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Mikrokosmus.

Es ist wohl überflüssig, besonders daran zu erinnern, daß der parvus mundus des Mittelalters und die kleine Welt, wie Goethe gelegentlich für das ihm ganz geläufige Mikrokosmus sagt, genaue Lehnübersetzungen des griechischen μικροκοσμος sind, das Boëthius mit homo est minor mundus übersetzt. Der Sinn war einst: alle wesentlichen Kräfte und Eigenschaften des Kosmos lassen sich auch im Menschen wiederfinden. Der Korrelatbegriff Makrokosmus ist ganz falsch gebildet; die Größe des Kosmos brauchte nicht erst besonders ausgedrückt zu werden; wollte man das Weltall mit dem menschlichen Organismus vergleichen, so mußte man es einen Menschen im Großen nennen, und Platon hat denn auch das Wort μακρανθρωπος geprägt oder doch gebraucht. Wobei es in sprachlicher Beziehung beachtenswert ist, daß dem Begriffspaare μικρος und μεγας, klein und groß, das andere Begriffspaar βραχυς und μακρος, kurz und lang, nicht ganz gleich ist, und daß den uns geläufigen Korrelatbegriffen Mikro- und Makrokosmus bei den Stoikern die ebenso ungenau ausgedrückten Korrelatbegriffe βραχυς κοσμος und μεγας ἀνθρωπος entsprachen; bei Mikro- und Makrokosmus mag ein Spiel mit Gleichklängen mitgewirkt haben; unerfindlich ist aber, warum die Stoiker das Gegensatzpaar durch kurz und groß so schlecht ausdrückten.

In der guten Monographie von Adolf Meyer »Wesen und Geschichte der Theorie vom Mikro- und Makrokosmos« (Berner Studien Band 25) mag man nachlesen, wie diese Vorstellung durch ziemlich alle dritthalb Jahrtausende der Philosophiegeschichte fast ohne Unterbrechung hindurchgeht; man wird leicht bemerken, daß in der ältesten Zeit und dann wieder an der Schwelle der Neuzeit Philosophen, die oft halbe Dichter waren, die Vorstellung, der Mensch wäre die Welt im Kleinen und die Welt wäre ein Mensch im Großen, ganz naiv als eine Wahrheit vortrugen, aus der man Schlüsse ziehen könnte, während die Mikrokosmiker der letzten Jahrzehnte immer wieder zu dem Bekenntnisse gezwungen sind: die Lehre von einem Mikro- und Makrokosmus sei ein bloßes Spiel mit Analogien, sei ein bloßes Bild, gewähre keine wissenschaftliche Einsicht. Nur daß weder die Mikrokosmiker des Menschen, die Fechner und Lotze, noch die Mikrokosmiker der Gesellschaft, die Spencer und Schäffle deutlich genug und konsequent genug die logische Regel beachten: aus Bildern, aus Metaphern lassen sich keine Schlüsse ziehen.

Wenn wir heute die beiden Worte Mikrokosmus und Makrokosmus als Korrelatbegriffe gebrauchen, so sündigen wir ein wenig gegen unser eigenes Bedürfnis der Klarheit. Sprechen wir von einem Mikrokosmus, so wollen wir sagen, daß der Mensch eine Welt im Kleinen sei; und da wir von dem Weltall mit wissenschaftlicher Genauigkeit nur einige mechanische Gesetze kennen, die wir von unserm Sonnensystem kühn genug auf das übrige Weltall ausgedehnt haben, so will die Vorstellung, der Mensch wäre eine Welt im Kleinen, eigentlich eine mechanistische Vorstellung sein; das Wort soll nur ein Wort der Sehnsucht sein, die Ordnung begreifen zu lernen, in welcher die Atome des Menschenleibes sich zu eben diesem Leibe fügen. Wenn wir jedoch von Makrokosmus sprechen (ich will von jetzt ab den strengeren Ausdruck Makranthropos usw. gebrauchen), so wollen wir eigentlich sagen, daß das Weltall ein Mensch im Großen sei; und weil wir beim Menschen, sobald wir ihn der übrigen Welt entgegenstellen, zunächst an sein psychisches Leben denken, so ist der Makranthropismus ein Wort der Sehnsucht, der Wunsch die Welt zu beseelen, die Bewegungen aller Gestirne, die chemischen, elektrischen und mechanischen Erscheinungen durch Panpsychismus zu erklären. Ist nun eine solche Unterscheidung selbst einem Fechner oder einem Spencer nicht klar vor Augen, so war daran vor dritthalb Jahrtausenden wahrlich noch weniger zu denken, als Anaximenes zuerst (was wir so in unserer Unkenntnis der Vorgeschichte zuerst nennen) den Gedanken aussprach, ein Windhauch – natürlich ist die anima gemeint, die ψυχη, wenn auch ἀηϱ gesagt wird – halte das Weltall zusammen, wie er uns zusammenhält; als Pythagoras oder seine Schule aus Ägypten die poetische Träumerei herüberholte, die Zahlenharmonie des Weltalls wäre in der menschlichen Seele wiederzufinden. Als die Bilder vom Mikrokosmos und vom Makranthropos noch so recht lebendig waren, da wußte man von der Welt und vom Menschen naturwissenschaftlich viel zu wenig, um zu erkennen, daß der Mikrokosmus eine mechanistische Erklärung des Menschen, der Makranthropos eine psychologische Erklärung des Kosmos war. Das Ruhebedürfnis der denkenden Menschen verglich die große und die kleine Welt als die äußere und die innere Welt, und konnte sich dabei so etwas wie eine erkenntnistheoretische Schwierigkeit wohl gar nicht vorstellen. Die Philosophie war noch mehr als heute Poesie, die Gedanken waren von Metaphern noch weniger zu unterscheiden.

