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Neuntes Kapitel

Durch die Straßen der Städte, vom Jammer gefolget, schreitet das Unglück. Es richtet sich gegen die ahnungslosen Gebrüder, währende Sigismund den Unbefangenen spielt und keine Gelegenheit gibt, sich ertappen zu lassen. Stina auf Posten. Die Indizien mehren sich, werden zum Tribunal. Durch gütige Vermittlung des vielumstrittenen Angora-Bockes klärt sich der Himmel. Dores schwört dem Hause Spier ewige Freundschaft.

Seit diesen Geschehnissen brauchte Dores kaum noch ein ›Komm' benne‹ zu rufen.

Er geriet, wie er selber behauptete, immer tiefer in Morastus und Mistus.

Sein Aussehen war das einer Steckrübe, mit dem toten Blick eines verkrachten Börsenspekulanten.

Die Kunden blieben vollständig aus, das Geschäft vermickerte, Haus und Stall standen ungesellig, denn die Nachricht, daß er nicht Besitzer des königlichen Tieres geworden, sich also weigerte, vornehmes und frisches Blut unter die hiesigen Meckerinnen zu bringen, verstimmte, machte hart und krakeelsüchtig und ließ die gute Meinung, die man im allgemeinen von seinen Kenntnissen hegte, allmählich abflauen. Kurz, seine Aussichten bewegten sich in Schlappschuhen und hatten bald barfuß zu gehen. Das mußte ihn natürlich hundsmäßig ärgern. Er litt unsäglich, erduldete Judasmartern und hatte Nächte und Traumgesichte, die er selbst seinen ärgsten Feinden nicht auf den Hals wünschte. Gewiß, er gab dabei seine Hoffnung nicht preis, mehrte sich mit Fuß und Pfote gegen die grimmige Faust des Geschickes und suchte nach Mitteln, die erbitterten Fehlschläge durch greifbare Erfolge auszumerzen, wenngleich er sich auch eingestehen mußte: Noch manches Tröpfchen Rheinwasser hat bis dahin durch das Land der Kabeljaugesichter zu fließen. Aber kommt Zeit, kommt Gelegenheit! Auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho bleibt kein Hilfloser liegen. Immer nur fortepiano, denn endlich mußte die Aloe doch blühen, mußte der Tag der Vergeltung erscheinen. Um sich bis zu diesem Termin flott und über Wasser halten zu können, tat er sich bei einem Holzschuhmacher als Gehilfe ein, hantierte mit Stemm- und Stecheisen munter drauf los, ließ Raspel und Bohrer knarzen, was das Zeug halten wollte, spurfest, von einer heiligen Mission getragen und bei jedem Sticheln und Geknarze die Indizien gegen Maier Spier und Konsorten sehnlichst herbeiwünschend.

Ja, diese Indizien!

Er hoffte auf sie, wie der wegemüde Handwerksbursche auf das Aufsteigen eines animierenden Wirtshauskrüsels, der lechzende, verdurstende Gaumen auf die Spende eines kühlen Bockbieres. Die Zeit der Rosen mußte endlich doch kommen.

Nur Indizien, weiter nichts, aber die mußte er haben.

Ha! und wenn er sie hatte ... Herr Jeses noch mal! dann aber auch ...! Dann sollte die Welt ihn erkennen, dann war Maier und die gesamte Firma geliefert, oder aber ...

»Her mit dem ›Präliminierten‹ und Sühne für Stina! oder es kann ein Unglück passieren.«

Das schlug zu Buch, und das gefeierte Haus Spier hatte keine Ahnung davon, was die beleidigte Seele dieses Mannes bewegte.

Es brodelte und rumorte in ihr gleichwie in einem Hexenkessel. In der mephitischen Mistatmosphäre auf der Grabenstraße begann es zu kreißen und lebendig zu werden. Miasmen, Miasmen, nichts als Miasmen! und aus diesen Miasmen hob es sich gespensterhaft auf, und dieses Gespenst pilgerte langsam, von keinem gesehen, still seines Weges. Es war so, als würden die schauervollen Worte gestammelt:

»Durch die Straßen der Städte,
Vom Jammer gefolget,
Schreitet das Unglück.
Lauernd umschleicht es
Die Häuser der Menschen,
Heute an dieser
Pforte pocht es,
Morgen an jener,
Aber noch keinen hat es verschont.«

Entsetzlich, niederziehend! und immer weiter wiwakte es, mit der fatalistischen Ruhe einer schleichenden Seuche – über die lange Grabenstraße fort, an der katholischen Kirche vorüber, dann links um die Ecke, auf den großen Marktplatz zu, um dann ...

