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messen.

Ein Sophist war es, also nach der landläufigen Wertung dieses Wortes ein verächtlicher Literat, ein käuflicher Philosophielehrer, der kurz vor dem Wirken des Sokrates eine neue Weltanschauung auf den Gedanken gründete: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« (παντων χρηματων μετρον ἀνϑρωπος). Über die Bedeutung fast jedes Wortes aus diesem Satze des Protagoras könnte man streiten, weil keine Schrift dieses Philosophen auf uns gekommen ist, nur herausgerissene Stellen, die vielleicht nicht einmal genau zitiert wurden. Ob Protagoras unter dem Menschen die Menschenart im allgemeinen verstand oder vielmehr den individuellen, am Ende gar den augenblicklichen Menschen, ob er unter dem Maße den physischen Maßstab oder vielmehr ein Wertmaß, ob er unter Ding jeden Körper oder vielmehr ein Gut verstand, das wird bei der Dürftigkeit der Quellen und bei der Parteinahme der alten Autoren kaum mehr auszumachen sein. Dennoch hat man wohl daran getan, wie denn der Begriff des Sophisten durch und seit Hegel umgewertet worden ist, besonders den kühnen Protagoras viel höher einzuschätzen, als er von Platon eingeschätzt worden ist; man hat ihn zum Begründer des Positivismus und des Relativismus gemacht und mit fast noch größerem Rechte hat Raoul Richter (D. Skeptizismus i. d. Philosophie I S. 10) ihn den bahnbrechendsten Vorläufer der Skepsis genannt; die Frage, ob die Sophisten der ersten oder der zweiten Periode der griechischen Philosophie angehören, scheint mir den historischen Tatsachen gegenüber eine Buchbinderfrage zu sein, trotzdem selbst Zeller es nicht verschmähte, zu ihr Stellung zu nehmen.

Wenn wir nun unter den strittigen Begriffen des Satzes jetzt besonders den des Maßes (μετρον) beachten, so werden wir bald sehen, trotz aller erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, daß der Satz des Protagoras buchstäblich zutrifft, einerlei ob wir unter Maß eine Maßeinheit oder einen Maßstab, ob wir ein räumliches Maß oder ein Maß in bildlichem Sinne, ob wir endlich die Tätigkeit des Messens darunter verstehen. Das aber schicke ich voraus, daß nur die Tätigkeit des Messens in der psychologischen Wirklichkeit vorhanden ist; weder in der adjektivischen noch in der substantivischen Welt gibt es ein Maß; das Maß ist weder ein Ding noch eine Eigenschaft; selbst an den körperlichen Maßstäben ist das Maß nur ein Erzeugnis oder ein Phantasieprodukt menschlicher Tätigkeit. Ein Messen gibt es nur in der verbalen Welt der Zwecke. Es gibt in der psychologischen Wirklichkeit nur ein Vergleichen von Größen, ein Aneinanderhalten quantitativ bestimmbarer Dinge; dieses Vergleichen oder Aneinanderhalten, mag es nun unmittelbar oder mittelbar geschehen, nennen wir messen, sobald wir über eine Maßeinheit übereingekommen sind. Alle exakten Wissenschaften beruhen darauf, daß wir Methoden erfunden haben, nicht nur die drei Dimensionen des Raums genauer und genauer zu messen, sondern auch die Erstreckung der Zeit und die Intensität der Kräfte, insbesondere der Schwerkraft. Die Physik heißt insofern eine exakte Wissenschaft, als in ihr alle Veränderungen nach dem c. g. s.-System gemessen werden können: wir haben schon gelernt, daß sich dieses System auf die Biologie und auf die Psychologie nicht übertragen läßt (vergl. Art.  mathematische Naturerklärung), wir werden jetzt hoffentlich noch besser einsehen lernen, was dieser Übertragung im Wege steht.

