Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Schluß

Oma hatte nicht lange mehr zu leiden.

Immer mehr verfiel sie einer stillen Auflösung.

Aber feiertägig, fast großzügig ging sie ihrer letzten Stunde entgegen, ohne zu klagen, ohne nur mit einer Faser am Irdischen zu haften, unentwegt, wenn auch in wirren Sinnen, ihre halberloschenen Augen auf die Sterne des Jenseits gerichtet.

Sie bangte nicht, sie fürchtete sich nicht.

Strack und rank lag sie zwischen den Kissen, des Engels gewärtig, der da kommen sollte, sie in das ewige Reich zu geleiten, des gewaltigen Engels mit den umflorten Schwingen, der da sagen würde: »Sorge dich nicht. Wir kennen deine Unterlassungen und Verfehlungen, aber auch deine werktätige Arbeit, dein Leben und Rasten in Gott. Sei getrost und folge mir nach. Dir ist die Stätte bereitet, und diese Stätte wird dich beseligen.«

Es war eine warme Sommernacht, als das mahnende Wuchteln der dunklen Schwingen im Hausflur laut wurde. Langsam rückte es vor, mit dem weichen Säuseln von Lebensbäumen.

Sie hörte es; auch Aloys und Hannecke Brükers vernahmen die Flügel des Cherubs.

Die Staatse schlug die Augen auf. Sie schien auf ferne Stimmen zu lauschen.

So eigenartig, wie sie gelebt hatte, so eigenartig sollte sie auch von dieser Erde Abschied nehmen.

Um die elfte Abendstunde unterliefen dunkle Wolken das Himmelreich. Ein langgezogenes Murren kam aus der Niederung her, wälzte sich unaufhaltsam gegen die Stadt an, aber wagte es nicht, über die Landwehr in Donnerlauten zu sprechen. Das Murren hielt an, umzirkte den ganzen Bering mit den dumpfen Lamentationen von Totenbeterinnen. Dafür blitzte und wetterleuchtete es, als hätte der Herr seine Feuerschleusen geöffnet. Wie mit blanken Polensensen durchriß es die Lüfte, zuckte es über Giebel und Firste, flackerte es um den Turm von Sankt Nikolai . . . und dazu nur ein Murren, ein verhaltenes Murren, ein Murren des Schweigens.

»Ich sehe nur Licht,« sagte die Staatse in ihr Sterben hinein, »ich schreite durch Licht, ich werde vom Licht getragen in den allerheiligsten Tempel des Lichtes. Hannecke, Aloys – reicht mir die Hände! Macht bald! Wartet nicht lange! Die Kirche segne euch! Mann und Weib – ein Tisch, ein Bett, ein Leib und eine Seele! Grüßt Moritz und haltet mich lieb!«

Und wieder die Polensense.

Sie war wie das feurige Schwert eines Überirdischen.

Es zuckte und flammte.

Das Zimmer stand in Helle und Glorie.

»Jesus, Jesus, das galt mir!« und die Staatse drückte das schmale Gesicht in die Kissen, ihre Glieder streckten sich, und was unsterblich an ihr war, nahm Stock und Muschelhut und pilgerte zu Fennand Christian Teerling, der schon lange im Paradiese weilte.

Um ihre Mundecken aber spielte das Lächeln des Friedens.

Die Ernte war reif zur Mahd.

Als Frau Johanna Kordula Teerling bestattet wurde, fielen die ersten Garben auf den benachbarten Feldern. Als sie sanken und niederglitten, da sangen sie leise:

»Auferstehn, ja auferstehn
Wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh'!
Unsterblich Leben . . .«

und immer sanfter werdend, säuselten und sangen sie weiter.

*

Auf herbes Leid folgte eine selige Freude.

Auferstehen, ja auferstehen! und wenn auch nach all dem Mähen und Sensen, dem Binden und Einheimsen die Tage sich kürzten, der Wind über die Stoppeln seufzte, die Blätter falbten und dem Moder anheimfielen, wenn auch das niederrheinische Land einschleierte, der Nebelmann über die Deiche einhergespensterte und der Erde gebot: »Nun ruhe dich aus; tot sollst du sein, bis die erste Lerche sich aus den Furchen hebt und dem Herrn lobsinget« – in den Herzen zweier Menschenkinder grünte und blühte es wie in den ersten Tagen des Maien.

