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Mystik.

 

I.

Das äußere Wortbild hat eine kurze und bekannte Geschichte. Auf die äußerst unsichere Etymologie von μυειν (dazu μυοψ kurzsichtig, myope, μυϊνδα Blindekuh, μυαν Blinzeln) lasse ich mich nicht ein; genug, daß man μυστης davon herleiten kann, den Eingeweihten in die Geheimlehren der Mysterien, daß μυστικος bezeichnet, was sich auf diese Mysterien bezieht Die Encyclopédie (Diderot) will mystère ein hebräisches Wort sein lassen; ssotar heißt verbergen, verhüllen, misstar bedeutet den Schlupfwinkel, wo einer sich versteckt. Ich finde einen Hinweis auf diese gar wohl mögliche Etymologie, die doch nichts mit den alten albernen Herleitungen aller Worte aus dem Hebräischen zu tun hat, weder bei Diez noch bei Körting. Bei dieser Gelegenheit möchte ich zu bedenken geben, daß der Name der mittelalterlichen Schauspiele, der Mysterien, doch wohl von ministerium kommen kann, da höchstens »orthographische Gründe« (wenn es wirklich solche gibt) dagegen sprechen.. Mystik, Mystizismus mag vorläufig einen Seelenzustand bedeuten, in welchem man sich zur geheimnisvollen Vereinigung mit dem All hingezogen fühlt und das Unwißbare zu wissen glaubt über solche Vereinigung.

Eine Geschichte der Mystik müßte noch geschrieben werden. Sie würde vielleicht lehren, daß auf jede Periode gesteigerten Wissenshochmuts eine Periode des Wissenschaftsbankerotts und der Verzweiflung folgte, die sich gerade in optimistischen Naturen zur Mystik rettete. Diese mystischen Perioden haben trotz langer Unterbrechungen unter sich eine Kontinuation, einen Zusammenhang, etwa wie die Traumzustände in beiden Persönlichkeiten des angeblichen Doppel-Ichs unter sich Zusammenhang haben. Heutzutage, wo neben dem äußersten Wissenshochmut der Spezialisten ein Bankerottgefühl der Frommen und der Philosophen steht, werden die Schriften des Meister Eckhart neu herausgegeben. Und Eckhart ebenso wie Gerson hatten uralte Mystik wiederbelebt, als neben dem äußersten Wissenshochmut der Scholastik die Verzweiflung an der Scholastik sich regte. So werde ich wohl mit meiner fast widerwilligen Liebe zu einigen großen Mystikern (es sind auch ganz ekelhafte Schwätzer und Heuchler unter ihnen) mehr unter dem Einflusse des verzweifelten Zeitgeistes stehen, als mir lieb ist. Alle Epochen einer siegessichern Aufklärung waren der Mystik feindlich gesinnt. Eine Geschichte der Mystik hätte auch die Gegenströmungen zu zeichnen, von Aristoteles bis Cousin. Hier nur Ein Beispiel des Hasses, mit dem Aufklärung den Mystizismus beehrte. Wir lieben heute kaum einen andern alten Dichter so sehr wie den pantheistischen Mystiker Angelus Silesius. Der gute und sonst anständige Wilhelm Traugott Krug behandelt ihn recht schlecht im ersten Bande seines philosophischen Lexikons und gibt z. B. so prächtige Verse wie:

Nichts ist als Ich und Gott; und wenn wir zwei nicht seyn,
So ist Gott nicht mehr Gott und fällt der Himmel ein –

schon der öffentlichen Verachtung preis. Aber im 2. Bande kommt er unter dem ad hoc konstruierten Schlagwort »mystischer Unsinn« noch einmal auf den cherubinischen Wandersmann zurück und denunziert noch einige »geistreiche Sinn und Schlußreime.«:

»O süße Gasterei! Gott selber wird der Wein,
Die Speise, Tisch, Musik und der Bediener sein.«

Ferner:

»Als Gott verborgen lag in eines Mägdleins Schoß,
Da war es, da der Punkt den Kreis in sich beschloß.«

Und der gute Krug fügt hinzu: »In diesen Versen vermählt sich das Komische mit dem Sublimen auf solche Weise, daß man sie wohl hypermystisch nennen könnte. Indessen findet sich mystischer Unsinn von ähnlichem Schlage auch in manchen Gesangbüchern und Traktätleins.« (1833.)

»Mystischer Unsinn« ist die rationalistische Antwort darauf, daß die Mystiker aller Zeiten die Vernunft nur gering achteten, daß die Mystiker aller Zeiten der schwatzenden Vernunft gegenüber immer das Schweigen priesen, mitunter erstaunlich beredt priesen. Seltsamer ist es, daß auch die antirationalistische Partei, die christliche Kirche, die Mystiker herabgesetzt und verfolgt hat, wo sie nur konnte; denn – und das müßte eine Geschichte der Mystik zur Evidenz zu bringen suchen – der christliche Glaube, die katholische Lehre insbesondre, ist ein mystisches System, und die großen christlichen Mystiker sind die besten Christen gewesen, die einzigen tiefangelegten Menschen, die das Christentum ernst nahmen. Dafür wurden sie von der Kirche, welche gar nicht anders sein kann als weltlich, also frivol, mit Recht zu Ketzern gestempelt.

Mystisch ist schon das Urchristentum. Der Messiasgedanke selbst, wenn er nicht rein national und politisch gedeutet wurde, wenn er auf der »sündigen Menschheit Erlösung« ging, sagte schon Unsagbares aus, und Christus ist ja nur eine Übersetzung von Messias. Viel weiter ging der Mystizismus des Evangelisten Johannes; selbst Paulus war ein richtiger Mystiker, da er (Gal. 2. 20) sagte: »Ich lebe, aber doch nun nicht Ich, sondern Christus lebet in mir« (Χριστῳ συνεσταυρωμαι · ζω δε οὐκετι ἐγω, ζῃ δε ἐν ἐμοι Χριστος«). Sobald es aber erst eine katholische Kirche gab, einen geordneten katholischen Kultus, war auch die Mystik in ihn aufgenommen, der Höhepunkt des Kultus, das Meßopfer, ist von der Vernunft nicht zu fassen, ist ein Mysterium. Zwei Mysterien in einem: die Verwandlung von Materie in Gott und die Vereinigung des Gläubigen mit Gott. Es gibt so gut wie in der orientalischen Kirche auch in der abendländischen eine mystagogische Literatur; es macht nichts aus, daß die Kirche dafür lieber Symbolik sagt. Μυσταγωγειν hat freilich seinen feierlichen Sinn (im Griechischen und dann im lat. mystagogus, der in die Mysterien Einführende, der den Mysten, den Einzuweihenden, Geleitende) eingebüßt; bereits Cicero konnte mit dem sakralen Worte seinen Spott treiben, da er die Fremdenführer an heiligen Stätten Mystagogen nannte; und das Mysterium hat sich gerächt, indem es uns verführte, heute einen ebensolchen Fremdenführer einen Cicerone zu nennen. Hat aber wirklich niemand noch bemerkt, daß unser mystifizieren, franz. mystifier, gar nichts anders ist als eine schlechte Lehnübersetzung von μυσταγωγειν? Littré lehnt zwar die Ableitung aus lat. mœstificare (betrüben) ab, erinnert aber überflüssigerweise an ein vergessenes mistigouri. Dem Manne, der das Wort erfand, dem französischen Grimm, und der Zeit der Erfindung (1764) ist es wohl zuzutrauen, daß mystifizieren mit mystagogieren gleichgesetzt wurde; übersetzt, um allgemeinen Anstoß zu vermeiden. Die erste Anwendung des Wortes paßt vortrefflich zu dieser Vermutung. Ein Pariser Schöngeist, Poinsinet, war von seinen Bekannten damit in den April geschickt worden: Friedrich der Große hätte ihn zum Erzieher eines preußischen Prinzen auserwählt; Poinsinet durfte also hoffen, in das Allerheiligste des Königs einzudringen. Grimm berichtet: Cette comédie dura plusieurs mois et eut plusieurs actes, sans que P. doutât un instant de la réalité de tous ces faits; ses amis appelaient cela mystifier un homme, et lui donnèrent le surnom de mystifié, terme qui n'est pas français (er wurde erst 1835 in das Wörterbuch der Akademie aufgenommen), qui n'a point de sens, et qui, inventé et employé par certaines gens, ne mériterait pas d'être remarqué si etc. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß certaines gens den guten P. mystifié nannten, weil er sich selbst gebläht hatte, durch die Berufung an den Hof von Potsdam mystagogué zu werden. Wie dem auch sei: die Wege der Worte sind mitunter noch wunderbarer als die Wege Gottes.

