Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Neuntes Kapitel

Eine gekrampfte, gleichsam mit Eisenbändern umfriedete Faust stand mannshoch in freier, schneidender Luft über der Erde.

»Du hast gut schwenken! So'n Viechskerl! So'n papierener Bilderbogenverschleißer! Mir das so schlankweg um die Visage zu hauen! Und der andere erst! Dieser Teerquast! Dieses langstielige Pferdsgesicht, mit dem ewigen Makuba im Maulwerk! Spuckt vor mir aus, als wenn ich ein Fahnenflüchtiger, ein Haderlump wäre. Mein Honnör, mein Honnör! Aber wartet ihr beiden! Wir sprechen uns wieder, und wenn wir uns sprechen . . .«

Der gestreckte Arm sackte herunter.

Nöllecke Giltjes wieherte mit dampfendem Atem über das kalte Laken, in das Frieren und Frösteln, in ein Land ohne Lachen.

Dann schnürte er sich in das verwehte Heckengäßchen zurück, um auf Umwegen sein Haus zu gewinnen.

»Die Letzte Ölung sollen sie haben,« knirschte er noch zwischen den gelben Biberzähnen, »aber nicht aus den Händen des rothaarigen Kaplans, sondern . . .«

In dem Gestieb der feinen Kristalle, die von den kahlen Bocksdornhecken flinzelten, tauchte er unter. –

Mit Fieberaugen und klopfendem Herzen kam ich daheim an.

War das ein Tag gewesen, ein Tag, in dem sich die Ereignisse buntfarbiger neben- und gegeneinander schachtelten als die Glassplitterchen in einem Kaleidoskop. Das zwinkerte auf und hastete nach allen Seiten mit der sinnlosen Eile von silbrigen Schnäuzsternchen in der Nacht des heiligen Laurentius, unermüdlich, ohne nur an ein beschauliches Ausruhen zu denken: dieses mutige Auftreten des Papierenen, unsere Ovationen, das Eingreifen von Nöllecke Giltjes, dieses herrische Benehmen des Riesen, der unvergeßliche Auftritt in Höhe des Hofes op gen Born, das mächtige Tuten, der wehmütige Abschied und ganz in der Ferne, wenn auch nur mit prophetischen Ohren gehört und mit prophetischen Augen gesehen: das Rufen der Kanonen im Land der Dänen, das Flattern der preußischen Fahnen.

Nein, dieser Tag!

Zu Hause angekommen, trieb es mich gleich zur Traben-Trabacher Marie, um ihr meine Erlebnisse brühwarm an den opulenten und molligen Seelenwärmer zu betten.

»Marie, Marie . . .

»Junge, wie siehst du aus, und wo bist du solange herumgefackelt?!«

»Ich?!« fragte ich schon so halber gekränkt. Dann aber brach es aus mir heraus: »Wir haben Aloys auf seinem Kriegsgang begleitet . . . ich und Jan Höfkens, der lange Moritz und die anderen alle . . . und Nöllecke Giltjes ist gnitschig dazwischen gekommen . . . aber Hübbers hat mit seinem Säbel geschwenkt und barbarisch getutet . . . und dann ist Aloys nach Wesel marschiert, um dem König und dem alten General Wrangel so'n bißchen zu helfen.«

Ich atmete auf, die Blicke noch voller Erregung und Heldenfeuer: »Und Henn Pierentrecker hatte sein Kamisol aufgekrempelt, weil er mitwollte, und mächtig gerufen: Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme! Auch Jan wollte mit, konnt's aber nicht, weil er noch zu unnösel war, 'ne richtig gehende Zündnadelflinte zu tragen.«

Die Gute nickte mir zu.

»Kann es verstehen,« meinte sie begütigend. »Aloys verdient es. Du aber, wenn du nicht zu müde bist, geh' noch schnell zu Hannecke Brükers und sag' ihr: 'ne Empfehlung von hier und sie möchte übermorgen zu's Nähen erscheinen.«

Das tat ich auch gerne.

Nachdem ich noch ein Butterbrot zu mir genommen hatte, sockte ich ab.

Hannecke Brükers hauste als Untermieterin in dem blaugekälkten Häuschen ›Achter de Mur‹, das dem langen Moritz erb- und eigentümlich gehörte.

