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Sechstes Kapitel

Von der ehrreichen Stadt und dem alten Holunder, der auf dem Wallgraben an der zerbröckelten Mauer sein beschauliches Dasein fristete. Der projektierte Handel zwischen Maier und dem Bocken-Dores geht jämmerlich in die Brüche, worüber letzterer und seine Tochter, die bei den Gebrüdern Spier bedienstete Schabbesgoi, sich weidlich entsetzen. Abends bläst der Postillion Stäwe Feldhüsen eine seiner prächtigen Fanfaren. Wie Rosalie Perlchen unter diesen Posthornklängen eintriumphiert und der gute Mond der Ansicht ist: »Es ist schön gefaßt – dieses Perlchen«.

Vom Kesseltor bis zum Tore, das nach Kleve und Goch führte, erstreckte sich die alte Wallmauer, ein Überbleibsel aus längst dahingegangenen Tagen, während welcher die damals ehrenreiche Stadt ihre eigene Selbstregierung und Selbstverwaltung, ihre eigene Gerichtsbarkeit und Kunstpflege hatte und auf einem Balken des Rathaussaales die denkwürdigen Worte in goldenen Buchstaben geschrieben waren:

»Concordi sapiens qua regnat in urbe Senatus
Nullius haec verae laudis egere potest,«

oder auf deutsch gesetzt:

»Welches Lob gebührt der Stadt, wo Eintracht herrschet und Wohltun
Und ein hoher Senat weise das Zepter regiert.«

Jetzt alles dahin! Die goldenen Lettern verblaßten, die eigene Selbstverwaltung schrumpfelte ein, die hohen Zinnen der Basteien und Warten lagen gebrochen, und nur noch ein kümmerliches Ziegelwerk erinnerte an die Zeiten des Glanzes, wo ein Johann der Friedfertige regierte und die wehrhaften Knechte ihr Fähnlein fliegen ließen zu Ehren der seßhaften Bürger und zum Wohlergehen des Reiches. Aber die Natur war gütig gewesen. Über die zerbröckelte Umwallung spreitete sie einen Teppich von zierlichen Lebewesen, von Gräsern und Halmen, von Männertreu und Mauerpfeffer, von Hahnenfuß und dottergelben Kuhblumen, die jetzt ihre schleierfeinen Lichtchen aufgesteckt hatten und eifrig dabei waren, die niedlichen Flugsamen durch Gottes linde Sommerweite zu blasen ... und was das Versöhnlichste war: unmittelbar neben einem windschiefen Stallgebäude drängte sich ein hochbetagter Holunder aus Mörtel und Ziegel, um einen verfallenen Wehrturm mit seinem Laubgewinde über und über zu bedecken.

Welch ein prächtiger Bursche, dieser alte Holunder! Schon zu Großvaterzeiten hatte er geblüht und seine grüne Seide gesponnen. Schon in Olimstagen waren die Kinder zu ihm gekommen, hatten aus seinem markigen Holz ihre Fliederbüchsen geschnipselt, hatten seine duftigen Dolden und aromatischen Beeren gesammelt und dabei fröhlich gesungen:

»Flierentee, trinkt Flierentee,
Dann tut euch der Bauch nicht weh ...«

waren die liebenden Pärchen seine heimlichen Genossen gewesen, während ein stiller Mond heraufzog und alles umschleierte: Stadt und Land, Felder und Wiesen und verträumte selige Angelegenheiten. Ach, was hatte der ehrwürdige Herr nicht alles gehört, belauscht und gesehen! Er konnte bei Jahresschluß getrost registrieren: hundertundfünfzig sich schnäbelnde Menschenkinder, unzählige Küsse, ebensoviele Beteuerungen und Seufzer, lachende, spielende, fröhliche Knaben und Mädchen – tausend und zwanzig ... und der Segen des Himmels hatte ihn beträuft ... Gottes liebe Sonne ihn beschienen ... und er hatte gegrünt und gesummelt und köstliche Dolden getragen ... ein Tüll- und Spitzenwerk seltenster Art ... und jetzt blühte er wieder ... und vor ihm stand eine hohe Gestalt im langen Patriarchenbart, etwas schäbig gekleidet, aber zuversichtlich, und die Schirmmütze tief über Hinterkopf und Nacken gezogen: der Bocken-Dores.