Mit leisem Winseln drehte es sich um die alte Linde herum, lotste sich an das Haus der Gebrüder heran, hob sich auf Zehenspitzen und sah in die Fenster.

Dieses infernalische Grinsen! aber keiner bemerkte es, weder Elias noch Maier, weder die Piepmösch noch Rosalie Perlchen. Sie lebten nur sich, ihren Sonderinteressen und heimlichen Freuden, gleichsam auf einem verwunschenen Archipel, harmlos wie die Lilien des Feldes.

Es fiel ihnen nicht bei, auf Stina Prußt, die Schabbesgoi, zu achten, ihre eifrige Dienstwilligkeit zu beargwöhnen, ihren gekränkten Ambitionen Rechnung zu tragen und auf das herausfordernde Gemecker des vielgenannten Angora-Bockes zu hören.

Besonders Maier nicht, und doch war er es, dem die bedrohlichen Zeichen am meisten galten. Er hatte kein Auge dafür, kein Ohr, kein Verstehen. Er vegetierte in den Tag hinein, als wenn ihm der graue Himmel voller Zimbeln und Baßgeigen hinge, bis eines Abends ...

Es ging stark in den Advent hinein.

Die vom Niederrhein dachten ernstlich daran, sich auf Weihnachten vorzubereiten, unter den Christbäumchen der nahegelegenen Hügellehne Umschau zu halten und die großen Porzellanterrinen, die unbeachtet in den Glasservanten gestanden hatten, für Silvester mobil zu machen.

Es war kalt, dunstig und bissig geworden. Die Schneesternchen, die vereinzelt ihren Ringelreihen getanzt hatten, traten jetzt in Geschwadern auf und hüllten das ganze Land in ein flirrendes Treiben und Schaukeln. Die Seele des alten Ebenezer Scrooge konnte nicht schneidender sein als dieses Frieren und Frösteln, die Londoner City nicht verschwelter und nebeliger als die kleine Stadt in ihrem bereiften, vergrämelten und nasenspitzigen Aussehen. Die Türme schleierten ein. Ebenso die altmodischen Giebel, die krummen Häuserzeilen, die verlorenen Gassen und Gäßchen. Die Sterne hatten ihr freudenreiches Scheinen verloren, die Glocken ihr anmutiges Rufen, überall eine trostlose Lautlosigkeit: nur ab und zu das jämmerliche Schreien einer Weide in der Niederung. Das geschah jedesmal, wenn die Kälte so grimmig wurde, daß sie Bast und Borke spaltete und den Rest des überständigen Lebens zernagte. Man sah die Schatten der Krähenvögel nicht mehr, wenn sie abends über Wallgräben und Gärten fortgaukelten, um ihre Schlafstätten in den ferngelegenen Wäldern von Moyland aufzusuchen. Nur ihr Lärmen hörte man, ihr Krakeln und Krächzen, nur dann und wann das Wuchteln ihrer langsamen Schwingen. Es war eine Zeit voll unbarmherziger Öde, voller Winterleid und Winterweh und doch eine Zeit, die seltsam bewegte und ahnungsvolle Gemüter am behaglichen Ofen erschauern machte, als wenn bereits jetzt der wundersame Stern von Bethlehem und der stille Glanz der Kerzen über sie fortginge. Ach, dieses Träumen und Suchen und dieses Sichzurückversetzen in die Tage der Kindheit! in graue Tage hinein, die sich anlassen wie Glockenklänge über ruhigen Wassern, deren Spiegel sich nicht kräuseln und deren Tiefen keine Schrecknisse bergen ... Erinnerungen, Bilder, Eingebungen! ... gleichsam durch die Maschen eines feinen Gewebes gehört und gesehen, durch Gaze und Musselin, die alles verlockender und sinnfälliger wiedergeben: Schattenspiele, die die Seele bewegen.

Nur Stina Prußt hatte mit diesen Schattenspielen keine Gemeinschaft.