 

II.

Eine gründliche Geschichte der christlichen Mystik hätte sich natürlich bei solchen Kleinigkeiten nicht aufzuhalten, hätte vielmehr die Einwirkungen nachzuweisen, welche die christliche Gottesvorstellung durch den Neuplatonismus erfahren hat, zuerst durch Philo und durch Origenes, der freilich in all seiner Ketzerei nicht bloß in der orientalischen Kirche, sondern auch in der abendländischen, die ihn exkommuniziert hatte, starke Spuren hinterließ. Hätte endlich unermüdlich die breiten Spuren des unechten Dionysios Areopagita zu verfolgen, dessen Wirkungen, wenn nicht auf die christlichen Dogmen selbst, so doch auf den Gefühlston des Glaubens unermeßlich waren.

Und die Einwirkungen des Neuplatonismus auf den christlichen Gottesbegriff, über die man das Nähere in Harnack's Dogmengeschichte nachlesen mag, sind eine Einwirkung des Orients auf die Weltanschauung des Abendlandes.

Um da die einfachen Zusammenhänge richtig zu sehen, müssen wir uns wieder von einem Wortaberglauben befreien, von der Stimmung, mit der durch Jahrhunderte der Begriff Orient zur abendländischen Kultur in Gegensatz gebracht worden ist. Das war ja nicht immer so und hat in der Wissenschaft wenigstens wieder aufgehört, seitdem Orient uns an die letzte Weisheit der Inder erinnert. Seit dem Aufkommen des Islam erst, aber besonders seit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, gewann für die abendländische Christenheit das Wort Orient die Bedeutung der märchenhaften Barbarei. Vorher war der Teil des Orients, den der Kaufmann heute noch die Levante nennt, der Sitz und Ausgangspunkt aller abendländischen Kultur. Griechisches Denken flüchtete vor den römischen Soldaten nach Byzanz, von Byzanz vor den türkischen Soldaten nach Rom. In Kleinasien, in Alexandrien und in Byzanz entwickelte sich das Christentum und die christliche Kirche. So gewiß das Christentum Mystizismus ist, so gewiß ist es eine orientalische Weltanschauung. Orientalisch im vortürkischen Sinne.

Sieht man die Dinge vom Standpunkte der Mystik, so wird man von der Ähnlichkeit zwischen dem gottseligen Christentum und dem gottlosen Buddhismus überrascht. Die innere Verwandtschaft gehört jetzt, seit Schopenhauer, zum festen Bestande der Religionsvergleichung; die historischen Zusammenhänge sind aber immer noch unaufgeklärt. Ich will mich also damit begnügen, auf einige frappante Züge der buddhistischen Mystik hinzuweisen.

Was ist das Individuum? Nāmarupa, d. i. Name-Form. Aus dem Buddhi, dem Denkwesen, entsteht das Individuum, das Ahamkāra, das Ichmachen. Das Ich geht also nur aus dem Denken hervor. »Wie die Flüsse, wenn sie im Ozean aufgehn, Namen und Form verlieren, so geht der Weise, wenn er Namen und Form verloren hat, im höchsten himmlischen Geiste auf.«

Das Haften an der Existenz, das Dürsten nach ihr, ist Samsāra, das wieder nichts ist als Bhava, das Werden. Das Ich ist so wenig etwas Bleibendes, etwas Wirkliches neben seinen dürstenden Erscheinungen, als etwa der Wagen etwas Wirkliches ist neben seinen Teilen. Ein Wort ist das Ich wie der Wagen. Ich glaube, ich habe die tiefsinnige Frage irgendwo schon einmal zitiert: »Ist die Flamme der ersten Nachtwache dieselbe wie die der zweiten?« Von diesem Bilde stammt das berühmte Gegensatzwort zum Samsāra: Nirvana oder (im Pali) Nibbāna. Nis (nir) = aus, va = wehen; Nirvaha: das Auslöschen. »Die Vernichtung der Leidenschaft, die Vernichtung der Sünde, die Vernichtung der Verblendung, das, o Bruder, ist Nirvāna.« Es gibt bei Lebzeiten schon ein Auslöschen des Durstes; nach dem Tode des Individuums aber erst Parinirvāna, das völlige Auslöschen.

Menschlich schön wie das Christentum – unbekümmert um alle Logik – hat Buddha, der das Individuum nicht kennt, die Liebe gepredigt, die doch nur Individuen gelten kann: »Alle andern religiösen Verdienste haben nicht den Wert eines Sechzehntels der Liebe, der Erlösung des Herzens … Und wie aller Sternenschein nicht den Wert eines Sechzehntels des Mondscheins hat, sondern der Mondschein ihn in sich aufnimmt und leuchtet und glänzt und strahlt, so auch haben alle Mittel in diesem Leben, um sich religiöses Verdienst zu erwerben, nicht den Wert eines Sechzehntels der Liebe, der Erlösung des Herzens.« Wer dächte nicht an das Wort: »und hätte der Liebe nicht.« Und noch realistischer: »Wer am Morgen, Mittag und Abend ein Geschenk von je hundert Töpfen Speise macht, und wer am Morgen, Mittag und Abend auch nur einen Augenblick in seinem Herzen Liebe erzeugt, der zweite hat davon größeren Nutzen.«

Nicht Mitleid (Karunā), wie Schopenhauer will, ist Buddhas Forderung, sondern Liebe ( Maitrī).

Der Buddhismus ist nicht mitteilbar, wie ja auch der echte christliche Mystizismus ein Schweigen ist. Eins werden mit Buddha ist das Höchste; aber Buddha selbst ist durch Parinirvāna eins geworden mit dem, was nicht die Flamme irgend einer Nachtwache ist. Buddha ist ja kein Gott. Er ist nicht mehr, seitdem er vom Werden befreit ist. Man kann freilich wieder und aber ein Buddha werden, Pratyekabuddha (ein Buddha für sich), doch nie es Andern sein oder sagen. »So wie ein Stummer wohl einen wichtigen Traum haben, aber ihn nicht andern erklären kann.« Der Pratyekabuddha ist Einsiedler und wird gern mit dem einsam wandelnden Nashorn verglichen. (Nietzsche hatte seine Freude an dieser Metapher.) Buddha, der jenseitige, ist Heiland, Messias; aber er spricht nicht zu uns, man spricht, man betet nicht zu ihm. Die Wortfolge Om mane padme hum (Kleinod im Lotos Amen) ist kaum ein Gebet zu nennen. Geheimnisvoll ist dieses allerheiligste Symbol: die Lautgruppe Om. Das Ens realissimum, bei dem man zugleich Ja und Nein vorstellen kann, bei dem man an alles oder an nichts denken kann, wirklich etwa so viel wie unser »Gott.« Aber kein Gebet, das etwas wollte.