Was wollte der Mann in diesem entlegenen Viertel, wo nichts zu sehen war als bresthafte Scheunen und Ställe, etliche Düngerhaufen, zitternde Sonnenreflexe, herumvagabundierende Sperlinge und der gute, treuherzige, liebe Holunder? Konnten ihn die Düngerhaufen interessieren? Nein. Die zitternden Sonnenreflexe? Auch die nicht. Die schilpenden Wegelagerer und der gute, treuherzige, liebe Holunder, der so anheimelnd plauderte und seine besten Düfte verschwendete? Offen gestanden, die ebensowenig. Dann die Ställe vielleicht, die Remisen und Scheunen? Schon eher, denn sein Blick drängelte sich haarscharf an dem grünen Wächter vorbei und blieb an einer niedrigen Pforte haften, über der zu lesen war: »Elias und Maier Spier, Viehhandel und Produktengeschäft.«

Also – die Stalltür, die war es, die ihn energisch anzog und sein ganzes Sinnen und Trachten beherrschte? Schon richtig. Weder die Düngerhaufen, noch die Sonnenreflexe, weder der Sambucus nigra, noch die übermütige Spatzengesellschaft hatten ihm etwas zu sagen. Die Tür allein nagelte ihn fest, ließ ihn harren und hoffen und das ›Sesam, öffne dich!‹ aus ›Aly Baba und die vierzig Räuber‹ sehnsüchtig erwarten.

Lange vor der verabredeten Zeit war Dores erschienen. Wenigstens zwanzig Minuten stand er jetzt schon auf Posten, steif wie ein Pfahl, elf blanke Taler im Sack, die er hell gegeneinander klimpern ließ, um die Aufregung seines inneren Menschen niederzuzwingen.

Wie eine liebliche Fata Morgana gaukelte ihm der Angora-Bock an der geschäftigen Seele vorüber.

Da endlich!

Zukunftsfreudig kam es von Sankt Nikolai herunter.

Er atmete auf.

»Elf Uhr,« sagte er glücklich.

Mit dem letzten Glockenschlage tat sich das Tor auf, und drei Köpfe erschienen: der von Elias, der von Maier und der von Sigismund Mendel.

»Bitte, angtree!« riefen alle wie aus einem einzigen Munde.

Dores trat ein.

Das Weitere wurde hinter verschlossenen Planken verhandelt.

Fünf Minuten vergingen. Nichts ließ sich hören.

Zehn Minuten: es blieb alles beim alten. Nur dann und wann ein Lamentieren und Feilschen.

Fünfzehn Minuten: die Aktion wurde lebhafter. Plänkeleien und Vorpostengefechte.

Zwanzig Minuten: Wehrufe und heiße Beteuerungen. Allmähliges Vorgehen auf der ganzen Linie. Schwadronen rasselten ab und zu. Die Schlacht war im Gange, ebbte zurück, um wieder mit heller Furie von neuem aufzulodern. Signale und ›Das Ganze halt‹. Die Katastrophe war fertig, denn genau zwei Minuten vor halb ...

»Verfluchte Mischpoke!«

Die Stalltür flog auf.

Dores erschien, die zerknüllte Schirmmütze zwischen den Fingern der Linken, die Rechte drohend erhoben: »Ihr seid wohl des leibhaften Satans, ihr dreie! Dreißig Taler für 'nen niederträchtigen Stänker ...! Balbiert andere über Nase und Löffel, aber laßt 'nen christkatholischen Geschäftsmann zufrieden!«

»Gott der Gerechte!«

Wiederum erschienen die drei Köpfe von eben: der von Elias, der von Maier und der von Sigismund Mendel.

»Bedenken Sie die Bonität von dem Bock!« zeterte Maier.

»Er ist ein Emir, ein Pascha! Er nimmt es auf mit dreizehn Kollegen. Herr Prußt, geben Sie achtunzwanzig preußische Taler, un die Sache ist fertig.«

»Ich denke nicht dran.«

»Dann fünfunzwanzig un zwei!« lärmte Elias. »Er ist for geschunken.«

»Drückt mir den Rachen! Ihr könnt mich von hinten ...«

»Apopo, geben Sie zwanzig un fünfe!« rief Sigismund Mendel, »un Sie haben gemacht Ihre Fortüne.«

Maier streckte die Hand aus.