Ihr Augenmerk war auf andere Dinge gerichtet. Der Abmachung ihres bekümmerten Vaters eingedenk, Material zu gewinnen und Indizien zu sammeln, die geeignet schienen, den Gekörten in die väterlichen Ställe zu leiten, wurden ihre Ohren zu Hasenlöffeln, ihre Lichter so hellsichtig wie die eines Wiesels. Sie lernte die subtile Kunst des verschwiegenen Hörens und Sehens, des Leisetretens auf seufzenden Dielen, des lautlosen Umdrehens von Schlüsseln und des kaum wahrnehmbaren Gleitens vom Hausflur in die benachbarten Zimmer. Sie beobachtete mit der seinen Spürnase eines gewiegten Hühnerhundes, mit der Beharrlichkeit eines Diplomaten, sie folgte dem leisesten Klingelzeichen bis in die entlegensten Gänge, sie studierte die Silhouetten, die über eine erleuchtete Gardine gespensterten, stets darauf bedacht, jeden Laut und jede Erscheinung ihren Zwecken dienstbar zu machen. Ihre Blicke und Ohren schlichen auf Pirmasensern hinter den Gebrüdern her, hinter Sigismund und Rosalie Perlchen, ohne eine geraume Zeit hindurch nur den geringsten Anhalt zu finden. Besonders machten ihr die beiden Jungen zu schaffen. Was waren das für gerissene Windspiele! Und scheinheilig wie die schönen, glänzenden Beeren an Nachtschattengewächsen! Sie vermieden alles und jedes, Spuren und Fährten zu geben. Mit der sonnigen Frechheit Korinths durchlebten sie ihr eigenes Leben.

Schon wollte sie das Rennen aufgeben.

Da geschah es kurz vor Heiligabend, daß sich irgend etwas Verdächtiges regte.

Es mochte gegen elf Uhr sein. Das Haus war bereits schlafen gegangen. Lautlose Stille herrschte auf Fluren und Treppen. Nur seine Schneekristalle ribbelten gegen die Scheiben. Da war es ihr so, als würde auf der ersten Etage ein Name gerufen, mit dem verdächtigen Zusatz: »Rosalie, ich möchte die Plüschpantoffeln gern haben.«

Sie konnte nicht irren. Jedes Wörtchen kam deutlich und scharfumrissen durch das große Schweigen gezogen. Mit aller Bestimmtheit glaubte sie die Stimme des Senior-Chefs vernommen zu haben. Na, so was! das war doch die Höhe! Das Herz schlug ihr bis in die Fingerspitzen hinein: jetzt noch Plüschpantoffeln haben zu wollen!

Dann hörte sie eilige Schritte, dann nichts mehr.

Vor eitel Pläsier schlug sie in Gedanken einen Purzelbaum, notierte den Vorfall unter Angabe des Tages, der Stunde und der Nebenumstände, klappte das Buch zu und freute sich des Augenblicks, wo sie wiederum das Glück haben würde, das Girren eines abgelebten Taubers konstatieren zu können.

Weihnachten kam mit frischem Immergrün, bunten Lichtern und vollen Händen, von denen die einen nicht wußten, was die anderen verausgabten.

Die Kranenburgerin wurde bedacht, als wäre sie die Tochter eines Nabobs gewesen, während Stina sich mit einem schäbigen Kattunkleidchen abfinden mußte, was sie veranlaßte, Ohren und Augen noch mehr auf den Schleifstein zu legen, um gegebenen Falles durch Mauern zu hören und durch verschlossene Türen zu sehen.

Lange Nächte hindurch stand sie auf Posten. Keine Kälte wandelte sie an, die wärmsten Kacheln wies sie ab, die molligsten Kissen verschmähte sie, nur um Flickmaterial für die große und gerechte Sache zu sammeln.

Silvester verging unter dem Geläut der Glocken, unter dem Geknatter von Feuerwerkskörpern und dem üblichen Klingen und Singen der Punschgläser.

Am Vorabend des Heiligen-Drei-Königen-Tages sah sie den Zweitgeborenen mit verliebten Nasenlöchern umherschleichen. Er war seltsam erregt, bald ausgelassen fidel, bald sinnend und heimlich miauend wie ein zufriedener Kater.

Dieses Miauen verstärkte sich, je später es wurde. Ja, man hätte es bei einigermaßen gutem Willen als ein Musizieren ansprechen können.

Maier drängte sonderbarerweise darauf, frühzeitig schlafen zu gehen. Des Tages Müh' und Lasten seien groß gewesen, brachte er als Entschuldigung vor. Übermenschliches könne man nicht von ihm verlangen. Er sehne sich nach Traum und Schlummerrolle.

»Aha!« sagte sich Stina.

Eine Stunde später lagen Kind und Ingesind im tiefsten, friedlichsten Schlummer. Der Sandmann ging um und beglückte alle Kammern mit köstlichen Mohnkörnern, aber Stina ließ sich nicht irremachen und lauschte am Türspalt.