Ich fand sie auch richtig in ihrem appetitlichen Zimmer, an dem mit Musselingardinchen bekleideten Fenster sitzen und mit Nähen beschäftigt.

Ihr unmittelbar zur Seite knackte ein angenehmes Steinkohlenfeuerchen. In der Ofenröhre plauderten einige Paradiesäpfel, die sich in ihrem eigenen Schmalz zuckersüß kandierten. Ein lieblicher Duft apothekerte durch die liebe Umwelt, die sich anließ wie das stille Heim unter den silbrigen Ölbäumen zu Bethanien.

Hannecke hielt mit Nähen inne.

»Nun,« sagte sie freundlich, mit einem versonnenen Heben des Kopfes, »was verschafft mir die Ehre?«

Ich überbrachte meine Bestellung, die mir die Traben-Trabacher Marie ans Herz gelegt hatte.

Sie sagte zu; dann deutete sie mit ihrer feingliedrigen Hand auf den Schemel zu ihren Füßen.

Ich folgte der Anweisung, von dem heimlichen Wunsche beseelt, sie würde mir eine ihrer schönen Geschichten und Legenden erzählen, eine von Bauberger, die ›Beatushöhle‹ und so, eine von Herchenbach oder Christoph von Schmidt: ›Heinrich von Eichenfels‹ oder das wunderseltsame Geschehen von den ›Ostereiern‹.

Ich hoffte vergebens.

Dafür streichelte sie mir sacht über den Scheitel und sah mich mit ihren, von Goldpünktchen durchstreuten Augen lange und seltsam an.

Nichts ließ sich hören, nur das Bräteln der Paradiesäpfel, das behagliche Murksen von zwei getupfelten Meerschweinchen, die sich hinter dem Ofen an einer safrangelben Mohrrübe gütlich taten. Sie liebte diese putzigen Tierchen, amüsierte sich an ihren Liebesspielen, an dem emsigen Bemühen, sich wie der Sand am Meere weiter fortzupflanzen. Die erzielten Sprößlinge verschenkte sie an die Nachbarn, an Freunde und Kinder, bei deren Eltern sie ihren kärglichen Tagelohn einheimste. Sie hatte ja sonst nicht viel in der Welt. Höchstens, daß sie aus der Bibliothek des Herrn Kaplan van Bebber allsonntags einige Bücher entlieh, um sich von heiligen Geschichten, frommen Begebenheiten, von Feen- und Zaubermärchen einspinnen zu lassen, die sie in passenden Stunden weitererzählte. Sie war eine Lilie auf dem Felde und doch weit von einer solchen entfernt. So schuldlos und weltabgekehrt wie diese, wies sie jeden Müßiggang von sich. Allein auf sich angewiesen, wie Peter Hartjes auch vom Himmel gefallen, war sie eines der fleißigsten Geschöpfe zwischen Kleve und Xanten. Unermüdlich, ohne ihre zarte Gesundheit zu schonen, schneiderte sie bei den Honoratiorenfamilien der kleinen Stadt herum, gehörte zu den beliebtesten Erscheinungen im Kirchspiel, trug nichts aus den Häusern und nichts in die Häuser hinein, war mit allem zufrieden, ausschließlich darauf bedacht, der katholischen Kirche zu geben, was der Kirche und ihren Heilswahrheiten zukam. Jeden Groschen, den sie ernähte, drehte sie dreimal herum, bevor sie den Mut fand, ihn wieder in andere Hände zu geben. Nur das Nötigste gönnte sie sich, nur das, was sie bedurfte, um sich brav und ehrlich durch die Jahre zu bringen. Sie war sparsam, nicht geizig. So häufelte sie denn im Laufe ihrer pflichtreuen Arbeit Pfennig auf Pfennig, Kastemännchen auf Kastemännchen, Speziestaler auf Speziestaler, um für späterhin, wo ihr der Herr gebot, für immer die Hände zu falten, ein Sterbehemd vom nobelsten Linnen, einen mit echten Zinnblumen ausgestatteten Sarg, drei buntilluminierte Wachskerzen und ein solennes Begräbnis nebst Seelenmesse ihr eigen nennen zu können.

Wo das tapfere Hannecke Brükers mit ihrem silbernen Fingerhut, dem Nähkörbchen, den bereits im voraus gewächsten Garnröllchen vorsprach, konnten sich die Hausfrauen zufriedengeben, machten die Kinder lange Ohren und große Augen, blühten die Geranienstöcke schöner am Fenster, schlugen die Kanarienvögel emsiger denn an sonstigen Tagen, war alles und jedes eine einzige Feier, eine sonntägige Glückseligkeit.