Sie gedachten der Heimgegangenen, gedachten der Worte, die sie ihnen noch mitgeben konnte, bevor der Todesengel ihr die Lippen für immer versiegelte: »Aloys, Hannecke – reicht mir die Hände! Macht bald! Wartet nicht lange! Die Kirche segne euch! Mann und Weib – ein Tisch, ein Bett, ein Leib und eine Seele! Grüßt Moritz und haltet mich lieb!«

Und sie grüßten Moritz, und Moritz legte sein ›Miekske van Grieth‹ vor Anker, zog seine beste Kapitänsuniform an, die mit den goldenen Ankern und den goldenen Litzen, rasierte sich so gewissenhaft, als wenn es Palmsonntag wäre, und sah nach dem Rechten.

Nur eine kleine Feier war vorgesehen; erst in der Kirche, dann im ›Waldkarnickel‹ . . . und als die jungen Novembertage ins Land hineinfröstelten, die nötigen Papiere beigebracht waren, kleideten Stina Mengels und die Traben-Trabacher Marie Hannecke ein, umhüllten sie mit dem bräutlichen Schleier, gürteten ihr das Myrtenkränzlein um die Flechtenkrone, bewunderten sie und sagten mit tränenerstickter Stimme: »Nu kann Aloys kommen.«

Und Aloys kam unter dem würdigen Beistand des Riesen, ernst und gefaßt und sich des hingebenden Weibes erfreuend.

Auch Moritz freute sich und sagte in seiner gemessenen, wenn auch zerbrochenen Weise: »Mein Junge, nu bist du so weit, 'ne wahre Liebhaberei für 'nen properen Freiersmann. Blexem! du wirst gute Weide haben . . . der Weinstock wird sich an deiner Tür emporranken . . . das Spinnrädchen nicht müßig stehen . . . die Nacht zu einer freudigen werden. Du selber . . . ja, du bist aufs frische kalfatert . . . alles blank auf Deck und blank bis in die Kombüse hinein. Menschenskind! und hoch weht die Flagge vom Topp. Nein, Aloys, es kann dir nicht mangeln,« und der breite und bedachtsame Rheinkapitän nahm den Getreuen und drückte ihn an sich, als wenn er ein Spielzeug wäre, aber ein gutes und liebes.

Dann legte er Hanneckes Arm in den seines Freundes und mahnte zum Aufbruch.

»Hoidaho!«

Wie zukunftsfreudig das klang, wie tapfer und lebensfroh es das kleine Häuschen ›Achter de Mur‹ durchhallte, als hätte der lange Moritz durch dieses ›Hoidaho‹ einen ewigen Sonntag beschworen.

In bescheidener Aufmachung ging es zur Kirche.

Als sie die Kesselstraße durchschritten, siehe, da lag das Anwesen von Nöllecke Giltjes noch immer verödet, kräuselte sich kein Rauch von der Esse, waren die Fenster geblendet, als hätte der Fluch der Verstorbenen sich darüber hingelagert; nur vereinzelte Tauben flogen ab und zu und begleiteten sie bis zum Manufakturwarenladen mit den goldenen Lettern . . . und im Schirm und Schutz dieser goldenen Lettern standen Simmchen, der schöne Kommis und Rosalie, angetan mit dem Schmuck ihres Volkes.

»Püh!« sagte Simmchen, als der Brautschleier Hanneckes sich im Novemberwind blähte und leicht dahinflatterte. »Ich werf' ihn über die Schulter, den Schleier.«

Rosalie zuckte abweisend die Achseln.

Der Herr Kommis Veilchenstock duftete nach Pomade und Zimtborke, weil er diese gern kaute, um einen angenehmen Atem aufzubringen.

»Es ist 'n miserabeler Schleier und 'n preußischer Schleier, weil er ist bezogen von 'ner schofelen Firma.«

»Recht wirst du haben,« pflichtete ihm Simmchen bei. »Warum soll er auch nicht schofel sein, dieser Schleier? ist er doch bezogen aus dem Basar von der Juffer Pitt van der Grinten. Ganz richtig, das ist er. Aber maimemmelochem – was soll geschehen mit unsern Geschäften, wenn die Leute tragen ihre Kassenscheine in 'nen christlichen Laden, wo wir doch liefern können von's pompöse Haus Guttmann, in Firma Sally und Elkan, zu Krefeld?! Hab' ich nicht geschmückt mein Haus mit Kalmus und Buchsbaum, wenn die Prozession ist vorbeigegangen hier auf der Straße? und als der Herr Bischof erschien, als er zur Firmelung eintriumphierte mit die Fahnen und Weihrauchfässer, hab' ich nicht 'ne Transparentierung anfertigen und hineinschreiben lassen: Und bin ich auch nur Israelit, so ehr' ich doch den Bischof mit?! und nu kommen sie so . . .! Püh . . .!« und er zog dieses ›Püh‹ in die Länge, als wäre es ein ausgeleierter Hosenträger von dem Knochen- und Ziegenhändler Joseph Josephi aus der Unteren Bachstraße. »Püh! ich werfe sie von mir, die Leute, auch die Juffer Pitt van der Grinten werfe ich über die Schulter, mitsamt ihre Perdukte,« und er wandte sich ab, um sich nicht mehr ärgern zu müssen.