Wir messen die Zeit, die Schwerkraft, die Wärme, die Elektrizität usw. einzig und allein dadurch, daß wir die Wirkungen der Kräfte (es mag mir gestattet sein, vorläufig auch die Zeit als eine Kraft zu betrachten) im Raume sichtbar machen; wirklich gemessen können nur räumliche Größen werden. Das hätte sich aus dem Begriffe des Messens direkt entwickeln lassen, wobei freilich die Schwierigkeit, Bäume, Flächen oder Strecken zur sogenannten Deckung zu bringen, den Beweis zu überraschenden Umwegen geführt hätte; aber die Erfahrung bestätigt den wichtigen Satz. Wir messen die Zeit an der räumlichen Bewegung des Uhrzeigers, wir messen die natürlichste Zeiteinheit, den Tag, nach der scheinbaren Bewegung der Sonne oder der Fixsterne um die Erde; wir messen die Schwerkraft nach der Geschwindigkeit, also nach einem Verhältnisse zwischen Raum und Zeit; wir messen die Wärme nach der räumlichen Ausdehnung paßlicher Körper; wir haben alle Energien nach der Höhe messen gelernt, zu der sie ein bestimmtes Gewicht emporheben, und können das Gewicht auch wieder nur durch eine Beziehung zu einer Raumgröße ausdrücken. Messen heißt: im Raume messen.

Nun sind unsere Zeitgenossen nicht wenig stolz darauf, daß in den meisten Kulturstaaten ein vermeintlich natürliches Raummaß eingeführt worden ist, das Metersystem; mir fällt es nicht ein zu leugnen, daß sowohl die Einheitlichkeit des Systems, als die Verbindung mit dem Dezimalsystem, der Zusammenhang der Gewichtsmaße mit den Raummaßen, die Bequemlichkeit der Vergrößerung und Verkleinerung der Maße, – es fällt mir nicht ein, die Nützlichkeit all dieser praktischen Konvenienzen zu leugnen. Aber ein kurzer Blick auf die Geschichte der Einführung des Metersystems wird uns zeigen, daß sogar da der Mensch das Maß aller Dinge war und geblieben ist; und der Zufall, daß das Wort μετρον in dem griechischen Satze just zum Namen für das Meter wurde, mag wie über einen feinen Scherz der Kulturgeschichte lächeln machen.

Bis vor etwa hundert Jahren waren die Längenmaße sehr ungenau und da und dort sehr ungleich von Dimensionen am Menschen hergenommen: Fuß, Elle, Klafter. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde allgemein der Wunsch rege, ein internationales und natürliches Maß aufzufinden. Die Idee, die Länge des Sekundenpendels zum Maßstab zu wählen, mußte wieder aufgegeben werden, als sich herausstellte, daß diese Länge durchaus nicht gleich war für alle Örter der Erde; auch hätte man vorher die Länge einer Sekunde nach den alten Maßstäben des Raums bestimmen müssen. So wurde auf Anregung der französischen Nationalversammlung, die ja so viel für alle Ewigkeit neu zu ordnen glaubte, nach zehnjähriger Arbeit, gemäß den Gesetzen und Regeln der Astronomie und der Geodäsie das Normalmeter im Jahre 1800 berechnet und hergestellt, das heute noch für alle wissenschaftlichen Messungen irgend welcher Art die letzte Instanz ist. Die Länge dieses Meters war als der zehnmillionte Teil eines Meridianquadranten berechnet worden. Als später in Deutschland der Meridianquadrant neu berechnet wurde und sich etwa um einen Kilometer länger herausstellte, als die französische Rechnung ergeben hatte, wurde praktischer Weise an dem Pariser Normalmeter festgehalten, die ohnehin willkürliche Beziehung preisgegeben, und die einfache Definition des »natürlichen« Maßstabes mußte lauten: »Das Meter wird dargestellt durch den bei der Temperatur des schmelzenden Eises gemessenen Abstand der Endstriche auf demjenigen Maßstabe, welcher von der internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht als internationales Prototyp des Meters anerkannt worden und bei dem Internationalen Maß- und Gewichtbureau (im Pavillon Breteuil in Sèvres bei Paris) niedergelegt ist« (F. Auerbach im Handbuch der Physik 2 S. 5). Man wird zugeben müssen, daß die Einführung des Meters, und nicht wegen der Ungenauigkeiten, kaum weniger willkürlich war, als die Bestimmung des englischen Königs, der nach der Legende um das Jahr 1100 den Yard nach der genauen Länge seines eigenen Arms messen ließ.

