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Elftes Kapitel

Trotz aller Unbill und Widerwärtigkeit scheinen die Dinge sich zum Guten zu wenden, zumal Elias den Code Napoleon auftreibt und die Stelle erwischt, worin geschrieben steht: »La recherche de la paternité est interdite.« Hierauf gründete sich die Politik der beiden heimgesuchten Ehrenmänner. Doch leider: diese versagt, erweist sich als irrig. Der brave Brocken-Dores als Patriarch und Warner. Sigismund verharrt in seiner untätigen Rolle. Er weiß nichts und wäscht sich die Hände in dem laulichen Wasser der Unschuld. Ein Drohbrief unter erschwerenden Umständen, während nachtschlafender Zeit und mit infernalischem Schellengebimmel.

Wer Wind säet, wird Sturm ernten.

Sie hatten Wind gesäet, aber es wollte den Anschein nehmen, als ließe der Sturm auf sich warten.

Mit dem jungen Morgen stellte die alte Linde ihr ungestümes Sausen ein, schwiegen die Pappeln ringsum, lag das Anwesen so friedlich unter dem Himmelreich, als wäre die verflossene Nacht eine Nacht des Heiles und der Versöhnung gewesen, als hätte Rosalie Perlchen niemals eine Feder berührt und niemals geäußert: »Ich wollte nur Ruth sein, aber ich bin geworden wie die junge Abisag von Sunem, un doch nicht wie diese. Ich bin geworden wie Thamar. Weh' mir, daß ich es wurde!« Nichts davon bekundeten die folgenden Tage, nicht die Spur eines Sonnenstäubchens, nicht die eines Gedankens.

So schien es ... und mit hellem Getön gab der Star sein ›Amen‹ dazu und pfiff von dem hohen Giebel des Spierschen Hauses so munter in Gottes schöne Welt hinein, daß die Leute stehen blieben und sagten: »Allerhand Achtung! Der kann's ebensogut wie die Piepmösch.«

Und er konzertierte freier und schöner, immer inniger und zuversichtlicher, wobei die Himmelsschlüsselchen erwachten, die Schneeglöckchen klingelten, die Tage immer pläsierlichere Hirtzensprünge machten und der Herr Notarius Lenz sich frühlingsfreudig in die weiße Pikeeweste hineinlegte und seinen Angestellten gebot, die Oleanderbäume aus der dumpfen Öde ihres Winterquartiers zu holen.

»An die Luft mit den Kübeln. Avanti!«

Hei! da war es dem Büropersonal eine besondere Ergötzlichkeit, sie schnurgerade auszurichten, in Parade, die Schnirkeltreppe entlang, als wären die Grenadiere des preußischen Soldatenkönigs auf Schloßwache gezogen, während der Gestrenge selber das Ganze befehligte und den Dessauer Marsch dazu pfiff, stramm und exakt und mit dem scharfen Geschrill einer Pikkolo-Pfeife.

Mit dem Aufstellen der Oleanderbäume hatte der Frühling wirklich und wahrhaft seinen Einzug gehalten. Nun konnte nichts mehr fehlschlagen, nichts mehr die gute Laune verderben, denn der Herr Notar hatte hiermit die Sache offiziell beglaubigt, was entschieden mehr wertete, als alle Prophezeiungen der Wetterkundigen im heiligen Reich deutscher Nation.

Er sollte recht behalten, wenigstens im Hinblick auf die Gepflogenheiten des sonst vergrämeltsten Monats im Jahre. Dazu kam noch sein fröhlicher Präsentiermarsch. Er kribbelte bis in die Zehenspitzen hinein, machte die Köpfe klar und salbte die Gemüter mit dem Öl der Erkenntnis.