»Herr Prußt, schlagen Sie ein. Auf Edelmannsparole: for fünfunzwanzig – Sie sollen ihn haben.«

»Für vierzehn!« schrie Dores, »und kein Dobbeltje mehr nicht.«

»Herr Prußt, wir haben die Ehre!«

Fort waren die drei.

Hart schlug die Tür zu.

Fast hätte Dores Schaden genommen, so nadelscharf waren ihm die Planken an der Nase vorbeigerumpelt.

»Ihr Rackerzeug, ihr verflüchtigen Juden ...!«

Er hob nochmals die Faust und hatte einen noch derberen Fluch zwischen den Lippen.

Allein Dores war ein Mann von Qualitäten. Er ließ den Arm wieder sinken und schluckte den Fluch hinter die Binde.

Er dachte daran, seiner Tochter das Amt als Schabbesgoi zu nehmen, sie in seine eigene Behausung überzuführen. Allein auch hier überwog eine kühle Erwägung. Nur ja keine Übereilungen, keine semitische Hast, keine Gewalttätigkeiten. Vielleicht konnte ihre jetzige Stellung ihm dienlich sein, seinen sehnlichsten Wunsch, trotz aller Fährnisse und Widerwärtigkeiten, dennoch in die Tat umzusetzen – und dieses Kalkül als richtig hinnehmend, zog er seine zerknüllte Mütze über den Kopf und stakelte verärgert und schwer gekränkt, wenn auch nicht ganz ohne Hoffnung, nach Hause. Alsbald lagen die wohligen Düngerhaufen hinter ihm, die heißen Sonnenreflexe, die alten Scheunen und Ställe und die herumlungernden Spatzen. Ach, und der gute, treuherzige, liebe Holunder, wie zutraulich gab er sich jetzt! Schöner denn vorher, als das Gelärm der vier handelnden Männer seine stillen und beschaulichen Zweige beunruhigte. Jedes Blättchen wandte sich den warmen, belebenden Strahlen entgegen. Die flachen Büschel drängten sich enger zusammen, küßten sich, umarmten sich und erschauerten wechselseitig unter einer verschwiegenen Aussaat von Blütenpuder, Sporen und Staubbeutelchen – in Liebe sich findend, nimmer müde und das heilige Wunder der Befruchtung begehend, während die Mehlschwalben auf und nieder revierten und diesen verlorenen Erdenwinkel mit ihrem monotonen Sirren und Schwirren erfüllten.

Im Spierschen Bering herrschte eine zwiespältige Stimmung.

Stina ging maulend umher, rappelte herausfordernd mit Kasserollen und Blechgeschirren, gesonnen, eine kleine Palastrevolution in Szene zu setzen. Allein die Piepmösch legte sich rechtzeitig ins Mittel, fuhr ihr sanft über die Kruppe und vertröstete sie auf bessere Zeiten.

Auch der Senior-Chef war in übelster Laune. Das entgleiste Geschäft machte ihn unwirsch, nachdenklich, ungerecht gegen alle, die ihm unverwandt und zugetan waren, wenigstens auf Stunden hinaus, bis Maier ihm kurzerhand erklärte: »Was stehst du? Was kuckst du? Was machst du for miese Geschichten? Haben wir getrunken Schmollis mit dem krummbeinigen Pharisäer Schikmi, der mit gekrümmtem Rücken einhergeht, als trüge er 'ne schwere Last von Hypotheken un unbezahlten Rechnungen von Hause zu Hause? Ich werfe den krummbeinigen Pharisäer Schikmi über die Schulter. Ich werde ihn auf dem Blutacker Hakeldama begraben. Un du ...? Was hast du zu sorgen? Du hast gar nichts zu sorgen. Wir befinden uns in bester Verfassung. Daran ändert der Bock nichts, un ich sage dir, Eli, das Geschäft wird gemacht, so wahr ich hier stehe. Der Mann wird zur Einsicht gelangen. Er wird nicht schreien, noch rufen. Man wird seine Stimme nicht auf der Straße vernehmen. Sondern kommen wird er un die fünfunzwanzig Speziestaler erlegen. Also was stehst du? Was kuckst du? Lege die Hand an den Pflug, aber schaue nicht rückwärts. Es wird alles schon werden ... un denke daran: Ende der Woche wird die neue erscheinen.«

Da lächelte Elias und sagte: »Rosalie Perlchen! O, wie schmuck ist ihr Gang in den Schuhen. Ihre Lenden stehen gleich aneinander wie zwo Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat. Ihre Lippen sind wie 'ne rosinfarbige Schnur, Hals un Schultern wie der Turm Davids mit Brustwehr, daran tausend Schilde hangen un allerlei Waffen der Starken.«

»Na also!« bestätigte Maier und lispelte weiter: »Un ihre Brüste sind wie Rehzwillinge, die unter Rosen weiden.«

»Wie – was?« fragte Elias.