Auch der abgründigste Satz der buddhistischen Mystik ist kaum noch Sprache, ist kaum noch grammatisch faßbar. Tat tvam asi. Das du bist. Man könnte auch sagen: Ich ist Du. Das heilige Wort, das Brahma, (der Brahmane ist nur der Kenner des Brahma) war schon vor Buddha unerforschlich: der Âtman, der spiritus, das Ich (atta). Als einer einen Brahmanen nach dem Wesen des Brahma fragte, antwortete er nicht; der zweiten Frage entgegnete er: »Ich lehre es dich ja, aber du verstehst es nicht. Dieser Âtman ist Stille.«

So ist der buddhistische Mystizismus, der nicht weit entfernt ist von der christlichen Mystik des Meisters Eckhart. In den buddhistischen Schriften gehört eng dazu die Vorstellung von der Seelenwanderung. Die Neu-Buddhisten in England möchten auch diese Lehre mit in ihren künstlichen Glauben herübernehmen. Und in Deutschland kommt Nietzsche's »Wiederkehr des Gleichen« solchen Phantasien entgegen. Ich möchte diesen materialistischen Aberglauben scharf von der Mystik getrennt halten. Seelenwanderung, Wiederkehr, das ist nicht mehr mystisch, sondern unsinnig. Es hypostasiert eine fortdauernde Seele ohne Gedächtnis, also eine Einheit ohne Einheit. Ein hölzernes Eisen.

Ich will ebenso bei der Würdigung der christlichen Mystik absehen von den Phantasien, welche eine Hölle lehren. Die Blasphemie, die in der Annahme einer Hölle und ewiger Höllenstrafen liegt, kränkt mich nicht; das haben die Gläubigen mit ihrem allgütigen Gotte abzumachen. Nur wieder über die Verewigung des Individuums in der Hölle kann ich nicht hinweg. Das ist gemein materialistisch, genau wie die Seelenwanderung. Kein christlicher Mystiker hätte die Hölle glauben dürfen. Kein ernsthafter Christ. Denn Christentum ist tiefe, antimaterialistische Mystik.

Es ist nicht anders: das Christentum in den Seelen der feurigsten, echtesten Christen, in den Seelen des Franziskus, des jungen Luther, ist Mystik, das christliche System der Kirche ist Mystizismus, selbst noch das verstandesmäßige System des Thomas. Darum tat die römische Kirche, darum taten die protestantischen Päpstlein klug daran, immer nur die falsche Mystik zu verdammen; die richtige Mystik aber hochzustellen. Nur daß es schwer sein dürfte, eine Grenzlinie zu ziehen zwischen der richtigen und der falschen Mystik. Ich sage es wieder und wieder.

Die Ehrenrettung der großen Mystiker, die nun seit hundert Jahren etwa, durch die katholischen Tendenzen der Romantik angeregt, im Schwange war, ist dem Ansehen der Religion selbst zugute gekommen. Die Achtung, die man den mystischen Ketzern zollte, konnte man nicht leicht dem Mystizismus der dogmatischen Religion versagen.

Von dieser Stimmung der Zeit möchte aber auch eine Bewegung ihren Vorteil ziehen, die der Mystik so ähnlich ist wie der Affe dem Menschen: der Spiritismus, diese cloaca maxima von Dummheit, Narrheit und Betrügerei. Plump materialistischer Aberglaube, uralte Gespensterfurcht (in die freilich auch der Mystizismus idealistischer Religionen ausgeartet ist), ist das Ganze, ist der Grundzug des Spiritismus. Er ist die Mystik des dummen Kerls, der die tiefe Sehnsucht eines Mystikers nie gefühlt hat, besten Falls nur den brutalen Wunsch, mit einem lieben Verstorbenen weiter zu verkehren. Durch die blödsinnigen Klopfereien, bei denen noch niemals eine fragwürdige Frage, geschweige denn eine hörenswerte Antwort herausgekommen ist. Man könnte katholisch werden bei der Vorstellung, daß aus diesem Wust von Albernheit sich eine neue abendländische Religion entwickeln sollte, wie die verwegensten Spiritisten es hoffen. Es wäre die gemeinste aller möglichen Religionen, trotzdem Philosophen sich bemüht haben, sich mit den vermeintlichen Tatsachen abzufinden. Namentlich Schopenhauer hatte sich, blind wie ein brünstiger Auerhahn, auf das Geistersehen gestürzt, seinem System zuliebe. Ganz komisch ist der Standpunkt E. v. Hartmanns, der klug genug war, sämtliche Tatsachen des Spiritismus anzuzweifeln, für den Fall aber, daß so etwas einmal verifiziert werden sollte, dennoch eine Erklärung bereit hatte. Er weiß nicht, ob der Mars bewohnt ist; weiß aber, wie die Bewohner aussähen, wenn er bewohnt wäre.

Die Gebildeten unter den führenden Spiritisten waren schlau genug, ihre Schnurrpfeifereien mit den rätselhaften Erscheinungen aus einem ganz anderen Gebiete zu verkoppeln, mit denen des Hypnotismus. Es hatte unvorsichtige Rationalisten gegeben, welche sich lange dagegen sträubten, auch gut verifizierte hypnotische Erscheinungen anzuerkennen; warf man nun Spiritismus und Hypnotismus in den großen neuen Topf des Okkultismus – das ist eine überflüssige Lehnübersetzung von Mystizismus – so konnte die wissenschaftliche Anerkennung des Hypnotismus auch dem Spiritismus zugute kommen. Die Rechnung auf die Unklarheit der Menschen war nicht ganz falsch; die Okkultisten machten mit dem Hypnotismus gute Geschäfte und verkauften dabei gleich einige spiritistische Taschenspielereien. (Vgl. Art.  Okkultismus.)

Die immer noch schlecht beobachteten und noch schlechter erklärten hypnotischen Erscheinungen mögen zur Mystik und ihrer Ekstase manche Beziehung haben. Es wäre wünschenswert, daß man sich gewöhnte, die Ekstasen des Mystizismus ausschließlich der Psychologie zu überlassen; die hypnotischen Erscheinungen aber in der Physiologie zu behandeln. Vielleicht käme man auf diesem Wege wenigstens dazu, die Träger der Erscheinungen nach dem Geschlechte zu ordnen, weibliche und männliche Ekstase, weibliche und männliche Mystiker gesondert zu beschreiben. Es wäre überhaupt gut, wieder mehr Psychologie zu treiben, die Wissenschaft vom Menschen. In die Psychologie gehören alle Vorstellungen der Menschen, auch die Irrtümer, auch die Scheinbegriffe. In der Psychologie hätte hinter der Seelenwanderung, hinter den ewigen Höllenstrafen auch der Verkehr mit den Seelen der lieben Abgeschiedenen seinen Platz. Auch die pathologische Psychologie gehört zur Wissenschaft vom Menschen; und pathologische Völkerpsychologie ist ein gar großes Kapitel.

 

III.

Hilft kein glücklicher Zufall, so werden wir niemals den wahren Namen des Mannes erfahren, der – wie schon gesagt – die orientalische Mystik, leider nicht die tiefere der Inder, sondern nur die Emanationslehre des Neuplatonismus, dem christlichen Abendlande zuführte. Er nannte sich selbst Dionysios Areopagita, nach einem Zeitgenossen der Apostel; er war ein »Betrüger«, wie man das jetzt nennt; er heißt jetzt der »falsche« Dionysios Areopagita. Die historische Forschung hat einen sehr hohen Grad der Wahrscheinlichkeit dafür erbracht, daß der Verfasser der Schriften, die etwa seit dem Jahre 500 als die des Dionysios Areopagita zitiert werden, selbst erst im 5. Jahrhundert gelebt hat, also nicht der Dionysios Areopagita der Apostelgeschichte (17, 34) gewesen sein kann. Die Echtheit dieser Schriften wurde bereits im 6. Jahrhundert von einem Metropoliten bestritten, dann beinahe tausend Jahre später mit bessern Gründen von dem tapfern und gelehrten Humanisten Laurentius Valla. Ob der Verfasser jener Schriften den Namen des biblischen Dionysios zum Zwecke einer Fälschung angenommen hatte oder nicht, darüber wird wohl niemals etwas Sicheres auszumachen sein; und es ist wohl auch gleichgültig für den Verlauf der Geschichte. Wenn wir nun wüßten, er habe Cajus geheißen, so wäre gar nichts geändert. Man war übrigens vor anderthalb Jahrtausenden bei Herausgabe von Schriften nicht so polizeilich ängstlich wie heute. Auch die Bibel enthält solche Fälschungen, und hat dennoch das Christentum in die Welt gesetzt. Der falsche Dionysios hatte mit seiner Fälschung die Absicht, das wahre Christentum wieder in die Welt zu setzen. Die Schöpfung einer Gemeinde, die durch anderthalb Jahrtausende bis in unsre Tage herüberreicht, ist ihm gelungen: er ist der Schöpfer der christlichen Mystik.