Aber die Bestimmung des Meters hat noch einen andern Haken. Der Meridianquadrant mußte doch zunächst einmal nach dem alten Maßstabe gemessen werden; dieser war die Toise (aus Lat. tensa), die Klafter (alle diese Worte wohl Lehnübersetzungen von griechisch ὀργυια, von ὀρεγειν, ausstrecken), also die Entfernung zwischen den Fingerspitzen der weit auseinander gestreckten Arme eines erwachsenen Menschen. Für diese Klafter gab es weder eine bestimmte natürliche Länge noch einen Normalmaßstab; und dennoch wurde der Meridianquadrant, dessen zehnmillionter Teil das Meter wurde, nach solchen ungenauen Toisen berechnet. Es war also doch der Mensch das Maß, das μετρον, des Meters geworden.

Man hat neuerdings vorgeschlagen, die Länge bestimmter Lichtwellen anstatt des wissenschaftlich verunglückten Meters zu natürlichen und absolut zuverlässigen Längeneinheiten zu ernennen; auch dieser winzige Maßstab (seine Länge betrüge noch nicht den millionten Teil eines Meters) hätte für die theoretische Physik manche Vorzüge; aber auch dieses System hätte denselben kleinen Haken wie das Metersystem, weil die Länge der Lichtwelle ebenso nach dem alten Metermaße berechnet worden ist, wie die Meterlänge nach den noch ältern Toisen.

Es würde mir aber kleinlich scheinen, den Satz des Protagoras nur darum auf die Maßeinheiten anzuwenden, weil alle wissenschaftlich konstruierten Maßeinheiten zuletzt auf die Längen menschlicher Gliedmaßen oder Dimensionen zurückgehen; man könnte dem entgegenhalten, daß die Tiere ihre Bewegungen und ihre Schöpfungen wiederum nach ihrem eigenen Maße einrichten: der Vogel baut sein Nest, die Raupe spinnt ihren Cocon nach ihrem eigenen Maße, das Pferd trabt und galoppiert nach der Maßeinheit seiner Beine. Gibt es darum in der Natur verschiedene Maßeinheiten?

Ich antworte: es gibt in der Natur, außerhalb des menschlichen Denkens, weder ein Zählen noch ein Messen. Messen heißt: auf Grund einer frei gewählten Maßeinheit vergleichen, und jede Einheit, auch die Maßeinheit, ist ein menschlicher Begriff. Die Verhältnisse, nach denen die Seiten eines Dreiecks zu einander stehen, nach denen die Raupe spinnen muß, das Pferd traben muß, sind natürlich; die Maßeinheiten sind menschlich. Wir werden erfahren, daß es sich mit den Zahlen ebenso verhält.

Aus einem erkenntnistheoretischen Aufsatze von Helmholtz »Zählen und Messen« (in dem Sammelwerke »Philosophische Aufsätze, Eduard Zeller gewidmet«) kann man lernen, welche Mühe dieser Mann sich gab, die fundamentalen Maßeinheiten der Länge, der Zeit und der Masse auf Erfahrung zu begründen, wie er früher die Axiome der Geometrie ebenfalls für Erfahrungssätze erklärt hatte; in der Erfahrung finden sich aber immer nur die Verhältnisse des Raumes, der Zeit und der Mechanik, die Maßeinheiten werden aus diesen Verhältnissen vom menschlichen Verstande abstrahiert oder, wenn man will, durch ein Verhältnis zu dem Menschen ausgedrückt. Von dieser Einsicht aus will es mir scheinen, als ob die reine Mathematik, ich denke an die Algebra und den höheren Kalkül, wirklich dazu gelangt wäre, ein natürliches Schema von der Welt aufzustellen, weil sie auf das Zählen und auf das Messen verzichtet und nur Verhältnisse darstellt; die angewandte Mathematik, auch die elementare Geometrie, arbeitet schon mit Zahlen, also mit menschlichen Erfindungen, zum Zwecke menschlicher Erfindungen. Es ist wunderbar genug, daß diese Erfindungen funktionieren, trotzdem die Messungen immer nur à peu près richtig sind, niemals ganz genau den Verhältnissen entsprechen, wie doch jeder Arbeiter weiß, der sich des Mikrometers bedient.

