokaten angelogen wird, pflegt die Minderwertigkeit auch ganz armen Teufeln zugesprochen zu werden. Aber auch die Minderwertigkeit ist ein schlecht definierter Begriff und ein dummer dazu. Ich will mich nicht darauf berufen, daß kein Reformator des Strafrechts kommen mußte, um uns darüber zu belehren, daß Gewohnheitsverbrecher für die menschliche Gesellschaft minder gute, minder nützliche, minder wertige Menschen sind; das hat man eigentlich seit jeher angenommen. Man könnte mir einwenden: auf die Wortbildung kommt es nicht an; der moderne Strafrechtler versteht unter minderwertig einen bestimmten Geisteszustand, der die Verantwortlichkeit und den verbrecherischen Willen teilweise ausschließt, teilweise also durch Herabminderung des Strafmaßes berücksichtigt werden soll. Die volle Konsequenz dieser Anschauungsweise wäre: je kleiner der Wert eines Menschen, desto kleiner soll die Strafe für seine verbrecherische Handlung sein. Das meinen die Reformatoren natürlich nicht; sie meinen, genau wie bei moral insanity, daß der Minderwert sich auf die geistigen Qualitäten des Angeklagten beziehe; aber Geisteskrankheit im eigentlichen Sinne ist wieder nicht gemeint, weil der Geisteskranke in unserer humanen Zeit nicht von den Richtern, sondern von den Ärzten seiner grausamen Strafe zugeführt wird. Minderwertigkeit ist also eine Geisteskrankheit, die keine Geisteskrankheit ist. Was bei moral insanity als krank vorausgesetzt wird, das ist ein moralisches Organ, welches kein Arzt kennt; bei der Minderwertigkeit wird das geistige Organ, welches man unter dem Namen des Gehirns kennt, als krank vorausgesetzt, nur daß die Minderwertigkeit unter kein einziges der beschriebenen Krankheitsbilder, unter keine bestimmte Art der medizinisch erforschten Erkrankungen genau aufzunehmen ist. Der Fall liegt so, daß ein Richter um strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Folgen willen einen lebendigen Menschen dem sachverständigen Psychiater überantwortet und zum Zwecke eines logischen Urteils dem Arzte bei Ja und Nein ein Vor-Urteil darüber abverlangt, ob dieser Mensch geisteskrank sei oder nicht; daß der Arzt nun aber sehr häufig gar nicht in der Lage ist, vor dem lebendigen Menschen die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit zu ziehn, daß der Arzt also, um sein Gewissen nicht zu belasten, die ausweichende Antwort gibt: dieser Mensch ist minderwertig. Mit welcher Antwort der Richter, wenn er ebenso gewissenhaft ist, gar nichts anfangen kann. Der Mann, der den Advokaten das Wort Minderwertigkeit zur Verfügung gestellt hat, war denn auch ein gottgläubiger Irrenarzt.


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