Hannecke Brükers hatte, wie schon oben gesagt, Augen mit eingesprenkelten Goldpünktchen, straffgescheiteltes Haar und ein Gesicht wie das einer asketischen Jungfrau. Sie erinnerte mich stets an die heilige Therese, die des Glaubens war, daß die Welt eitel Torheit sei und alles in ihr gleich einem Traum vergehe, ohne jemals auf Gedanken zu kommen, die zu den unreinen zählten. Sie erinnerte mich auch an etwas viel Höheres und über die Maßen Schönes. In Sankt Nikolai schwebt im Mittelschiff eine stolze Lichterkrone von dem vielverzweigten Kreuzgewölbe neun bis zehn Fuß über dem Estrich. Die Kirchen- und Bruderschaftsannalen führen sie unter dem Namen ›Stamm Jesse‹ oder Marienleuchter, denn die Unbefleckte, die Gottesgebärerin, die Jungfrau der Gnaden und Barmherzigkeiten erhebt sich darin in hoher Gestalt; zu ihren Füßen der Mond im ersten Viertel, dieser wiederum auf dem Erdenball ruhend, den eine Natter umwindet. Meister Heinrich Bernts, der Eklektiker unter den Kistemakern und Bildschnitzern, erträumte sie in seinen heiligsten Stunden, formte sie in seinen gereiftesten Jahren . . . und wenn in den Marienandachten, wo die Kerzenflämmchen auf den Altären ringsum gleich Liebeseelchen aufgeisterten, die aufgesteckten Schneeball- und Fliederbüsche mit ihrem süßen Ruch die ganze Kirche und mein tiefstes Sehnen erfüllten, schwebte sie aus ihrer goldenen Sonne hernieder, ein zartes Weib, mit nur spinnwebfeinen Gewändern umkleidet: ihr Gesichtchen wie das einer verwunschenen Königin, ihr Lächeln wie das eines Tausendschönchens im jungen Morgenlicht, ihre scharfgesonderten harten Brüstchen wie Granatäpfel mit rosigen Knospen . . . und sie winkte mir zu und ließ mich erschauern unter dem Leuchten von sieben Sternchen, die ihren ährenblonden Scheitel umzirkten.

Ave Maria!

So war Hannecke Brükers. So ging sie durchs Leben, so verehrte sie ihren Erlöser und Heiland, so war sie eins mit dem rötlichen Kaplan, dem sie sich in der Beichte anvertraute, so saß sie und nähte, immer dieselbe, immer das geruhsame Mädchen mit den eingesprenkelten Goldpünktchen in den unergründlichen Augen, immer hilfsbereit, immer eine stille und versonnene Geschichte auf den leichtgeschwungenen Lippen. Ja, ich wähnte zu gewissen Zeiten, ein unbestimmtes Leuchten um ihren Scheitel zu sehen, einen Heiligenschein, der nur von denen getragen wird, die berufen wurden, zur Rechten des himmlischen Vaters zu sitzen.

Noch immer fühlte ich den linden Druck ihrer weißen Hand.

Noch immer die Stille.

Nur der Ofen pretzelte, die Bratäpfel summelten, die beiden Meerschweinchen murksten behaglich an ihrer delikaten Möhre herum.

Da sagte sie endlich: »Moritz ist wieder zurück. Er teilte mir mit, du seist mit ihm auf Tour gewesen.«

»Ja, ich bin mit ihm gewesen.«

»Und ihr habt den armen Aloys begleitet?«

»Auch dieses. Wir sind ein Stück Wegs mit ihm gegangen, weil er nach Wesel und zum General Wrangel mußte. Er hat Einberufungsorder erhalten und ist mit Freuden abmarschiert.«

»Und Heinrich Hübbers hat am Berg mächtig getutet?«

»Ganz mächtig!«

Ich legte einen gewissen Stolz darein, als ich es vorbrachte.

»So! und ihr habt ›Ich bin ein Preuße‹ gesungen?«

»Ja, wir alle zusammen, denn jetzt wehen bald die preußischen Fahnen und die Zündnadelflinten fangen an, heillos zu schießen.«

»Kind, Kind, Kind!« ereiferte sich Hannecke Brükers.