»Wie Rehzwillinge, die unter Rosen weiden.«

»Schön!« nickte Elias und ließ die Augendeckel herunter.

Diese Unterredung träufelte lindes Öl auf die erregten Gemüter. Alle Bedenken wanderten ab. Rosalie Perlchen beherrschte die Stunde, gab sonstigen Gedanken und Erwägungen keinen Raum, und obgleich alle wußten, daß sie erst Ende der Woche eintreffen würde – kaum, daß die zweimal am Tage fällige Klever Post in die kleine Stadt hereinrappelte und das Posthorn ertönte:

»Ach, du mein lieber Schatz,
Gib mir 'nen festen Schmatz;
Komme just stante pe
Von der Chaussee ...!
Von ... der ... Chaussee ...!«

kaum also, daß das Posthorn revierte, sofort waren alle Beteiligten am Fenster, um der sehnlichst Erwarteten einen liebevollen Empfang zu bereiten, ihre Tage zu schmücken, zu verhätscheln und zu auserwählten zu machen: ja, Maier sprach sogar des öfteren beim Postmeister vor: ob vielleicht das Fräulein unterwegs ausgestiegen wäre, ob es möglicherweise am Reisegeld gefehlt hatte, ob vielleicht sonstige Umstände eingetreten wären, die das Projekt der richtigen Abfahrt hinfällig machten – alles Fragen, die der biedere Herr mit der Gänsefeder hinterm Ohr nicht beantworten konnte ... bis eines Abends ...

So wonnig hatte das Junilüftchen noch niemals gewispert, so zärtlich die alte Linde noch niemals geduftet, so allverheißend der Liebesstern noch niemals über dem ehrwürdigen Rathaus gestanden wie heute, als sich jenseits des mit Schilf bewachsenen Ravelins ein Klingen erhob, das in silbernen Bändern über die weite Niederung flatterte. Immer näher und näher! Jetzt schaukelte es über den Paternosterdeich hin, jetzt über den Leedeich. Das Echo kam von der Sankt Nikolaikirche zurück. Die Leute traten ins Freie heraus, um besser hören zu können. Selbst die Kegelgesellschaft ›Gut Holz‹ machte eine angemessene Pause. Die alten Pappeln, die die Landwehr umstanden, summelten mit. Immer lauter und freier! Immer packender und einladender! Hei, wie das tönte! Als hätte der Stabstrompeter von August Kopisch geblasen, so klang es:

»Er trompetete klar, er trompetete rein,
Als ging's mit Vater Blücher nach Paris hinein!«

Die Natur hielt den Atem an. Menschen und Tiere lauschten beseligt.

Auch die im Hause Spier fuhren erregt in die Höhe.

Just hatte Stina die Lampe ins Zimmer getragen, als die Scheiben klirrten.

»Das ist sie,« rief Sigismund Mendel, »sonst könnte der alte Stäwe Feldhüsen so grausig nobel nicht blasen!« und fort war er, als wäre er durch die Wände getreten.

Maier wollte ihm nach.

»Du bleibst,« gebot ihm sein Bruder, »denn wir müssen bewahren die Dekoration. Es muß alles von ungefähr kommen, so wie 'n natürlicher Wasserfall im zolonischen Garten, sonst kann sie keine Estimierung un keinen Respekt nicht besitzen zu die Herren des Hauses.«

Das sah Maier auch ein.

Er blieb, ging aber wie ein eingekäfigtes Tier über die Dielen, das Cäsarenhaupt schüttelnd und die Goldplomben weisend, die Brust voller Pläne und Neuerungen, während Sigismund mit der Eile eines Wettläufers auf den olympischen Spielen durch den wohligen Sommerabend flitzte, um noch vor Eintreffen des kanariengelben Rumpelkastens sein Ziel zu erreichen.

