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Fünftes Kapitel

Im Heim der Gebrüder. Der Verfasser berichtet von dem milden Duft nach Knoblauch und Zwiebelsauce, der alle Räume durchgeistert, was Elias für ein prächtiger Mann ist, wie er und Maier ihren ausgesandten Neffen Sigismund schmerzlich erwarten, wie dieser schließlich erscheint, erst mißtrauisch empfangen wird, dann aber das vollste Lob einheimsen darf. Zum guten Beschluß singt die Piepmösch das schöne Lied: »Guter Mond, durch alle Sphären ... um hierauf schlafen zu gehen.

Das Spiersche Anwesen zählte zu den stattlichsten im Bering des weiten Marktplatzes. Etwas Großzügiges ging von ihm aus, etwas Außergewöhnliches, das für die kleine, verträumte, angegraute Stadt so recht nicht mehr paßte. Der breitausgelegte Klinkerbau mit seinen Beischlägen, den hohen Fenstern und den verkragten Geschossen wies in jene Tage zurück, wo die Herzöge von Jülich, Kleve und Berg noch die Gepflogenheit hatten, die vielgetreue Stadt als zweite Residenz anzusehen, um in ihrem ehrwürdigen Rathaus tanzen und pokulieren zu lassen. Ja, überhaupt dieser Giebel! und wenn man einer alten Überlieferung Glauben schenken durfte, so war er noch Zeuge der Vorgänge gewesen, die sich mit dem Einpflanzen der nunmehr hochbetagten und patriarchalischen Linde verknüpften. Kein Zweifel, er hatte noch Herzog Johann begrüßt und die schöne Mechthild, hatte auch noch gesehen, wie der vielehrsame Bräuer und Schöffenmeister Jodokus ter Linden aus Hochmut, Freude und Stolz übersinnig wurde und freventlich wähnte, die hohe Frau etliche Male guter Hoffnung gemacht zu haben ... alles dieses und mehr noch! und nun bewohnten diese gediegene Stätte die beiden Gebrüder, betrieben hierselbst ihre Geschäfte, häufelten Röllchen auf Röllchen, befolgten die Gebote des Herrn getreu nach der Satzung und hofften, ihre Junggesellentage noch ungezählte Male, sprudelfrisch und sonder Beschwerden, bis in das höchste Alter hineinzutragen. Gott möge es wollen!

Über der hohen Eingangstür stand ›Salve‹ geschrieben.

Als Maier über die Schwelle trat, wehte ihm jener eigenartige Odem aus dem Hausflur entgegen, der auch allen italienischen Wohnungen, Villen, Gastwirtschaften und verlotterten Palästen anhaftet, jener Odem nämlich, der an das feine Arom von gesottenem Öl, Muskatnuß, Nägelchen, Zwiebelsauce und Knoblauch erinnert. Er schien aus den Wänden zu dringen, aus den Dielenritzen, aus allen Gemächern und Kammern; es war, als käme er vom Söller herunter, über die Treppen, als zöge er mit dem Säuseln eines angenehmen Windes daher, als würde er unaufdringlich von schönen Frauenkleidern, von den leichtgepuderten Handschuhen einer graziösen Dame weitergetragen.

Maier sog ihn ein, als kaute er Manna, als tränke er die spritzigen und prickelnden Perlchen eines süßen Champagners.

Als er die Tür des links von der Hausflur befindlichen Speisezimmers aufklinkte, schlug ihm ein warmer Lichtschein entgegen.

Eine Petroleumlampe, die von der Decke herabhing, verstreute dieses milde Glänzen durch einen rosigen Schleier, der sich in dem entstehenden Luftzug leise hin und her bewegte.

Der Senior-Chef saß bereits hinter seinem Schälchen mit Tee, bei Aufschnitt, Weißbrot und safrangelber Butter, klingelte verloren mit einem Löffelchen an irgendeinen Gegenstand und blinzelte sorgend über den Tisch hin.