Raoul Richter hätte ihn unter die Rubrik des partiellen Skeptizismus einreihen müssen. Er kommt von der griechischen Spätphilosophie her und zweifelt darum an der handgreiflichen Wahrheit der christlichen Dogmen. Die Wahrheit ist nur in einer Geheim-Religion möglich; in Rätseln für die Unkundigen. Denn es gibt kein Wissen von Gott. Im Nichtwissen müssen wir untertauchen, wenn wir uns dem Geheimnis nahen wollen, dem Schweigen Gottes. Etwas bombastisch wird dieses Schweigen ausgedrückt. Gott ist das Übervollkommene, das Überunaussprechliche, das Überunerkennbare. Mit dem Denken, mit der Sprache kann man nicht an ihn heran; am ehesten noch durch Beraubungen, d. h. durch Verneinungen. »Er führt es als eine Vorschrift der geheimen Überlieferung an« (ihm von einem Engel anvertraut), »daß die Verneinungen von Gott wahr, die Bejahungen unpassend sind, und schließt daraus, daß es besser sei, Gott durch unähnliche Bilder darzustellen, als durch ähnliche, welche nur zu Täuschungen Veranlassung gäben.« (Ritter VI. 515 f.; man kann dem alten Ritter, wo Philologie nicht mitzusprechen hat, immer noch folgen.) Zur Gemeinsamkeit mit Gott führt darum besser der Weg der Liebe als der Weg des Erkennens. Ekstatisch ist die Gottesliebe, μαθων και παθων. Alle diese Vorstellungen gehen auf die Emanationslehre der Neu-Platoniker zurück; wegen seiner Überfülle muß Gott überfließen. Just aber diese Emanationslehre, die es unmöglich machen soll, sich unmittelbar, ohne Vermittlung der himmlischen Hierarchie, mit Gott zu verbinden, haben die späteren großen Schüler des Pseudo-Dionysios preisgegeben; just seine Inbrunst, die die ἐκστασις fast wie eine fleischliche Vermischung erscheinen lassen kann, ist geblieben. Das Meßopfer ist in diesem Sinne urälteste Mystik; es ist lockend und nicht unrichtig, diese Art der »Einswerdung mit Gott« unter den weiten Begriff des Schamanismus zu bringen, der in Sibirien, in Afrika und bei den Indianern Amerikas unter Verzückungen und Zuckungen etwas Ähnliches wie die Transsubstantiation und das »Opfer« ausführen läßt. Mir ist es hier aber nicht um die Mystik in den Religionen zu tun; nur um die philosophische Mystik, die das Unaussprechliche aussprechen will, und freilich leicht verführt zu Symbolen zu greifen, die der Kultus ihr bietet. Seine Schüler werden Ketzer; der Verfasser des Pseudo-Dionysios war beinahe ein Heide, ein Skeptiker, der vom Christentum äußerlich nur ein paar Formeln und Gebräuche bestehen ließ, innerlich aber dem Christentume wiedergab, was im Niedergang der Patristik abhanden zu kommen schien: die Mystik.

Neubelebt wurde dieses mystische Christentum um die Mitte des 9. Jahrhunderts durch Johannes Scotus Erigena, der sich jetzt Eriugena schreiben soll. Er verstand griechisch, fast schon selbst eine Ketzerei in jener Zeit; er übersetzte den falschen Dionysios ins Lateinische. Er paßte den Wortlaut der Bibel ganz frei seiner mystischen Vorstellung an; in gutem Glauben: denn damals war das Christentum noch so lebendig, so flüssig, daß die Lehre gar nicht sehr auffiel, die heiligen Schriftsteller hätten sich der Denkweise und der Sprache des Volkes angepaßt, sehr viel sei nur figürlich zu verstehen. Als Spinoza 800 Jahre später dasselbe behauptete, war es anders gemeint, war es der Beginn der Bibelkritik. Erigena läßt sich beinahe herab, da er die alten Wortbilder der Bibel, sowie die Formen der Kirche beibehält. Sehr merkwürdig, und historisch nicht erklärt, ist bei ihm eine Übereinstimmung mit der Ontologie der Inder: eine vierte Natur, die unerschaffen nicht schafft. Schwer verständlich bei den Indern, unklar, widerspruchsvoll, eigentlich unverständlich ist diese logische Konstruktion bei Erigena. Er war in all seinem Ringen nach Freiheit doch Theologe, gelehrt, und seine Mystik oft bis zur Nüchternheit verwässert.

Wieder regte sich christliche Mystik bei den sog. Victorinern, den Herren aus dem Kloster St. Victor. Im 12. Jahrhundert. Hugo von St. Victor geht aufs Neue von Dionysios Areopagita aus. Gott, den auch die heidnische Vernunft als einen Schöpfer erkannt hatte, wenn auch noch nicht als den Erlöser, Gott ist an seine eigenen Symbole nicht gebunden. Illo namque spiritu, quo docet hominem sine verbo, justificare etiam valet, si voluerit, sine sacramento. Dieser allerfreieste Gott kann im Grunde vom Menschen gar nicht in Worten vorgestellt werden; denn alle unsre Begriffe beziehen sich auf einen Gegenstand, Gott aber ist ohne mögliche Beziehung. Für die Anschauung Gottes haben wir ein andres Organ als die Vernunft: das dritte Auge. (Das Bild von den drei Augen habe ich schon irgendwo bei Augustinus gefunden.) Das erste Auge ist das des Fleisches; es sieht die sinnlichen Dinge. Das zweite Auge ist das der Vernunft; es erkennt die Seele und die Inhalte der Seele. Das dritte Auge allein vermag Gott anzuschauen. (Alium rursum oculum acceperat, quo intra se Deum videret et quae in Deo erant, et hic est oculus contemplationis.) Ich wäre fast versucht, meine drei Welten, die adjektivische, die verbale und die substantivische an diese drei Augen und so an Augustinus anzuknüpfen. Und an die drei Stufen der Erkenntnis, von denen Spinoza redet. (Vgl. Art.  Spinozas Deus.)

Auch die Mystik Hugos (und seines Nachfolgers Richard von St. Victor) ist arg verwässert. Doch hie und da vernehmen wir starke ketzerische Töne. Gott hat die Welt um des Menschen willen geschaffen, den Menschen aber um Gottes willen. Nicht Gott wird mit uns versöhnt; wir werden mit Gott versöhnt. Hugo findet Mystik in seiner Seele, eine Gottesliebe, die wirklich wie ketzerisch von der dogmatisch gebotenen Gottesfurcht absticht (Jesus liebe, wie etwa beim hl. Bernhard, findet sich in den Zeiten der großen dogmatischen Kämpfe noch nicht); dieses Gefühl psychologisch zu untersuchen bemüht er sich mit völlig untauglichen Mitteln; über die drei Augen, drei Seelenstufen kommt er nicht heraus: cogitatio, meditatio und contemplatio heißen sie oft, unklar und sehr theologisch. Aber Gott zu kontemplieren ist uns schon auf Erden gegeben, wir müssen nicht erst auf den Himmel warten; wir können Gott berühren, schmecken, genießen. Liebe ist besser, ist mehr als Erkenntnis.