Als er dort ankam, stand bereits der Herr Postmeister Naatje Hangkamer in voller Montur auf der obersten Treppenstufe, die Kulpsaugen so blank, als wären sie auf einer Knopfgabel geputzt worden, streng dienstlich, aber doch mit einer gewissen Jovialität getempert, denn er trat offensichtlich aus seiner amtlichen Reserve heraus, als er dem atemlosen Sigismund zuwinkte und ihm zu verstehen gab, er möge sich Zeit lassen, zwei Minuten könnten immerhin noch vergehen, bevor der Wagen eintreffen würde. Auch setzte er freundlich hinzu: »Gratulor, Piepmösch! Nun wird sie wohl kommen, denn wenn Stäwe so bläst ...«

»Herr Postmeister, hab' ich auch schon gesagt. Ist es doch was Erhabenes um so ein Trompeten.«

Er kam nicht weiter.

Immer voller, immer glänzender riefen die Klänge herüber, wandelten sich allgemach in ein sanftes Adagio, um schließlich in das wehmütige ›Heinrich schlief bei seiner Neuvermählten‹ überzuleiten, bis die Gäule anhielten, Stäwe vom Bock kletterte, mit einer gewissen Grandezza den Schlag aufriß und meinte: »Endstation! Alles aussteigen!«

Sigismund Mendel sprang zu.

»Sie haben majestätisch geblasen mit die schönen Gefühle. Herr Feldhüsen,« sagte er glücklich. »Gott, wer das könnte!«

»Tu' ich immer,« versetzte der Alte, »wenn so was Nettes und Molliges hinter meinen Pferdeschwänzen herjockelt.«

Mit seinem breiten Daumen zeigte er über die Schulter: »Achtung, die Herren!«

Erst kam ein sauber zusammengenesteltes Bündelchen zum Vorschein. Das war ihr Bündelchen.

Ihm folgte ein Sonnenschirmchen.

Das ihre.

Dann ein niedliches Lastingschühchen. Das war ihr Lastingschühchen.

Hierauf zeigte sich ein weißbestrumpftes, rundliches Beinchen: ihr Beinchen ... und schließlich ...

Mit einer leichten Bewegung, flinkfüßig, unter heiterem Kichern, ein muntres Strohhütchen auf den gescheitelten Haaren, das dünne Kattunkleidchen voller Schnee – also sprang ein dralles, üppiges, angenehmes Menschenkind aus der Postkutsche auf das Straßenpflaster. feindrahtig, gleich der Königin Teje, der Lieblingsfrau Amenophis' des Dritten: Rosalie Perlchen.

Der Piepmösch kribbelte es ausnehmend gut über den Rücken.

»Willkommen im neuen Heim! Die Herren warten schon lange. Wir haben nicht weit. Hundertunfünfzig Schritte vielleicht. Es ist bloß ein kleiner Spaziergang, 'ne angenehme Aufmunterung. Ach! werden die Chefs sich erfreuen. Es sind Edelmänners vom obersten Ende. Kommen Sie mit mir. Herr Postmeister, ich habe die Ehre: ich habe die Ehre, Herr Feldhüsen!« und damit zog er mit Rosalie ab, während Stäwe noch einmal sein Horn unter den Schnurrbart setzte und ihnen nachtrompetete:

»Rattatatittata,
Rattatatittata,
Rattatata ...!
Ratta ... ta... taaa ...!«

Hierauf war es friedlich und still auf dem weiten Marktplatz geworden. Naatje Hangkamer suchte sein Allerheiligstes auf. Für heute machte er Schluß. Keine zehn Pferde hätten ihn mehr aus seinem Schlafrock gezogen. Die Kramläden standen verwaist, die Arbeit ruhte, nichts regte sich mehr in Straßen und Gassen, eine trauliche Welle des Genießens schaukelte um die Häuser und sagte: »Ruhet euch aus! Ihr habt euer Werk getan. Herr, bleibe bei mir, denn der Tag hat sich geneiget und es will Abend werden.«

Noch immer schritt der Zweitgeborene wie ein eingekäfigtes Tier über die Dielen, das Cäsarenhaupt schüttelnd und die Goldplomben weisend, die linke Hand auf der Herzgrube und die Brust voller Pläne und Neuerungen. Obgleich er erregt war und sein Geist vor Neugierde zitterte, verstand er es doch, sein Gesicht in jene undurchdringliche Selbstbeherrschung zu hüllen, über die alle verfügen, die sich mit dem verschmitzten Vieh- und Produktenhandel zu beschäftigen haben. Er wollte gefaßt sein, kühl, abwägend, sich selbst gegenüber und aller Welt gegenüber – und so schritt er denn hin und her, auf und nieder, blieb ab und zu stehen und horchte hinaus, dann durchmaß er wieder das geräumige Zimmer der Länge und Breite nach, bis der Senior-Chef unruhig wurde und sagte: »Maier, nu laß doch das infame Gelaufe! Sie kommt drum nicht früher.«

Aber sie kam schon.

