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Sechzehntes Kapitel

Bei brennenden Kerzen. Entweder – oder. Ein drittes gibt es nicht mehr. Gottverlassenheit im Hause Großer Markt Numero sieben. Ähnlichkeit der Rathausuhr mit der lässigen Geschäftigkeit der Schweizer Oberkellner. Empfang des Herrn Notars durch Sigismund Mendel. Die Katastrophe setzt ein, um schließlich durch das weise und salomonische Eingreifen des Herrn Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz behoben zu werden. Roma locuta, causa finita est, kurz, ein Kapitel, das traurig beginnt, um bei klingenden Gläsern das schönste Ende zu finden.

Bei brennenden Kerzen!

Also herrisch und in die Knie zwingend, ohne Bedenken, mit einer gehörigen Portion Ingrimm zwischen den Rippen, gewissermaßen, um dem in der gestrigen Nacht hingeworfenen Kalef und dem Beheme eins überzudreschen, sollte die notarielle Handlung anderen Tages um die achte Nachmittagsstunde in aller Feier vorsichgehen.

So wollte es Elias.

Als er das Haus seiner Väter betrat, war er kalt, gefühllos, abweisend und verneinend wie ein Eiszapfen an der Eingangstür eines königlich preußischen Steuerbeamten geworden. Der Rubikon lag hinter ihm. Er wußte, was er getan hatte. Ein Zurück gab es nicht mehr. Der letzte Trumpf war ausgespielt und der verhängnisvolle Stein ins Rollen gekommen, auf Gedeih und Verderben. Er hörte sein Rumpeln und Poltern. Wohin der Fahrt? Ja, wer das wüßte! Immer nur weiter gerumpelt. Es handelte sich um Sein oder Nichtsein, um das weitere Blühen oder das langsame Abwelken einer geachteten Firma. Entweder fügte sich Maier oder er fügte sich nicht. Ein drittes existierte nicht mehr für ihn. Mochte kommen, was wollte. Er war mit sich einig, völlig im klaren und willens, auch die allerletzten Folgerungen auf sich zu nehmen.

Diese Eiszapfentemperatur teilte sich allem mit, was in den vier Wänden des Anwesens lebte und atmete. Alles fröstelte und vereiselte. Der Perlchen, die mit verweinten Augen die Räume durchirrte, erfroren die Tränen. Stina Prußt fuhr ein Schaudern über den Rücken. Sie war gerade dabei, einen delikaten Pfannkuchen für den heutigen Abend herzurichten. Mitten in ihrem besten Hantieren hörte sie auf. Der Eier- und Mehlbrei mitsamt den Zwiebel- und Knoblauchpartikelchen erstarrte ihr unter den Händen.

Auch der Zweitgeborene vernahm die Schritte seines hinterhältigen Bruders. Er saß just im Speisezimmer und las das Klevische Volksblatt, als durch das schleifende Gangwerk die trostlose Lage des Hauses wieder in ihrer ganzen zermalmenden Größe über ihn herfiel. Auch er vergletscherte. Genau so wäre der Dalai-Lama im Kloster zu Taschilumpo vergletschert, falls ihm Buddha kurzerhand zu verstehen gegeben hätte, alle Gebetmühlen aus sämtlichen Distrikten Tibets mitsamt ihren immensen Schnüren und Papierstreifen hinter die Binde zu schlucken. Es war schon ein Zustand voller Bangen und Alarm. Zum Auswachsen.

Es kam kein Licht in die Sache. Fragen wollte er nicht. Es wäre auch vergeblich gewesen. Das Ungewisse der Lage brachte ihn der Verzweiflung nahe.

So ging es den langen, bangen Abend hindurch, während der Zeit, wo der Nachtwächter Henne Hübbers mit seinem Sarraß aus den Freiheitskriegen über das Straßenpflaster rasselte und die kleine Stadt in das Reich der Träume tutete ... und ging bis in den Morgen hinein, wo Rosalie sich als jüdische Aphrodite Kallipygos am Tisch zu schaffen machte und das Frühstück herrichtete.

Da aber der übernächtigte Maier ...!

Er hielt's nicht mehr aus.

Er fuhr aus seinem Gletschertum wie eine Ratte aus einem umlagerten Talgfuß.

»Eli, wo bist du gestern nachmittag bis gegen Abend gewesen?«

Der Senior-Chef, der jetzt auch keine Veranlassung mehr hatte, sich als Eisblock zu fühlen, kam ins Tropfen und zuckte die Schultern: »Wo soll ich gewesen sein? Nu, bin ich gewesen, wo ich hatte zu tun: beim Herrn Notarius Lenz.«

Maier bebte.