An dieser Stelle habe ich noch, um alle Quellen zu nennen, aus denen Meister Eckhart schöpfen konnte, den arabischen Sufismus zu erwähnen. Wenigstens einen Vertreter dieses arabischen Mystizismus: El Gazali (Algazel). Er begann seine Lehrtätigkeit zu Bagdad, in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Die Ähnlichkeiten mit christlicher Mystik springen in die Augen. Die Vereinigung mit Gott hat ihr Vorbild in der irdischen Liebe, die doch auch zum Selbstvergessen führt. (Man beachte, daß die antike Welt einen solchen Eros nicht kannte, daß eben jetzt erst der Liebesüberschwang und die Marienverehrung aufkam.) Das ist der status supremus: perfectio tunc conspicitur, cum adeo absorbetur, ut sui ipsius eum lateat absorptio. Die höchste Entzückung der Gottesanschauung ist unaussprechlich, ist völlige Verschluckung der Seele in Gott. Auch El Gazali ist, vom Standpunkte des Islam betrachtet, ein Ketzer; sein Mystizismus ist skeptisch, skeptisch gegen die arabischen Aristoteliker, aber auch gegen die Motakallimun, die Lehrer, die dogmatisch waren in Religion und in Philosophie. Eine Reformation des Islam, wie sie El Gazali wohl plante, ist aus seinem Streben nicht hervorgegangen.

Ebensowenig als aus der geistigen Kraft unsres edelsten Mystikers, des Meisters Eckhart, eine neue deutsche Kirche hervorgegangen ist. Ich möchte gern den Traum träumen, daß nicht nur gemütvolle Prediger wie Tauler und Suso, daß auch ein Staatsmann wie Luther, ein gelehrter Organisator wie Melanchthon unter den Schülern Eckharts gewesen und ihm treu geblieben wären, daß sie seine reinen und hohen Gedanken auf Erden verwirklicht hätten. Eitle Träume!

Wer Meister Eckharts Mystik glücklich erleben will, wie man einen Sonnenaufgang erlebt, der lese seine Schriften entweder in der guten Pfeifferschen Ausgabe (sie ist nicht mehr musterhaft für Philologen, aber sie ist die beste, weil die einzige) oder in der freien und feinen »in unsre Sprache übertragenen« Auswahl von Gustav Landauer. Ich wage es nicht, einen objektiven Auszug von Eckharts Mystik zu versuchen; ich würde der Gefahr unterliegen, zuviel Modernes in ihn hineinzulegen; ich liebe ihn zu sehr. Ich würde Kant in ihm finden (»Ein jeglich empfänglich Ding wird empfangen und gefasset in seinem Empfangenden nach der Weise des Empfangenden; auch ein jeglich merklich Ding wird gemerket [wahrgenommen] und verstanden [begriffen] nach dem Vermögen des, der es versteht, und nicht nach dem, als es merklich ist an sich selber«, Pf. 484) und die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien (»Ich kann kein Ding ersehen, es wäre mir denn gleich; ich vermag auch kein Ding zu erkennen, es wäre mir denn gleich. Gott hat alle Dinge verborgenlich in ihm selber, aber nicht dies noch das nach Unterscheid, sondern Eins nach der Einigkeit. Das Auge hat auch Farbe in sich, das Auge empfängt die Farbe und das Ohr nicht. Das Ohr empfängt das Gedoehne, die Zunge den Geschmack. Dies hat es alles, mit dem es Eins ist.« Pf. 333); ich würde Schopenhauer in ihm finden. (»Wäre ein Ding über tausend Meilen, und ich will es haben, so habe ich's eigentlicher, denn das ich in meinem Schoß habe, und dessen ich nichts haben will … Wollen tun, sobald ich mag, und haben getan, das ist vor Gott gleich … Stätte der Liebe ist allein in dem Willen. Wer mehr Willen hat, der hat auch der Liebe mehr,« 552 f., ferner das »Aufgeben alles Willens« 555) und besonders überall, auf jeder Seite Predigt des Schweigens, Sprachkritik. Seine sogenannten apophatischen Äußerungen über das Wesen der Erkenntnis und Gottes sind nicht zu zählen. Gott ist Unbekanntheit, Verborgenheit, Stillheit, eine Wüste; wer etwas wirklich erkennen will, muß sich ledig machen von allen Gedanken, Worten und Werken; das Mittel ist Schweigen; »darum ist der Seele kein Ding so unbekannt wie sie sich selbst.«

Die außerordentliche, unmittelbare (nicht bloß historische und gelehrte) Wirkung des Meister Eckhart ist im Grunde rätselhaft. Es ist ja nicht wahr, was man früher geglaubt hat, daß er als Gegner der Scholastik uns so erfreulich ist. Eckhart hatte die ganze gelehrte Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen, berief sich in Glaubensdingen auf Thomas und wäre im Grunde also auch dann nebenbei ein Scholastiker, wenn er nicht scholastische Schriften in lateinischer Schulsprache geschrieben hätte. Als Lehrer an der Pariser Hochschule konnte er gar nicht anders als scholastisch vortragen. Und auch seine Mystik, die starke andre Seite seines Denkens, hat ihre Tradition; wir haben diese Tradition eben kennen gelernt; Eckhart holte sich seine mystischen Vorstellungen und Bilder aus Augustinus; dann aus den Arabern, aus Dionysios, auch aus Erigena, aus der ganzen fortlebenden theologia mystica.

Ein Eigener ist er also weder in Philosophie, noch in Theologie; ein Eigener ist er, und ist er uns, nur durch seine Sprache.

Gelehrte Forschung hat neuerdings die Hypothese aufzustellen versucht: Eckhart, der Lateinschreiber, habe vielleicht die deutschen Predigten und Traktate, die wir lieben, gar nicht selbst geschrieben; uns liege nur die deutsche Übersetzung eines Anonymus vor. Welche Torheit! Dann wäre ja der Unbekannte unser Eckhart.

Es handelt sich nämlich bei dem Zauber von Eckharts Schriften gerade nur um die unerhörte Kraft der Übersetzungssprache. Die Gedanken, wie gesagt, entnimmt er ältern »Meistern« und großen und kleinen »Pfaffen« (auch Platon heißt einmal »der große Pfaffe«); die unsäglich schweren, ja buchstäblich unsäglichen Gedanken oder Ahnungen der Mystik. Die klingen im griechischen Urtext und in der lateinischen Übersetzung oft verwunderlich, muten uns wie Geheimnisse an; es sind aber Geheimnisse der Schulsprache. Jedes zweite Wort ist ein terminus technicus. Eckhart geht nun daran, diese schwierigsten Geheimnisse in der lieben Muttersprache vorzutragen, vor einfachen Menschen, vor den Nonnen, denen der Dominikanermönch zu predigen hatte. Warum auch nicht? Hatte man doch auch das Vaterunser, das Credo und die Kategorien des Aristoteles in die liebe Muttersprache übersetzt! Ob wohl Eckhart sich des Unterschiedes je bewußt geworden ist? Bei der Übersetzung der Glaubenslehre, der Logik und des Gebets hatte es sich um Vermittelung eines Inhalts gehandelt, der wohl oder übel verstanden wurde, wenn Silbe für Silbe des lateinischen Textes mit deutschen Wortteilen wiedergegeben war. Das genügte aber nicht, wenn mystische Sätze wiedergegeben werden sollten. Die waren ja schon fast tot in der fremden toten Sprache. Die Übersetzung, die sonst so leicht tötet, mußte hier beleben, auferstehen machen. Ein Wunder mußte geschehen, ein sprachliches Wunder.