Von Sigismund Mendel geleitet, trat sie bescheiden und mit niedergeschlagenen Augen in den sanften Schein der Hängelampe.

Sie war rosig umleuchtet.

»Der Gott unserer Väter segne uns alle,« sagte Elias, »auch dich, meine Tochter. Die Blümchen ist tot, un wir suchen Ersatz for die Blümchen.«

»Ich weiß es, hab' ich's doch gehört vom Herrn Kommis, der so gütig war, mich über diese Schwelle zu führen. Drum lasset mich Gnade finden vor euern Augen; ich möchte gern dienen.«

»Das ist lieblich gesprochen,« meinte Elias, »aber können Sie auch machen Rosinensauce un Hühnersüppchen mit schwimmende Klößchen? Blümchen Flesch konnte sie machen.«

»Ich kann alles,« sagte sie ruhig, »mosaische Küche un christkatholische Küche un solche, die sich zwischen die beiden befindet. Mein Wahlspruch ist: Koche mit Liebe!«

»Gar nicht so übel. Sie sind uns willkommen.«

»Aber ist das Ihr ganzes Gepäck?« fragte Maier, den Zeigefinger auf das armselige Bündel gerichtet.

»Mein ganzes. Wer sollte auch mir gegenüber den Wohltäter spielen? Ich habe nur mich« – dabei sah sie mit ihren mandelförmigen Samtaugen über die opulente Bluse, die reichlich bestellt war – »nur das Nötigste, außer meiner Sommermontierung von der Zepora Freundlich in Kleve. Sie ist nur zur Hälfte bezahlt, aber ich denke ...«

Ihre Maronenaugen begannen sich mit Wasser zu füllen.

»Mehr habe ich nicht.«

Maier schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht viel,« sagte er traurig.

»Ich weiß es. Vater un Mutter hab' ich früh in die Bewährung gegeben. So bin ich immer ein armes Mädchen geblieben. Die Sperlinge in den Erbsenrabatten hatten es besser. Aber ich diene mit Freuden, wenn es auch schwer fällt, die Füße unter den Tisch von fremden Leuten zu stellen.«

»Gott, was for 'n Elend!« seufzte Elias.

»Ja,« sagte sie mit fliegendem Atem, »ich bin wie Ruth, die Moabiterin, die vorsprach, um für ihres Leibes Notdurft die spärlichen Halme von den abgeernteten Feldern zu sammeln: Gerstenhalme un solche von dem köstlichen Weizen. So bin ich erschienen, wenn auch ohne Naëmi, so un nicht anders.«

»Lieblich gesprochen,« versetzte Elias. »Aber wohlgemerkt, meine Tochter: sie kam ins Haus des Boas, der da sagte: Lange her deinen Mantel, den du an hast, un halte ihn zu. Un sie hielt ihn zu, während er sechs Maß Gerste hineintat un mehr noch ... un Sie, Sie sind in das Haus der Gebrüder gekommen.«

»Ins reiche!« fiel Maier dazwischen und schlug einen Knoten in seine schwergoldene Kette, die dazu geschaffen schien, einen angemästeten niederrheinischen Ochsen an die Raufe zu legen.