Da wieder das Miauen und Spinnen und dann eine Stimme irgendwoher: »Rosalie, bringe mir 'n Stück Lilienseife, um mir zu waschen for den christlichen Jontef!«

Das war Maiers Geschoß.

Sein Zuruf wirkte wie Baldrian und Katzengamander, denn keine drei Minuten vergingen, da kam es auf weichen Samtpfötchen geschlichen, um dem biederen Mann die Lilienseife für den christlichen Sonntag zu bringen.

Noch ein behagliches Miauen und Spinnen, dann nichts mehr.

Stina wußte genug.

Die beiden Alten hatten die Falle angenommen. Die Indizien waren gefunden. Der Gehörnte rückte in greifbare Nähe: auch der Ersatz für die geradezu schäbige Weihnachtsbescherung.

Und abermals, vor eitel Pläsier und wegen der ihrem Vater propter Deum geleisteten Dienste, schlug sie in Gedanken einen Purzelbaum, notierte den Vorfall unter Angabe des Tages, der Stunde und der Nebenumstände, klappte das Buch zu und beschloß, nach dem morgigen Hochamt ihrem Erzeuger Rapport zu erstatten.

Nein, dieser knappige, knusprige Wintermorgen, dieser köstliche Tag der Heiligen Drei Könige! Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Ab und zu erschien bereits ein eisblaues Stückchen des Himmelreichs, das selbst in die verdrießlichsten Menschenherzen hineinstichelte und sie munter machte, als hätten sie ein Anisettchen getrunken.

Nur das Heldenherz des Bocken-Dores wollte nicht froh werden. Seine Zuversicht rutschte immer tiefer zusammen. Eine Welt voller Enttäuschung, voller Kummer und Bitternis lag hinter ihm, eine neue stieg vor ihm auf, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch bedrohlicher wurde. Das Nebengeschäft hatte er aufgegeben. Es patzte nicht zu dem Grandiosen seiner inneren Aufmachung. Es bedrängte ihn, es machte ihm das Atmen schwer, es saß ihm wie ein Fremdkörper, wie ein Splitter zwischen den Rippen. Also fort damit, fort mit Stech- und Raspeleisen, mit Bohrer und dem verfluchtigen Schachtelhalm, dessen er sich zu bedienen hatte, wenn er den Holzschuhen den letzten Glanz und Schliff geben mußte! Nur in seinem Beruf suchte und fand er sein Höchstes, seine Lust und den Zweck seines Lebens ... und nun war dieser ausgetragene Maier gekommen und hatte ihm auch dieses verekelt. Das plagte ihn wie das Aufstoßen eines saftigen Monatsrettichs. Himmel Herrgott und kein seliges Ende! Mit berechtigtem Ingrimm hob er die Faust und streckte sie dem Hause Großer Markt Numero sieben entgegen.

Da hörte er ...

Die Glocken riefen von Sankt Nicolai herunter. Sie redeten mit eindringlichen Zungen, aber sie hatten ihm gar nichts zu sagen.

Festlich aufgeputzte Menschen gingen zur Kirche, um den heiligen Tag zu begehen. Mochten sie tun, was sie wollten. Der Angora-Bock lag ihm näher als alle Weisen aus Mohrenland zusammengenommen.

Die Glocken mahnten zum letzten. Er achtete nicht auf ihr mahnendes Rufen. Der Himmel würde schon ein Einsehen mit ihm haben und sein Fernbleiben begreiflich finden. Er war ein gläubiger, christ-katholischer Mann, der alle Vorschriften der Kirche eifrigst befolgte, zur Beichte ging, die Fastentage innehielt, sich nie mit Zweifeln und häretischen Dingen befaßte, dem Pastor und dem Klingelbeutel allzeit die Ehre erwies und niemals fehlte, wenn die Fronleichnam-Prozession durch die beflaggten und mit Blumengirlanden und Maien geschmückten Straßen des kleinen Städtchens triumphierte, aber heute ... heute war er nicht in der Lage, mit seinem Herrn und Erlöser zu sprechen, denn offensichtlich hatte der liebe Gott ihn verlassen. Wurst wider Wurst. Er hatte auch seine Reputation zwischen den Rippen.

So blieb er denn, wo er war, in seiner Behausung, sah über die verödeten Ziegenställe fort und zählte die Schneeflöckchen, die noch vereinzelt an den Fensterscheiben niederrieselten, als gegen elf seine Tochter erschien, ihn mit strahlenden Augen begrüßte und in die zuversichtlichen Worte ausbrach: »Vater, zwei schwere Indiziums hab' ich gefunden!«

Der Alte fuhr auf wie unter dem Eindruck einer hehren Erscheinung.