Und der Schleier wehte und wehte, und als er das Kirchengäßchen durchfächelte, wo die Menschen Kopf an Kopf standen, Männer und Frauen, bessere Leute und einfachere Leute, da ging ein Tuscheln um, ein Tuscheln und Raunen: «Seht mal! das ist Hannecke Brükers. Ja, das ist Hannecke Brükers!« und sie nickten ihr zu und wünschten ihr Glück auf den Weg, denn jedereines wußte: in dem feinen Mädchen wohnte keine scheue Dämmerung, sondern nur Sonnenschein und lichtvolle Klarheit . . . und war eine unter ihnen, ein ergrautes, verkrümmtes und vermickertes Weibchen, mit wäscheblauen Händen und einem Gesichtchen wie das eines frischen Radieschens, direkt aus einer Frühlingsrabatte bezogen.

Das war Peter Hartjes Tante und Pflegemutter.

Die nun reckte sich auf, so gut und brav es ihre bejahrten Glieder verstatteten.

»Was redet ihr?!« sagte sie mit verklärten Augen. »Was meint ihr?! Ihr jubelt da: Das ist Hannecke Brükers! Ja, das ist auch Hannecke Brükers, aber sie ist noch mehr wie Hannecke Brükers; denn ich verkündige euch: Da kommt Unsere Liebe Frau aus dem Marienleuchter gegangen. Da seht nur, da seht nur!« und sie betete das ›Gegrüßt seist du, Maria‹ mit so inniger Herzenseinfalt, als fielen ihr weiße Rosen und Nelken von den Lippen herunter.

Und in dieses Rosen- und Nelkenstreuen tönte die Orgel von Sankt Nikolai herüber.

Mester Haan saß am Pult und zog die Register. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, Aloys und Hannecke diese Ovation zu bereiten. Er spielte mit Andacht, während meine Genossen und ich uns wechselweise mit Bälgetreten abmühten, alles dem Brautpaar zu Ehren.

Immer mächtiger schwollen die Harmonien an, und als Hanneckes Schleier durch die Kirche wehte, da war es uns allen, als geisterte ein heiliges Scheinen durch die geweihten Räume.

Gleich darauf verstummte die Orgel.

Die ernste Handlung ging vor sich.

Am Altar ›Zu den sieben Schmerzen Mariä‹ wurden die Ringe gewechselt.

Dann brauste es wieder.

Mester Haan gab sein Höchstes und Bestes und fand noch den gediegenen Takt und den siegreichen Mut, seinen Variationen das grandiose ›Schleswig-Holstein meerumschlungen‹ einzuflechten, daß es mit Sturmgefieder die weiten Hallen durchtönte. Ein stolzes Finale!

Dann Schweigen.

Noch bevor das Brautpaar anlangte, befanden wir uns schon in der aufgeputzten Gaststube ›Zum Waldkarnickel‹, Heinrich Hübbers und wir vier aus den Lohhecken, denn Hannecke und Aloys hatten unter allen Umständen gewünscht: wir durften bei dem kleinen Hochzeitsessen nicht fehlen.

Erwartungsvoll harrten wir mit unseren kleinen Geschenken das Weitere ab.

»Jetzt!« sagte Hübbers.

Die Neuvermählten erschienen – unter Begleitschaft von Moritz, der Traben-Trabacher Marie und Stina Mengels. In ihrem Schatten folgte die pummelige Frau Hübbers, die alljährlich ihren Gatten durch einen erfreulichen Nachwuchs beehrte.

»Nu los!« kommandierte der Inhaber des fünfundzwanzigpfündigen Düffelrockes, dieser himmelblauen Schneideridee mit den blankgeputzten Zinnknöpfen . . . und da ging das: »Hurra und Vivat und lang sollen sie leben!« und der Sommersprossige trat vor, mit einem Gesicht, als hätte er die Reichskleinodien zu vergeben, deutete auf einen prallen Sack mit Weizenmehl und sagte: »Von Vater und mir. Er wäre gut, um Pfannekuchens zu backen.«

Dann ich: »Sechs silberne Teelöffelchen und von den Eltern 'ne schöne Empfehlung.«

Dann Peter Hartjes.