In diesem Sinne scheint es mir müßig, untersuchen zu wollen, welcher von den beiden Korrelatbegriffen der ursprüngliche und welcher der abgeleitete sei; die Bezeichnungen selbst finden sich viel seltener als die Vorstellungen, besonders die Bezeichnung Makrokosmus überaus selten; dazu kommt wie immer, daß der Zufall über Erhaltung oder Vernichtung der alten Schriften entschieden hat. Von unserm heutigen Standpunkt aus können wir freilich sagen, daß die Neigung, den Kosmos durch Vergleichung mit dem Menschen zu erklären, also der Makranthropismus älter sein müsse, als die Neigung, den Menschen durch den Kosmos zu erklären, also als der Mikrokosmus; aber in alter Zeit wußten die Menschen – den einzigen Sokrates ausgenommen – noch weniger als heute, daß sie nichts wußten, und so mögen die beiden Vorstellungen wirr genug durcheinandergeflitzt sein. Stellen wir uns aber einmal entschieden auf den Boden unserer eigenen Welterkenntnis und unserer aufkeimenden Erkenntnistheorie, so müssen wir bestimmt sagen: der Makranthropismus ist nichts als eine poetische Phantasie, ist kein brauchbarer philosophischer Begriff, ist nichts weiter als wieder der alte menschliche Irrtum, der sich seine Vorstellung von der Natur nach dem Bilde des Menschen gestaltet; und der Mikrokosmus ist eine mechanische Umkehrung dieses Irrtums. Anthropomorphisch ist im Grunde alles Denken des Menschen, weil seine Sprache anthropomorphisch ist; und im Makranthropismus wird gar nicht irgend ein neuer Gedanke ausgesprochen, sondern nur der Grundfehler alles menschlichen Denkens in einem klingenden Worte zusammengefaßt, als ob der Fehler ein Vorzug wäre; es wird aus der Not eine Tugend gemacht. Die Dichter und Satiriker mögen das mystisch klingende Wort weiter verwenden, oder auch die viel verwendbare Vorstellung, wie Swift in seinem Gulliver, wie Voltaire in seinem Micromegas, wie Goethe gelegentlich in seinem Faust; die Philosophen sollten sich vor dem Worte hüten. Die Philosophen haben die Erkenntnis durch den Anthropomorphismus immer nur dann gefördert, wenn sie das Anthropomorphische der Erkenntnis durchschauten, wie die Sophisten Protagoras und Gorgias, welche doch auch eine Art von Makranthropismus lehrten, aber nur kritisch, ironisch, skeptisch.