»Wo sind sie?«

Stina hielt ihm ihr Notizbuch entgegen.

»Halt!« sagte Dores, und er faltete feierlichst seinen majestätischen Bart auseinander. Gleichzeitig warf er ihr einen vielsagenden Blick zu, in den bedeutende Menschen Würde und mörderische Bosheit zu legen wissen.

»Warte, mein Kind. Einen Momang nur. So was muß man in aller Hoheit genießen. Ich komme gleich wieder.«

Damit begab er sich nebenan in die Kammer, kramte dort eine geraume Zeitlang herum, um in vollständig sonntäglicher Aufmachung aufs neue in die Erscheinung zu treten.

Die linke Hand in dem tiefen Sack einer blau und weiß gewürfelten Hose vergraben, mit der Rechten den seidenfadigen Bart nachdenklich strählend, eine Velvetjacke übergeworfen, einen frischangebrannten Zigarrenstummel zwischen den Lippen – also präsentierte er sich, räusperte sich etliche Male, streckte die Hand aus und sagte: »Alles im Leben hat seinen Gerichtsgang, oder wir können uns einmachen lassen. Ich bin parat. Stina, beginne.«

Da begann sie zu lesen: »Am 22. Dezember, abends um elf. Ich war noch nicht schlafen gegangen und befand mir auf Posten. Da hörte ich rufen, aber man heimlich: Rosalie, ich möchte die Plüschpantoffeln gern haben.«

»Um elfe ... und Plüschpantoffeln aufs Zimmer ...?!« meditierte der Alte. »Verdächtig! Wer war es?«

»Elias.«

»Höhö!« lachte Dores. »Man weiter.«

»Und da hörte ich, wie Rosalie Perlchen ...«

»So'n Fraumensch! und da ...?«

»Vater, ich bin zu scharnierlich.«

»Auch gut,« triumphierte der Edle und schlug einen mächtigen Knoten in sein strähniges Barthaar. »Der wäre geliefert. Wir kämen nunmehr zum anderen Kasus. Drum, Stina, beginne.«

Da hub sie wieder zu lesen an, aber mit einem niedlichen Kichern: »Am 5. Januar, also gestern, abends um zwölfe. Ich war noch nicht schlafen gegangen und befand mir auf Posten. Da hörte ich miauen, aber man ängstlich: Rosalie, bring' mir 'n Stück Lilienseife, um mir zu waschen für den christlichen Jontef.«

»Miauen ... um zwölfe ... Lilienseife für den christlichen Jontef ... aufs Zimmer ...?! Doppelt und dreifach verdächtig! Wer war es?«

»Herr Maier.«

»Ha!« sagte Dores. Vor eitel Freude ließ er für einen Augenblick sein Patriarchentum fahren und hoppelte von einem Bein auf das andere. »Ha! das wäre, wie es die Lateiner benennen, ein corpus delikati; aber Stina, man weiter.«

»Und da hörte ich, wie Rosalie Perlchen ...«

»So'n Fraumensch! und da ...?«

»Vater, ich bin zu scharnierlich.«

»Auch gut! Genügt mir, Stina, mein Goldkind, laß dich umarmen!« und er zog die Dralle an sich und pflasterte ihr einen festen Kuß auf die Wange. »Du hast Großes geleistet. Der Bock meckert mir zu. Ich sehe ihn antreten. Er wird meine Ställe beziehen. Die Kastemännchen werden kommen in Hülle und Fülle, werden mir aufs Dach regnen, so daß ich sagen kann: Und neues Leben blüht aus den Ruinen ... und Stina, so wahr ich hier stehe: dein schäbiges Kattunkleid wird sich in 'ne staatziöse Sonntagsrobe verwandeln, denn wisse, mein Kind« – und der alte Herr nahm eine würdige Pose an – »diese Plüschpantoffeln werden den beiden niemals geschunken. Mit Haut und Haaren soll mich der Satan verzehren, wenn sie ihr nicht mehr als das Chignon zerdrückten. Klar zum Gefecht! Her mit dem Hut! Die Welt lernt mich kennen! Ich halte Gericht ab. Aber oho! Ich mache ins Haus der Gebrüder,« und ehe sich's Stina versah, hatte er seinen Filz vom Pflockbrett gerissen, hatte ihn übergestülpt und war siegesgewiß seines Weges gegangen. –

Sigismund hatte den heutigen Sonntag dazu benutzt, eine kleine Spritztour nach Kleve zu machen, Elias schlurfte am Ravelin umher, erfreute sich am Schlittschuhlaufen der Jugend und beobachtete das Getreibe der Blau- und Kohlmeisen, die in den bereiften Zweigen munter herumzäckerten, während Rosalie alle Hände voll zu tun hatte, den Braten zu spicken, in die Röhre zu schieben und sich in die Mysterien einer gefühlvollen Rosinensauce zu vertiefen.