Jawohl, der Mensch ist das Maß aller Dinge, das Maß der äußern Natur und seines innern Erlebens. Nach seiner Sprache versteht er die Welt. Für das Psychische in sich selbst und in der übrigen Natur hat er die Begriffe gebildet, die er an seine Erlebnisse aber nicht messend anlegen kann; in höherem, aber doch nur in bildlichem Sinne ist der Mensch das Maß seiner innern Welt. Nur für die Darstellung der äußern Welt, zunächst des Raumes, hat er sich nach seinen Maßen Maßeinheiten geschaffen, die dann als numerische Einheiten zur Grundlage des Messens und des Zählens gemacht werden konnten. Die Einheiten der Biologie und der Psychologie sind Einheiten ganz anderer Axt (vergl. Art.  Einheit S. 242 f), sind als numerische Einheiten nicht zu brauchen, weil die Erscheinungen des Lebens nur selten, die Erscheinungen der sogenannten Seele niemals in Raumverhältnissen darzustellen sind. Auch wenn es einmal gelingen sollte, wohin ich die Möglichkeit eines Weges nicht sehe, die Zeit selbst direkter und unbildlicher als durch Raumstrecken zu messen, so wäre immer noch kein Weg gefunden, die mechanistische Naturerklärung auf psychische Vorgänge anzuwenden. Wir sind dazu verurteilt, an den innern Vorgängen unseres Lebens mit Begriffen herumzutasten, während wir die physischen Vorgänge mit Maßeinheiten und Zahlen ausmessen, räumlich direkt, sonst durch schlaue Übertragungen der räumlichen Verhältnisse.

Wie aber, wenn wir auch mit den Maßstäben, sobald wir nur an eine Maßeinheit absolute Ansprüche stellen, selbst an den räumlichen Dingen nur herumtasten und herumtappen? Das Normalmeter zu Paris verändert seine Länge, wenn man nur das Prüfungsmaß klein genug annimmt, in jedem Augenblicke durch den Einfluß der Wärme. Wer weiß, ob die zur Maßeinheit empfohlene winzige Lichtwelle sich für ein noch kleineres Prüfungsmaß nicht ändert mit veränderten Verhältnissen des Äthers, durch welchen unser Sonnensystem hindurchgeht. Näher und näher kommen wir durch immer beständigere Maßeinheiten an die räumlichen Dinge heran, aber der Weg ist eine Asymptote, zur innigen Berührung kommt es nie. So wären auch die Maßeinheiten nur Begriffe; und als unverrückbar bliebe auch in der physischen Welt von unserem stolzen Messen nur das Verhältnis übrig zwischen der Anzahl und ihren Gesetzen; denn selbst die Bezeichnung der Anzahl durch irgend ein bestimmtes Zahlensystem ist Menschenwerk, ist bei unserem Zahlensystem wahrscheinlich aus der Anzahl der menschlichen Finger hergenommen. Nur gut, daß das unvollkommene menschliche Messen für die menschlichen Zwecke hinreicht.

Die Alten wußten wenig davon, daß ein absolut genaues Messen räumlicher Körper wegen des Wärmeeinflusses nicht möglich sei; trotzdem lehrte Herakleitos schon ahnungsvoll, daß alles fließe. »In denselben Fluß steigen wir wieder hinab und auch nicht in denselben.« Und Protagoras, der den Menschen das Maß aller Dinge nannte, scheint nach den Zeugnissen von Platon und Sextus ein Anhänger dieses Herakleitos gewesen zu sein. Den Relativismus, der ein exaktes Messen für unmöglich erklärt, finde ich nirgends so fast behaglich ausgesprochen wie von dem bescheidensten und feinsten unter den neuen Skeptikern, von Michel de Montaigne. Ich gebe die Stelle in der vor kurzem neu erschienenen alten Übersetzung Bodes (Montaigne's Gesammelte Schriften V S. 28). »Die Welt ist nichts als eine ewige Schaukel. Alle Dinge schaukeln ohne Unterlaß, die Erde, die Felsen des Kaukasus, die Ägyptischen Pyramiden, durch den allgemeinen sowie durch ihren eigentümlichen Wackelgang. Die Beständigkeit selbst ist nichts anderes als eine schwächer geschwungene Schaukel (la constance mesme n'est aultre chose qu'un bransle plus languissant).«


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