Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Dreizehntes Kapitel

Sonnenschein und helles Vogelschmettern!

O, wie war die Welt so einzig und voller Wunderlichkeiten! So reich an Tränen und so überschwenglich an Jubel! Ach, drüben und hier! Drüben, wo Eider und Schlei ihre grauen Wasser einherschleppen, da stelzte einer daher in weißverschnürter Attila, in einem Wams aus beinernen Rippen. Da regierte einer die Sense, daß die Schwaden nur so fielen, und waren weder Roggen- noch Weizenähren, sondern tapfere Menschen, Soldaten und Offiziere, Panzerreiter und schlichte Musketiere . . . und über sie hin riefen die Hörner, rasselten die Trommeln, wehten die Fahnen, flüsterten Trost- und Sterbegebete, sangen die Aufrechten: »Nun danket alle Gott mit Herz und Mund und Händen . . .« und war ein Zagen und Bangen und doch eine Freude, die aufwärts stieg wie eine Lerche am Ostermorgen. Und hier! Auch ein Zagen und Bangen, ein Beten um glückliche Heimkehr, ein Flüstern in Sterbegebeten, und doch welche Freude! Kirchliches, Heiliges, Vergrämeltes, Lautes und Leises, ferne Trommelgeräusche, das kaum wahrnehmbare Wehen von Fahnen, begeisterte Rufe – jegliches lag dicht nebeneinander, verbrüderte sich, reichte sich die Hände unter heiterem Lachen und verhaltenen Tränen, und dazwischen schmetterten die Finken von der großen Linde herunter, die bereits ihre grüne Matt angelegt hatte und mit ihrem stattlichen Frühlingsgewand den alten Ziegelbau des Rathauses mit seiner Freitreppe verschleierte.

Und dann kamen wir.

Noch die Striemen der mageren Emma unter dem Hosenboden, noch duldend unter den auffrisierten Anklagen Simmchens, seinem kniffligen Lächeln, noch ganz zerrüttet von dem herrischen Eingreifen des herben Kaplans, so verließen wir gemeinsam den Schulhof, gemaßregelt, aber nicht niedergeschlagen, denn noch immer lag uns die straffe Weise im Sinn:

»Was blasen die Trompeten! Husaren heraus!
Es reitet der Feldmarschall in fliegendem Saus . . .«

noch immer vernahmen wir die marschfrohen, wenn auch mit Kicksern behafteten Geigenstriche des Bakelgewaltigen, noch immer, noch immer . . .

Nein, gegen Mester Haan trugen wir keinen Groll unter der Weste, schmiedeten wir keine nichtsnutzigen Ränke, blieben wir unrebellisch gleich den gefügigen Hammeln, die der weißhaarige Knöll Wesendonk auf den mageren Hängen des sandigen Lipperfurtsberges weiden und grasen ließ. Nach Recht und Billigkeit kraute er die gutwilligen, pflegte er die gebrechlichen, zog er den bockigen das wohlverdiente Traktament über die Wolle. Sie nahmen es hin als eine Fügung des Schicksals.

So auch wir. Mester Haan blieb für uns der Unantastliche, der Tüpfel über dem i-Strich, und noch jetzt, wenn ich seiner gedenke, steht er vor mir wie ein Großer und Stiller im Lande, ein Friedensrichter seines eigenen Gewissens, ein Schlichter und Geradnackiger, Gott und seinen Patriotismus vor Augen, das Himmelreich suchend und das Himmelreich findend, darin eintretend mit derben Nägelschuhen, in abgenutztem Bratenrock, blaugestärktem Schemisettchen, die hürnerne Schnupftabaksdose in der Linken, die Rechte bereit, eine dicke Prise des köstlichen Makubas aus der Tiefe zu heben . . . und siehe: ihn umleuchtet das Licht der Ewigkeit und der Glanz des neuen Jerusalems.

»Stramm, aber gerecht,« sagte Henn Pierentrecker, als wir aus der Monrestraße bogen und den Marktplatz erreichten. »Kapitale Durchziehers, aber mit Liebe!«

»Das täte ich nicht gerade als amüsierend empfinden,« sagte Jan Höfkens.

»Auch ich nicht,« pflichtigte ich dem Sommersprossigen bei.

»Aber ich,« konstatierte der Inhaber des unüberwindlichen Muskelpaares. »Ich tu' mir gar nichts draus machen. Aber kein Spierchen. Nicht soviel, als hätte 'ne Winterfliege auf 'ne Assiette geschweinigelt.«

Er lachte.

Wir bewunderten ihn, sagten uns aber: nur unter der Beihilfe des Kupfernen Geistes aus den Rocky Mountains konnte er diese Leistung bewerkstelligen. Er stand vor uns, als wäre er an den harten Schilfgeländen des Eurotas geboren.

