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Zwölftes Kapitel

Warum Maier die Kerze ergreift und den entsetzten Bruder auffordert, ihm auf sein Zimmer zu folgen. Das Grausen im Hause. Rosaliens Schlaflosigkeit und ihr Morgenrock. Die Schatten an den Wänden. Weshalb abgeriegelt wird, der Senior-Chef sich in eine Sofaecke drückt und in heller Verzweiflung stammelt: »So, Maier, nu rede.«

Es schlug zehn von Sankt Nikolai, als Maier verstört die Kerze ergriff und sagte: »Eli, wir wollen uns auf mein Zimmer begeben.«

Der Angesprochene nickte weh vor sich, suchte dann verloren an den Wänden herum, ohne dem dringlichen Ansinnen Folge zu leisten.

Was er dort zu suchen hatte, wußte er selber nicht. Die Schildereien waren dieselben geblieben. Er hatte sie immer gekannt, von seiner frühesten Jugend an, während seiner Sturm- und Drangperiode, bis in sein jetziges Alter hinein, wo ihm seine lieben Mitbürger den Beinamen ›Schleifboot‹ zugelegt hatten. Da waren: Moses am Fuße des Sinai, Moses unter Donner und Blitz auf dem Gipfel des Berges, Moses im Angesicht des goldenen Kalbes, Moses, wie er die steinernen Tafeln zerschellte. Alles bekannte Legenden. Auch die Wände selber boten nichts Neues. Es waren die nämlichen glatten, trostlosen Wände von früher und ehedem.

Also – was suchte er dort, was interessierten sie ihn?

Eigentlich gar nichts, kein Jota, nicht die Spur eines Hauches, und doch war sein Antlitz so bleich wie Kreide geworden.

Die alte Kastenuhr mit den schablonierten Rosen auf dem Zifferblatt in der Stube nebenan ließ ihren Perpendikel in derselben Art und Weise auf und nieder gehen, wie sie es schon fünfzig lange Jahre hindurch getan hatte, mit dem gleichen Geräusch, mit dem gleichen Seufzen und Rucksen. Nur wollte es scheinen, als hätte man das Gangwerk mit Baumwollfaden umwickelt.

Auch die Lichter auf der Anrichte brannten so seltsam.

Irgendwo knabberte eine Maus, geigte ein Heimchen.

Von der Decke senkte es sich mit dem seinen Geriesel von Musselinschleiern.

Aus diesen Schleiern wuchsen Gestalten und Szenen.

Aus weiter Ferne wurde sein Name gerufen, kaum hörbar, winselnd, mit Tränen durchsetzt, als käme er aus dem Herzen eines verzweifelten Weibes.

Er sah sich um und um.

Ihm grauste in seiner eigenen Wohnung.

Alles war so mißfarbig um ihn, so kalt, so von Leichenfingern betastet.

Er hatte das Gefühl: du befindest dich mitten in den Schauern des furchtbaren Tages ›Jom Kippur‹, des Tages also, der dem großen Versöhnungsfeste vorangeht, der kein Erbarmen kennt und keine Anmut verstattet. Vor ihm fürchtete sich selbst der Ewige. Warum sollte da er sich nicht fürchten? Abwehrend streckte er die Hände aus, um sie mit müdem Lächeln wieder ineinander zu flechten.

Sein Bruder stand noch immer vor ihm mit erhobenem Leuchter. Auch Maier war blaß, angekränkelt, benommen, obgleich das graumelierte Cäsarenhaupt alles und jedes aufbot, sich tapfer zwischen den steifen Vatermördern zu halten. Aus den Ecken seines zusammengekniffenen Mundes blitzten die Goldplomben.

»Nu,« sagte er schließlich, »wie denkst du darüber?«

Elias sah auf.

Die Lippen bewegten sich krampfhaft.

»Was stehst du da mit's grausame Licht?« fragte er heiser.

Er hatte weiße Mäuse vor Augen, Ghulen und Schwarbelköpfe.