Sein Aussehen war ernst und gemessen, fast würdig. Er hatte nicht den Cäsarenkopf seines jüngeren Bruders, nicht das Robuste und Herausfordernde. Alles war feiner, durchgeistigter, ängstlicher an ihm: das glattrasierte Gesicht, die Falten und Runzeln, das silberige Haar und die rosigen Bäckchen, die in ihrer Jugendfrische an die eines Kindes gemahnten. Nur die Äugelchen hatten es an sich. Es waren kleine, verflixte, prüfende, überlegende, heillose, etwas rotunterlaufene Rattenäugelchen, die unter den tiefhängenden Brauen heraus den Eintretenden begrüßten – Äugelchen, die gütig sein konnten, selbstlos, behutsam, fast schüchtern, um gleich darauf wie die vergifteten Spitzen von Nadeln zu stechen.

Er räusperte sich.

»Entschuldige, Maier, ich hab' mich schon mit dem Imbiß benommen.«

»Un ich mit die Lindenblüten un die zarten Ergüsse. Es ist ambrosianisch gewesen.«

»Schön, aber setz' dir. Es sind feine Sachen darunter. Laß sie dir schmecken.«

Das tat denn auch Maier. Er langte zu wie ein Scheunendrescher, während er dabei von seinem in Hochend abgeschlossenen Handel erzählte, die heimgebrachte Kuh über den grünen Klee lobte, von dem zeitigen Stand der Esparsette- und Buchweizenparzellen berichtete, auf die soeben gehabte Unterredung überleitete und durchblicken ließ, im Lauf des morgigen Tages 'ne hübsche geschäftliche Sache zu drehen.

»Mit dem Bocken-Dores vielleicht?« fragte Elias.

Er sah mißtrauisch auf seinen jüngeren Bruder.

»Hast du was gegen den Mann?« hielt ihm dieser entgegen.

»Was soll ich haben gegen den Mann? Ich habe nichts gegen den Mann, un ich habe viel gegen den Mann. Er hat seine Meriten un seine Antimeriten. Er ist klug wie die Schlangen un sanft wie die Turteltäubchen. Mit der einen Hand randaliert er, mit der andern macht er ein Kreuz in der Tasche. Er kann mit dem Munde weinen, um mit dem Steißbein zu lächeln. Die Person des Goliath un die des kleinen David sind vereinigt in seinem inneren Menschen. Er ist wie aus 'nem Raritätenkasten genommen. Heute mit solchen, morgen mit anderen Kulören. Er ist ein Komödiantenspieler mit seinem prophetischen Bart un ein König in der Bockhalterei. Aber was hilft mir das alles. Der ›Goldene Anker‹ ist sein Bethaus geworden. Er schnäpselt, un wenn einer schnäpselt, bringt er sein Geld in die Destille un nicht in die richtigen Hände. Die Sache ist schofel. Da muß man Beobachtung halten, schon wegen seiner schönen Gefühle.«

»Nu, werde ich Beobachtung halten un keine Rebellionierung machen in meinem Notizbuch. Nur gegen bar, werde ich sagen, un nicht mit die schönen Gefühle. Was tu' ich mit die schönen Gefühle? Ich schmeiße sie von mir.«

Er machte eine verächtliche Bewegung über die Schulter.

»So schmeiß' ich sie von mir. Eli, du bist wohl. Du solltest mich kennen. Ich bedenke immer das Ende von's Ganze. Entweder preußisch Courant, oder er muß sich anderweitig benehmen.«

»Gut!« nickte der Senior-Chef und hub wieder an, mit dem Löffelchen gegen das porzellanene Schälchen zu klimpern.

Aus irgendeiner Ecke her antwortete ein akkurates und hastiges Stimmchen.

Immer dasselbe, immer dasselbe!

Es ähnelte dem Geschwirr von Heupferdchen auf einer trockenen Wiese, die sich nicht genug darin tun konnten, ein klingendes Tönchen neben das andere zu setzen, und wer genauer zuhörte und die weißgekalkten Wände absuchte ... i, den Kuckuck noch mal! da war ja, da stand ja ...

Unermüdlich pickerte ein Stutzührchen von einer Konsole herunter, ohne aufzuhören, fein und nadelspitzig, wie ein Hämmerchen auf einem gläsernen Amboß, um plötzlich zu klingeln und neun einzelne Schläge durch das lautlose Zimmer zu rufen.

