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Zehntes Kapitel

Maier verzehrt wieder andalusische Krachmandeln, und der Bocken-Dores veröffentlicht eine vielsagende Annonce im ›Klever Volksfreund‹, desgleichen im ›Gelderischen Liboriusboten‹. Passah, Passah! Warum Friedrich der Große den silbernen Leuchter stiftete und weshalb dieser am Vorabend des Festes leuchtet. Was sich im Verlaufe weniger Stunden alles begeben, wie Rosalie unter Tränen lächelt, einen Brief übergibt und das furchtbare ›Mene tekel‹ erscheint. Maier erwartet wie ein Gerichteter den jungen Morgen. Alles ist eitel.

Die Gefahr war behoben, die graue Sorge verzog sich, und der Zweitgeborene konnte wiederum in aller Seelenruhe seine andalusischen Krachmandeln verzehren.

Auch die kleine Stadt gefiel sich ihrerseits in einer ausbündigen Freude, denn anderen Tages stand im ›Klever Volksfreund‹, desgleichen im ›Gelderischen Liboriusboten‹ folgendermaßen zu lesen:

»Meinen Gruß zuvor!

Da es mir endlich gelungen ist, und zwar durch schier unerschwingliche Aufmachungen, Kosten und Gepflogenheiten, den präliminierten Angora-Bock des Herrn Maier Spier käuflich zu erwerben, so befinde ich mich in der angenehmen Lage, auch den größten Anforderungen hinsichtlich Bedienung, Zucht, Milchertrag usw. usw. bestens entgegenzukommen. Dem geschätzten Publico daher zur gefälligen Nachricht: alle Herrschaften der Kreise Kleve und Geldern, die sich als Ziegenbesitzer ausgeben können, sind nunmehr wieder befähigt, sich ab Ende April promptest und billigst Grabenstraße Numero dreizehn ergebenst decken zu lassen. Vorherige Besichtigung freundlichst erbeten. Gott beschütze das noble Haus Spier!

Theodor Prußt,

Bockhaltereibesitzer und Ehrenmitglied
des Zuchtvereins: ›Alles fürs Vaterland‹.«

Also Ende April konnte es losgehen, aber Geduld war nötig, um diesen Termin zu erwarten, denn noch manches Fröstchen mußte erduldet werden, bevor das erste Frühlingslüftchen die Halme auseinander scheiteln und allem, was tot schien, zuflüstern mochte: »Aufgewacht und freut euch des Lebens! Lobsinget dem Herrn, denn seine Güte währet ewiglich!«

Ja, bis dahin hatte es noch seine gehörige Weile, allein es drängte bereits in Bast und Borke, in Ackerkrumen und Menschenherzen, in Gräsern und Gräschen. Die Tage längten sich, und die Nächte verloren an Atem ... und da eines Morgens ... Gottes Schöpferhand griff in die keimende Wintersaat, nahm eine Lerche aus dem jungen Grün und warf sie in den Himmel hinein. Da schwebte sie im ewigen Blau und sang von hier aus ihr Jubellied über die erwachende Erde. Es lief ein Klingen wie von Osterglocken durch die Luft, es lag an stillen Abenden ein zukunftsfreudiges Scheinen am tiefen Horizont, als begönnen jetzt schon die heiligen Feuer zu brennen, auf allen Deichen und Fluchthügeln, von Rees bis zum Emmericher Eiland. »Halleluja! Halleluja!« sangen die Christenmenschen, und die jüdischen Glaubens waren, reichten sich die Hände, dachten an alte glorreiche Zeiten und sagten mit glücklichen Augen: »Nun ist Passah gekommen.«

Passah, Passah – Passah des Herrn! das ist der Name des am 14. Nisan, also am ersten Vollmond des Frühlings zu begehenden Festes; denn also gebot der Herr zu Mose und Aaron in Ägyptenland: »Am zehnten diesen Monats nehme jeder ein Lamm, da kein Fehler an ist, ein Männlein und eines Jahres alt. Ihr sollt es essen am Abend, weder roh, noch mit Wasser gesotten, sondern am Feuer gebraten. Sollt auch seines Blutes nehmen und damit die beiden Pfosten an der Tür und die oberste Schwelle bestreichen. Denn ich will in derselben Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburt schlagen, beides unter Menschen und Vieh. Und das Blut soll euer Zeichen sein an den Häusern, darinnen ihr seid, daß, wenn ich es sehe, vor euch vorübergehe und euch nicht die Plage widerfahre, die euch verderbe, wenn ich Ägyptenland strafe. Und sollt diesen Tag haben zum Gedächtnis, und sollt ihn feiern dem Herrn zum Fest, ihr und alle eure Nachkommen, zur ewigen Weise.«

Da gingen die Kinder Israel hin und taten, was der Herr Mose und Aaron geboten hatte. Zur Mitternacht aber schlug er alle Erstgeburt, von dem ersten Sohn des Pharao an, der auf seinem Stuhl saß, bis auf den ersten Sohn des Gefangenen im Kerker, und alle Erstgeburt des Viehs.

An den Häusern der Juden jedoch war der Würgeengel mit seinem blutigen Schwerte vorübergegangen.