Auch die beiden Junggesellen atmeten auf, und wenn auch Rosalie noch immer wie eine Leidende umherging, ihr Tränenkrüglein dem unergründlichen Kännlein der Witwe von Sarepta ähnelte – sie hofften auf den Ausgleich der Dinge, auf die Möglichkeit einer ehrlichen, wenn auch falschen Prognose, um schlimmsten Falles die unliebsame Angelegenheit durch Preziosen in Schick und Richte zu bringen, obgleich sie sich als gewiegte Kaufleute sagen mußten: Es ist nicht klug und wohlgetan, sich mit der Politik eines Vogel Strauß zu befassen. Aber sie hatten ihre eigene Ansicht und ließen die Dinge hingehen, als wären es die unscheinbaren Flugsamen der Kettenblumen gewesen, zumal da Dores als Herold vor ihnen einhertriumphierte und die Allbarmherzigkeit, die noble Einfalt und die vorbildliche Freigebigkeit der Gebrüder in alle Winde trompetete.

Die Firma Prußt war ihr Schrittmacher geworden, der Angora-Bock ihr gediegenster Wardein und Spender. Ihr Ansehen wuchs, der Gleichmut der Seelen stellte sich wieder ein, und die bösen Augenblicke, die die Passahfeier zu einem Begebnis der Niedergeschlagenheit, der Verzweiflung und der Trauer gemacht hatten, heiterten auf, um sich schließlich als harmlose und friedfertige Gesellen herauszumustern.

Kommt Zeit, kommt Rat, alles wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird – mit diesen Axiomen liebäugelten sie, befreundeten sie sich und glaubten daran wie an die Auferstehung des Fleisches und die Anschauung Gottes.

Allerdings – dann und wann kamen ihnen Bedenken, und Elias setzte alle Hebel in Bewegung, Beispiele aufzutreiben, die mit dem vorliegenden Fall eine gewisse Ähnlichkeit hatten, aber in der Lage waren, für mildere Umstände zu plädieren, wenn nicht das Strafbare völlig auszuschalten.

Deshalb las und studierte er alles, was ihm tauglich schien, auch die milbenfeinsten Gewissensbisse aus seinem Herzen zu schmeicheln: Handpostillen, den Talmud, die Bibel, Almanache, so den ›Wacholdergeist für das Volk‹, den ›Lahrer hinkenden Boten‹, Zeitschriften, Schmöker übelster Sorte, selbst Hintertreppen-Romane, die sich mit den Nacht- und Schattenseiten des menschlichen Lebens befaßten, und wenn er so glücklich war, eine auf seine Lage passende Stelle gefunden zu haben, beehrte er seinen Bruder und sagte: »Ich hab' schon wieder was Großes in petto.«

»Nu, was hast du in petto?«

»'n Beispiel, um uns zu waschen adrett for Gott un die Menschen.«

»Schön!« nickte Maier, »studiere man weiter.«

»Nur keine Sorge. Ich tu's schon, un wenn ich ausstudiert habe, fällt uns alles Unreine stückweise vom Leibe herunter. Aber auch alles. Bedank' dir beim Eli,« und als ihm eines Tages der Bürovorsteher des Herrn Notarius Lenz das auch für den gesamten Niederrhein geltende französische Gesetzbuch zustellte und er nach eifrigem Bemühen den Artikel 340 des Code Napoleon vom 20. März 1804 erwischte, da taumelte er in eine purpurblaue Nacht der Verzückung, der Verklärung und der restlosen Wonne.