Gleichzeitig hallten die Turmuhren vom Rathaus und von Sankt Nikolai herüber. Da war es, als wenn sich in weiter Ferne ein verlorenes Trappeln von Pferdehufen erhöbe.

»Nanu,« sagte Maier, erhob sich und trat an das halbgeöffnete Fenster. »Ich glaube, da ist er.«

»Ahnst du was, Maier?«

»Ich meine, 's Schimmelpferdchen un 's Schäschen zu hören.«

»Na, denn!« sagte Elias. »Es wird aber auch Zeit, daß sie kommen. Reisen sie doch nicht direktemang aus die amerikanischen Staaten. Wo sind sie denn, Maier?«

»Werden sie sein am christkatholischen Friedhof.«

»Un nu?«

»Ich höre nichts mehr. Aber jetzt wieder ... Am Ravelin müssen sie sein, in Höhe von Herrn Lehrer Hahn seinem obersten Gärtchen. Wahrhaftig, sie sind es!«

Damit war er auch schon an der Tür und ins Freie gewuschert.

Elias folgte ihm, aber nur langsam, denn er war nicht gängig zu Fuß, schleppte vielmehr mit aufgezogener Schulter, Grund genug für seine lieben Mitbürger, ihn ›Schleifboot‹ zu nennen.

»Maier, wo bist du?«

»Hier draußen!«

Gott, welche Pracht unter dem Himmelreich! Der Ewige hatte seinen lichtbesäten Samtmantel über den Marktplatz geworfen. Der volle Mond stand zu Häupten des Rathauses. Feierlich schälte er sich aus flaumigen Wölkchen und zeichnete die Schatten der Lindenzweige wie eine Arbeit aus Filigranfäden über das Pflaster hin. Silber, überall Silber! In silbernen Tropfen rieselte es von den Giebeln herunter, träufte es von Dächern und Wänden, glimmerte es in Myriaden von Perlen zwischen Himmel und Erde. Und dann noch das silberne Schimmelpferdchen ...!

Hurra! da kam es um die nächste Straßenecke gehoppelt und bog auf den Markt ein, hinter ihm das ratternde Schäschen ...

Hei, dieses Schimmelpferdchen! Mit den Allüren eines Tanzmeisters leineweberte es durch die prächtige Sternennacht, schlankweg und in flottester Gangart.

»Wie 'n Trakehner,« sagte Elias.

»Wie 'n Orlow-Traber,« verbesserte Maier und riß sich zusammen.

»Eli, mache Figur. Wir müssen nu Rosalie Perlchen empfangen.«

Noch vierzig Schritte, noch dreißig ...

Sigismund lenkte hoch vom Bocksitz herunter.

Er ließ einen scharfen Peitschenhieb durch die Luft knattern.

»Halt, Sigismund, halt!«

Er karriolte vorüber.

»Himmel Saperment noch einmal! wo hast du gelassen die Rosalie Perlchen?!« brüllte Maier ihm nach.

»Nicht da!« gab die Piepmösch zurück. »Ich stalle erst ein, komme gleich wieder un werde Rapportierung erstatten!« und damit waren Lenker und Gefährt links eingeschwenkt und spurlos zergangen.

Die beiden standen wie angedonnert, kaum fähig, sich mit ihren Namen zu rufen. Ein Gericht von Kraut und Rüben konnte nicht ärger durcheinander gerüttelt sein als die zwei Repräsentanten einer geachteten Firma. Mit Strunk und Stiel fühlten sie sich in Grund und Boden gehauen. Schließlich stemmten sie die Ellbogen in die Seiten und spreizten die Finger.

»Was nu?« fragte Elias.

»Wo soll ich das hintun?« forschte verblüfft sein Bruder.

Keiner gab Antwort darauf, so verbaselt waren sie, so ganz verquer und wirbelsinnig im Kopfe. Verlähmt traten sie ins Speisezimmer zurück.