Passah, Passah – Passah des Herrn!

Frühlingsfreude da draußen, Frühlingsfreude in den Herzen der Menschen! In dem laulichen Wind, der durch die Vorgehölze summelte und über die jungen Gräser der Wiesen und Deiche dahinstreichelte, nickten die Sumpfdotterblumen, schaukelten sich die Erlentröddelchen an ihren Zweigen, machten die Weidenkätzchen ihre Staubbeutelchen auf, um ein süßes Arom über die weite Landschaft zu räuchern. Die stehenden Wasser blühten. Die Stachelbeersträucher in den Gärten schlugen ihre smaragdenen Äugelchen auf. Unter den Bocksdornhecken, die den heiligen Ort umfriedeten, woselbst der Herr über Leben und Sterben seine Toten entboten hatte, war es blau von Veilchen geworden. Die Pfingstrosen stießen bereits ihre fetten Kolben aus dem warmen Erdreich. Die Tauber rokuzeten, und auf dem Giebel der Gebrüder saß ein gesprenkelter, gesinnungstüchtiger, stahlfarbiger Starmatz und sang von hier aus seine anmutige Strophe von morgens bis abends.

Passah, Passat, – Passah des Herrn!

Frühlingsfreude da draußen, Frühlingsfreude in den Herzen der Menschen!

Auch im Hause der Gebrüder Spier rüsteten sie in emsiger Weise auf Passah.

Es duftete nach Lammbraten, Zwiebelsauce und ungesäuerten Broten.

Am Abend des Tages, da das Fest vonstatten gehen sollte, schleierte es sich vom Westen herauf, legte es sich in grauen Tüchern über die kleine Stadt, als wenn der Gebieter Himmels und der Erde damit umginge, die Lebewesen unter ihm mit seinem Weihbronnwedel zu segnen. Und er ging damit um, denn kurz vor dem Abendläuten fiel ein warmer, sanfter und fruchtbarer Regen nieder und erquickte alles, was keimte, seine Spelze entfaltete und mit Masern und Fasern die Erdkrumen absuchte.

Da tat auch die hochbetagte Linde ein übriges, streckte ihre leichtangegrünten Zweige der rieselnden Feuchte entgegen und begann heimelig zu säuseln.

Im Spierschen Anwesen hellten die ersten Fenster auf. Auf weichen Selfkantschuhen traf man die letzten Anordnungen. Im Speisezimmer zur ebenen Erde stand die Tafel gerichtet, vier Gedecke auf Reihe, mit dem besten Kristall ausgestattet, sorgfältig placiert, mit geschnittenem Palm und Osterblumen dazwischen.

Die Läden waren vorgelegt, die Gardinen heruntergelassen.

Ein siebenarmiger silberner Leuchter paradierte inmitten des Tisches, reich ziseliert, als wäre er in der Werkstatt des Benvenuto Cellini entstanden.

Er repräsentierte ein Prunkstück seltenster Art, ein Muster gediegener Juwelierkunst, stammte er doch aus dem Nachlaß Ephraims, des längst dahingegangenen Großvaters der beiden Gebrüder.

Laut einer Kabinetts-Order Friedrichs des Großen an die Klevische Regierung war besagtes Silberstück in die Hände Ephraims, eines patriotischen Mannes, gekommen.

Das Allerhöchste Schreiben lautete aber solcherweise:

»Wir, von Gottes Gnaden Friedrich König von Preußen, entbieten zunächst Unseren Königlichen Gruß.

Liebe Getreuen! Wir haben verlesen und Uns vortragen lassen, was Ihr unterm 25. Juni in Sachen des Ephraim Spier alleruntertänigst berichtet. Wir nehmen mit Anteil Kenntnis davon, daß genannter Ephraim Spier Uns und Unseren Armeen während der dritten schlesischen Campagne durch Übersendung rheinischen Viehs getreulich zu Diensten gewesen. Da solches, nach Eurem Ermessen, in löblicher und selbstlosester Weise erfolgte, selbiger sich auch von tadelloser Gesinnung erwiesen, sonder Schalkheit und Arglist, auch ohne sich des ›Corriger la fortune‹ zu bedienen, haben Wir Uns in Gnaden resolvieret, ihm Unser Königliches Wohlwollen nicht vorzuenthalten, und verfügen und bestimmen hiermit: Besagtem Ephraim Spier ist ein siebenarmiger silberner Leuchter zu behändigen, und zwar im Werte von fünfunddreißig Talern preußisch Courant, so durch Unseren Schatullenbewahrer zur Auszahlung kommen. Alles Weitere dem Commissarius loci. Sind Euch in Gnaden gewogen.

Berlin, den 29. August 1765.

Friedrich Rex.

An die Regierung in Kleve.«

Daß von dieser Kabinetts-Order eine beglaubigte Abschrift in das Heim des also gefeierten Mannes gelangte, war nur zu verständlich. Von Ephraim kam sie auf Marcus, von diesem auf Elias und Maier und hing nun seit vielen Jahren über der Glasservante im Speisezimmer, woselbst die beiden Junggesellen ihr Sonntagsporzellan aufbewahrten, ihre Gläser und Kelche, nebst anderen Raritäten und Kostbarkeiten. Auch nahm es nicht Wunder, daß Eingeborene und Fremde, so die Schnitzwerke in der Sankt Nikolai-Kirche besichtigten, die Gelegenheit wahrnahmen, sich das Königliche Edikt und den historischen Leuchter zeigen zu lassen.