Kaum vermochte er sich auf den Beinen zu halten, so wirkten die Zeichen auf ihn ein. Fünfmal, zehnmal, zwanzigmal las er den betreffenden Passus. Auf einer Jakobsleiter stieg er in das ewige Himmelreich. Er begrüßte die Patriarchen, die Propheten, die großen und kleinen. Sie tranken aus Goldpokalen und brachten ihm einen herzlichen Willkomm. Er erfreute sich der Sulamith und der keuschen Susanne. Er sah alles, was hehr und heilig war und den Allgütigen lobte. Er hätte die Welt umarmen, sein ganzes Geld zum Fenster hinauswerfen mögen, nur um dieses einzigen Paragraphen wegen. Welcher Inhalt! Welche Klugheit! Welch ein Geist, welch ein grandioses Wissen und Wollen! Welch ein Können sprach aus diesem herrlichen Buche! Es war die Leuchte der Leuchten, das Alpha und Omega einer erhabenen Einsicht. Er stolperte von einem Glücksgefühl in das andere hinein. Er sah Sonnen, Monde, Planeten, Feuerwerkskörper, und das alles bei hellsichtigem Taglicht. Er vernahm Harfen und Zimbeln, Geigen und Flöten, und unter diesem vielfältigen Klingen schleifte er so rasch, wie er konnte, ins Kontor, um seinem Bruder diese unfaßbare Mär zu verkünden.

Leider! auch die Piepmösch war anwesend, saß auf dem Drehstuhl und reihte Zahlen an Zahlen.

»Sigismund, geh' in die Küche,« gebot er, »aber sofort un bestelle der Perlchen: wir wollen essen 'nen Kalbsbraten heute, zu Abend, aber 'nen großen mit Nieren.«

Maier erstaunte.

»Eli, was hast du?«

»Lasse ihn gehn. Ich kann nicht mehr warten. Wir müssen unser Mysterium haben, unser Geschmuse. Wir müssen ...«

Da sah die Piepmösch schief in die Ecke, legte den Kopf auf die Seite und dachte beim Verlassen des Zimmers: »Wenn sie besitzen ihre Heimlichkeit, so besitz' ich die meine,« und ging in die Küche.

»Maier, ich hab's. Ich hab's endlich gefunden!«

»Eli, was hast du gefunden?!«

»Das große Exempel. Wir können trinken 'ne Flasche Schepagner zusammen.«

»Woso?« fragte dieser.

»Wir sind schuldlos geworden, proper wie die gewaschenen Kinder. Wir haben nichts mehr zu förchten, befinden uns rein aus dem Dalles. Hier steht es,« und damit hatte er den Code Napoleon auf den Kontortisch geklatscht, aufgeschlagen und den Zeigefinger auf den wichtigen Passus gestempelt.

»Maier,« rief er begeistert, »es geht wie Matzes und Manna herunter.«

Dann las er: »Artikel 340: La recherche de la paternité est interdite, oder mit anderen Worten: Nach der Vaterschaft zu suchen, wird hiermit verboten.«

Er schaute auf, um den lapidaren Satz auf seinen Bruder wirken zu lassen.

Der stierte ins Leere, ins Rätselhafte hinein, als stünde Moses vor ihm und hätte noch einmal das Wunder mit dem brennenden Dornbusch vollführt. Hierauf stellte er die Fingerspitzen gegeneinander und fragte mit einer Stimme, die all ihren Glanz und ihren Schmelz vor eitel Staunen eingebüßt hatte: »Eli, wer hat's niedergeschrieben?!«

»Der Kaiser Napolium selber.«

Da schlug er die Hände zusammen, hielt sich an einer Stuhllehne fest, um vor tiefer Erregung nicht seinen Halt zu verlieren.

»Gott soll mich behüten in dem dreimal heiligen Himmel da oben! Unser König ist gut, aber der Kaiser ist besser. Hurra Napolium! Er müßte eingelegt werden in peruanischen Balsam. Dieser Plie, diese Majestät! Es ist zuviel für 'nen einzelnen Menschen. Wir wollen ihm schreiben. Wir wollen ihm schreiben nach Paris. Aber trinken wir erst 'ne Bouteille zusammen, um ihm zu danken for seine große Bekömmnis,« und damit riß er die Tür auf und rief durch den Hausflur: »Sigismund, per sofort: vier Gläser un 'ne Flasche Schepagner, aber die vom obersten Ende! auch die Perlchen soll kommen,« und bevor noch der Sekundenzeiger fünfmal seine eilige Runde gemacht hatte, saß bereits die ganze löbliche Korona um den Kontortisch, knallte der Pfropfen, zischelte und brüsselte es. stiegen die amüsanten Bläschen in den hohen Spitzgläsern auf und nieder.