Sie war sprachlos geworden. Selbst die Kohlenpartikelchen fielen lautloser in den Aschenkasten. Die Meerschweinchen hielten mit ihrem munteren Knabbern inne. Auch der Perpendikel, der sonst hart und eigenwillig das propere Zimmerchen durchtackte, tat so, als wäre ihm geboten worden, auf Selfkantpantoffeln einherzugehen.

»Aber Kind,« fuhr sie nach einiger Weile fort, »es wäre besser für dich, Reue und Leid zu erwecken oder den schmerzensreichen Rosenkranz zu beten. Wir gehen Zeiten entgegen, von denen jeder Einsichtige sagen muß: Herr, verschone uns damit; denn sie gefallen uns nicht. Denke an Gott, denke an den wohltuenden Frieden im Häuschen des Zimmermanns zu Nazareth. Da gurrten die Turteltäubchen im Garten, da säuselten die heiligen Ölbäume ihr ewiges Pax vobiscum! Sonst gar nichts. Da hobelte der heilige Joseph seine Bretter im linden Schatten der Eintracht, spann die Jungfrau Maria ihren Flachs im Abendwind, der von den nahen Bergen herüberwehte, lächelte das kleine Jesuskind und sagte: Frieden den Menschen auf Erden . . . und stand alles ringsumher voll von duftigen Tazetten und weißen Lilien. Aber so was! Der Krieg ist das Schlimmste auf Erden, ein Opfer, nur dem Beelzebub dargebracht, und der Herr Kaplan hat gepredigt: daran wären nur Bismarck, der König und die Großen im Lande schuld, weil sie zu habgierig denken und den anderen Völkern nichts gönnen wollen . . . und was der Herr Kaplan als Stellvertreter Gottes verkündet . . .«

»Ja, der Kaplan . . .!« warf ich ein und hatte mich vom Bänkchen erhoben.

»Wie, du glaubst nicht?«

Unwillig schob sie ihr Nähzeug beiseite. Die Goldpünktchen begannen zu leuchten.

»Du – ich möchte dir sagen: Der Krieg ist ein Greuel vor dem Herrn. Nur nichtswürdige Menschen und die heillosen Belialspriester gehen darauf aus, ihn zu fördern. Sie gleichen den Kartenspielern, hauen die Bilder auf den Tisch, einerlei, ob sie stechen oder nicht. Wird's eine Niete, was tut es? Wenn sie nur auftrumpfen und sich herumschlagen können.«

Hannecke ging ins Zeug, wurde zur Streiterin, zur Verfechterin des ihr überkommenen Dogmas.

Die Uhr tackte stärker, mit dem unwilligen Ton eines gekränkten Kanzelredners. Selbst die Meerschweinchen murksten laut und bedrohlich aus ihrer warmen Ofenecke heraus.

»Du glaubst nicht, was die geweihten Priester verkünden, was uns die Evangelien nahelegen? Du willst nicht für Wahrheit erkennen, was die goldenen Engel in der heiligen Christnacht gesungen haben?«

»Ich glaub's schon,« sagte ich kleinlaut, »aber Aloys und Moritz haben's mir anders berichtet.«

»Das kann ich nicht annehmen. Moritz ist ein abgeklärter Mann, der sich freut, in aller Gemächlichkeit sein ›Miekske van Grieth‹ nach Rotterdam und Mannheim zu fahren. Sein Wort in Ehren. Er hält die ihm überlieferten Gebote und Satzungen mit peinlicher Gewissenhaftigkeit und denkt nicht daran, die Lehren der Kirche zu mißachten.«

»Er hat's mir aber selber verkündigt.«

»Dann will ich ihn fragen.«

Sie ging und kam bald mit ihrem Eideshelfer zurück.

Der Riese mußte sich bücken, um nicht mit seinem graumelierten Kopf gegen den Türrahmen zu stoßen.

Er sah sich im Zimmerchen um.

»Nett hier! Bei Ihnen ist's immer mollig, Mamsellchen. Solches kann 'nem rheinbefahrenen Kaptän schon gefallen.«

Dann erblickte er mich.