Hier war alles beim alten geblieben. Tische und Stühle befanden sich an der nämlichen Stelle, irgendwo knabberte ein Mäuschen, die Petroleumlampe näselte durch ihren hohen Zylinder, das Stutzührchen tickerte vergnüglich von seinem Konsolchen herunter – und es schien so, als wandelte der Geist der verstorbenen Blümchen Flesch von einem Ende des Zimmers zum andern, alles musternd, alles anordnend, alles mit ihren weißen Fingern berührend.

Aber was hatte ihnen Blümchen Flesch noch zu geben?

Nichts mehr, nicht das Schwarze vom Nagel.

Sie hatten sich nun mal auf die ›neue‹ eingestellt und wollten sie haben.

»Warum hat er sie nicht gebracht?!« stöhnte der Senior-Chef.

»Un is doch ausgeblieben von morgens bis abends,« setzte Maier ergänzend hinzu.

Elias schüttelte bedauernd den Kopf.

»Um retour zu kommen mit 's ledige Schäschen!«

»Ha!« rief Maier dazwischen, »un 's Schimmelpferdchen wird empfangen Mauke und Piephacke von die gewaltige Gangart!«

»Gott der Gerechte!« wehklagte Elias.

»Der Mensch ist meschugge!« donnerte Maier.

So lärmten die beiden, als Sigismund eintrat, in vollem Wichs, heitern Sinnes und noch ganz beseligt von der herrlichen Fahrt durch die lauliche Sommernacht.

Er lächelte süßlich, zufrieden und duftete stark nach Zimtborke ... um nun so unerwartet aus allen Himmeln gerissen zu werden.

Draußen der Odem Gottes, Äolsharfen und die Stimme des Ewigen! und hier: ein brodelnder Kessel, Getöse und das Fauchen von zwei gewaltigen Männern.

Gewitterstimmung!

Mit Hagel und Schloßen fiel es über ihn her.

»Sigismund, wo bist du so lange gewesen?«

»Mensch, wo hast du inzwischen gestochen?«

»'raus mit die Sprache!«

»Nu, bin ich gewesen in Kranenburg un dann noch in Kleve.«

»So!« trumpfte der Chef auf. »Und Rosalie Perlchen? Hast du sie gebracht ins Haus der Gebrüder, oder hast du sie nicht gebracht ins Haus der Gebrüder?!«

»Ins reiche!« pfefferte Maier hinzu. »Wo ist sie? Ich sehe sie nicht. Ich kucke mir blind, aber ich kann sie nicht finden.«

»Bekenne, oder wir sind geschiedene Leute,« rief Elias dazwischen.

»Entweder – oder!« drohte der jüngere Bruder.

Dem Überfallenen schlug die Galle ins Geblüt. Er wurde krötig.

»Soll ich reden im Haus der Gebrüder,« fragte er patzig, »oder soll ich nicht reden im Haus der Gebrüder?«

»Natürlich,« gebot der Senior-Chef. »Warum sollst du nicht reden? Tu' nur den Mund auf. Beginne. Wir warten schon lange. Aber hast du 'ne Antwort gegeben? Nein, du hast keine gegeben. Wie soll ich das nehmen? Bist du 'n Angestellter der Firma, oder bist du kein Angestellter der Firma?«

»Un hast du betrieben ihre Geschäfte,« inquirierte Maier mit dem Gesicht eines Torquemada, gesonnen, ihm den San Benito und die Koroza überzuziehen, um ihn mit Haut und Haaren zu fressen, »oder hast du nicht betrieben ihre Geschäfte?«

Das war zuviel für die Piepmösch.

Sigismund ahmte die Gepflogenheiten eines gepeinigten Ölkäfers nach.