Rosalie und Sigismund sahen sich an, als würde mit vollen Backen zur Kirmes geblasen. Sie sannen hin und her. Erwogen dieses und jenes, zerbrachen sich die Köpfe, bis die Kranenburgerin schließlich auf den angenehmen Gedanken verfiel, das niedliche Intermezzo könnte vielleicht mit ihren innigsten Herzenswünschen zusammenhängen. Diese Erwägung machte ihre Pulse schneller klopfen, verschönte sie und ließ ihre samtbraunen Mandelaugen in Tränen stehen, als Maier ans Glas klingelte, sich erhob, jedem einzelnen zublinkte und sagte: »Lieber Eli, Freunde un Gesinnungsgenossen! Es gibt erhabene Augenblicke im menschlichen Leben, solche, die sich mit die Geschäfte befassen, un solche, die sich nicht mit die Geschäfte befassen. Letztere nu haben 'ne tiefe Begründung. Allein sie vertragen die Luft nicht un müssen im Verborgenen bleiben. Ich will auch weiter nichts sagen. Nur dies noch. Wenn einer sich in 'ner schweren Bedrückung, in 'ner gewissen Niederlage befindet, muß er sich an den Kaiser Napolium wenden. Der Mann weiß Bescheid mit's Kriegführen un mit die Füseliere von hinten. Aber er kennt sich auch aus mit die Gesetzbücher un die menschlichen Schwierigkeiten. Die ihm nicht passen, läßt er einfach von seine impotenten Marodöre verzehren, auf daß wir sagen können: Suum cuique! Sein Wahlspruch.«

»Bravo!«

Elias nickte ihm Beifall.

Maier sprach weiter.

»Er hat Schwung, dieser Mann. Er ist l'empereur un Bürger in dem nämlichen Atem. Er ist gesetzt for die Christenmenschen un alle, die sich bekennen zum mosaischen Glauben. Er hat die Lazzeruntasch erfunden un die Bataille verfertigt. Er duwelliert sich mit die wildesten Völker in Afrika un solche, die sich hundert Stunden hinter die Vereinigten Staaten befinden. Er ist überall allgegenwärtig. Auch in diesem Hause will er präsent sein. Er streckt die Hand über uns aus un wendet alles zum Guten, ist er doch gesetzt for die leidenden Völker. Der Mann verdient ein gefälliges Gläschen. Nu, warum soll er nicht verdienen ein gefälliges Gläschen? un daher: der Kaiser Napolium lebe – Hurra un nochmals Hurra un zum drittenmal Hurra!«

Alle stießen an: die Brüder recht kräftig und zukunftsfreudig, Rosalie nur schwächlich und die Piepmösch am schwächlichsten, denn die letzten wußten so recht nicht, wo die Rede hinauswollte und was sie bezweckte.

Aber die Chefs wußten es, ihre Gedanken flüsterten es sich wechselseitig zu: »Artikel 340: La recherche de la paternité est interdite, oder mit anderen Worten: Nach der Vaterschaft zu suchen, wird hiermit verboten.«

Nach dieser Stunde war den beiden ein Alp von der Seele gefallen. Sie konnten es darauf ankommen lassen, denn das Gesetz bot keine Handhabe, ihnen besonders unangenehme Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Nur das Gerede, das heimliche Tuscheln und Raunen, das Flüstern von Ohr zu Ohr, das Pasquillieren von Haustür zu Haustür, am Stammtisch, auf der Kegelbahn, und das Hantieren mit dem Scherchen ›Fleißiglich‹ – wenn solche Dinge nur nicht aufkommen wollten! Aber sichtlich ging auch dieses vorüber. Die Stadt blieb ruhig, die Estimierung hielt an, und so konnten sie, abgesehen von kleinen Zwickereien des eignen Gewissens und der Tränen der Perlchen, sich wieder des Lebens erfreuen und mit frischem Mut ihre Geschäfte betreiben.