»Eli, nicht grausam. Es brennt ja so lieblich. Es wird uns geleiten in die Zelle des Friedens. Komme mit mir in mein oberes Zimmer.«

»Warum in dein oberes Zimmer?«

»Ich hab' dir eine Mission zu verkünden.«

»Wie heißt ›Mission‹? un warum in deinem oberen Zimmer? Ich kann nicht un will nicht. Sprich hier. Auch hier können wir reden. Alle sind schlafen gegangen. Keiner stört uns. Niemand vernimmt uns. Ich fürchte mich in deinem oberen Zimmer.«

Er sank aufs neue in sein verzweifeltes Brüten.

Er dachte zurück, an verflossene Tage, an ein trauliches Stündchen, das er nicht mehr wahr haben wollte. Seine Pupillen stielten sich, traten vor, wurden wie die eines Hummers.

Da tippte ihn ein Finger auf die belastete Schulter.

Er zuckte zusammen.

»Eli, wir müssen nu gehen.«

Dieser winkte ab.

»Maier, ich kann nicht.«

»Du mußt; denn meine Sache ist deine Sache. Meine Bedrängnis die deine. Wir fühlen uns solidarisch verpflichtet. Die siamesianischen Zwillinge sind nicht enger verbunden. Die Firma läßt sich nicht trennen. Unser Kredit ist derselbe. Soll un Haben werden in dem gleichen Buche verzeichnet. Konkurs oder Saldierung – wir stehen for beide. Die Fitalität haben wir gemeinsam zu tragen. Also du mußt, wenn du nicht willst, daß sie zeigen auf uns mit die malproperen Finger.«

Der Chef stierte ihn fassungslos an.

»Gott der Gerechte! sprich hier. Erzähle mir alles; nur nicht in deinem oberen Zimmer. Da kann ich meinen Atem nicht finden. Da wollen sie über mich her: die Speicherratten un Mäuse. Laß mich zufrieden. Ich geh' ja kapores. Sprich hier, un ich will hören wie in der ›Schul‹, wenn sie am Betpult die Thorarolle verlesen.«

»Wie sollte ich können? Die Wände haben hier Ohren: dito die Messer un Gabels. Komm' mit, sonst haben wir alle Welt un die ganze Mischpoke am Halse. Jedes Wort will seine Heimlichkeit haben.«

Maier zitterte am ganzen Leibe. Auch er schnatterte. Auch ihm sickerte die Angst gleich Holzmulm aus allen Masern und Fasern. Aber er kämpfte sich hoch. Nicht umsonst hätte er Offizier werden können.

Er nahm einen martialischen Ton an und sagte: »Entweder du kommst, oder du bist ein Beheme.«

Das wirkte.

Elias erhob sich, schlotterbeinig, mit gekrümmtem Rücken.

»Gut! also gehen wir in dein oberes Zimmer.«

Er mischte sich den Schweiß von der Stirne, so zerquält war er, so von aller Willensstärke verlassen, als sei ihm von dem entsetzlichen Revolutions-Tribunal geboten worden, in den hänfenen Sack des Meisters Samson zu niesen.

»Geh' schon voran: ich werde dir folgen.«

Da löschte Maier die Kerzen, die auf der Anrichte brannten, umgriff den Leuchter fester und legte die verklammte Hand auf die Klinke.

Mit einem feinen Seufzen drehte sich die Tür in den Angeln.

Auf Sankt Nikolai holte nochmals die Uhr aus.

Es schlug ein Viertel nach zehn, als sie die Stube verließen.

Langsam gingen die müden Schritte durch den geräumigen Flur: Maier voran, Elias schleifend in den ihm vorgeschriebenen Spuren.

Nichts ließ sich hören; nur das Mäuseknabbern schien stärker geworden, auch war es dem tapferen Führer so, als wenn auf den höchsten Stufen zur ersten Etage etwas raschelnd verschwände.

»Wer ist da?!« rief er es an.

Er warf seine ganze Energie, den Rest seines Ansehens in die Schale des Unvermeidlichen.

Keine Antwort erfolgte.