Bei solchen Visiten machte Maier den Erklärer und Mentor, belichtete die Angelegenheit von allen Seiten und Kanten, flocht viel des Bedeutsamen ein, um schließlich immer wieder die nämlichen imposanten Worte zu bringen: »Ephraim Spier un der König in Berlin – Gott was for Koniferen in Preußen! Ihre Seele sei eingebunden im Büchlein der Lebendigen. Amen, Sela!« und alsdann gingen die Besucher belehrt und in gehobener Stimmung nach Hause.

Daß der denkwürdige Kerzenträger nicht alle Tage ausgestellt wurde und seinen eigentlichen Zwecken zu dienen hatte, auch das lag in der Natur der Dinge begründet, denn jedes Weihestück, gleichviel ob es kirchlichen oder weltlichen Gepräges ist, verliert an Fülle und Eindruck, muß es sich allzuhäufig verherrlichen und bewundern lassen. Auch hier bestand das geflügelte Wort der Piepmösch zu Recht, wenn sie behauptete:

»Willst du beliebt sein, mach' dich rar,
Hausiere nicht mit feilen Wippchen;
Du weißt, man schätzt den Kaviar,
Nicht Sauerkohl mit Schweinerippchen.«

So wurde denn der Siebenarmige nur bei den allerfeinsten Anlässen, am Wiegenfest Seiner Majestät des Königs, an den Geburtstagen der beiden Inhaber, bei größeren Geschäften, die einen in die Augen springenden Rebbes gezeitigt hatten, am Heiligen Christ, Silvester und bei allen Gelegenheiten mit Andacht und Glorienschein aus Watte und köstlicher Leinwand gewickelt, um sauber geputzt den Abend zu schmücken und ein feiertägiges Licht zu verbreiten.

Das war auch heute der Fall.

Er stand mitten auf der runden, sorglich gespreiteten Tafel.

Eine wohltuende Helle ging von ihm aus, ein mildes Verstehen und ein opalisierendes Schildern.

Der sonst so nüchterne Raum erwärmte sich unter dem seinen Leuchten der sieben Kerzen in Anmut und Schönheit. Die Mahagoni-Möbel verloren ihr schlichtes Wesen. Sie umkleideten sich mit Scharlach und Purpur. Die weißgekalkten Wände dehnten sich nach Höhe und Breite, schienen aus Ölbaum- und Zedernholz zu sein, mit gedrehten Knoten und Blumenwerk und umkrustet mit dem roten Golde von Ophir. Alles nahm einen seltsamen Glanz an, verfeinerte sich, atmete Seele und Leben und erinnerte an die kleine Vorhalle des Tempels in Jeruschalajim.

O, daß ich tausend Zungen hätte ...! und dazu dieser nur angedeutete, aber würzige Ruch nach Lammbraten und Zwiebelsauce, der, auf linden Schwingen getragen, von der nahegelegenen Küche herüberdüftelte, so ahnungsvoll, so süß und anheimelnd, als wäre er von den Myrrhenhügeln, aus den Krautgärtlein des gelobten Landes gekommen. O, daß ich tausend Zungen hätte ...! und siehe: jetzt tat sich die Tür des Nebenzimmers auf, und die Männer des Hauses erschienen: erst der Senior-Chef, dann Maier, dann Sigismund Mendel, alle feiertägig gekleidet, den Zylinder im Nacken und mit ernsten Gesichtern.

Wortlos traten sie um die erleuchtete Tafel.

Maier duftete nach Mandeln, Sigismund nach Zimtborke. Elias hingegen gab keinen Wohlgeruch von sich. Dafür hielt er das Buch der Bücher, die Haggada, zwischen den Händen, jene heilige Überlieferung, so die Bibel nach ihren erbaulichen, ethischen und geschichtlichen Motiven behandelt und auslegt, und sein Antlitz glänzte wie das eines Verklärten.

»Wer fehlt noch?« fragte er, sich umblickend.

»Rosalie Perlchen,« antwortete Maier.

»Wo steckt sie?«

»Wird sie aufmunterieren den Hammelbraten, um ihn lieblich zu machen,« entgegnete Mendel. »Ich werde sie rufen.«

»Bleibe,« gebot Elias, »denn man soll die Arbeitsamen nicht stören. Gehe hin zur Ameise, du Fauler, siehe ihre Weise an un lerne. Auch wir wollen lernen un ihr Tun nicht beirren.«

So sprach er, legte das Buch ab und schlug die Stelle auf, die er vorzulesen gedachte, als sich alle Augen der Türe zuwandten, die sich lautlos in ihren Angeln bewegte.