Maier schaffte für viere. Von morgens bis abends war er auf Tour, teils zu Fuß, teils mit dem Schimmelpferdchen. Er besuchte die Bauern und Großgrundbesitzer in der ganzen Umgebung. Er rief in Emmerich an, in Hönnepel, in Hochend, er sprach in Till und Beylerward vor, und wo er anklopfte, machte er Abschlüsse und gute Verträge. Auch hatte er bereits einen großen Teil der Orders für die diesjährige Roggen- und Weizenernte getätigt, natürlich unter Vorbehalt und mit schönen Prozenten.

Ganz schlicht und einfach, nur mit dem landläufigen Leinwandkittel angetan, die seidene Schirmmütze übergezogen und den geschälten Dorn in der Rechten führend, mehrte er den Kassengewinn, allzeit von dem erhabenen Grundsatz beseelt: »Der Mensch hat im Schweiße seines Angesichtes seine Tage zu nützen, bis zu ihm kommt der unerbittliche Zerstörer aller Gemeinschaft.«

Die Vogel-Strauß-Politik machte allerdings weitere Fortschritte, ließ sich nichts abgehen, ohne dabei das Bedenkliche ihres inneren Wesens zu zeigen und sich vorderhand irgendwelche Schwäche zu geben. Und doch war alles nur Talmi, Katzengold, das trügerische Glimmen von Holzmulm. Die übertünchten Gräber im Tale zu Josaphat boten mehr Gewähr für eine lebensfreudige Praktik als diese unzulängliche Staatskunst und verstanden es nicht, wie die hellen Gebrüder sich so leichtfertig mit den bedrohlichen Tatsachen abfinden konnten. Allerdings, der Wüstenvogel hatte Kopf und Hals in irgendeine Röhre geschoben, wähnte sich geborgen, allein sein stattlicher Pürzel wackelte herausfordernd über dem Sandloch, bis es schließlich aller Welt auffallen mußte. –

Es war an einem gottwohlgefälligen Abend. Die Luft hing voller Sonnenglanz und rosiger Schaumwölkchen, in den Wiesen schwirrten die Rallen, und tief im Westen stand eine Glorie, wie sie sich nur noch findet auf den Tafeln niederrheinischer Meister – siehe: da marschierte der Zweitgeborene, von Honnepel kommend, woselbst er Kleesaat umgesetzt hatte, in das Hanselaerer Tor ein, quietschvergnügt und immer noch zehrend an dem fundamentalen napoleonischen Grundsatz, als in Höhe des Marktes der Bocken-Dores auf ihn zutrat, den Bart auseinander scheitelte und mit zusammengerückten Augenbrauen erklärte: »Sie wissen, was ich damals gesagt hab'! Damals hab' ich gesagt: das Haus Numero sieben hat in mir 'nen Freund gefunden auf Leben und Sterben, allweil auf Posten, stumm wie'n Sargnagel, toujours in Gala für seine Geschäfte, zu Meer und zu Lande, und sollte einer den Schnabel auftun, um ihm das Honnör zu verkleistern – Himmelkreuzgewitter und kein seliges Ende! ich brech' ihm alle Knochen im Leib zusammen.«

Er machte eine vielsagende Pause.

»Ich weiß es.« bestätigte Maier.

Dores fuhr fort: »Das halt' ich auch noch heute für voll, denn was Sie mir und Stina an Liebe und Wohlwollen angetan haben, das wird mit dem Rosenkranz heruntergebetet. Für Ihnen bin ich auf Posten gestanden, hab' ich gelaustert, ob einer das Mundwerk offen tun täte, um Ihnen an den Schandpfahl zu heften. Allerdings: offenkundig hielten sie den Schnabel geschlossen, aber inwendig und heimlicherweise ...«

Maier wurde unruhig. Er schwitzte wie ein Kalkant auf einer Orgeltribüne.