Und das Wunder geschah. Meister Eckhart verstand die mystischen Sätze, da er wie durch Eingebung das deutsche Kleidhaus für sie fand, besser als er sie vorher verstanden hatte. Alle die abgegriffenen und abgeschliffenen termini technici kamen wie aus einem Jungbrunnen heraus, als sie – ganz schlicht und wörtlich oft, oft freilich bewunderungswürdig schlagkräftig – deutsch eingekleidet worden waren. Das waren nicht mehr die alten Termini; kein Staub, kein Rost; unmittelbar, bildhaft, gegenständlich war ihr Sinn zu fassen. Wahrhaftig, einzig Eckhart hätte verdient, der philosophus Teutonicus zu heißen, nicht der interessante Schuster und unerträgliche Schwätzer Jacob Böhme.

Es möchte einer noch skeptischer sein wollen als ich und einwerfen: das alles legst du in deinen Meister Eckhart nur hinein und liebst ihn, weil zufällig wieder die Sehnsuchtszeit da ist, weil die Sprache Eckhart's zufällig an der Grenze steht, wo die Altertümlichkeit noch ästhetisch berührt, ohne das Verständnis zu erschweren; Notker ist dir zu alt, Böhme ist dir zu neu; Meister Eckhart ist ein Übersetzer wie andere auch und hat sich gar nicht so viel Modernes, so viel Bleibendes dabei gedacht. Aber nein und abernein! Die Zufälligkeiten gebe ich ja alle zu, der Skeptiker hat diese Waffe von mir. Doch darüber hinaus ist Eckhart das Genie der Mystik; zugleich Verächter des Worts und Künstler des Worts; niemals Diener am Wort. Er hat auch das Selbstbewußtsein des Genies; er rechnet sich einmal selbst (S. 286, ein bißchen Ironie der Stelle stört mich nicht) zu den »großen Pfaffen«.

Eckhart hat »bewußt und groß« die Möglichkeit erst geschaffen, philosophische Gedanken in deutscher Sprache auszudrücken. Er ist der Magister Germaniae. Was Eucken (Gesch. d. philos. Terminologie) und Kramm (Zeitschr. f. deutsch. Philol. XVI.) von ihm rühmen, ist noch nicht Rühmens genug. Seine Übersetzungen sind Wiedergeburten. Ich will einige wenige Beispiele hersetzen.

Aristoteles redet von ὀρεξις, dem Streben; die Scholastik übersetzt genau: appetitus, unterscheidet zwischen dem app. sensitivus, und rationalis; Eckhart übersetzt ganz anders: gērunge und der tote Terminus lebt wieder auf. Ebenso ist betrachtunge lebendiger als consideratio.

Ratio wird durch redelichkeit wiedergegeben; leider haben wir dieses köstliche Wort nicht mehr im Sinne von »fähigkeit zu reden, zu urteilen, zu schließen, zu denken.« Die ganze Sprachkritik steckt in dieser Wortprägung; nach reden heißt: nach menschlichem Begreifen, begrifflich. Der Prediger des Schweigens beklagt, daß die Jünger, als sie den heiligen Geist empfingen, nicht in ihrer redelichkeit verblieben. Reden kommt den drei Personen der Gottheit zu, der pantheistischen (Eckhart hat dieses Wort nicht nötig) Gottheit selber das unreden. Sprachlos ist die Gottheit. »Gott ist unnamelich und über alle Worte in Lauterkeit seines Wesens, da Gott weder Rede noch Wort haben kann, da er unsprechlich ist allen Kreaturen.« (S. 162.)

Aus κρινειν , κριτης wurde das lat. judicium; die Ramisten erst brachten das lateinische Wort in logischer Bedeutung auf; wir übersetzten es sklavisch durch Urteil; Eckhart sagt dafür bescheidenheit (von scheiden) und es ist kein Zufall, daß gerade dieses Wort für hochmütige Klugheit so demütig geworden ist.

Transzendenz wird zu obenheit, oder auch zu überslac. Selbst indruk oder influz für impressio, influxus, so buchstäblich die Übersetzungen sind, bringen einen Gewinn.

Ein Wort von welthistorischer Bedeutung ist Idee, εἰδος; Eckhart sagt bilde, vorgēndiu bilde, formt entbilden, überbilden, widerbilden und macht damit die Formlehre der Scholastik fast sinnfällig.

Wir wissen noch heute nicht, was Substanz ist; Eckhart wußte es auch nicht, mühte sich aber tapfer mit Übersetzungsversuchen: fürwurf (objectum), gegenwurf, widerwurf, understoz, grundveste. Freilich, die unentwirrbare Verwechselung von Subjekt und Objekt, die bekanntlich seitdem ihren Sinn geradezu vertauscht haben, kann auch Eckhart nicht entwirren; aber understoz, zugleich für Substanz und für Subjekt (damals allgemein verwirrt), scheint mir prachtvoll gebildet.

Wesen lebt noch in Urkraft bei Eckhart; entwesen heißt aufhören (»eine Eh ist ohne Entwesen zwischen Frauen und Mann« S. 100); er findet für bekannte Vorstellungen des Dionysios das neue Wort überwesenlich. Das berühmte το τι ἠν εἰναι wagt er durch istikeit wiederzugeben.

Causa gibt Eckhart wörtlich, viel wörtlicher als er selbst wissen konnte, durch sache wieder; berliche sache =  causa efficiens; auch ursache kommt schon vor; aber unser Grund heißt noch nicht Erkenntnisgrund, grunt ist ihm noch der tiefe Urgrund einer Sache. Hört niemand aus unsrer noch üblichen Redensart Grund und Ursache Eckharts Unterscheidung heraus?

Und auch für den psychologischen Zustand der Mystik selbst hat Eckhart (für ἐκστασις) das malende deutsche Wort geprägt. Das griechische Wort hatte natürlich einen schlichten, bürgerlichen Sinn gehabt: die Entfernung, amotio oder emotio (wo wir unser internationales Emotion herhaben, ist ganz genau gar noch nicht aufgeklärt); auch die amotio mentis konnte es bedeuten, die Verrückung des Geistes oder Verrücktheit; oder auch die Ausartung. Schon im Neuen Testament ist aber ἐκστασις zu finden, nicht ganz als terminus technicus, aber doch als häufige Bezeichnung des Zustandes der Entzückung. Die Vorstellung der uralten Welt, daß die Seele da vorübergehend dem Körper entrückt werde, spielte gewiß mit. (Man vergleiche besonders II. Kor. 12, 2 und 3; Paulus rühmt sich, in den dritten Himmel und ins Paradies entrückt worden zu sein, er sagt zweimal ἀρπαζειν und will nicht genau wissen, ob das Wunder ἐκτος του σωματος geschehen sei.) Augustinus kennt den Zustand dieser alienatio, er, der auch in der mystischen Gnadenlehre der Schüler von Paulus gewesen ist. Das Christentum, das ja Mystik ist in seinem Besten und es hätte bleiben sollen zu seinem Besten, ist voll von ekstatischen Männern und Frauen, von seinem Stifter (den man mit Unrecht von dem Vorwurfe reinigen wollte, ein Ekstatiker gewesen zu sein) bis auf den heutigen Tag. Schlimm genug für den Protestantismus, daß Luther und Melanchthon, die Politiker, keinen Sinn hatten für den Enthusiasmus (in-Gott-sein), die Exzesse ( excessus = ἐκστασις) der Schwarmgeister ( schwärmerisch seither =  ekstatisch). Ekstase ist so christlich, daß ein rechter Christ ohne Ekstase nicht ganz Christ ist. Und dieser Begriff ist erst von dem falschen Dionysios zum Terminus gemacht worden; von Gott selbst wagt Dionysios zu sagen, daß er in seiner Alliebe ἐξω ἑαυτου γινεται. Auch diesen Terminus der mönchischen und nönnischen Kontemplation hat Eckhart durch einfache Übersetzung neu belebt; wir haben seitdem die beliebten Worte Entzücken und Verzückung.