»Jetzt kommt sie,« flüsterte Sigismund verloren vor sich hin. »Aber wie kommt sie? Sie gehet herauf aus der Küche wie ein gerader Rauch, wie ein Gemengsel von Myrrhen, Weihrauch un allerlei Spezereien eines Apothekers. Komme, Nordwind, stehe auf, Südwind, un wehe durch meinen Garten ...«

»Schweige,« fiel ihm Maier ins Wort, »hier hat nur Eli zu sprechen,« und Elias sagte: »Rosalie, sei uns willkommen.«

»Ich danke den Herren.« Sie neigte den Kopf und senkte die Augenlider.

Ihr Anblick erfreute die Herzen. Sie trug das weiße Kleid mit den Rosaschleifchen, das ihr der Heilige Christ auf den Weihnachtstisch gelegt hatte, dazu die siebenfältige Granatschnur und die klingenden Ohrgehänge. Eine frauliche Schönheit umgab sie. Nur mochte es dünken, als wäre sie etwas stärker geworden, als hätte sich das Schlanke und Biegsame der Jugend verloren, wenn auch nur andeutungsweise, ahnend, wie mit einem weichen Pinsel wohlig umrissen, und war doch gleich einer schmucken Weidengerte an den Altwassern des Rheines gewesen. Sie fröstelte wieder, allein dieses Frösteln war ein anderes Frösteln als früher.

»Was hast du?« fragte Elias. »Hast du erfahren Leid oder sonst 'ne Bedrückung?«

Sie winkte wehleidig ab.

»Mir fehlt nichts,« sagte sie tonlos.

»Gut – also setzen wir uns,« und alle ließen sich nieder auf ihren Platz, nickten sich zu und legten die Hände zusammen.

Die Kerzen begannen leise zu knistern.

Draußen trommelte der Regen gegen die Fensterläden, bald stärker, bald leiser, bald mit derben Knöcheln, bald mit dem linden Schurfeln von Katzenpfötchen, und in dieses Trommeln hinein hub Eli an, in den Lauten seines Volkes zu lesen, und er las, wie der Todesengel von Türe zu Türe gegangen, wie er die Erstgeburt erwürgt und geschlagen bei allen denen, die es unterlassen hatten, die Pfosten ihres Hauses mit dem Blute des Opferlammes zu färben, wie Moses die Gebeine Josephs mit sich genommen, da er auszog mit Israel aus dem Land der Ägypter, sechshunderttausend Mann zu Fuß, ohne die Kinder, wie sie gesungen, als Pharaos Macht dahin war, mit Pauken- und Zimbelbegleitung: »Lasset uns preisen den Herrn, denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß un Wagen hat er ins Schilfmeer gestürzet. Der Herr ist meine Stärke, mein Lobgesang un mein Heil. Er ist mein Gott, ich will ihm lobsingen: er ist meines Vaters Gott, ich will ihn erheben!« und er las immer weiter und weiter, bald volltönig, bald tremulierend, und er breitete silberne Tücher vor ihnen aus und üppige Weiden, und er zeigte ihnen Kanaan, das Land der Verheißung ... Er beschwor die Leviten, wie sie bliesen auf silbernen Schaufaren von den Tempelstufen herunter, gen Norden und Süden, gen Aufgang und Untergang ... Er rief die Könige ins Leben zurück, das weite Reich mit dem See Tiberias, an dessen Gestaden der Flachs rosig blüht und auf den Triften die Hyazinthen wachsen wie bei uns die Maßliebchen in den ersten Tagen des Frühlings ... Er ließ die Makkabäer erstehen, Judas, des Mattathias Sohn, da er auszog, die Feinde zu schlagen mit der Schärfe des Schwertes... Er sang den Gesang der drei Männer im Feuer ... und er sprach das Gebet Manasse, des Königs Juda, da er gefangen war zu Babel, und sagte: »Herr, allmächtiger Gott unserer Väter un ihres gerechten Samens, ich bitte un flehe: Lasse mich nicht in meinen Sünden verderben un lasse die Strafe nicht ewiglich auf mir bleiben, denn dich lobt alles Himmelsheer un dich soll man preisen immer un ewiglich. Amen!«

So sang er, so sprach er, so betete er, in der schwermütigen Art seines Volkes, die Augen weit geöffnet, den Lederriemen um die Linke gewunden, ab und zu das Kinn schabend, bald mit den Zeichen der Trauer und bald mit denen der Freude. So sang und betete er eine lange Stunde hindurch, bis die Kerzen merklich tiefer gebrannt waren und der Regen aufgehört hatte, gegen die Läden zu rascheln.

Da klappte er das heilige Buch zu, legte die Hände darüber und ließ seine Blicke von einem zum andern wandern, klug und verständig, mit den Augen eines kundigen und forschenden Mannes.

Und er sah seinen Bruder an und fand ihn getröstet im Herrn, voller Zuversicht und keine Sorge tragend um die künftigen Tage.

Und er sah seinen Neffen an und fand ihn heiter und zufriedenen Geistes, denn Sigismund lächelte, wie die zu lächeln pflegen, die gewohnt sind, aus verbotenen silbernen Schalen zu trinken.

Und er sah Rosalie an und wurde traurig im Herzen, denn sie saß an der gespreiteten Tafel, als pilgerte ihre Seele durch eine trostlose Wirrnis, die Lider gesenkt, mit schmalen Lippen und die Tränen sammelnd, die sie vergossen hatte.