Die Sophisten, die durch ihren Satz, »der Mensch sei das Maß aller Dinge,« den durchgehenden Anthropomorphismus alles Menschenwissens aufgedeckt hatten, waren dem Wortaberglauben des Altertums ebenso verächtlich wie dem christlichen Glauben des Mittelalters; und als im 15. und 16. Jahrhundert die Wissenschaften wieder auflebten, hielten sich die abendländischen Gelehrten, des Aristoteles müde, am liebsten an Platon, und holten sich aus ihm abermals das alte Märchen vom Mikrokosmus. Nicolaus von Cusa und Bruno erneuerten die Dichtung, indem sie sie pantheistisch färbten: Alles ist in Jedem, Jedes in Allem; Bruno besonders schuf die poetische Vorstellung von den Monaden, die ja die Kleinheit nach den Atomen, eine Seele nach dem Menschen und einen Ordnungssinn nach dem Kosmos als ihre Eigenschaften zugeteilt erhielten. Man hatte damals von den Bewegungen der Weltkörper schon eine viel bessere Anschauung als früher; aber wissenschaftlich war mit dem Mikrokosmus und dem Makranthropismus um so weniger anzufangen; man lese nur bei Paracelsus, wie sich dieser geniale Charlatan abmüht, die elementische Natur des Menschen aus dem Mikrokosmus zu erklären, aus der elementischen Natur durch wüste Analogien Heilmittel der Krankheiten zu entdecken. Die Analogiesucht ist so recht ein Zeichen dafür, wie die Vorstellung vom Makranthropismus nur ein poetisches Bild war; das Bild wird zu Tode geritten, wenn Paracelsus den Ausfall der Haare mit dem Sternschnuppenfall vergleicht, die drei bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika mit Leib, Seele und Geist des Menschen. Es wäre interessant zu erfahren, ob das sel microcosmique, dessen Namen noch in chemischen Schriften kurz vor Lavoisier vorkommt, nicht auf die Ausdrucksweise von Paracelsus zurückgeht; ich finde dieses Salz in der Encyclopédie wenigstens auch unter dem Namen sel urineux de Vanhelmontverzeichnet, was ja die Brücke zu Paracelsus schlagen könnte; aber ich darf nicht verschweigen, daß die Setzer meiner Ausgabe der Encyclopédie abwechselnd microcosmiqueund microscomiquegesetzt haben. Noch zuchtloser womöglich ist hundert Jahre nach Paracelsus der ebenso interessante, aber in seinen Leistungen ebenso überschätzte Phantast Jakob Böhme. Alle diese Mikrokosmiker, deren Zahl sich durch fleißiges Spüren in der Philosophiegeschichte endlos vermehren ließe (Adolf Meyer hat das reichlich getan, um nur keine Lücken offen zu lassen), haben die poetische Vergleichung zwischen Welt und Mensch vorgenommen, haben unbewußt ein poetisches Bild mit einer brauchbaren Hypothese, Poesie mit Wissenschaft verwechselt, und wußten wieder einmal nicht wie anthropomorphisch sie waren. Ich habe schon angedeutet, daß die Sophisten allein den Trug der Sprache durchschauten und daß Sokrates auch darin die beste Weisheit der Sophisten lehrte; ich hätte auch auf Xenophanes hinweisen können, der den Spott gewagt hatte: wenn Ochsen malen könnten, würden sie die Welt nach dem Bilde des Ochsen malen. Es dauerte an die zweitausend Jahre, bevor den Denkern allgemein das Spielerische, das Poetische in der Metapher des Makranthropismus zum Bewußtsein kam. Und man darf wohl sagen, daß gerade im 19. Jahrhundert, als Leibnizens beseelte Atome, die Monaden, von Fechner und Lotze zur Grundlage eines neuen Makranthropismus gemacht wurden (die Einfachheit der Seele, wie der nüchterne Herbart sie lehrte, gehört nicht her), die Naivität der Vergleichung verloren gegangen war und ein bewußtes Spiel mit Ähnlichkeiten begonnen hatte. Der geistreiche Fechner, der es zustande brachte, zugleich als Begründer der Psychophysik mechanistische Mikrokosmik und zugleich mit seinen schönsten Phantasien panpsychistischen Makranthropismus zu lehren, erklärte diese ganze Ansicht für eine Glaubenssache; Lotze, der doch sein bekanntestes Buch »Mikrokosmus« genannt hat, wendet sich an entscheidenden Stellen gegen die allzu wörtliche Auffassung eines Parallelismus zwischen Makrokosmus und Mikrokosmus (6. Buch 1. Kap.) und erkennt (5. Buch 3. Kap.) auch schon die unausweichliche Metaphorik der menschlichen Sprache. »Dem endlichen Geist bleibt nichts übrig, als die Natur der Dinge nach den Analogien seiner eigenen zu begreifen.«