Maier saß im Kontor, revidierte die Kontobücher und machte sich ein Spezialvergnügen daraus, seinem Kommis diverse Flüchtigkeitsfehler in die Schuhe zu schieben. Fast in allen Kolonnen stieß er auf einen dickleibigen Schnitzer. Schon fünfzehn Verstöße gegen eine geordnete Buchführung ließen sich handgreiflich feststellen, abgesehen von Rasuren und Tintenklecksen. Es war zum Verzweifeln.

»Der Mensch ist verliebt,« konstatierte er schließlich, »verliebt bis über die Ohren. Sollte er vielleicht mit Rosalie Perlchen ...?«

Er wurde unterbrochen.

»Herein!«

Dores trat vor, halb Pfiffikus, halb büßender Einsiedler aus der Wüste Thebais.

»Nu, wie steht's?« fragte Maier.

»Schlecht,« entgegnete Dores und begann damit, seinen Bart aufzuwickeln, wobei er sich des Zeigefingers der linken Hand als Spule bediente. »Ich komme nochmals in tiefster Bedrängnis.«

»Sie kommen immer zu mir in tiefster Bedrängnis,« lächelte Maier. »Was tu' ich mit 'ner tiefen Bedrängnis? Kommen Sie lieber in Fidelität un mit fünfunzwanzig Speziestaler in bar oder in Kassenscheinen, un Sie werden haben das Böckchen. Noch gestern ist der Herr evangelische Paster aus Kermesdal bei mir gewesen un wollte mir persuadieren, ihm das Tier zu belassen. Aber ich dachte ...«

»Maier, ich habe Ihnen siebzehn geboten.«

»Kommen Sie mir nicht mit die alten Geschichten. Sie sind schofel, die alten Geschichten. Sie haben keinen Grund unter den Füßen. Ich kann mich nicht mit ihnen befassen, denn ich bin ein solider Mann un ein vorsichtiger Mann un kann mir nicht ruinieren bei hellichtem Tag un lebendigem Leibe. Sie müssen immer bedenken: er ist ein Gewaltiger, ein Pascha: er stammt aus Angora, Herr Prußt, wo sich die Pyramiden befinden un die Schwarzen un die feuerspuckenden Berge – wohl hundert Stunden hinter Afrika fort, bis nach Indien zu, wo sie verbrennen die eigenen Frauen, um zu kommen in den indianischen Himmel, wo sie sitzen werden nackicht, aber von einer ewigen Sonne umleuchtet.«

»Das bringt uns nicht näher, mein Lieber, Das haben Sie mir schon unter der Linde gepredigt. Wir müssen die Kirche schon im Dorfe belassen. Ich biete zum letzten: siebenzehn preußische Taler und kein Dobbeltje mehr nicht.«

»Herr Prußt, Sie geben mir schwarze Rettiche zu speisen. Ich liebe sie nicht, sie haben etwas Ranziges an sich. Ich kann solche nicht essen.«

Dores machte ein ernstes Gesicht. Den Pfiffikus und den Einsiedler aus der Thebais warf er beiseite und sagte: »Herr Maier, das Wasser steht mir just bis zum Maule. Krieg' ich das Vieh nicht, muß ich versaufen. – Aber jetzt kann ich nur noch dreizehn bezahlen.«

»Spaß,« sagte Maier.

»Jetzt nur noch achte.«

»Herr Prußt, da ist die Türe. Gehn Sie, bitte, nach Hause. Ich habe keine Zeit mehr for Ihnen.«

»Jetzt nur noch viere.«

»Herr Prußt, ich bitte mir aus, wollen Sie mir hohnepiepeln for die Gewalt oder wollen Sie machen ein Späßchen, um darüber zu lachen un ein Pläsiervergnügen zu haben?«

»Nee,« sagte Dores, und seine Stimme nahm eine ganz verteufelte Tonfärbung an. »Jeder ist sich selber der Nächste. Den Bock muß ich haben, und wenn ich ihn für umsonst Kriegen sollte. Wollen Sie ihn mir für zwei Taler geben, oder ein Heilighimmeldonnerwetter schlägt das ganze Haus der Gebrüder zusammen?!«

Was war das?