Da sprach er sie an und fragte: »Was hast du?«

»Ach Gott!« seufzte sie leise.

»Ist dir widerfahren Leid oder hast du sonst 'ne Bedrückung?«

Sie winkte wehleidig ab.

»Mir fehlt nichts,« sagte sie tonlos.

»Gut! so mag denn der Lammbraten kommen, auf daß wir begehen das Fest nach der Satzung des Herrn.« Und der Lammbraten kam in brätelnder Tunke, mit angeschwitzten Zwiebeln und weißen Rübchen garniert, die der Herr Gärtner Simonis vom hinteren Bollwerk extra hierfür in seinen Mist- und Frühbeeten herangezogen hatte.

Die Schabbesgoi bediente.

Sie tat es mit Umsicht, mit zartem Verständnis, feinhörig, ohne dabei mehr hören zu wollen, als gut war, denn Stina Prußt hatte ihr altes, schäbiges Evagewand abgelegt und sich mit einem funkelnagelneuen umkleidet. Aus dem weiblichen Saul war ein weiblicher Paulus geworden. Noch vor Weihnachten eine Harpyie, jenes mythische Wesen von den Strophadischen Inseln, das lediglich darauf ausging, das Herz der Chefs zu zerfleischen, turtelte sie gleich nach Silvester durch alle Kammern des Hauses herum wie ein Holztäubchen im knospenden Frühlingswald, des Spruches eingedenk, der da lautet:

»Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen ...«

und das hatte mit ihrem Singen nicht die Lorelei getan, sondern das warme Wolljäckchen, mit Kaninchenfell verbrämt, die kostenlose Überführung des gepriesenen Angora-Bockes in die väterlichen Ställe, wo er jetzt meckerte und es sich genüglich machte, als wären für ihn die Tage eines omnipotenten Paschas von Janina erschienen.

»Wie geht's dem Herrn Vater?« fragte Maier, als sie ihm die stattliche Assiette anpräsentierte.

»Ich danke der Nachfrage, es geht ja.«

»Un der Kapitale, den ich ihm habe vermacht als Präsent, sozusagen for gar nichts – wie befindet er sich?«

»Ich danke gleichfalls der Nachfrage. Er amüsiert sich so durch und hat seine Arbeit.«

Sie bot dem Senior-Chef die Schlüssel an, dann Sigismund Mendel, dann Rosalie Perlchen.

»O!« rief die Piepmösch, »der Herr Vater wird reich durch ihn werden, denn zu ihm werden kommen alle Ziegen aus der ganzen Umgebung, aus Till un Appeldorn, aus Moyland un Luisendorf: selbst aus Matterborn un Hönnepel werden sie kommen. Un kommen wird die Schwarze vom Herrn Kogeleboom, un die Rahmweiße von Mamsell van der Grinten, un die Bunte mit's abgebissene Ohr vom Herrn evangelischen Paster ... O! un sie werden bringen Kastemännchen bei Kastemännchen un Lujerdor bei Lujerdor, auf daß das Haus voll werde un die Firma Prußt 'ne bedeutsame Firma wird werden.«

»Wollen's hoffen,« schmunzelte Stina, trat aus dem wohligen Lichtglanz des Leuchters zurück, warf noch einen prüfenden Blick über die Tafel, schlenkerte mit ihren üppigen Hüften und begab sich wieder zur Küche, um dort auf ihre Art Passah zu begehen und das Weitere abzuwarten.

Der Braten war saftig, die Sauce über jeden Zweifel erhaben, die weißen Rübchen von preziösester Zartheit, wäre nur nicht plötzlich diese sonderbare, bedrückende Stille eingetreten, hätte sie nicht gelastet auf allem, was lebte und atmete!

Selbst die Kerzen schienen trüber zu brennen.

Sie erinnerten an Totenlampen, an das matte Glimmen von Asche.

Kaum hörbar tropfte das überschüssige Wachs auf die silbernen Schalen.

Elias blickte verängstigt auf seinen Bruder.

Der wußte nicht, was er von der eigenartigen Stille halten sollte. Auch Sigismund nicht, und als ihre Blicke auf Rosalie fielen, war es ihnen so, als wäre die letzte Stunde durch das Zimmer gegangen. Die Heimgesuchte rührte sich nicht. Sie saß entgeistert, die Hände im Schoße, das Antlitz von einer wächsernen Bleiche.

»Was kuckst du?« rief Elias sie an. »Was tust du? Warum plinkerst du nicht mit die Augen? Soll ich lassen rufen den Doktor, um dir seine Bekömmnis zu geben?«

Sie winkte wehleidig ab.

»Mir fehlt nichts,« sagte sie tonlos.

Elias erhob sich.

»Ich irre mich nicht. Du siehst aus wie der Malach Hamoves.«

Er trat dicht an die Leidende.

Als müsse er ihr das Enkörchen noch weiter auseinander teilen, um durch ihre weiße Brust hindurch in ihrem Herzen wie in einem aufgeschlagenen Buche zu lesen, so sah er sie an.