»Meimemmelochem!« rief er zum andern, aber forscher und strenger, »wer ist da?!«

Da kam es von oben: »Ich bin es, Herr Maier.«

»Rosalie – du?!«

»Ja, ich bin es: Rosalie Perlchen.«

»Was tust du noch auf bei pechschwarzer Nachtzeit?«

»Ich konnte nicht schlafen. Da bin ich etwas herumgewandelt im Hause.«

»Schöne Verrichtung,« gab Maier zurück, atmete auf und sagte zu seinem Bruder, als über ihnen ein Riegel geschoben wurde: »Da siehst du, wie man bedächtig sein muß, um nicht zu kommen in 'ne große Verheerung. Wären wir unten geblieben, es hätte gegeben ein Unglück. Gelaustert hat sie an der unteren Tür, um sich zu machen ein Bildnis von unserem gegenwärtigen Zustand. Es ist ihr daneben gegangen. Aber was stehst du? Was kuckst du? Komm' weiter.«

Er deutete aufwärts und wandte sich der Treppe zu, die in zwei Absätzen zur ersten Etage führte.

Langsam stiegen sie hinauf.

Jeder Fußtritt fand sein Echo in den weiten Fluren und Gängen.

Der unstete Lichtschein ließ die ganze Umgebung abstrus und bizarr erscheinen.

Die Treppe wuchs ins Ungemessene, verlor sich in Schatten und Dämmerungen.

Die Silhouetten der beiden spielten an den kalkigen Wänden, verschluckten sich wechselseitig, spien sich aus, hoben sich, senkten sich, wurden bald breiter, bald schmäler, um als graue Wichtelmänner über die Dielen zu kriechen.

Immer höher und höher! und je höher sie kamen, um so verschüchterter und zurückhaltender gaben sich die Schritte des Erstgeborenen. Sie klebten, als hätten sie Pech an den Sohlen.

Er war in der Tat das reinste Schleifboot geworden.

So gelangten sie auf die erste Etage.

Da – ein Röcheln und Stöhnen.

»Maier, ich bitte dich, Maier!«

Der Angerufene wandte sich um, selbst erschrocken bis in die innersten Tiefen.

»Was hast du?«

»Steht da nicht Blümchen?!«

Maier erbleichte.

»Was Blümchen?! Wie kommst du auf Blümchen? Sie schläft auf dem Friedhof. Tote erscheinen nicht wieder. Sie sind eingebunden im Bündlein der Lebendigen. Drum schweige. Man empfängt ja zuviel bei diese Geistergefühle!«

Entschlossen trat er einige Schritte zurück, um bessere Deckung zu haben.

»Wo soll sie denn stehn?«

»Da, neben dem Glasspind.«

Er starrte in ein Totengesicht, in das seines Bruders, erholte sich aber und sagte: »Eli, sei stark. Denke daran, daß du ein Spier bist. Die Spiers sind immer gewesen tapfere un bedeutsame Männer. Es ist bloß der Morgenrock von Rosalie Perlchen.«

Ein befreiendes Schluchzen: »Gut, daß es weiter nichts ist! Aber lasse mich aus. Ich verschlucke lieber Fensterglasscheiben, als hier noch zu warten. Man kriegt ja die Mauke davon un richtige Gallen. Mache ein Ende mit die furchtbaren Sachen. Komm' weiter! Verstöre mich nicht. Gott, dieses Elend, dieses entsetzliche Elend! Hätte ich doch mit Jesus Sirach gesprochen: Wende dein Angesicht von schönen Frauen, un sieh' nicht nach der Gestalt üppiger Weiber. Ich wollt', ich läge neben Blümchen Flesch in meinen sieben Brettern. Ich wollte ...«

»Eli, sei stark. Förchte dich nicht. Alles hat seine Zeit: Geboren werden un sterben, zerreißen un zunähen, weinen un lachen, Steine sammeln un Steine zerstreuen ... un das Fürchten hat auch seine Zeit. Es wird dahin gehen wie ein faules Geschäft, wie der Rauch eines Ofens. Höre auf mich. Tu', was ich sage, un wir werden haben 'ne angenehme Besänftigung un ein freundliches Dasein.«

Die großen und zuversichtlichen Worte wirkten auf den Verängstigten gleich Balsam und Spezereien.

Er folgte jetzt willig.

Rosaliens Morgenrock, die krausen und verzerrten Bilder, die Schrecknisse der Treppen und Flure blieben zurück und hatten ihr unmittelbares Grausen verloren.