Maier fuhr auf und sah einen Heros vor sich stehen, groß und gebietend, mit steiler Falte über der Nasenwurzel und fliehendem Bart, wie ihn Moses getragen hatte, als er sich entschloß, unter Donner und Blitz den Berg zu besteigen ... und dieser Heros schien willens, über Leichen zu schreiten.

»Zwei Taler und kein Dobbeltje mehr nicht!«

Die Stimme des Gewaltigen rollte, als wäre es die des Oberprokurators in Kleve gewesen.

Maier erbebte, hatte aber noch so viel Besinnung, seine letzten Kräfte zu sammeln und auf den Ausgang zu weisen.

»Bemühen Sie sich durch das Zimmermannsloch. Dort führt Ihr Weg hin.«

»Ich denke nicht dran. Eher schluck' ich 'ne Tabaksdose voll Makuba hinunter. Ich bleibe und frage noch einmal: kann ich ihn für das letzte Angebot haben?! Ja oder nein?«

»Nein!« donnerte Maier.

Er hatte Essigsprit zwischen den Zähnen.

»Dann habe ich an Sie eine Frage zu richten.«

»Ich bitte, sich bedienen zu wollen.«

»Ich werde, mein Söhnchen. Ich werde, ich werde ...« und eine breite Hand legte sich dem Vieh- und Produktenhändler schwer auf die Schulter.

»Wie ist das mit den Plüschpantoffeln gewesen?«

»Mit was for Pantoffeln?!«

»Nun mit die am 22. Dezember, abends um elfe.«

»Gott der Gerechte! was tu' ich mit die Plüschpantoffeln am 22. Dezember, abends um elfe?«

»Wenn Sie es nicht wissen, fragen Sie Eli.«

»Was kümmert mich Eli?! Haben seine Plüschpantoffeln etwas verbrochen, sind sie gewesen unhonorig, nu, wenden Sie sich an die Plüschpantoffeln vom Eli. Ich habe die Ehre.«

»Ich bin noch nicht fertig.«

»Was haben Sie noch? Schweigen Sie still. Ich hätte werden können Offizier bei die Füsiliere in Potsdam. Bleiben Sie mir deshalb vom Leibe, denn ich kann fürchterlich werden.«

»Man Ruhe, immer man Ruhe, oder ich rasiere Ihnen den Kopf wie 'ner Zuckerrübe herunter. Aber ich meine: wie ist das mit die Lilienseife gewesen, um sich zu waschen für den christlichen Jontef?«

Der so Inquirierte fühlte einen empfindlichen Schmerz in den Kniekehlen. Er sah eine transparente Leinwand, auf der sich ungeheuerliche Dinge abspielten. Das schöne ausgeglättete Schneetuch da draußen färbte sich bläulich, dann dunkel, dann schwarz wie Rabenfittiche, wie man es nötig hatte, um damit einen Katafalk zu bekleiden.

»Was for 'ne Seife?« fragte er, mehr tot als lebendig.

»Nun, als Sie wie 'n Kater miauten.«

»Waih geschrien! was tu' ich mit die Lilienseife, um mir zu waschen for den christlichen Jontef?!«

»Und das am 5. dieses, abends um zwölfe.«

Der Heros fühlte jetzt: du hast Oberwasser bekommen, und legte wie der Maharadscha von Lahore seinen mit Edelsteinen umkrusteten Bart in zwei mächtige Hälften.

»Herr, ich betone: abends um zwölfe.«

»Gott der Gerechte! was tu' ich mit dem 5. hujus, abends um zwölfe?!«

Der Maharadscha von Lahore zuckte die Achseln.

»Wenn Sie es nicht wissen – ich hab' keine Ahnung. Da müssen Sie schon Rosalie Perlchen befragen.«

»Wen?!« stammelte Maier.

Er hatte das Gefühl, als würde ihm vor den Assisen in Kleve verkündet: »Mache dich fertig, morgen früh um sechse wirst du enthauptet.«

Es wurde ihm kalt unter dem warmen Schemisettchen. Fassungslos sah er in das ebenmäßige Gesicht seines Drängers und Bedrückers, kniff das linke Augenlid und die linke Mundecke ein und fragte nochmals mit schiefgezogenem Antlitz: »Herr Prußt, wen nannten Sie eben?«

»Rosalie Perlchen.«

»Bitte, lassen wir das,« und er lächelte bittersüß, schmerzhaft-gütig, selig-beklommen, etwa so, wie die weißen Zinnbeschläge auf einem Sargdeckel lächeln, trat etliche Schritte rücklings und ließ sich auf seinen Kontorsessel nieder.