»Un nu?« fragte er mit gewetzten Zähnen.

»Ich warte.«

»Worauf wartest du. Eli?«

»Du wirst es hören, wenn's Zeit ist.«

»Un wann wird es Zeit sein?«

»Um achte.«

»Un werde ich's hören allein?!«

»Es werden's auch hören Sigismund un Rosalie Perlchen.«

»Eli. ich bitte dich, Eli! – Du willst mir doch nicht etikettieren wollen for gar nichts, um mich hinstellen zu lassen als 'n gezeichneter Schafbock?! Es geschieht ein Unglück im Hause.«

»Jedem das Seine,« replizierte Elias. »Bei dir wird es anstehen, ob es wird heißen: Geprüft un verurteilt oder vergeben in Liebe.«

Damit ging er.

»Du bist ein Beheme un bleibst ein Beheme!« rief Maier hinter ihm her, ließ seine Kaumuskeln arbeiten und erwog den frevelhaften Gedanken, ob es an der Zeit wäre, sich 'nen Strick zu drehen und damit auf den Speicher zu straucheln.

Allein er war ein vernünftiger Mann, einer von denen, die Strick und Speicher ebensogut für gefährliche Dinge hielten wie ›Lazzeruntasch‹ und ›die Füsiliere von hinten‹. Er gab daher dem frevelhaften Gedanken den Abschied, griff dafür in die Hosentasche hinein, brachte eine goldbraune Krachmandel zum Vorschein und zerlegte sie in aller Seelenruhe mit seinem Taschenmesser.

Also um achte!

Er wartete und tat es mit der Resignation eines Peripatetikers, wenn es auch zeitweilig in seinen Ganglien bibberte und das Herz sich bereits mit der Vorstellung befreundet hatte, jeden Augenblick in den Hosenboden zu stolpern.

Des öfteren befragte er die Zeiger an der Rathausuhr.

Langsam rückten sie weiter, mit der schleppenden Geschäftigkeit der Schweizer Oberkellner, die bei jedem abgehenden Zuge weitschweifig und umständlich in ihren Taschen herumkramen, um den eiligen Reisenden den restierenden Betrag der empfangenen Banknoten zu erstatten, aber nie in der Lage sind, des hierzu erforderlichen Klein- und Wechselgeldes habhaft zu werden.

Was den Schweizer Oberkellnern niemals gelang, das brachten die trägen Zeiger des städtischen Hauses schließlich zustande.

Allmählich kreisten sie immer mehr den geheimnisvollen Augenblicken entgegen, während welcher sich die letzte große Szene der Tragikomödie abspielen sollte.

Es mochte auf sieben gehen, als der Chef seinen Neffen zu sich entbot, die Vorkehrungen für den heutigen Abend in die Wege zu leiten.

Sigismund gehorchte mit der Geschmeidigkeit jüdischer Kommis, teils von heiligen Schauern gerüttelt, teils von dem prickelnden Wunsche beseelt, vielleicht als unparteiischer Zeuge der gewiß merkwürdigen Aktion beiwohnen zu dürfen. Mit fachkundigen Händen richtete er das Szenarium her, während er dabei lieblich nach Zimtborke duftete und immerzu näselte:

»Lecho Daudi Likras Kalle –
Komm', Geliebter, deiner harret
Schon die Braut, die dir entschleiert
Ihr verschämtes Angesicht.«

Im Verlaufe einer kleinen Viertelstunde war alles vollendet. Inmitten des Salons paradierte ein Tisch aus Mahagoni, darüber lag eine weiße Decke gespreitet. Zwei schlanke Wachskerzen auf silbernen Leuchtern gewährleisteten einen würdigen Aufputz ... und schließlich: Lineal, Tintenfaß und Gänsekiel verliehen dem Ganzen einen streng-juristischen Einschlag, dem sich niemand zu entziehen vermochte.

Inzwischen hatte die Dämmerung einen kleinen Hirtzensprung weiter gemacht. Das Land dunkelte ein. Graufadig gespensterte es durch die weißen Gardinen in die gute Stube. Bald darauf war kaum noch eine Hand vor Augen zu sehen. Aber das Programm wickelte sich nunmehr sachgemäß ab.

Zehn Minuten vor der festgesetzten Zeit brannten die Kerzen.

Fünf Minuten später hatten sich alle, mit Ausnahme der Piepmösch, hinter der richterlichen Lade versammelt: der Senior-Chef, Maier und Rosalie Perlchen.

Sigismund wartete erhobenen Hauptes an der Haustür.