»Herr Prußt, ich bitte Ihnen, machen Sie keine Menkenke.«

Der Alte sah sich vorsichtig um. Als er sich überzeugt hatte, daß ringsumher keine Gefahr drohte, sagte er leise: »Menkenke? Ich mache niemals Menkenke. Aber es stimmt nicht im preußischen Vaterland. Alle Mann auf Deck! Sie und Herr Eli befinden sich dem Pulverfaß nahe.«

»Spaß!« lächelte Maier.

»Ich sage Ihnen, die Schlüssellöcher haben Augen und die Türen Ohren bekommen. Man redet von Mißbrauch des Bettes.«

»Spaß!« wiederholte Maier: aber er hatte das Lächeln vergessen.

»Kreuzkuckuck noch mal! ich will nur Ihr Bestes, denn Großartigkeit gegen Großartigkeit. Diesen Standpunkt habe ich immerst vertreten, ebenso wie das erhabene Wort: Mit Gott fang' an, mit Gott hör' auf, das ist der beste Lebenslauf. Ich weiß, was ich weiß. Seien Sie vorsichtig, oder es kommt über Ihnen wie Lack und Moratze. Die ganze Geschichte hakt mit Rosalie Perlchen zusammen.«

Der Vize-Chef erbleichte, bezwang sich aber und schlug einen überlegenen Ton an.

»Herr Prußt,« sagte er grandig, »das beängstigt mich nicht. Wir können's. Wir haben den Kaiser Napolium mit uns, wir un die Firma.«

»Der?!« griemelte Dores und kniffelte die Enden seines Bartes zusammen, »der hat im preußischen Vaterland nichts mehr zu sagen. Und dann überhaupt so! Wer will gegen die sogenannte Heimlichkeit anoperieren? Im allgemeinen geht's nicht und im speziellen erst recht nicht. Das ist justemang, als würde einem bei nächtlicher Schlafzeit die Luft abgedreht mit schmutzigen Händen.«

»Herr Prußt, bleiben Sie bei 'ner richtig gehenden Besinnung. Es zerreißt mir die Ohren.«

»Trotzdem! Sie sollen in mir Ihren Freund estimieren. Vor dem Paragraph sind Sie schuldlos, Sie und der Eli, aber vor dem intimeren Maulwerk werden Sie einfach verdonnert. Das klebt Ihnen an, das schleppt Sie moralisch aufs Schafott, das ruft Ihnen den Rabbiner, den Gebettempel und die ganze Stadt über dem Halse.«

Maier bibberte.

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen vielmals. Herr Prußt.«

»Hier ist gar nichts zu danken. Sie müssen sich selber benehmen. Der Kaiser Napolium kann gar nichts drin machen. Der konnte nicht mal die moskowitischen Russen und den alten Blüchert belernen. Sie aber ... lassen Sie die Veilchen schießen, Sie und der Eli, oder aber ...«

Er unterbrach sich.

»Da kommt wer. Ich geh' jetzt.«

Maier gab Öl, schwitzte Salztränen und sah nur noch eine zertrümmerte Welt, über die sich eine blutrote Gardine hinzog, und in dieser Verfassung ging er, nein: taumelte er über die Schwelle des sündigen Hauses.

Also das war das Ende! Unter ihm wankte der Boden, über ihm brach der Himmel zusammen. O du Barmherzigkeit Gottes! auch der berühmte Artikel 340 konnte ihm absolut nichts mehr bieten. Dores hatte ihm die Augen geöffnet, hatte ihm Bilder gezeigt, die selbst eine Schreckenskammer nicht aufweisen konnte. Er wischte sich über die Augen, diese Phantasmagorien aus seinem Gesichtsfeld zu scheuchen. Aber was half es? Immer kehrten sie wieder, nur noch schrecklicher, vertierter, mit qualmender Lohe überschüttet. Jetzt erkannte er erst: in diesem Falle war auch der große Kaiser machtlos geworden. Vor dem Friedensrichter konnte der gefeierte Paragraph vielleicht noch bestehen, aber nicht vor dem Geraune der kleinen Stadt, dem Rabbiner, dem Gebettempel, nicht vor der Moral und seinem eigenen Gewissen.