Er nahm ein Lineal, betrachtete es mit forciertem Interesse, wippte es auf und nieder und meinte: »Gott, Herr Prußt, wie kommen Sie nur auf die Plüschpantoffeln un die Lilienseife abends um Zwölfe?! Es sind unreine Sachen. Man muß ihnen mit die Stiefelspitzen in den Hintern treten. Ich werfe sie von mir. Ich will sie nicht sehen. Na, un die Rosalie Perlchen! Ich werfe sie auch über die Schulter. Ich habe mit ihr keine Gemeinschaft, will keine haben. Da liegt sie: aber ich denke, Sie sind ein kulanter Herr un ein bedachtsamer Herr, um zu reden mit Ihnen ein verständiges Wörtchen.«

»Bin ich immer gewesen, Herr Maier.«

»Allerhand Achtung! un Sie verstehen zu schweigen?«

»Auch dieses, mein Bester.«

»Un Sie möchten gerne das Böckchen besitzen?«

»Aber natürlich.«

»Gott, was'n Wort! Wo befinde ich mich? Höre ich richtig? Nu will er's mit einemmal haben – das Böckchen! Ich bitte Ihnen, mein Lieber – warum sind Sie damit nicht eher gekommen, hab' ich's doch verteidigen müssen gegen den Herrn Ökonomen Otten vom Orth und gegen den Herrn evangelischen Paster zu Kermesdal – sechs lange Monde hindurch, in Trauer un Schmerzen, mit 'ner barbarischen Forsche, nur um Ihnen zu machen 'n spezielles Vergnügen? Sie hätten nur brauchen zu sprechen, un es wäre Ihnen gewesen for' ne geringe Abfindungssumme. Indessen, ich will Ihnen was sagen ...«

Und Maier erhob sich. Er erhob sich als ein gesundeter Mann, frei von aller Not und Bedrückung, trat vor seinen Widersacher hin und sah ihm tief in die Augen.

»Gut denn, Sie sollen ihn haben – den Pascha. For zwei preußische Taler sollen Sie ihn für immer besitzen. Warum nicht gar! Nein – Sie sollen ihn haben for gratis. Gehen Sie gleich in den Stall un nehmen ihn mit sich; aber nur unter einer Bedingung ...«

»Wem erzählen Sie das?« und Dores schlug sich auf sein Velvetjackett: »Hier wohnt das Schweigen des Grabes, die Fülle des Dankes. Indessen – da wäre noch Stina, meine einzige Tochter, mein Herzblatt. Für das ausgefallene Weihnachtspräsent müßte sie schon 'ne gebührende Gratis-Robe beziehen.«

»Soll sie empfangen die Robe. Warum nicht? Ist sie doch stets 'ne auserwählte Bedienung gewesen. Mag sie hingehen zu Mamsell van der Grinten un sie bestellen for mein eigenes Konto. Es kann auch ein schönes wollenes Jäckchen bedeuten.«

»Brav so!« und Dores hielt ihm die Hand hin. »Die Sache wäre hierdurch geregelt, ohne Ansehen der Person und zwischen vornehmen Leuten, und somit ...« und seine Stimme floh hin wie der Ton einer heiligen Synodalposaune: »Mit dem heutigen Tage hat das Haus Numero sieben in mir 'nen Freund gefunden auf Leben und Sterben, allweil auf Posten, stumm wie 'n Sargnagel, toujours in Gala für seine Geschäfte, zu Meer und zu Lande, und sollte einer den Schnabel auftun, um ihm das Honnör zu verkleistern – Himmelkreuzgewitter und kein seliges Ende! ich breche ihm alle Knochen im Leibe zusammen. Wie Beihau! Das soll hiermit gesagt sein, und damit: adjüs denn.«

Gemessen verließ er die Stube, drehte sich dem alten Holunder und der Stadtmauer zu, und keine Viertelstunde verging, da stolzierte er mit dem angehalfterten Großmogul über den Marktplatz den heimischen Ställen entgegen, aufgeschirrt wie obenbesagter Maharadscha von Lahore, nur mit dem Unterschied, daß dieser an Stelle des meckernden Vierfüßlers einen bengalischen Tiger hinter sich führte, aber die Würde des Maharadschas blieb ihm zu eigen. Gott segne dich, Dores!


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