Er hatte Order erhalten, Herrn Lenz zu empfangen und ihn einzuführen.

Kurz vor acht ging eine Bewegung durch den Kreis der oben Genannten.

»Der Herr Notarius!«

Aber er war es noch nicht.

Noch drei Minuten fehlten an achte.

Allein der da eintrat, gerierte sich so würdig wie der Herr Notarius selber.

Es war sein Adlatus – die Schittbox.

Außer seinem Verdruß, seinem sakrosankten Gesicht und einem gespitzten Bleistift hinter dem Ohr, brachte er noch die amtliche Urkunde ins Zimmer, legte sie auf die Tafel nieder und machte jeden einzelnen der Anwesenden eine streng-zeremonielle Verbeugung.

Dabei verstand er es noch, alle Herzen und Nieren zu prüfen: verhehlte aber seinen unbändigen Genuß an ihren verhaltenen Freuden, ihren Nöten und Ängsten.

Nicht dieses allein.

Der ganzen Aufmachung widmete er eine ausgiebige Revision.

Er untersuchte die Leuchtkraft der aufgesteckten Kerzen. Sie durfte genügen.

Er nahm die Gänsefeder, hielt sie gegen das Licht und prüfte ihre Spitze auf dem Daumennagel.

Er hatte nichts einzuwenden. Sie war richtig geschnitten.

Dann noch ein letztes.

Mit einer äußerst gewissenhaften Subtilität rückte er das Tintenfaß an die zweckentsprechende Stelle, unterzog die Tragfähigkeit des Sessels, worauf sich sein Chef niederzulassen hatte, einer umsichtigen Beurteilung und nickte.

Er war zufrieden mit allem.

»Ich danke den Herrschaften.«

Mit einer offiziellen Verbeugung verließ er das Zimmer.

Gleichzeitig summelte es mit dem Rumoren eines fettleibigen Brummers vom nahegelegenen Rathausturm herunter.

Acht Uhr!

Draußen im Hausflur erhob sich ein gemessenes Räuspern. Das des Notars. Dann ließen sich Schritte vernehmen, zielbewußte, energische Schritte. Eine Täuschung nicht möglich. Es waren seine zielbewußten und energischen Schritte. Hierauf erschien eine untersetzte Gestalt auf der Türschwelle, mit stattlichem Bäuchlein, das pontakrote Gesicht zwischen kandiszuckerweißen Vatermördern gebettet, den aufgebügelten Zylinder wie ein Sanktuarium vor sich hertragend, ernst und standesgemäß – der Notarius selber.

Herr Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz zog sein Doppelkinn etwas in die steife Leinwand zurück, aber nur etwas, kaum merklich.

Das war sein Grüßen.

Dann begab er sich, gefolgt von Sigismund Mendel, der sofort die Gelegenheit wahrnahm, sich in den Schatten der Perlchen zu flüchten, an die Gerichtslade, stellte den Zylinder neben Lineal und Tintenfaß, stemmte die Knöchel auf, gab dem Kopf eine getragene Haltung nach rücklings und ließ die schweren Augenlider herunter.

»Pst!« machte Elias, »der Herr Notarius wird sich geben die Ehre.«

Wäre in diesem Augenblick eine Stecknadel von der Decke gepurzelt, man hätte ihr Fallen vernommen, hätte ein Wanzerich hinter der Tapete verliebt nach seiner etwas spröden Geliebten gewinselt, zweifelsohne wäre dieses Gewinsel selbst in nicht ganz einwandfreie Ohren gedrungen, so still war es mittlerweile geworden, so ahnungsbang, so von den lautlosen Schwingungen des unabwendbaren Schicksals durchzittert.

Der Ernst der Stunde stand auch auf den Zügen des Gestrengen verzeichnet.

Im gewöhnlichen Dasein, bei einem Fläschchen Mosel, auf der Kegelbahn, am Stammtisch, in der Ressource ein jovialer Lebenskünstler, war Herr Lenz im offiziellen Dienst ein äußerst strenger Jurist, ein zugeknöpfter Beamter, der sich nicht genug darin tun konnte, den Code zu verhätscheln und aus seinen Spalten die pfiffigsten Argumente gleichsam aus zerbrechlichen Eierschalen zu pellen.