»Rosalie, ich beschwöre dich im Namen Abrahams, Isaaks und Jakobs – was hast du?«

Ihre Blicke, die, ohne dabei etwas zu finden, keusch am Boden hafteten, hoben sich ängstlich.

»Mir ist nicht gut,« sagte sie leise.

»Eli, geh' in den Keller,« rief Maier. »Als Ältester geh' in den Keller un hole 'ne Flasche Lafitte mit 'ner ehrenwerten Etikettierung. Aber vom besten. Nimm Sigismund mit, um der Forcht wegen in der Nacht. Es sind Ratten im Keller.«

Da machten der Senior-Chef und die Piepmösch sich auf, das Verlangte zu holen, während Maier zurückblieb, die Lehne seines Sessels umgriff und Rosalie betrachtete, als hätte sie mit dem Tode zu ringen.

Aber nicht lange.

Die Sterbende empfing Blut und Leben zurück, erhob sich und trat dicht an die Seite des Fassungslosen.

Wortlos entnahm sie ihrem Busen ein versiegeltes Schreiben, küßte es, um es dann feierlichst neben seinen Teller zu legen.

Große Tränen standen in ihren Augen.

»Es ist an euch beide gerichtet,« sagte sie schmerzlich, »an dich und Elias. Es ist Zeit, daß ich spreche. Ich darf nicht mehr warten. Das Licht will sich auftun un in die Finsternis dringen. Es ist nicht um meinetwegen allein, daß ich so rede. Es geht um eure Ehre un die eures Hauses. Ich will nicht, daß sie zeigen mit Fingern auf mich un sagen zu mir, was sie zu denen sagen, die an den Straßenecken stehen, sich lieblich haben un klingeln mit den Ohrgehängen aus Silber. Die Nachbarsleute mit ihrem Getu' un Gehabe, mit ihren Verdächten un schmutzigen Lippen werden mich einkreisen. Ihr müßt mir schon beistehn, oder soll ich mich an die Fürsorge wenden? Ich wäre alsdann gezwungen, Namen zu nennen, was mir schwer ankommen würde. Das mögt ihr bedenken – du un Elias. Ich geh' auf mein Zimmer. Nimm's nicht vor übel, aber ich mußte so handeln.«

Maier sah Nacht um sich, dann wieder strahlende Helle. Der siebenarmige Leuchter brannte wie ein Rauchaltar. Er schickte feurige Garben zur Decke, um dann wieder stumpf und lichtlos zu werden.

Der Torquierte stierte zu Boden, zählte die Teppichmuster und rieb fröstelnd die Hände gegeneinander.

Als er wieder aufschaute, stand Rosalie in der geöffneten Türe, die linke Hand auf der Brust, die Rechte warnend erhoben, und sagte zum andern: »Das mögt ihr bedenken – du un Elias.«

Dann klinkte sie ein – sie, diese kleine Schwerenöterin, die zweifellos wußte: hätten sich lediglich die beiden Chefs um ihre Neigung bemüht, sie wäre zeit ihres Lebens eine Jungfrau und ein taubes Haselnüßchen geblieben.

Nur noch ein leises Weinen im Hausflur, ein Seufzen und Wimmern. Aber auch dieses verging, als wäre es von Geisterhänden fortgewischt worden, während der Einsame das Siegel erbrach und mit stieren Augen die Zeilen durchhastete.

Als er geendet, sackte er mit einem stumpfen Laut in sich zusammen.

»Rosalie ...!«

Sein entsetzter Blick nahm die gegenüberliegende Wand an.

Aber auch hier kamen die bedrohlichen Zeichen zum Vorschein, scheußliche Lettern auf kalkigem Grund, wie sie gestanden hatten im Schlosse des Königs von Babylon. Die Furien des Orest konnten nicht brutaler sein als diese feurigen Buchstaben.

Und die weiße Hand schrieb und schrieb und fand kein Ende des Schreibens.

»Mene – tekel – upharsin!«

Mit Kulpsaugen, bleiern wie die eines Schellfisches, folgte er den furchtbaren Schriftzügen.

»Gewogen un zu leicht befunden!«

Er wollte schreien. Er vermochte es nicht. Die Zunge war ihm gleichsam aus dem Halse geschält. Er wollte sich aufraffen, auf und davon gehen. Die Kräfte versagten. Unsichtbare Gewalten fesselten ihn, zogen ihm einen hanfenen Strick durch die Zähne, schmiedeten ihn an, knebelten ihn. Er suchte die Wände nach irgendeinem Nagel ab, geeignet, einen kleinen Selbstmord in die Wege zu leiten. Er fand keinen Nagel. Hierauf gedachte er seine Sinne zu ordnen, sie wieder in normale Bahnen zu leiten. Sie kündigten ihm Gehorsam und Folge aus. Er hatte Erscheinungen. Die Ältesten der jüdischen Gemeinde traten ins Zimmer. Er sah den Rabbiner, den Beschneider, den Vorsänger, den Schächter. Alle in schwarzem Zeug, die Gebetriemen um die Hände gewickelt. Er sah den Doktor Simmchen Levi, der fünfundachtzig Jahre auf seinen schmalen Schultern herumtrug. Sie zerrissen die Kleider und spuckten ins Zimmer. Der Vorsänger stellte sich auf den Kopf, stelzte mit den Händen über die blankgescheuerten Dielen und hub mit den Füßen an: »Ein Psalm Davids, vorzusingen auf der Githith mit acht Saiten. Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimme ...« und alle fielen in den furchtbaren Psalm ein: der Rabbiner, Doktor Simmchen Levi, der Beschneider, der Schächter ... beängstigend, aus der Tiefe heraus, hoch im Diskant ... und dabei die feurigen Lettern, die Schrift an der Wand, Rosaliens Zeilen ...