Nicht ganz so unbrauchbar, nicht ganz so dem Gebiete poetischer Vergleichungen angehörig scheint eine Form des Makranthropismus, die sich ebenfalls im 19. Jahrhundert zu einem System ausgebildet hat: die Vorstellung vom Staate als von einem Makranthropos. Auch diese Vorstellung geht in hohes Altertum zurück. Ich erinnere nur an die Wander-Parabel von den Gliedern und dem Magen, die uns aus der ersten Schulzeit in der Gestalt am bekanntesten ist, wie sie gerade dem Menenius Agrippa in den Mund gelegt wird. Die Staatslehre des Platon liest sich an mancher Stelle wie eine ähnliche Parabel. Auch Augustinus hat seine Freude an solchen Bildern. Ich will aber nicht auch in den Fehler verfallen, um der Lückenlosigkeit willen die Lehre vom sozialen Makrokosmus bei allen Staatslehrern und bei allen Erfindern von Staatsromanen nachzuweisen; ich will nur kurz auf Hobbes hinweisen, der die Organisation des Staates genau mit der Organisation des Menschenindividuums verglich, der den Einzelmenschen so gründlich verachtete, und es dennoch fertig brachte, den Gesamtmenschen oder den Staat ganz in dem Sinne unserer neuen Staatsanbeter zu glorifizieren. Ich will als des Hobbes modernen Fortsetzer in erster Reihe Spencer nennen, der die Vergleichung zwischen dem Einzelorganismus und dem Staatsorganismus denn doch mit bessern naturwissenschaftlichen und historischen Kenntnissen durchführen konnte, als es einem Hobbes oder gar einem Platon möglich gewesen war; ich will endlich nur noch erwähnen, daß Spencer mit seinem sozialen Mikrokosmus Schule gemacht hat.

Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen. Spencer hat mit noch stärkerer Gedankenenergie als Darwin die Lehre von der allherrschenden Entwicklung vorgetragen; wenn zwischen zwei Lebewesen Ähnlichkeiten beobachtet worden sind, so seien solche Ähnlichkeiten oder Analogien durch Entwicklung oder Evolution zu erklären. Nichts verführerischer als der Einfall, auch andere Ähnlichkeiten oder Analogien auf Entwicklung zurückzuführen. So hat man die Sprache, das Verständigungsmittel bestimmter Menschengruppen, so hat man den Staat, die Lebensgemeinschaft von Menschengruppen, darwinistisch zu erklären gesucht. In der Sprachwissenschaft beherrschte die Metapher von einer Sprachverwandtschaft, als ob eine Metapher ein wissenschaftliches Faktum sein könnte, das ganze 19. Jahrhundert; in der Staatswissenschaft war man nicht ganz so wortabergläubisch, aber immerhin glaubte man aus der Analogie so manches erklären, aus der Metapher so manchen Schluß ziehen zu können. Niemand schien zu bemerken, niemand lachte also darüber, daß die biologischen Vergleichungen sich im einzelnen nicht immer deckten, daß z. B. die Börse von Spencer mit dem sympathischen Nerven, von Worms mit dem Blutkreislauf verglichen wurde. Ich habe, trotzdem ich just das Bild von der Sprachverwandtschaft nicht überschätze, dennoch einmal die Sprache ein sensorium commune innerhalb der gleichen Volksgemeinschaft genannt (»Die Sprache« S. 27); in dem gleichen Sinne könnte man bildlich den Menschen eines Staatswesens ein sensorium commune zuschreiben. Aber nur bildlich. Wer den Einzelorganismus mit dem Staatsorganismus vergleicht und das Bildmäßige, das Spielerische dieser Tätigkeit über der Freude an den hübschen Analogien vergißt, der trägt eine Parabel vor wie Menenius Agrippa und macht sich verdächtig, das Volk an der Nase führen zu wollen, wie ein Menenius Agrippa. Auch der soziale Mikrokosmus, auch der soziale Makranthropismus bietet trotz des unaussprechlichen Namens keine Wissenschaft, ist nur ein poetisches Spiel.

Nicht ohne das Gefühl eines leisen Humors mag man sich übrigens erinnern, daß in dem Grundworte unseres Begriffes, in κοσμος  (mundus), schon die Schwierigkeit versteckt liegt, die alte und neue Denker nachher in den Mikrokosmus und in den Makranthropismus hineingeheimnißt haben. Denn das ist ja eben die Frage, ob die Welt κοσμος sei oder nicht; κοσμος bedeutete in alter Zeit Schmuck, Frauenputz, Pferdeschmuck, auch schon übertragen: Schmuck der Rede; ein unaufgeklärter Bedeutungswandel gab dem Worte den Sinn Ordnung; und als die Philosophen in den Bewegungen unserer nächsten Gestirne eine Harmonie, eine Ordnung entdeckten, eine Regelmäßigkeit, die sie schön fanden, da nannten sie diese Welt unseres Sonnensystems (nicht das Weltall) einen Kosmos; und als sie aus sehr mangelhaften Beobachtungen den Schluß zogen, es ginge auch im Organismus ordentlich zu, da übertrugen sie das Bild von der Harmonie der Planeten auf den Menschenleib und nannten den Menschen (so war's gemeint) eine Weltordnung oder vielmehr ein Planetensystem im Kleinen. Wir aber wissen dritthalb Jahrtausende später noch nicht oder schon wieder nicht, ob der Begriff Ordnung aus der Natur abstrahiert oder anthropomorphisch in die Natur hineingetragen worden ist. (Vergl. Art.  Ordnung.)


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