So auch heute. Er sagte: »Auf Anfordern des mir nach Namen, Stand und Ansehen bekannten und wohlachtbaren Herrn Elias Spier habe ich mich in das Haus Großer Markt Numero sieben begeben, um den von genanntem Herrn in meiner Amtsstube getätigten Akt auf Leben und Sterben hier zur Verlesung zu bringen. Ich bemerke hierzu: Wir sind alle sterbliche Menschen, haben unsere Schwächen und Vorzüge, unsere Neigungen und Abneigungen, denn wir stehen allmiteinander im Kampf ums Dasein und haben Ellbogenfreiheit nötig, um uns das bißchen Platz an der Sonne, dessen wir zum Leben bedürfen, froh zu erkämpfen. Selbstverständlich bleibt es dabei nicht aus, daß sich bei derartigen Manipulationen mancherlei Schwierigkeiten, Spitzen und Härten ergeben, vornehmlich dann, wenn man hierbei mit Dingen zu rechnen hat, die eine Unterströmung besitzen und einen abtreiben wollen.«

Er unterbrach sich, um die von sich gegebenen Worte nachdrücklich wirken zu lassen.

Als er sich vergewissert hatte, daß sie nicht auf unfruchtbares Erdreich gefallen, spielte er mit seiner Berlocke und fuhr fort in der begonnenen Ansprache.

»Die Gründe nun, die den wohlachtbaren Senior-Chef der Firma bewogen, meine juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen, werden allen bekannt sein. Der Kausalnexus ist heikler Natur und hat ein tiefeinschneidendes Zerwürfnis gezeitigt. Wo sonst seliger Friede herrschte, lauert jetzt der Unfried, und wo zwei Brüder sich in werktätiger Arbeit fanden, mahlen sie jetzt wie zwei harte Steine gegeneinander. Das geflügelte ›Cherchez la femme‹ ... Doch ich will dieses Thema nicht weiter berühren, will es verweisen in Nacht und Finsternis, auf daß die Kessel nicht hellhörig werden und schadenfrohe Menschen nicht auf den Einfall kommen, verborgene Sächelchen in puris naturalibus auf den Markt und die profane Kirmes zu werfen.«

Ein Seufzen ertönte aus der Reihe der Zuhörer.

Das waren Worte der Vermahnung, des Mitgefühls und des tiefen Bedauerns.

Herr Lenz zupfte die Enden seiner Vatermörder etwas höher und versenkte das Doppelkinn wieder in die blendende Weiße.

Im Brustton der Überzeugung gefiel er sich darin, weiter an die Herzen der Menschen zu pochen.

»Ich bin königlich preußischer Notar und für den Friedensgerichtsbezirk Kleve bestellt und verpflichtet. Als solcher vertrete ich die freiwillige, ausgleichende Gerichtsbarkeit, nicht die zersetzende, streitbare der Advokaten und Ferkelstecher, und meines Amtes ist es, die Gemüter zu versöhnen und sie auf den Weg eines annehmbaren Vergleiches zu führen. Herr Elias Spier« – und seine Stimme nahm einen schönen, runden und getragenen Ton an, etwa wie ein englisches Flügelhorn, wenn es bei der Nationalhymne einsetzt – »Sie, mein Verehrter, tätigten bei mir die inhaltsschwere Urkunde, die viel des Erhabenen in sich birgt, aber auch viel des Bitteren, Einschneidenden, wenn auch Gerechten. Noch steht es in Ihrem Ermessen, sie zu ändern, ihr eine mildere Form zu geben oder sie für null und nichtig zu erklären, falls Ihnen ein gewisser Sinneswechsel beifallen sollte. Ein überspannter Bogen hat es sich selber zuzuschreiben, wenn ihm die Stränge zerreißen. Ich frage Sie daher in aller Feier und Form: Wie denken Sie darüber in jetziger Stunde?«

Alle Augen richteten sich in diesem erhabenen Augenblick auf den Senior-Chef.

Elias trat vor.

Seine rechte Hand hob sich und senkte sich wieder.

»Herr Notarius, bin ich meschugge? Lieber streue ich mir Asche aufs Haupt un gehe als Schnorrer umher, um zu handeln mit die Felle von Kaninchen un Ziegen. Nein, Herr Notarius. Was geschrieben ist, ist nu einmal geschrieben un bleibt geschrieben bis in Methusalems-Zeiten. Gott der Gerechte! ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.«

Die Runde erbleichte.

Das waren Hammerschläge, Worte eines gequälten und bedrängten Gemütes, Worte, wie sie Doktor Martinus Luther gesprochen hatte auf dem Reichstag zu Worms.

Herr Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz griemelte in sich hinein.

»Ich dachte mir's,« sagte er ruhig. » Exoriare aliquis ... aus meinen Gebeinen wird mir der Rächer entstehen. Und nun zu Ihnen, Herr Maier. Falls Sie befürchten, durch die Fassung des vorliegenden Aktes schmerzlich berührt zu werden, so möchte ich Ihnen anheimstellen, dem weiteren Verlauf der Sitzung aus dem Wege zu gehen.«

»Warum?« fragte Maier.