Er warf sich in den Sessel hinein, nachdem er zuvor die Tür abgeriegelt hatte.

Er wollte allein sein, vorderhand keinen mehr sehen.

Ihm kamen Gesichte.

Er vernahm gellende Posaunenstöße, die ihn wirbelsinnig machten.

Wa... was! waren das nicht die silbernen Posaunen, die von den Leviten geblasen wurden und zum Sanhedrin, dem fürchterlichen Gerichtshof, riefen«!

Ja, er wurde gerufen, er wurde vor die Stufen des höchsten Gesetzes geladen.

Er sah die gerichteten Bänke, das Buch der Bücher, den Ankläger, die Zeugen, Rosalie Perlchen. Er sah die schwarzgekleideten Diener die umflorten Ölbehälter anstecken. Er sah sie umhergehen, ihn mit unbarmherzigen Augen verfolgen. Irgendwo wurde eine dumpftönende Bronzeschale angeschlagen.

Dann eine entsetzliche Stille, und durch diese Stille kam einer gewandelt, bleich wie das Sterben, mit strähnigem Bart, ebenholzschwarz, gleich den Schwingen eines Raben: Joseph Kaiphas, der Schwiegersohn Hannas, aus dem Geschlecht der Sadduzaer. Und Joseph Kaiphas, der das Amt des Hohenpriesters führte, ließ sich nieder und trat in die Verhandlung ein, unerbittlich und mit blutleeren Lippen.

»Erbarmen, Erbarmen!«

Aber es gab kein Erbarmen. Er wurde mit Asche bestreut, und durch diesen Aschenregen hindurch vernahm er die Worte: »Er ist schuldig der Tat. Steinigt ihn, steinigt ihn!«

Bald darauf fand er sich im Tal Josaphat wieder, dem traurigen Tal zwischen schwarzen Felsblöcken, durch die der Kidronbach gurgelte.

Es war die Gerichtsstätte.

Er sah noch die Knechte ihre Oberkleider ablegen, die Muskeln mit Öl salben und sich niederbeugen.

Sie griffen nach Steinen, hoben sie gegen ihn auf, fluchten und lachten ...

Dann nichts mehr. –

Gegen acht Uhr des Abends wurde er ruhiger.

Er speiste gemeinsam mit seinem Bruder, der Kranenburgerin und Sigismund Mendel.

Trotz der großen Aufregung, die ihm in den Gliedern lag, beherrschte er sich: aber immer wieder trat ihm in den Sinn: »Du zählst zu den Ausgestoßenen. Du bist vermaledeit unter den Menschen!« Zuweilen wähnte er, noch im Sanhedrin zu sitzen, auf gespannter Bank, die düsteren Lichter, die eilfertigen Diener und Joseph Kaiphas vor Augen ... und dort in der Ecke, neben dem blankgewichsten Kanonenofen mit den Messingschlängelchen, dämmerte das Tal von Josaphat auf, mit seinem monotonen Gegurgel und den grausamen Kieseln. O diese Stätte der Tränen! Mit aller Willenskraft zwang er diese Eingebungen nieder. Heute noch nicht, erst morgen wollte er mit seinem Bruder das Nähere überlegen, um wenigstens einen erträglichen Ausgang aus dieser qualvollen Enge zu finden. Mit dem neuen Tageslicht war der Geist vielleicht klarer, gesunder, aufnahmefähiger.

So wartete er denn. –

Während des Abendessens wurde kaum eine Unterhaltung geführt.

Die Lampe summelte durch den hohen Zylinder; auf der Anrichte brannten zwei Kerzen.