Sein Spitzmausgesichtchen strahlte wie ein geschliffenes Sternchen unter dem Himmelreich.

»Von Tante, aber bloß 'nen Gruß; denn mehr kann Tante nicht geben.«

»Tut nichts, mein Junge!« und Hannecke weinte.

Dann Henn Pierentrecker.

Er kam stolzlich heran, mit 'nem neuen Holzschuh zwischen den Pfoten.

»Hier 'n Pantoffel for's Regiment in dem Hause. Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.«

»Höhö!« lachte Moritz, und schon wollte das Brautpaar sich herzlich bedanken, als Hübbers noch vortrat, einen gedrehten Bakel zwischen den Fingern.

»Aloys für dich. Auch aus den Lohhecken. Ich hab' 'nen extraordinären und knorzigen geschnitten, ihn vier Wochen unter Ziegenmist gehalten, von wegen 'ner braunen Polierung, und sollte der Viechskerl wieder erscheinen – dann Knüppel auf den Kopp. Das wollte ich sagen,« und wieder ging das »Hurra und Vivat und lang sollen sie leben!« und Aloys reichte jedem die Hand, und Hannecke kam und gab uns ihr pralles Mündchen zu kosten.

»Kinder, Kinder – ihr lieben!«

»Keine Rührung!« rief Moritz. »Zu Tisch, zu Tisch! Das ›Waldkarnickel‹ hat schon zweimal gebimmelt!« und wir aßen und tranken an der schöngespreiteten Tafel, mußten aber immer Hannecke ansehen, denn jedem von uns pupperte das Herz unter der Weste, keimte der sehnlichste Wunsch: Später mal - so 'ne Frau möchtest du haben. Hannecke Brükers for ever! . . .« und dann erschien eine große, weitbauchige, dampfende Punschbowle, die der Riese nach seinem Rezept angesetzt hatte, viel Punsch, wenig Wasser, ein Pfund Kandiszucker und diverse Zitronen, glutheiß mit 'nem silbernen Löffel angerührt und ausgeschenkt . . . und dann hielt der Riese eine wohlgesetzte Rede, aus purer Liebhaberei, wie er sagte, eine ganz treffliche Rede, die zwar etwas nach geteerten Planken und Tauen duftete, aber so prächtige Schiffstopps aufgesetzt hatte, daß einem so wohl wurde wie einem spinnenden Kater hinter dem warmen Winterofen . . . und da legte der gute, brave und tapfere papierene Aloys seinen Arm um den jungen Leib seines Weibes und sagte: »Gott, Gott, o du lieber Herrgott im Himmelreich, wenn das meine arme Mutter noch sähe!« und Hannecke lächelte ihm zu, lächelte uns allen zu, just so wie die liebe Frau im Marienleuchter allen ehrsamen Menschenkindern zulächelt – von einer Mandorla umgeben, zu Füßen das erste Viertel des Mondes, die Flechtenkrone umzirkt von sieben glitzernden Sternchen.

Und dann . . .

Es zog in Nebeln und Schleiern vorüber.

Und siehe: ich glitt über mein Haar und sah in den Spiegel, und aus dem Spiegel leuchtete mir mein Lebensabend entgegen.

Ein großes, feierliches Licht stand im tiefen Westen.

Wo seid ihr nur alle geblieben?!

Ich saß am Kamin, und durch meine Sinne zog ein wehes und doch glückliches Erinnern und Scheinen:

»Des Tages Hasten und Mühen
Ist nun vollbracht;
Die ersten Scheite glühen
Zur guten Nacht.

Mit seltsamen Stimmen klingt es
Ohn' Rast und Ruh',
Aus warmem Leuchten winkt es
Mir heimlich zu.

Ich weile gleichsam im Traume;
Der Sommer schied.
Nur leise dämmert im Raume
Ein Buchfinkenlied.

Ein Dämmern, den Treuen und Lieben,
Der Andacht geweiht.
Wo seid ihr nur alle geblieben
Aus seliger Zeit?

Das Feuer mit seinen Stimmen
Macht traurig den Sinn;
Ich fühle bei seinem Verglimmen:
Die Jugend ist hin.

O Jugend, so glücklich und heiter,
So voller Zier!
Und dennoch: im Abend klingt weiter
Das Leben mir.«

Aus diesem Lebensabend heraus, aus Spiegelbildern und Erinnerungen schrieb ich diese Geschichte – die Geschichte von Hannecke Brükers und dem papierenen Aloys.

Hier ist sie.

Möge sie zu den Menschen gehen, die guten Willens sind, und ihre Herzen erfreuen.

 

Ende

 


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