Er griff in die Tasche, um etliche Taler energisch gegeneinander klimpern zu lassen.

Seine Goldplomben kamen zum Vorschein.

Das Cäsarenhaupt war blutüberlaufen.

»Herr Notarius, wie käm' ich dazu?« fragte er höhnisch. »Ich bin kein Wauwau un hätte werden können Offizier ins feinste Regiment, meinetwegen bei die Füsiliere zu Potsdam. Ich fürchte mich nicht un habe mich niemals gefürchtet. Ich will doch wissen, was er gemacht hat, der Eli, um sagen zu können: er ist ein Beheme un bleibt ein Beheme.«

»Schön,« fiel ihm sein Bruder ins Wort, »will ich sein ein Beheme, aber du wirst von mir hören. Herr Notarius, bitte. Er ist nicht wert un würdig ...«

Er hatte einen verächtlichen Zug um die Lippen.

»Halt!« drohte Herr Lenz, »in meiner Gegenwart keine Feindseligkeiten. Das stört den vornehmen Gang der juristischen Handlung. Ich gehe weiter ... und nun zu Ihnen, Fräulein Rosalie Perlchen.«

Die Ärmste schreckte zusammen.

Berge fielen über sie her, Berge und Hügel. Sie umgriff ihre siebenreihige Granatschnur, um doch irgendeinen Halt zu gewinnen.

Sie schaute ängstlich auf Elias. Der wandte sich ab.

Sie suchte Hilfe bei Maier. Der war mit sich selber beschäftigt.

Ihre Blicke fielen auf Sigismund Mendel, auf den schönen Sigismund Mendel. Die Piepmösch ähnelte einem ausgestopften Posaunenengel und hatte nur ein vielsagendes Lächeln.

In ihrer Herzensangst wandte sie ihr verweintes Gesicht dem Notar zu.

Der verstand sie und sagte: »Nur keine Sorge, mein Fräulein. Ich möchte nur fragen: Wollen Sie der Vorlesung beiwohnen oder ziehen Sie es vor, das Zimmer zu räumen?«

»Ich werde gehen,« wisperte das üppige Perlchen und machte Anstalten, aus dem Bereich der heißen Zone zu kommen.

»Du bleibst,« gebot der Senior-Chef. »Das wäre noch schöner! Ohne die Perlchen kein Aktus. Werden sich doch verwandeln ihre Tränen in kostbare Gesteine oder so was. Sie wird sich freuen, die Jungfrau.«

»Also sie bleibt,« konstatierte Herr Lenz, »und Sie in gleicher Weise, Herr Mendel. Ich weiß: Sie haben von jeher ein großes Interesse für die Firma bekundet.«

Sigismund fühlte sich äußerst geschmeichelt.

Er machte einen Diener, der sich sehen lassen konnte, während der Notar auf den Tisch klopfte und sagte: »Die Präliminarien wären somit erledigt, et nunc, ut Deus bene vertat, setzen wir uns. Wir können nunmehr zum Vorlesen der getätigten Urkunde schreiten.«

Alle ließen sich nieder.

Die tragische Muse regte die Schwingen. Sie wuschelten hierhin und dorthin. Ihr dramatisches Säuseln fachte die Kerzen an und hieß sie feuriger leuchten.

Bei brennenden Lichtern.

Der Notar begann eindringlich zu lesen, und also hub er an:

»Wir, Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, Markgraf zu Brandenburg, Herzog von Schlesien wie auch der Grafschaft Glatz, Herzog zu Sachsen, Westfalen und Engern, zu Geldern, Kleve, Jülich und Berg sowie auch der Wenden und Kassuben, Prinz von Oranien, gefürsteter Graf zu Henneberg, Graf der Mark und zu Ravensberg, tuen hiermit kund und zu wissen:

Vor mir, Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz, dem instrumentierenden Notar im Friedensgerichtsbezirk Kleve, und im Beisein der folgenden Zeugen:

1. Henne Hübbers, Nachtwächter und Fleischbeschauer,
2. Franz Kogeleboom, Schuhmachermeister,
3. Pitt Heines, Ferkelstecher, und
4. Hermann Theophile Jules Edmond Lazare Püttmann, Barbier und Haarkünstler,

wohnhaft auf dem Oberen Graben, alle dem Notar nach Namen, Stand und Alter bekannt, domiziliert in hiesiger Kirchengemeinde – erschien der wohlachtbare Herr Elias Abraham Mizraim Spier, Vieh- und Produktenhändler, in Firma Elias & Maier, im Besitz seiner völligen Geisteskräfte, eingesessen dahier, und diktierte mir seinen letzten Willen wie folgt in die Feder:

Es will still um mich werden. Meine Tage sind gezählt, und ich sehe bereits das dunkle Tor geöffnet, durch das ich in einer bitteren Stunde hindurch muß. Mein Lebensbuch liegt zu jedermanns Einsicht aufgeschlagen. Wer will, mag darin lesen, und er wird keine Stelle finden, welche ihm zuruft: Er hat sich gegen seine Souveräne, seine Mitmenschen und gegen sich selber versündigt. Nur eine ist schadhaft. Sie steht auf einer der letzten Seiten dieses Lebensbuches verzeichnet. Aber ich frage jeden ehrlichen und offenherzigen Menschen: Hat sich nicht der gefeierte David, der König und Psalterspieler, mit dem Weib des Uria vergangen? und hat er nicht hochbetagt die schöne Abisag von Sunem zu sich entboten? Wäre nicht um Haaresbreite der brave Joseph von Ägypten den Netzen der Potiphar verfallen, hätte der Herr nicht seinen Willen gestärkt und ihm geboten, aus der bedrohlichen Nähe zu fliehen? Ich neige mein Haupt und erwarte das Urteil.«

Herr Lenz machte eine wohlüberlegte, bedeutsame Pause.

Dabei sah er jeden einzelnen an.

Maier stierte stumpf und dumpf vor sich hin und schien die Dielenritzen zu zählen, die sich für ihn ins Unermeßliche dehnten.

Elias blieb hart und gefühllos, während Sigismund seine Nachbarin mit gütigen Augen betrachtete und Anstalten machte, mit ihr in Tuch- und Ellbogenfühlung zu kommen.

Rosalie hatte in gegenwärtiger Stunde kein Verständnis für diese wohlgemeinte und aus reinstem Herzen kommende Liebkosung. In ihrem verwirrten und preziösen Zustand war es ihr schlechterdings unmöglich, irgendwie klare Gedanken zu fassen. Sie hatte nur Tränen, und diese Tränen waren von einem heftigen Schluchzen begleitet.

Das mußte erschüttern.

Der Notar griff auch dementsprechend ein und meinte: »Mein verehrtes Fräulein, nur Contenance gehalten. Bloß keine Sorge. Es wird sich schon alles zum besten fügen und einrenken lassen.«

Allein die Heimgesuchte hörte kaum auf die wohlwollenden Worte. Sie schluchzte lauter und heftiger. Die Symptome einer Ohnmacht stellten sich ein, denn ihr Köpfchen mit den klingenden Ohrgehängen neigte sich bedenklich zur Seite. Sie drohte vom Stuhle zu sinken.

»Hat jemand ein Riechfläschchen bei sich?« ereiferte sich Herr Lenz und machte Miene, sich von seinem Sitz zu erheben.

Ja, Sigismund hatte eins bei sich.

Er brachte es ihr unter die Nase.

Da seufzte Rosalie etliche Male und erholte sich wieder.

Der Zwischenfall war erledigt. Die Amtshandlung konnte somit fortgesetzt werden.

Dieses geschah auch, denn der Rechtskundige klopfte vermahnend auf den Tisch und begann wieder zu lesen:

»Ich neige mein Haupt und erwarte das Urteil, denn Gott ist mein Zeuge, daß ich mich allezeit bemühte, brav und ehrlich und nur mit einem honetten Profit durch mein geschäftliches Leben zu schreiten. Mit meinem Bruder stand ich von jeher auf dem vortrefflichsten Fuße. Als Junggesellen führten wir einen gemeinsamen Haushalt. Unter Blümchen Flesch verlebten wir Tage ruhigen Genießens und Nächte, die nicht in der Lage waren, den Verstand irre zu machen. Mit den Hühnern gingen wir schlafen, mit den Hühnern wachten wir auf und kratzten unsere Geschäfte zusammen. Wir waren ein Herz und eine Seele, ohne Nebengedanken, immer darauf bedacht, dem Herrn zu dienen und die brüderliche Liebe in Ehren zu halten. Sein Vertrauen war mein Vertrauen, seine Zusage die meine. Wechselseitiger Trost, Beistand und Opfermut spannen unentwegt ihre schier unzerreißbaren Fäden ... bis eines Tages ... Rosalie Perlchen aus Kranenburg war über unsere Schwelle getreten, da endlich offenbarte sich die wirkliche Gesinnung meines nichtswürdigen Bruders.«

»Was?!« zeterte Maier dazwischen.