»Schon richtig,« pflichtete der Bruder ihm bei, »wir haben's. Mit Gottes Hilfe un Fleiß sind wir geworden die reichen. Aber wir können auch geben. Da ist der jüdische Tempel. Er kann vieles verwenden. Nu, wir opfern mit Freuden. Da sind die kleinen unbewußten Kinder in die Bewahranstalt der Elisabeth Mömmes, christliche un mosaische Kinder. Nu, un sie gebrauchen Jacken, wenn's friert, un sie gebrauchen Juppen, wenn's warm ist, un sie gebrauchen 'ne Bedeckung am Sünntag un 'ne solche for die anderen Tage – un wir haben sie ausstaffiert bis zum äußersten Preise.«

»Wie Edelmannskinder,« bestätigte Maier, »denn wir können's aufnehmen mit's vornehme Haus Benno Löwenthaler in Kleve, Joël un Söhne.«

»Stimmt,« sagte Elias, »un weil wir's können wie's vornehme Haus Benno Löwenthaler in Kleve, Joël un Söhne, wollen wir abgeben den Boas un sagen: Rosalie, wollen wir sagen, sammele Ähren, soviel da herumliegen, Roggenähren un Weizenähren, un nimm dir an Gerste, soviel dir gelüstet. Nichts wird dir mangeln. Du sollst es gut haben im Haus der Gebrüder. Bist du hiermit zufrieden?«

Dabei fuhr er ihr sacht über die Wangen, gütig und spielerisch.

»Ich bin es,« entgegnete sie mit weitgeöffneten Augen, die voller Tränen standen.

Auch der Zweitgeborene trat näher, machte eine schöne Figur, streichelte ihr gleichfalls die Wange und meinte: »Un sein sollst du wie 'n weiblicher Samuel, denn wenn ich dich rufe, wirst du mir antworten: Du hast mich gerufen: Maier, hier bin ich.«

Da nickte Rosalie Perlchen ihr freundlichstes Nicken und sagte: »Es soll geschehen, auf daß ich werde 'ne Dienerin nach dem Wunsche der Herren.«

Darüber freuten sich Elias und Maier; auch die Piepmösch wollte näher treten und ihr etwas Gütiges sagen, aber der Senior-Chef verstellte ihm den Weg und bedeutete ihm: »Es soll hiermit genug sein. Rosalie wird sich nu auf ihr Zimmer begeben ... auf die erste Etage ... in die noble Stube vom seligen Blümchen ... un dann wollen wir essen un den Abend genießen ...« und da begleiteten alle sie hinauf, zündeten eine Kerze an und zeigten ihr den Raum, woselbst die Vorgängerin ihre jungfräulichen Tage verbracht hatte: die gestreiften Tapeten, die Stühle in Lyraform, das hübsche Bett mit dem Umhang aus gemusterter Leinwand, die Schildereien umher und die Aussicht, die einzigartig war, wie Elias erklärte, und ihresgleichen suchte zwischen Kleve und Xanten.

»Hier hat sie gelebt,« sagte er weiter, »hier hat sie nachsimuliert un ihre Klößchen gedichtet, von hier aus hat sie ihre Bewährung gefunden, um eingebunden zu werden ins Büchlein der Lebendigen un zu kommen in den Schoß der Propheten. Amen. Sela.«

Er wischte sich eine Träne herunter.

»Werden Sie wie Blümchen, so dahinschmolz gleich 'ner Sahnentorte von 'nem Zuckerkanditer. Dann können wir lobsingen dem Herrn bis in allewige Zeiten. So, un nu wollen wir Sie lassen allein mit Ihrer Betrachtung, auf daß Sie sich zurechtfinden können ins neue Ameublement mit dem gegenwärtigen Zustand.«

Damit gingen die Herren.

Sigismund schaute noch einmal zurück, lange und seltsam.

Da stand sie nun im matten Glanz der traulichen Kerze, neben dem Umhang aus geblümter Leinwand, hinter dem das hübsche Bettchen sich austat, und machte Äugelchen wie eine Gazelle, die an den Bächen Babylons weidete.

Ihre Lippen bewegten sich leise, obgleich man ihre Stimme nicht hörte.

Sie sprach mit dem Herzen, mit der stummen Zunge einer zufriedenen Einfalt: aber Sigismund Mendel verstand sie.

Zwei Stunden später tutete Henne Hübbers, der Nachtwächter, alle Lebewesen der kleinen Stadt in ein seliges Träumen hinein.

Auch Rosalie machte sich fertig, dieser Träumereien teilhaftig zu werden.

Sie zierte sich vor dem Mahagonispiegel, in dem Blümchen Flesch sich einst bewundert hatte, und knüpfte sich Papilotten ins Haar.

Ihr Busen straffte sich.

Niemand war Zeuge.

Nur der Mond sah ins Zimmer und dachte: »Es ist doch hübsch gefaßt – dieses Perlchen.«


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