Eckhart sagt (S. 553) und ich lasse die Worte ganz unverändert: Als ich mê (sonst, oft) gesprochen hân, wêre der mensche alsô in einem inzucke als sanctus Paulus was und weste einen siechen menschen, der eins suppelins von ime bedörfte, ich ahte verre bezzer, daz du liezest von minne von dem zucke unde diendest dem dürftigen in mêrre minne. Niht ensol der mensche wênen, daz er gnâden in disem sülle beroubet werden.«

Noch einmal: wir können Luthers Abkehr von der Mystik bedauern, diese Abkehr zu leugnen wäre aber eine ebenso grob historische Fälschung wie der Versuch protestantischer Gelehrter (auch Ritschl's), jeden Einfluß der Mystik auf Luthers Tat zu leugnen. Luther war durch seinen Lehrer Staupitz in den Gedankengang der deutschen Mystiker eingeführt worden und hatte dann noch vor 1517 die Deutsche Theologie herausgegeben und mit einer Vorrede versehen; in dieser Vorrede stellt er sich völlig auf den Boden der deutschen Mystik, nennt die deutschen Theologen die besten Theologen und sagt wörtlich: »Und daß ich noch meinen alten Narren rühme, ist mir nächst der Biblien und St. Augustin nicht vorkommen ein Buch, daraus ich mehr erlernet hab und (noch lernen) will, was Gott, Christus, Mensch und alle Dinge sein, und befinde nun allererst, daß wahr sei, daß etliche Hochgelehrten von uns Wittenbergischen Theologen schimpflich reden, als wollten wir neue Dinge vornehmen, gleich als wären nicht vorhin und anderswo auch Leute gewesen. Ja freilich sein sie gewesen, aber Gottes Zorn, durch unsere Sünde verwirkt, hat uns nicht lassen würdig sein, dieselben zu sehen oder hören.« Als Luther wenige Jahre später, im vollen Gefühle seiner Macht und seiner Verantwortung, die Wartburg verließ, war er ein Staatsmann geworden, ein Realpolitiker, der sich den Aufbau einer neuen Kirche zur Aufgabe gesetzt hatte, zur Aufgabe setzen mußte, wenn er den Kampf durchführen wollte. Wer kann sagen, ob er mit gutem oder mit schlechtem Gewissen die rebellischen Bauern nicht nur, sondern auch die mit Mystik verwandten Lehren des begeisterten Karlstadt bekämpfte? Seine Schrift »Wider die himmlischen Propheten« ist lustiger zu lesen als das Gesprächbüchlein Karlstadts, gegen das sie zunächst gerichtet ist; aber Luther mußte da seine eigene Jugend verleugnen, um gegen den Radikalismus Karlstadts wie gegen dessen brünstige Gottesliebe Recht zu behalten. Karlstadt mache aus dem Meßopfer eine menschliche, fleischliche Andacht und ein brünstig hitzig Werk im Herzen; Luther antwortet: »Wenn ich das Gedächtnis Christi mit solcher Brunst und Ernst übete, daß ich Blut schwitzte, und darüber verbrennete, wäre es alles nichts und ganz verloren.« Das Wort, das Wort, das Wort tue es; mit Geist, Geist, Geist sperre der Teufel dem Karlstadt das Maul auf (§§ 12, 173, 184, 185).

 

IV.

Wie lösen wir diesen Widerspruch? Daß Atheisten des 20. Jahrhunderts den frömmsten Christen aus dem 14. Jahrhundert zu ihrem Lehrer wählen? Ich denke nicht an die Mitläufer, die eine Mode mitmachen; ich denke an ernste, klare Menschen, die den Widerspruch fühlen und ihn dennoch nicht lösen können.

Widerspruch ist immer nur in der Sprache, und ich werde nur Worte für seine Lösung haben; möchten es nur möglichst ehrliche Worte sein.

Der Geist der Zeit wirkt mit, dem sich niemand entziehen kann: der Historismus. Wir wissen zu viel und haben zu sehr gelernt, uns in jede ferne und starke Zeit hineinversetzen zu können; wir glauben ohne Widerspruch zu verstehen, d. h. die Seelensituation mitzuerleben: von Buddha und Sokrates zugleich, von Kopernikus und Robespierre, von Luther und Napoleon. Warum nicht auch die Seelensituation von Franziskus und Eckhart? Aber dieser Historismus könnte es nicht erklären, daß unter allen gerade der allerchristlichste Meister Eckhart zum Liebling eines unchristlichen Geschlechts geworden ist.

Die Freude an der Kunstform wirkt mit. Gewiß. Die Bilderpracht der Psalmen, die Gewalt des Dies irae, die Grazie der platonischen Dialoge, alles verblaßt vor der innigen Größe von Meister Eckharts Sprache. Aber unser Entzücken ist nicht bloße Kunstfreude. Wenn wir bei Dante den Hymnus des San Bernardo an die Vergine Madre genießen, wenn wir mit Hochgefühlen den Anblick des Straßburger Münsters, der Assunta von Tizian, die Töne von Bachs Pfingstkantate erleben, so trennen wir doch – nachher wenigstens – die Form vom Stoffe und sagen uns vielleicht, daß wir gerade dem bösen Historismus doch das Glück verdanken, solche Kunst zu genießen, durch die Form, deren Stoff wir ungeformt ablehnen würden. Bei Meister Eckhart aber lehnen wir nichts ab, nichts, nicht den Gott, nicht die Einswerdung mit Gott, nicht die Überfahrt zu Gott, nicht Gottes Deutung ins Nichtesnicht. Wir haben den Gottesbegriff aus unserm Wörterbuch gestrichen und lesen, ja beten fast andächtig Worte der inbrünstigsten Gottesliebe.

Ein wenig aus dem Widerspruch heraus führt wieder die Trennung der adjektivischen Welt von der verbalen und von der substantivischen. Lassen wir die Toten ihre Toten begraben, die Substantive ihre Substantive. Was liegt an der Grammatik! Es gibt in der Welt der Wirklichkeiten keine Dreieckigkeit, aber darum bleibt der pythagoreische Lehrsatz dennoch wahr. Es gibt keine Bosheit und keine Güte; aber es gibt in unsrem Erleben böse und gute Menschen, es gibt in unsrem Erleben sogar Handlungen, die wir als gut oder als böse bewerten. Es gibt kein Recht, es gibt aber ein Gefühl dessen, was recht ist. Es gibt keinen Gott; aber es gibt gute, gottvolle, göttliche Mystiker.

So komme auch ich nicht aus ohne die alten Worte: Gott und Religion?

Ich will es versuchen, wieder einmal das Unsagbare zu sagen, mit armen Worten auszusprechen, was ich etwa frommen Ungläubigen zu geben habe an nominalistischer Mystik, an skeptischer Mystik. Eindringen in die Psychologie der theologischen Mystik muß – so meine ich – zu solcher Kontemplation führen, über cogitatio und meditatio hinweg. Wir drücken es anders aus, wir meinen es ebenso, wie man's vor 600 Jahren meinte.

Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben dem Gott. Pantheismus hat man diese Überzeugung genannt, pedantisch auch wohl (um den persönlichen Gott scheinbar zu retten): Panentheismus. Warum nicht? Es sind ja nur Worte. In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, daß es Gott geworden ist. Angelus Silesius und Eckharts Beichtkind Kathrei haben das empfunden. Warum nicht? Soll ich um Worte streiten?

Seit zehn Jahren lehre ich: das Ichgefühl ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen andern Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich binnen Eins. Sind das bloß philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloß Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom principium individuationis, daß der Unterscheid aufhört zwischen der Welt und mir. »Daß ich Gott geworden bin.« Warum nicht?