Nur einmal noch hoben sich die Schatten an den kalkigen Wänden, wurden zu Pfählen, zu Löffelmännern, machten groteske Sprünge und Männchen, um schließlich in ihr eigenes Nichts zu versinken.

Endlich!

Das Türschloß knackte am oberen Zimmer.

Das Ziel war erreicht.

Von seinem Bruder gefolgt, betrat Maier als erster die Stube, stellte das Licht auf den runden Tisch neben einem kleinen Alkoven und ließ die Fenstergardine herunter, denn der Mond sah mit einem ganz infamen Grinsen durch die Scheiben.

»So, hier wären wir nu.«

Der Chef blickte mißtrauisch umher.

Er suchte etwas, ohne es finden zu können.

Jede Einzelheit des niedrigen Raumes war ihm bekannt wie jede einzelne Schublade seines Zylinderbüros: die Stühle, die blaue Tapete, das Bett mit dem Umhang aus geblümtem Zitz, das Nachtkommödchen, das ripsene Sofa mit den Schlummerrollen aus Glasperlen, kurz, alles und jedes, und trotzdem wähnte er sich von Feinden umgeben, von Lemuren, Dämonen und scheußlichen Empusen. Er wünschte, um der Furcht willen in der Nacht, sechzig Starke aus den Starken Israels um sich zu haben, dreißig zur Rechten und dreißig zur Linken, mit blauem Eisen umkleidet, mit Schwertern gegürtet, wie Salomo sie um sich hatte, der König ... und war doch ein König, ein Zepterträger, ein Gesalbter, unter dessen Schritt der Erdkreis erbebte, und er nur ein Nichts, ein Sandkorn, ein kleiner Händler, ein Federspiel unter dem Hauche seines Herrn und Schöpfers. Wie sollte er da ohne Hilfe bestehen?

Besonders das Bett mit der leichten Umkleidung machte ihn bangen.

»Herr, halte ein den Strom deines Zornes! Mache mich nicht zum Knecht deiner Knechte!« und als er noch sah, daß sein Bruder sich am Türschloß zu schaffen machte, den Schlüssel einsteckte und abriegelte, als er das alles sehen mußte mit wachen Sinnen und lebendigen Augen, da rief er ihn an mit der Stimme der Verzweiflung und der Angst mitten in der Nacht: »Maier, was tust du?«

»Nu, was ich so immer gewöhnlich besorge.«

»Was riegelst du ab? Ich will's nicht. Das sind keine Anstalten. Wir befinden uns hier nicht zwischen Räuber un Totschläger. Es ist ein friedfertiges Haus, drin wir wohnen. Du aber machst es zum Tollhaus. Ich will nicht schauen durch eiserne Traillen, nicht in 'ner Zwangsjacke stecken. Du tust mir Gewalt an bei wahrhaftigem Leibe. Was schließt du die Tür zu? Ich will's nicht. Das ist Tusch. Ich laß mir nicht tuschen. Ich kann sie nicht leiden – die verschlossenen Türen. Ich will meine Freiheit. Er steht hinter mir, der Kavalier mit die glasigen Augen. Laß mich fort un hinaus. Ich förchte mich in deinem oberen Zimmer. Ich kann das Bett mit dem zitzenen Umhang nicht sehen, überhaupt nichts mehr sehen. Laß mich fort oder ich schreie.«

Er hatte Blut auf der Zunge.

Da kam der gerechte Zorn über Maier. Der Topf kochte über.

Seine linke Goldplombe funkelte.

Obwohl er selber klaftertief im Dalles steckte und überall Mäusedreck witterte, er riß sich zusammen, so wie Cäsar es tat, als er über den Rubikon setzte, streckte gebieterisch die Hand aus und sagte: »Sei kein Has', ermanne dich, Eli. Werde ein Löw', und plazier' dir aufs Sofa!«

Was blieb dem Ärmsten da noch anderes übrig zu tun, als sich aufs Sofa zu setzen?

Er drückte sich verschüchtert in eine warme Ecke hinein, legte gottergeben die kalten Finger zusammen und stammelte: »So, Maier, nu rede.«


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