»Auch vorhanden? Soll mir angenehm sein.«

Hierauf wandte er sich an Hannecke: »Womit kann ich dienen, meine werte Hausgenossin?«

»Herr Moritz, ich möchte mir bei Ihnen 'ne kleine Belehrung einholen, denn hier sind einige Differenzen entstanden.«

»Natürlich! Immer zu haben.«

»Dann möchte ich bitten: Halten Sie den Krieg für etwas Gutes und Menschenwürdiges oder für 'ne ausgemachte Greueltat unter den Völkerschaften?«

»Das kommt darauf an,« sagte Moritz.

»Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach. Man kann ihn von verschiedenen Seiten betrachten. Ich kenne ein Lied, das besagt: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«

Hannecke fiel ihm ins Wort: »Der Herr Kaplan und die Bibel verkünden jedoch: in jedem Fall – alle Kriege sind Werkzeuge und Eingebungen des Satans.«

»Oho!« lachte Moritz.

Der Riese, dessen Kopf fast die Decke berührte, war gerade dabei, einem naseweisen Meerschweinchen, das sich zu weit vorgewagt hatte, auf die weiß-gelbe Montierung zu spucken. In Anbetracht des jungfräulichen Ortes jedoch unterdrückte er den beabsichtigten Spritzer. Dafür aber voltigierte er mit einem kunstgerechten Zungenschlag das saucierte Priemchen von der einen auf die andere Seite. Auch ließ er seine abgehackte Sprechart unter den Tisch fallen. Hier im Beisein der gebildeten Mamsell gefiel er sich in mehr oder weniger geordneten Sätzen.

»Ja, ja! 'ne wahre Liebhaberei, diese Ansicht,« sagte er nach einigem Nachdenken, »'ne Ansicht, wie aus der Christenlehre genommen, 'ne spitzfindige Ansicht, die mir so richtig nicht ansteht. Auf Lee- und Luvseite kommt sie nicht vor. Auch in der Takelage nicht. Da muß unsereins schon 'nen Avkaten anrufen. Wollen mal nachsehen. Einen Momang nur.«

Er ging, um gleich darauf wieder ins Zimmer zu treten.

Er trug eine alte Schwarte unter der Achsel.

Die schlug er auf.

»Dies Buch ist von großer Bedeutung,« erläuterte Moritz. »Mein Großvater selig, der es wieder von seinem Großvater selig geerbt hat, stand als Feuerwerkersergeant bei die schweren Artolleristen in Wesel. Selbiges Buch nun wurde geschrieben von dem hochlöblichen Stückhauptmann und Oberfeuerwerksmeister Michael Miethen, verlegt von dessen Bruder Johann Christoph Miethen zu Frankfurt, im Jahre des Herrn sechzehnhundertachtzig und vier.«

Moritz sah auf.

»Aber ich bitte Sie,« fiel Hannecke ein, »so was ist doch kein Ersatz für die Bibel?!«

»Es ist so gut wie die Bibel,« konstatierte der Riese, und er las eine Stelle aus dem ersten Kapitel, schwer und zögernd, denn er war von jeher kein großer Schriftgelehrter gewesen, aber er las fest und mit Nachdruck: »Jedermann scheuet den landverderblichen Krieg, der der Menschen Konzept stark verrücket und endlich gar ihr Blut wie Wasser vergießet. Gleichwohl ist er nützlich, höchst notwendig, von Gott selbst inventieret und den Menschen gelehret worden.«

»Das steht so geschrieben?«

»Wörtlich, Mamsell.«

»Aber bloß von 'nem abgöttischen Stückhauptmann und Oberfeuerwerksmeister aus Frankfurt.«

»Hören Sie weiter. Den ersten Soldaten setzte Jahve mit einem zweischneidigen Schwert auf den Paß vor das Paradeis, um dem ersten Rebellen, unserm Erzvater Adam, solchen zu verbieten und ihn davon abzuhalten, einzutreten. Desgleichen: Moses befahl dem Josua wider den Amalek zu streiten. Gott aber gebot, solch edle Tat in einem Buch zu vermerken.«

Ich triumphierte.

Hannecke schüttelte den Kopf und sah ihre Meerschweinchen an, die die Stiefelspitzen des Vorlesers fast mit ihren Nagezähnchen berührten.

»Und weiter: Der größte Generalissimus und Befehlshaber der himmlischen Heerscharen erteilte Order an Moses, die Medianiter zu schlagen, weilen solche die Kinder Israels in Abgötterei verführet, welcher sich auch kurz darauf an ihnen dermaßen gerächet, daß solche mit Hab und Gut zugrunde gingen.«

Hannecke wurde kleinlaut.