Sonst keine Anregung, kein freundliches Wörtchen.

Nach dem Abdecken empfahlen sich Rosalie und Sigismund Mendel, sie unter Tränen, er in gleichwertiger Seelenverfassung und Zimtborke kauend.

Bald darauf erhob sich auch Maier aus seinen Todesgedanken und sagte: »Du, gehen wir schlafen,« als die Hausklingel gerissen wurde und durch alle Gänge und Flure rumorte. Das infame Geräusch schien einen hundertfältigen Resonanzboden gefunden zu haben. Es drang aus dem Keller, aus dem ersten Stockwerk, es lamentierte hoch vom Söller herunter.

Mit schlotternden Knien begab sich Maier zur Haustür.

Niemand war draußen, aber ein Brief lag im Kasten.

Den nahm er, eilte ins Zimmer zurück, erbrach das Kuvert und las mit Teleskopaugen:

»Mene tekel! Die Historie von Susanne und Daniel. Vers drei: Sie hatte fromme Eltern, die sie unterwiesen nach dem Gesetz Mose – Vers Zwanzig: Der Garten ist verschlossen. Niemand siehet uns. Wir aber sind entbrannt in deiner Liebe. Darum so tue uns unsern Willen. – Vers einundzwanzig: Da erseufzete sie und sprach: Ach! wie bin ich in so großen Ängsten. Denn wenn ich es tue, so bin ich des Todes; tue ich es aber nicht, so komme ich nicht aus euren Händen. Zum letzten: Und es geschah ihnen nach dem Gesetz, wie sie sich an ihrer Nächsten verschuldet hatten, und wurden getötet. Also ward des selbigen Tages ein junges Leben gerettet.«

Die Unterschrift fehlte.

Da brach Maier wie eine gefällte Kiefer an der Tafel zusammen.

Das war wirklich das Ende.

»Gott Abrahams, hilf mir!«

Jetzt hatte auch Elias gelesen ... und taumelte gleichfalls ... ein Rohr im Winde ... und knickte ab, um sich mühselig und jammernd in eine Sofaecke zu schleppen.

Bange, endlose, martervolle Minuten vergingen. Alle Folterwerkzeuge im ›getäfelten Stüblein‹, wo Meister Peinmann mit seinen Gesellen amtierte, waren Annehmlichkeiten gegen diese nichtswürdigen, stumpfen Minuten.

Maier, als der Jüngere und Stärkere, erholte sich endlich und sprach wie durch einen blutigen Nebel hindurch, abgehackt ... zerbrochen ... hin und her tastend ... gleichsam mit einem Messer im Rücken ... Er erzählte ihm alles: sein Begegnen mit Dores ... dessen Wahrnehmungen ... das geheime Gerede ... und wie der Artikel 340 an Boden verlöre und gewissermaßen vor dem öffentlichen Gerichtsverfahren der mißgünstigen Menschen ersticken müsse.

Dabei drehte er mechanisch das Licht ab und zündete die Kerze an, die ihn jeden Abend beim Schlafengehen auf sein Zimmer begleitete.

Der Senior-Chef hörte zu, als würden ihm die Sterbegebete gesprochen.

»Lasset alle Hoffnung fahren! Unsere Arbeit ist for gar nichts gewesen. Wir haben nur Grummet geerntet.«

Es war ein Jammer ohnegleichen, ein Sichverlieren in eine steinichte Wüste, die weder eine kühle Oase hatte, noch das Labsal einer munteren Quelle.

Dazu das Schweigen einer Gräberstraße, das Säuseln von schwarzen Lebensbäumen, das Brennen von trüben Totenlampen. Aber durch dieses Schweigen dämmerte es plötzlich auf.

Maier stierte in dieses Dämmern mit glanzlosen Augen.

Es mußte etwas geschehen ... ohne zu zögern ... in gegenwärtiger Stunde. Und es geschah etwas: ein Eingriff mit schartiger Klinge.


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