Er hüllte sich in eine Wolke von strengen Gerüchen. Aus dieser strengen Wolke heraus kam er endlich zu Wort und überschrie die beiden: »Ja, ich hab' sie betrieben von morgens bis abends, ich hab' sie betrieben, bis mir heraushing die Zunge zum Halse: bin ich doch gefahren über Moyland un Kleve nach Kranenburg zu, hab' ich doch gesucht die Rosalie Perlchen wie 'ne Stecknadel, die gefallen ist zwischen 'n Bündel mit Wäsche. Aber wo war nur die Perlchen? Alle wußten es nicht, bis der Herr Polizeidiener von Kranenburg meinte: Sie hat wohl nach Kleve gemacht, um sich anfertigen zu lassen 'ne neue Montierung for Sonntag. Bei wem denn? Gott! sagte der Mann, wird sie sein bei der Zepora Freundlich in der Oberen Straße, was ist 'ne kleine jüdische Modistin for's Feine. Ich also hin zu der Zepora Freundlich in Kleve. Es war schon Abend geworden, als ich das Fräulein beehrte, un richtig: da war sie. Um Vergebung, sprach ich ihr zu, wollen Sie nicht kommen ins reiche Haus der Gebrüder als Mamsell oder so was? Es ist ein großes Haus un ein nobles Haus. Sie werden haben Ihre Bekömmnis allda, denn sie machen in Vieh un Produkten un können's ebenso gut wie der Herr Baron Steengracht in Moyland.«

»Un da?« fragte Elias.

»Nu, sie sperrte sich anfangs, als wäre sie gewesen von Kandiszucker, wollte sie doch lieber bleiben im Land ihrer Väter, wo sie war groß geworden als Tochter des Herrn Moses Perlchen aus Kranenburg. Alles recht schön, sagte ich, aber bedenken Sie, Fräulein ... ich habe Order bekommen ... ohne Ihre dienstliche Niederkunft kann ich vor die Herren nicht treten ... sie würden mir sagen: Sigismund, würden sie sagen, du hast keine Benehme ... un ich persuadierte sie weiter, bis sie mir zuplinkte: Gut denn, Herr Mendel, so werde ich kommen ins Haus der Gebrüder.«

»Nu un da?« fragte jetzt Maier.

Er schob die rechte Hand in die Hosentasche und lieh die losen Taler hell gegeneinander klingen. Die linke Goldplombe begann heimlich zu leuchten.

Sigismund legte den Kopf auf die Seite.

»Ganz einfach. Der Aktus war fertig. Bong, sagte ich, um Verzeihung, mein Fräulein, wenn's Ihnen recht ist: wir können gleich fahren, 's Schimmelpferdchen mit 's Schäschen wartet schon draußen. Es ist ein preziöses Gefährt un kann sich bewundern lassen; hat's doch 'ne Posamentierung von oben bis unten. Also bitte, angtree. In zwei Stunden können wir da sein.«

»Aber wo ist sie?« fragten die beiden Chefs wie aus der Pistole geschossen.

»Noch im Land ihrer Väter, denn die Zepora Freundlich tat Einspruch un meinte: Erst die Sommermontierung, dann kann sie reisen. Schön! un zu welchem Termine? Bis Ende der Woche. Aber auch wirklich? Ganz wahrhaftig, sagte die Perlchen un übergab mir ihre speziellen Papiere. Hier sind sie. Die Sache ist richtig. Mit dieser Kommission im Sack bin ich gefahren nach Hause un habe nu meine Rapportierung erstattet.«

Der Senior-Chef trat erregt auf ihn zu.

»Sigismund, un du kannst dich nicht irren?«

»Nein. Sie gibt sich die Ehre. Sie wird mit dem Postwagen kommen.«

Da war es den beiden, als würde ihnen die Brust weit, als wandelte sich das schlichte Zimmer in einen Tempel der Freude. Wie aus einem Munde erklang es: »Die Firma bedankt sich. Sigismund, du bist ein gesinnungstüchtiger Mann un ein strebsamer Mann.«

Die Piepmösch schmunzelte.

»Nu bin ich wieder geworden so aus blauem Himmel herunter 'n tüchtiger Mann un 'n strebsamer Mann. Ich nehm's for genossen.«

»Nimm's for genossen. Aber 's Salär wird erhöht um fünf Taler pro Monat.«

»Ich danke,« und während der Abgesandte seinen Chefs gerührt die Hände schüttelte, flüsterte ihm Maier ins Ohr: »Sigismund, wie sieht sie denn aus – die Rosalie Perlchen?«

»Oh!« säuselte dieser.