Und immer wieder mußte er lesen und lesen: »Gewogen un zu leicht befunden! Gewogen ...«

Er kam nicht weiter.

Elias erschien, die Bouteille im Arm, hinter ihm Sigismund Mendel.

Er prallte zurück.

Mit einem hingekeuchten: »Die Welt geht kapores!« stierte er auf seinen verwüsteten Bruder.

Er hatte kaum Zeit, die schönetikettierte Lafitte auf die Tafel zu stellen.

»Maier, wo ist sie? Ich meine ...«

Da aber Maier!

Die Faust auf dem entsetzlichen Schriftsatz, war er in die Höhe gefahren.

Das Gesicht verzog sich. Die Goldplomben kamen zum Vorschein.

»Eli, ich beschwöre dich, Eli! Weg mit der Flasche! Schicke Sigismund fort! Lasse ihn gehn.«

Er streckte die Hand aus.

»Sigismund, geh', ich hab' mit Eli zu sprechen. Geh' jetzt un sieh dich nicht um ... ich hab' hier mit deinem Onkel zu reden ...« und als dieser verschwand und die Tür hinter sich zuschlug: »Eli, zerreiße die Kleider! Über uns kommt das Gericht un die Strafe des Herrn.«

»Um Himmelswillen, was ist dir?!«

»Lies un verstumme. Lies den Brief un das, was dort an die Wand steht!«

Und Elias las, um rücklings auf einen Sessel zu taumeln.

»Fallit!«

Der Kopf sank ihm vornüber. Die Arme versagten. Er ließ sie wie zwei Waschhölzer fallen. Seine blutunterlaufenen Äugelchen krochen wie die einer verängstigten Ratte über den Tisch hin, suchten die Wände ab, glitten auf den Boden nieder, wo sie sich in der Tiefe des Zimmers verloren.

Er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, ohne selber den Sinn dieser Worte zu ahnen. Er versuchte die Arme zu heben. Matt sanken sie ihm wieder am Leibe herunter. Mit aller Willenskraft zwang er den greisen Kopf in die Höhe. Er vermochte es nicht, ihn auf den Schultern zu halten.

Endlich gelang's ihm.

»Maier,« stammelte er mit umflorter Stimme, »das Schreiben ... bitte, nochmal ... Möglicherweise: es ist bloß ein Träumen gewesen, ein böses.«

Der Zweitgeborene hatte sich wiedergefunden.

Die Stirn glättete sich. Das graumelierte Cäsarenhaupt kam aufs neue zum Vorschein.

Er nahm Rosaliens Schreiben, striegelte es und las laut und vernehmlich: »Lieber Maier un Elias ...«

»Das steht so geschrieben?«

»Ja, so steht es geschrieben.«

»Lies weiter.«

»Euch beiden zur Kenntnis. Ich bin gekommen zu euch von Kranenburg her, wie gekommen ist Ruth, die Moabiterin, zum reichen Herrn Boas. Ich wollte nur Ruth sein, aber ich bin geworden wie die junge Abisag von Sunem un doch nicht wie diese. Die Regungen des Fleisches waren stärker als ich. Ich bin geworden wie Thamar. Weh' mir, daß ich es wurde! un nu steht der Todesengel vor mir un ruft mir zu: Rosalie, wo hast du deine Unschuld gelassen? Ihr müßt mich verstehen, wenn ich euch sage: Ich möchte meinem Leben den Inhalt übermitteln, den es benötigt, um mich wieder ehrlich zu fühlen. Ich sündigte durch die himmlische Unwissenheit meines Geschlechtes. Ich verkenne die eigene Scham nicht. Aber frommt mir das ...«

Der Senior-Chef gestikulierte mit Armen und Beinen.

»Gott, wäre sie doch Ruth, die Moabiterin, geblieben! Wäre sie doch ... wäre sie doch verstorben in Kranenburg, im Land ihrer Väter! Wäre sie doch ... Ich halt's nicht mehr aus ... un wenn ich so alles bedenke ...«

Er stierte ins Leere.

»Ja, wenn!« bestätigte Maier mit fatalistischem Schmunzeln. »Aber sie diskontiert schon auf die zukünftigen Tage.«

»Schweige! Ich kann's nicht mehr hören! Ich will's nicht mehr hören! Es drückt mir die Luft ab. Alles, was beißt, will über mich her: die Ratten un Mäuse. Maier, treibe sie fort. Nimm 'nen Besenstiel un jage sie in die sandige Wüste oder ins Schilfmeer. Ich bitte dich, Maier! Wir wollen bringen ein Opfer. Wir wollen geben den Zehnten an Vieh, an Weizen un gemahlener Gerste. Wir wollen ihr bieten Geschmeide un köstliche Steine ...«

»Was wollen wir bieten?« fragte dieser, mit einem Ton in der Stimme, als habe er unversehens auf ein Frankfurter Würstchen gebissen.