»Und ferner, Mamsell, und als 'ne wahre Liebhaberei anzuerkennen: Abermals ließ Gott sein Volk zum Kampf encouragieren, wozu er selbst seine Priester zur Avantgarde befehligte. Auch die Stadt Jericho mußte eine unerhörte Attacke ausstehen, so der Ewige selbsten Josua in die Feder diktierte.«

Hannecke Brükers mußte sich setzen.

»Mein Himmel, mein Himmel!«

Ganz verstört legte sie die Hände zusammen.

Moritz ließ mit einem bedeutsamen Räuspern die zerlesene Schwarte herunter.

»Wenn mehr verlangt wird, ich stehe immer zu Diensten.«

»Ich bitte, Herr Moritz.«

»Auch mußte in einem solchen Judenkrieg die Sonne zwei Tage aneinander am Firmament leuchten, damit viel tausend erschlagen, die Viktori prosequiert und die Aufsässigen gehenkt werden konnten.«

»Christus, Christus!«

Das verbaselte Hannecke fuhr steil in die Höhe, streckte die Hände: »Aber Hochwürden, der Herr Kaplan, haben gesagt . . . noch gestern . . . noch in der vorigen Woche . . .«

»Blexem und Donnder!«

Moritz stampfte auf, und wenn Moritz aufstampfte, dann krachten die Planken, als stände ›Miekske van Grieth‹ unter Eisgang.

»Blexem und Donnder, was gilt mehr: der Kaplan oder die heilige Bibel?!«

Hannecke sackte in sich hinein wie ein magerer Mehlbeutel, den die Mäuse noch dazu angeknabbert hatten. Mit lautem Gepolter rumpelten die naseweisen Meerschweinchen wieder in ihre warme Ofenecke zurück. Kurz, das trauliche, anheimelnde, von einem behaglichen Feuerchen durchkachelte, von einem ebenmäßigen Perpendikelgang durchtackte Stübchen war ein Ort der Verstörung geworden.

Nur ich sah strahlend auf Moritz.

»Himmel und Herrgott! was will der Kaplan gegen die heilige Bibel besagen?! denn hier steht es mit mächtigen Zeilen geschrieben: Die ganze Schrift ist voll davon und beweist genugsamb, daß der rechtmäßige Krieg von Gott inventiert und in die Welt gebracht, daß also ein jeder Mensch mit gutem Gewissen in demselbigen dienen, leben und sterben kann. Seine Feinde mag er brennen, versengen oder in Stücken zerhacken. Es ist alles schon recht. Mögen andere davon judizieren, was sie wollen. Der Herr hat diese Sach nicht verboten, sondern, wie die Bibel erweist, freudig geboten.«

Er schob das treffliche Buch des Stückhauptmanns und Oberfeuerwerksmeisters Michael Miethen aus Frankfurt unter die Achsel.

»Aber nichts für ungut, Mamsell,« und er reichte der verschüchterten Jungfer die Hand, dazu noch mit einem freundlichen Lächeln. »Nichts für ungut, Mamsell. Aber auch die selige Judith hat in Kriegsnöten dem langen Holofernes den Kopf von seinen übrigen Gliedmaßen gesäbelt, und steht doch als vorbildliches Exempel in den gesetzlichen Büchern. Dito der heilige Martin! Ist er nicht ein bedeutsamer Heros gewesen, nicht nur aus bloßer Liebhaberei, sondern auch in seiner Eigenschaft als Duellfechter und überhaupt so?!«

»Alles schon richtig!«

»Na – also! und die heilige Barbara erst! Gehen Sie nur einmal nach Wesel, wo Napoleon die Schillschen Offiziere auf den mageren Sand stellte, als wären sie ganz minderwertige Löffelmänner gewesen. Da dicht nebenbei, auf dem Magazin, wo sie das Pulver für die schweren Artolleristen behüten – da steht sie: als Schutzgöttin, in voller Montur, 'nen eingeböllerten Turm in den Armen. Der liebe Gott wäre ja gar nicht zu fassen, so was auf seine Kappe zu nehmen, wenn er nicht vorhätte, 'nen regulären Krieg als sein Werkzeug und für gerecht zu erkennen.«

Hannecke Brükers hob ihre Blicke.