»Ruhe!« gebot der Notar, »denn ich sitze hier im Namen des Rechtes. Wer daran rüttelt, rüttelt an der Hoheit des Staates. Wenn Sie nicht zuhören wollen, können Sie ja das Zimmer verlassen.«

Aber Maier blieb, wenn auch herausfordernd, so doch gefügig, und so war dem Notar Gelegenheit geboten, weiter zu lesen ... und er las mit Unterstreichung einer jeden einzelnen Silbe: »Ich wähnte an meinem Lebensende sagen zu können: Maier, was mein ist: Haus, Effekten, Papiere, ausstehende Gelder, Hof und Garten – alles wird in deine Hände gegeben. Ich täuschte mich bitter, denn wisset: ich bat ihn, um das Vergangene schlafen zu lassen, obigem Fräulein die Wohltat einer gottwohlgefälligen Ehe durch sich zu verstatten, aber weil er sie von sich wies, brachte er meinem schönen Vorhaben ein schmähliches Ende.«

Der Angegriffene hielt sich nicht länger.

Er sprang auf und gestikulierte mit Armen und Beinen: »Du bist doch der Älteste, Eli!«

»Was tu' ich mit meinem Altertum,« hielt ihm dieser entgegen, »wenn ich mich kaum halten kann auf meinen eigenen Beinen. Du bist der Jüngste!«

»Püh!« lachte Maier. Aber es war ein grausiges Lachen. »Was tu' ich mit meinem Jüngertum, wenn's mir nicht paßt, in den Stand der heiligen Ehe zu treten? Du bist wohl meschugge! Ich tu's nicht.«

Der Senior-Chef machte eine feste Handbewegung.

»Lesen Sie weiter, Herr Notarius. Es wird sich ja finden.«

»Was wird sich finden?«

Maier schrie es so laut, daß davon die Scheiben in ein gelindes Klingen gerieten und die Lichter zu flackern begannen.

»Nochmals Ruhe!« wetterte Lenz. »Im Namen des Gesetzes ersuche ich Sie, einen Staatsbevollmächtigten nicht bei Ausübung seines Amtes zu stören. Ich spreche hier im Namen der Obrigkeit und brauche mir Ihre unqualifizierbaren Interjektionen nicht gefallen zu lassen. Hören Sie weiter«, und wieder begann er: »Er kränkte mich bitter ... und weil er es tat und nicht willens schien, die Schmach von unserem Hause zu scheuchen, bestimme ich hiermit von Todes wegen und für ewige Zeiten:

Erstens. In Anbetracht dessen, daß mein einziger Bruder in so wenig vorbildlicher Opferfreudigkeit und Zuneigung an mir handelte, wird besagter Maier Moses Gerson Spier nach meinem Ableben, wenn ich also sein werde im Schoße Abrahams, aus der Liste meiner Erben gestrichen ...«

Alle sahen sich an. Es war so, als hätte der Ewige durch Notarius Lenz aus Donnerwolken gesprochen, und allen trat die Stelle in den Sinn, die da lautet: »Der ganze Berg Sinai aber rauchte und bebete darum, daß der Herr herabfuhr mit Feuer und Schwefel ...« und in dieses Rauchen und Schwefeln hinein ...

»Enterbt!« stöhnte Maier.

Es gibt eine Tragik, die keine Tränen mehr findet. Es gibt menschliche Gesichter, die bei gewissen Vorkommnissen alle Farbe verlieren, herzzerreißend erblassen, versteinern und in dieser Versteinerung zerquälter, verschmerzter, zermarterter aussehen als das edle, gramdurchpflügte Antlitz der schönen Niobe, Tochter des Tantalos, Gemahlin des thebanischen Königs Amphion.

Das Gesicht von Maier Moses Gerson Spier war ein solches geworden.

Er griff in die Luft, tastete rücklings, um mit einem ersterbenden Laut wieder zwischen die Lehnen zu sinken.

Mit Glotzaugen stierte er vor sich, ein Zustand, der in ihm gewissermaßen alle Wünsche und Leidenschaften erstickte, ihn absterben ließ gegen Freude und Schmerz, ihn sozusagen auslöschte aus dem Buch der Lebendigen.

»Enterbt!«

Dumpf und hohl zitterte es durch das lautlose Zimmer.