Freilich, die oberste Tugend aller bessern Religionen und Morallehren hält nicht stand in solchen Stunden der Ekstase. Was ist denn noch Güte für einen Menschen, der nichts mehr weiß vom principium individuationis? Güte ist Aufgeben der eigenen Individualität, ist aber Anerkennung der fremden. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Nicht mehr. Habe ich mein eigenes Selbst nicht mehr, dann hat es auch mein Nächster nicht. Wer noch gut ist, ist noch nicht frei. In den heiligen Stunden der Ekstase ist man nicht gut. Güte ist nicht möglich ohne Unterscheid.

Mitleid? Ja. Wenn wir unter leiden das verstehen, was es ursprünglich hieß; passiv erleben, ohne Schmerz miterleben. Alle Kreatur erlebt die Eine Welt. Jeder einzelne erlebt sie mit, miterleidet sie. Nimmt sie wahr, soviel seine Wimper hält: der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Regentropfen. Wir wollen mitleidig sein, wie die Blumen und der Regentropfen mitleiden. Das Mitleiden ist die Freude der Blume und des Regentropfens.

Hast du solche Stunden der Ekstase niemals gehabt? Ärmster! Dann hast du die Freude nicht gekannt.

Du liegst an einem stillen Sommertag im hohen Grase. Tief unten fließt der Ganges oder der Rhein. Neben dir nur noch dein Hund, dem du den Kopf kraust, der dir die Hand leckt. Spielst du mit ihm? Spielt er mit dir? Der Unterscheid ist aufgehoben. Und alle andern Unterscheide.

Der Unterscheid des Geschlechts. Weil du alt geworden bist? Einerlei. Vielleicht ist darum Mystik, das Aufhören alles Unterscheids, die Weisheit der Greise. Das Motiv der Liebe hat seine Kraft verloren. Und legt sich still ins Grab neben das Motiv der Güte.

Der Unterscheid von Mein und Dein. Du willst ja nichts, gar nichts. Du bist ja froh. Und das Motiv des Hungers hat seine abscheuliche Kraft verloren, für die kurze Stunde der Ekstase. Du denkst gar nicht daran, den Hasen drüben zu schießen, dem Baume da seine Frucht zu nehmen. Du lachst. Tausendfältig um dich kriechen und schwirren Würmer und Insekten, im Banne der Liebe und des Hungers. Spinnen und Fliegen. Sie wissen's nicht besser. Da! Wieder ein Käfer. Verliebt und hungrig. Armesle! Und du weißt nicht, du ekstatischer Mensch, selbst Armesle, daß du unaufhörlich, regelmäßig den Sauerstoff der Luft einsaugst, der doch auch leben wollte, der sich doch auch für Einen hielt. Armer Sauerstoff! Weil er so dumm ist, sich für Einen zu halten.

Der Unterscheid der Menschen hört auf, der schwerste Unterscheid, und mit ihm verliert das Motiv der Eitelkeit seine Kraft. Du hast es nie für möglich gehalten, jetzt aber, in dieser heiligen kurzen Stunde, hast du es erfahren: die Menschen können dir nicht mehr wehe tun, weil du sie auf einmal so ansiehst, als wären sie Tiere, oder Pflanzen, oder Regentropfen. Oder die Wellen des Stromes da unten, des Ganges oder des Rheins. Der Hund kann dich beißen, der Baum kann dich im Sturze erschlagen, die Wellen können dich hinunterziehen. Aber weh tun kann dir niemand und nichts, seitdem die Motive der Liebe, des Hungers, der Eitelkeit schweigen. Was kümmert es den Mond, wenn ihn der Hund anbellt? Was kümmert es dich, wenn die Tiermenschen, die Pflanzenmenschen, die Wellenmenschen vor dir etwas bellen oder rauschen? Die Armen! Jedes von ihnen glaubt noch, es wäre Eins. Jawohl. Solange, bis auch über die andern deine Stunde kommt und aller, aller Unterscheid aufhört. Wie er jetzt aufgehört hat zwischen dir und der Sonne. Gelt? Schwester Sonne, Messer lo frate Sol, wir gehören zusammen? Wer Liebe, Hunger und Eitelkeit nicht mehr kennt, der ist Sonne, Gott, Grashalm.

Habe ich dir nicht einmal noch von andern Motiven menschlichen Lebens gesprochen als von diesen drei argen? Nicht vom Wissensdurst und von dem Ruhebedürfnis, der Todessehnsucht? Schweigen jetzt auch die, in der seligen kurzen Stunde der Ekstase?

Sie schweigen beide. Sie werden geschweigt. Du willst ja nichts, gar nichts, nicht einmal wissen willst du mehr. Weil du erfahren hast, daß auch der Unterscheid zwischen dem Wissenden und dem Wißbaren vergangen ist mit dem Unterscheide zwischen dir und der Welt. Du hast erfahren, daß du nicht zum Wissen eingerichtet bist, die Welt nicht zum Gewußtwerden. Ist ja alles nur so ein bißchen Herumfahren, wie eine Raupe um ihr Blatt herumfährt. Du hast keinen Durst mehr nach dem bißchen Wissen, das andre Leute getrunken und wieder ausgespieen haben; du weißt, daß es ein Wissen der letzten, tiefsten Gründe nicht gibt. Dich dürstet nicht nach Pfütze.

Und gar das Ruhebedürfnis schweigt, weil du ruhig geworden bist, ganz ruhig, wohl gar tot. Du willst ja nichts. Und wie die doctissima ignorantia dein abgründiges Wissen ist, besser als das ausgespieene Wissen aller Weisen der Vorzeit, so ist deine Ruhe jetzt lebendiger als alle deine alte Vitalität, dein Tod jetzt lebendiger als all dein früheres Handeln.

Alle Motive des Lebens schweigen dir. Da. Noch nicht still? Mörder! Räuber! Jetzt erst bemerkst du es, daß du mit jedem Atemzuge Luft schluckest, um dich mit dem Sauerstoffe der Luft zu nähren, der doch so gerne selber leben und Einer sein möchte. Mörder! So willst du noch etwas. So hast du noch nicht getan nach deiner Erkenntnis. So bist du noch nicht ruhig. So bist du gar nicht einmal gut, du Mörder des Sauerstoffs.

Du tust nach deiner Erkenntnis. Du atmest nicht einmal mehr. Und du bist endlich eins geworden mit der Welt, welche einst Gott genannt worden ist, eins geworden mit dem Bruder Sol, der einst ein Gott genannt worden ist. Schön ist's. Tausend Farben, tausend Töne. Harmonie. Himmlische Heerscharen. Auch die Heiligen, die du für ein Märchen hieltest, fehlen nicht. Sie sammeln sich um dich und flüstern dir stumme Worte zu. An ihren geschwiegenen und schweigenden Worten errätst du, wie sie einst hießen im Scheine des Lebens. Çakhia Muni, der Buddha, flüstert mit dir, und Franziskus und Goethe und der Novalis und Meister Eckhart und ein Bauer lacht dazu und schreit: »Es kann dir nix g'schehn! Selbst die größt' Marter zählt nimmer, wann vorbei is! Ob d' jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegst, oder ob d' das vor dir noch viel tausendmal siehst – es kann dir nix g'schehn! Du g'hörst zu dem all'n, und dös all g'hört zu dir! Es kann dir nix g'schehn!«

Hätte er doch nicht so laut geschrien. Seine Menschenstimme legt sich wie ein Alp auf deine Brust. Luft! Du willst nicht, aber du mußt. Nur einen Atemzug. Mörder!

Unsinn. Das ist ja das Leben. Nehmen, was man braucht. Leben wollen. Vorüber ist die kurze Stunde heiliger Mystik. Du bist zurückgekehrt zum Scheine des Lebens, zu seinen Motiven, zu seinem Wissen.


Armesle.


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