»Geschmeide un köstliche Steine!«

»Du bist wohl meschugge! Heiraten will se.«

»Was will se?«

»Heiraten will se. Einen von uns beiden – das will se.«

»Luft!« schrie Elias.

Sein Kopf sank vornüber.

Da stürzte Maier ans Fenster, riß auf und stieß die Läden zurück.

Ein unruhiger Mond trieb durch zerrissene Wolken. Die alte Linde brauste und sauste herüber. Auch die überständigen Pappeln, die jenseits der Landwehr aufragten, nahmen die laute Musik an und begannen gleichfalls zu rauschen, dunkle Orgelspieler der Nacht und des Verhängnisses, das heraufzog, um alle Lebensfreude zu erwürgen. Hu! und ein langgezogener Luftstrom schlug ins Zimmer herein, wirbelte die Gardinen auf und nahm alles Licht von dem siebenarmigen Leuchter, daß der weite Raum eindunkelte, als käme ein Staubregen von der Decke herunter.

Nur die mittlere Kerze flackerte weiter, der letzte Gruß einer noch vor kurzem segensreichen und festlichen Tafel. Der letzte! und war alles öde umher und leer und verwüstet, wie auf einem Bankett, wo plötzlich die Geigen verstummten, die Trompeten und Pauken, und die Hand der Verwesung über das Tischtuch knöchelte, um diesem, dem Silbergeschirr, den Kelchen und Gläsern das Leben abzusprechen.

Der letzte Gruß! Der letzte, der letzte!

Der Senior-Chef brach völlig zusammen.

Nur Maier stand aufrecht. Er erinnerte an Bonaparte auf der Vendôme-Säule.

Mit der Kraft eines Makkabäers riß er seinen inneren und äußeren Menschen aufwärts.

Er trat an die Seite des geschlagenen Bruders.

Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

Er beugte sich nieder. Er suchte nach Worten und fand sie: »Bekriege dich, Eli. Sei doch nicht so ganz auseinander. Mit 'ner Tränenbüchse haben wir keine Gemeinschaft. Können wir doch nicht waschen 'ne Mohrin zu 'ner schneeweißen Jungfrau. Ruth ist Ruth, un Thamar ist Thamar. Sei stramm wie'n Wachtmeister. Wir haben nu mal mit Rosalie Perlchen zu rechnen. Aber nicht heute. Morgen ist auch noch ein Tag, un übermorgen der zweite, un überübermorgen der dritte, un dann noch die übrigen Tage. Seien wir Männer mit 'nem klaren Verstand. Rechnen wir aus, was ist profitlich un was ist schofel for uns un die Firma. Sind unsere Talers in den Abtritt gefallen, können wir sie wieder ziehen aus Schmutz un Unrat, sie waschen un aufs frische in Kurs setzen, als wären sie nicht in den Abtritt gefallen. Eli, sei weise. Wir müssen die Sache beschlafen.«

»Beschlafen!« schrie Eli.

Das Wort zermarterte ihn.

»Warum nicht? Wofor hast du Angst? Ich sagte schon, übermorgen ist auch noch ein Tag, un dann noch die übrigen Tage. Komm' mit mir. Du mußt auf dein Zimmer. Hier muffelt es zu sehr nach Rosalie Perlchen.«

Der Senior-Chef schüttelte bedenklich den Kopf: er seufzte, als hätte er stündlich den 9. Thermidor zu erwarten, der ihm gebot, in das Messerchen der Guillotine zu stieren, ließ sich aber von seinem Bruder willig auf die erste Etage geleiten.

Bald darauf kehrte Maier zurück, schloß das Fenster und nahm wieder Platz an der verlähmten Tafel.

Wie alles so abgeblaßt war, so grau in grau, so kalt und gespenstisch!

Noch immer rauschte die alte Linde herüber.

Er vernahm es durch die geschlossenen Läden hindurch.

Das Brausen war drohender und stärker geworden.

Er hörte darauf wie auf die Stimme des Gerichtes.

Sein Mut hatte ihn wieder verlassen.

Das Cäsarenhaupt senkte sich tiefer.

Er streckte die Beine, besah sich die kalkigen Finger.

So von Gott und aller Welt verlassen zu sein!

Er deuchte sich elender, heimgesuchter, mißhandelter als eine Maus in der Falle.

Er sah die letzte Kerze immer tiefer brennen, tropfen und kohlen.

Immer tiefer und tiefer.

Und dann ... ein Zucken, ein rasches Verlöschen.

»Was nu?« fragte er heiser.

Er blieb, wo er war.

Er wollte nicht aufstehen.

Warum auch?

Als er nach etlichen Stunden die Läden aufmachte, sah ein heiterer, warmer, sonniger Frühlingsmorgen ins Zimmer.


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