Herr Lenz funkte nach. Er packte das neben ihm liegende Lineal und hielt es wie ein gebietendes Zepter auf den Verstörten gerichtet ... »wird besagter Bruder Maier Moses Gerson aus der Liste meiner Erben gestrichen, falls er sich weigern sollte, die Rosalie Perlchen binnen Frist von drei Monden ehrlich zu machen. Geschieht es nicht – also weigert er sich – dann:

Zweitens und im Namen des Königs wird nach meinem eingetretenen Tode mein gesamtes Vermögen, bestehend in Haus, Effekten, Papieren, ausstehenden Geldern, Hof und Garten, nebst Forderungen, die sich im Hypothekenbuche ausweisen, besagter Rosalie Perlchen, der ehelich erzeugten Tochter des verstorbenen Schächters Moses Perlchen in Kranenburg. erb- und eigentümlich für alle Zeiten in die Hände gegeben. So geschehen in der Amtsstube des instrumentierenden Notars, im Beisein der mitunterzeichneten Zeugen, wie eingangs gemeldet.

Für richtige Abschrift:

Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz.«

Das Lineal klatschte nieder.

Totenstille, das Schweigen im Grabe, und durch dieses Schweigen hindurch ein wehes Gejammer: »Eli, mein Bruder!«

Das war die Stimme des Zweitgeborenen ... und dann ein Geseufze, ein Stöhnen, ein Aufschrei ...

Das war die Stimme der Rosalie Perlchen.

Sie taumelte auf, sie wankte, sie suchte nach Halt, um gleich darauf als bleiche, aber noch immer als Rose von Jesreel in die Arme der Piepmösch zu gleiten.

»Sigismund! Sigmund, mein Hähnchen!« und vier Lippen fanden sich in einem verzehrenden Kusse.

Ha! das war es, was der Notar in seiner weisen Fürsorge und als Anwalt der freiwilligen Gerichtsbarkeit erstrebt hatte, um den gordischen Knoten auseinander zu hauen.

Er fuhr in die Höhe. Sein Bäuchlein schwappte. Die verschmitzten Äugelchen nahmen einen listigen Glanz an.

»Kinder, das wäre die einzig-richtige Lösung! Optime, optime!« und fixbeinig trat er auf das umschlungene Paar zu: »Herr Mendel, würden Sie unter den obwaltenden Umständen ... ich meine: würden Sie heilig gewillt sein, sonder Bedenken und Erwägungen, frisch, fromm und fröhlich mit der verehrten Rosalie Perlchen unter die Chuppe zu treten, ihr Treue zu geloben und sie zu halten als Ihr mosaisches Eheweib ... dann kurz und bündig und nicht lange besonnen! Ich warte.«

»In diesem Falle – jawohl,« stammelte Mendel.

»Sigismund, mein Hähnchen!«

»Na – denn!« und der Notarius warf sich herum: »Maier und Elias, ich habe Ihnen einen tiefeinschneidenden, unversöhnlichen und ausgleichenden Vorschlag zu machen. Sapere aude! Wage es, weise zu sein! und daher: Sie, mein hochverehrter Herr Elias Abraham Mizraim Spier, vermachen auf den Todesfall Ihr gesamtes Vermögen Ihrem einzigen Bruder – und Sie, mein hochverehrter Maier Moses Gerson Spier, werden den festen Willen bekunden und unter notarielle Beglaubigung bringen, Ihren gesamten Nachlaß, auch den Ihres Bruders, falls er vor Ihnen zu sterben käme, in die Hände des jungen Paares zu legen. Von Rechts wegen und im Namen des Königs. So wäre allen geholfen. Actum ut supra.«

Er sah sich im Kreise um.

»Einverstanden?! dann bitte.«

Der Engel des Friedens rauschte durch die entsühnte Stube. Mit Zentnergewichten fiel es allen Beteiligten von den Schultern herunter. Ein Weinen und Aufschluchzen, ein Sichfinden und stilles Versöhnen.

»Einverstanden,« sagte Elias.

»Einverstanden,« stammelte Maier.

»Einverstanden,« wisperten Sigismund und Rosalie Perlchen.

»Gläser, Gläser!« rief der Senior-Chef. »Singet dem Herrn ein neues Lied. Heran mit die Gläser!« und als sie kamen und angeklingt wurde, ergriff Elias das Lineal, legte es seinem Neffen auf die Schulter und sagte: »Sigismund Mendel, knie nieder.«

Das tat auch die Piepmösch.

»Sigismund, so ernenne ich dich hiermit zum Prokuristen der Firma.«

»Ah!« – und dann ein Umarmen, ein Küssen und Danken, und durch all diese Feier, durch diese Tränen und das Gläserklingen hindurch – die Stimme des Herrn Notarius Baptiste Napoleon Jean Pierre Lenz: »Morgen um elfe wird hierüber der notarielle Aktus getätigt!«


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