Sie sah gefaßt und nachdenklich auf Moritz.

Die eingestreuten Goldpünktchen verloren sich gleich dem wehen Scheinen von verlöschenden Grubenlichtern.

»Wie Sie meinen, Herr Moritz.«

Ihre Worte fanden den richtigen Weg nicht. Sie verstanden es nicht, das zu geben, was sich aufhellend in ihre armen Gedanken und Erwägungen hineingedrängt hatte. Sie erinnerten an verschlagene Vögel, die auf und nieder revierten, nicht mehr wissend, von wannen sie kamen und wohin sie sich richten sollten.

»Ja, wie Sie meinen, Herr Moritz.«

Der Riese machte eine abwehrende Geste.

»Ich will Sie nicht beirren, Mamsell. Wenn Sie glauben, der Kaplan gölte mehr als der Kommandeur von den himmlischen und irdischen Heerscharen, so bedeutet das auch 'ne Ansicht, und ich kann es nicht ändern, nur sollten Sie bedenken: unser Immanuel sitzt auf seinem ewigen Thron, in voller Glorie, leuchtende Engel neben sich, mit goldenen Lanzen angetan, dreitausend zur Rechten, dreitausend zur Linken. Der Kaplan hingegen – er stammt von 'nem Schneider ab, ist dazu noch in Keppeln gebürtig, und was so'n Schneider bedeutet . . . Nein, Mamsell,« und er verfiel aufs neue in seine alte Sprechweise, in den ihm geläufigen Ton, der ihm anhaftete wie dem ›Miekske van Grieth‹ der Geruch nach Stockfischen und Zwiebeln, die Moritz tagtäglich als seine Lieblingsgerichte aufstellte, »nein, Mamsell, ich für meine Person halt's schon mit dem lieben Gott . . . aber äußerst . . . kann es nicht ändern . . . nein, absolut nicht . . . Blexem und Donnder! der wird's schon machen . . . ist nicht vernagelt . . . haut drein mit dem Säbel . . . aber gewaltig . . . und die Preußen tun's ihm nach: Aloys, Papa Wrangel, der gewaltige Bismarck . . . mit oho und höchstimponierend. Herr Jeses! und jetzt will so'n Sprößling von 'nem armseligen Schneider . . . Ach, so ein Schneider! Der sitzt auf dem Nähtisch, wie sich die Türken auf 'nem Teppich benehmen . . . Pfui Teufel! – und nu tut, was Ihr wollt; aber wer wird's Euch danken?«

Moritz zuckte die Achseln.

»Ich bleibe bei Gottvater und seinen Assistenten: dem alten Wrangel und dem gewaltigen Bismarck. Indessen, nichts für ungut, Mamsell.«

Wir gingen.

Hannecke Brükers saß wieder allein in ihrem Stübchen, in ihrem properen Stübchen, so rein und jungfräulich wie das in Bethanien. Mit gefalteten Händen sah sie in den Tag hinein, hinter sich das plaudernde Hin und Her des Perpendikels, das sanfte Murksen der Meerschweinchen. Leib und Seele erfüllte eine unsägliche Müdigkeit. Ach, und ihre wirren Gedanken! Sie zergingen, wie die Wölkchen in einer frommen Sakristei zergehen, wenn sie der Ministrant mit dem Weihrauchfaß verläßt, um es zum Hochaltare zu tragen.

*

Die Tage wanderten ab.

Ende Januar hatten Preußen und Österreicher, trotz des Neides und Einspruches anderer Staaten und sonstiger Dunkelmänner, ihre Stellungen rechts der Eider eingenommen.

»Fein!« sagte Henn Pierentrecker.

Vor den Dannewirkschanzen hielt Papa Wrangel zu Pferde. Neben ihm erhob sich die schmale, durchgeistigte Gestalt seines Stabschefs. Es war Hellmuth von Moltke.

Der Marschall zwirbelte sein firnweißes, trotziges, amüsantes Schnauzbärtchen pielgerade aufwärts.

Er deutete mit seiner Hand auf das Bollwerk, auf Raveline und Kurtinen.

»Mit Gott, immer bloß druff! Ick werde ihnen nehmen,« sagte er ruhig.

Gleich darauf sangen alle Geschütze: »Te Deum laudamus!«

 


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