Er machte ein verzücktes Gesicht, duftete lieblich, spitzte den Mund und trillerte dann in der Weise des Hohen Liedes: »Ich küsse sie mit dem Kuß meines Mundes, denn sie ist schön – diese Jungfrau. Ihre Augen sind wie Taubenaugen zwischen den Zöpfen. Ihr Haar wie die Ziegenherden, die beschoren sind auf dem Berge Gilead.«

»Man weiter,« stammelte Maier.

»Oh! wie schmuck ist ihr Gang in den Schuhen. Ihre Lenden stehen gleich aneinander wie zwo Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat. Ihre Lippen sind wie 'ne rosinfarbene Schnur, Hals un Schultern wie der Turm Davids mit Brustwehr, daran tausend Schilder hangen un allerlei Waffen der Starken.«

Der Senior-Chef legte die Hand an die Muschel, um besser hören zu können.

»Un denn?« fragte er gierig.

»Oh!« lispelte die Piepmösch, »un siehe: ihre Brüste sind wie Rehzwillinge, die unter Rosen weiden.«

»Wie – was?« fragte Elias.

»Wie Rehzwillinge, die unter Rosen weiden,« rief Maier.

»Oh! un erst die anderen Sachen ...«

»Es soll hiermit genug sein,« unterbrach ihn der Herr des Hauses. »Hören wir auf. Sie muß gediegen sein – die Rosalie Perlchen. Warten wir ihre Niederkunft ab, freuen wir uns un gehen wir schlafen. Es ist schon spät geworden unter dem Monde. Gute Nacht denn, allerseits gute Nacht denn.«

Damit gingen die Gebrüder schlafen.

Langsam verrieselten ihre Schritte auf den lautlosen Gängen.

Sigismund blieb noch.

Er konnte den Schlaf noch nicht finden.

Er begab sich hinaus und setzte sich auf die Bank neben der Haustür.

Immer freier und herzberückender entfalteten sich die Wunder in der verschwiegenen Juninacht. Alles lag wie am Tage: der Markt, die Häuserzeilen, die blühende Linde. Kein Leben mehr. Nur etliche Fledermäuse gaukelten noch um die silberigen Giebel, hoben und senkten sich, um immer wieder ihre alte Runde zu machen.

Der Mond schwamm hoch im Blauen. Von den nahe gelegenen Wiesen, die sich bis an den Stadtwall heranschoben, kam es auf Nebelschuhen gegangen. Irgendwo wurde eine liebe, hergebrachte Weise gesungen.

Sigismund griff sie auf, summelte mit, dann stimmte er wehmütig ein, ohne dabei den Frieden und den Zauber der geweihten Stunde irrezuführen.

Er sang und dämmerte vor sich hin wie ein Rotkehlchen im Fliederstrauch:

»Guter Mond, durch alle Sphären
Wandelst du in bleicher Ruh',
Schließest hier im Tal der Zähren
All die müden Äuglein zu.
Fern von Leiden und Kabalen,
Träumen sie auf sanftem Pfühl.
Gute Nacht! die Sterne strahlen.
Und die Linde duftet schwül.

Guter Mond, es schläft Katrinchen.
Linchen, Stinchen, Minchen ruh'n.
Sonder Strumpf und Krinolinchen,
Wie's die lieben Mädchen tun.
Schlürfen wie aus Silberschalen
Deinen Odem, lind und kühl.
Gute Nacht! die Sterne strahlen,
Und die Linde duftet schwül.

Guter Mond, mit deinem Hündchen
Pilgerst du daher, dahin;
Gönn' dir endlich auch ein Stündchen
Bei der schönen Schäferin.
Horch! in den verschwieg'nen Talen
Singt die Nachtigall am Bühl.
Gute Nacht! die Sterne strahlen,
Und die Linde duftet schwül.

Guter Mond, und muß ich scheiden
Ach! von diesem trauten Haus,
Gieße meinen Tränenweiden
Deinen süßen Balsam aus.
Wolle sänftiglich bemalen
Meinen Grabstein, marmorkühl ...
Gute Nacht! die Sterne strahlen,
Und die Linde duftet schwül.«

Sigismund Mendel fuhr sich schwer über die Augen. Dann ließ er die Lider herunter.

Er dachte an Rosalie Perlchen.


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