»Aber wie könntest du nur die fünf Durchziehers von der mageren Emma aushalten, ohne mit die Beine zu strampeln?« fragte Jan Höfkens.

»Ganz einfach.«

Ein pfiffiges Schmunzeln verklärte das Antlitz des ausgetragenen Halbgottes.

»Da seht nur! Ich dachte schon gestern, das mit Simmchen wird heute auf dem Hintern beglichen, denn so'n krötiger Jud will alles retour haben. Der verschenkt keine Kastemännchen, nicht mal 'nen toten Spatz auf der Dachrinne.«

Er drehte sich um.

»Da fühlt man! Wie'n Pappdeckel. Ist auch 'n Pappdeckel, bloß mit 'ner Portion Hanfzeugs umwickelt. Meine eigene Erfindung. Von Mutter gestern im Hosenboden verfertigt. Sonder Besten – hondert Pond kann eck stämme.«

Der Semmelfuchs polterte auf.

»Was! und da tätest du uns keine Nachricht von geben?! Das könnte ich nicht für nobel betrachten.«

»Wir auch nicht!«

Der bepappdeckelte Heros winkte großartig ab.

»Sonder Besten – darüber muß jeder selber befinden.«

»Na, so was?!«

Es hätte noch Krakeel unter den Getreuen abgesetzt, wären wir nicht anderweitig beschäftigt worden.

Eine lautmaulige Klingel lärmte über den Markt fort, öffnete Fenster und Türen, ließ die Menschen auf das Pflaster hinausströmen.

»Im Namen des Königs, des hohen Gesetzes und des Herrn Bürgermeisters!«

Diese tönenden Worte und Ankündigungen aus dem Munde des Polizeigewaltigen Iwan Kasimir Brill versöhnten uns wieder, ließen uns den mit Werg und Hederich umsponnenen Pappdeckel, diese Testudo gegen die kneifenden Angriffe der mageren Emma, weniger schimpflich erscheinen. Aber das Heldentum unseres gemeinsamen Freundes Henn Pierentrecker hatte doch im großen und ganzen Schiffbruch gelitten. Aus dem göttlichen Peliden entpuppte sich für uns der schlaue, überlegende, vorsichtige, heimliche und mit allen Ränken und Schlichen begabte Odysseus. Zu unserem größten Leidwesen wurde uns die Erkenntnis: die schillerndste und opulenteste Pfauenfeder hatte er sich höchsteigenhändig aus seinem Steißbein gerissen.

»Im Namen des Königs!«

Wir schnürten uns näher heran.

Da stand er. Auf der höchsten Stufe der Rathaustreppe erhob sich die martialische Gestalt des beliebten und dennoch gefürchteten Mannes. In voller Montur, in karmoisinrotem Kragen, die üblichen Haarsechsen geschmalzt und gestriegelt, in der Linken ein amtliches Schriftstück, mit der Rechten den Griff einer messingenen Schelle führend – so harrte Iwan Kasimir Brill auf den Zustrom des Volkes.

Er rührte sich nicht. Nur mit gestielten Hummeraugen suchte er die Weite ab.

Tiefe Stille ringsum. Nur dann und wann ein bellendes, einladendes Rummeln der Amts- und Rathausschelle. Von allen Enden und Straßenecken drängten sich die Menschen heran. Bekannte und unbekannte Gesichter. Männer und Frauen, Schwarzköpfe und Blondköpfe, Dreikäsehohe und solche, die an Enakssöhne erinnerten.

Als einer der ersten tauchte Heinrich Hübbers im Schatten des Rathausgäßchens auf. Von drüben her schurfelte es sich im kamelottenen Schlafrock heran, zögernd, mit den Windungen und Schleifen eines sichernden Fuchses, der so recht noch nicht wußte, was er mit dieser lauten Aufmachung anfangen sollte.

Dann kam die Staatse, hart, steifbeinig, mit lauten Ohrgehängen. Ihr zur Seite schritt Hannecke Brükers. Sie hatte im Hause des Papierenen schneideriert, Wäsche gesondert und das ihr durch Johanna Kordula Teerling schon lange in Bestellung gegebene Sterbehemd in Angriff genommen. Die lärmende Amtsschelle hatte sie mit Oma ins Freie getrieben. Der Mandorla des Marienleuchters entstiegen, ging sie still und nachdenklich über die Steine, den Mond in seinem ersten Viertel unter den Füßen, ein Kränzlein von sieben Sternchen um die Schläfen gewunden. So schien es. Hendrintje folgte ihnen in einem bemessenen Abstand.

Sie kam in lieblicher Scham und voller Eigenwilligkeit, und wenn ich sie mir heute vorstelle, gemahnte sie mich an eine, von der die Geschichten der tausend Nächte und der einen Nacht erzählen. Sie näherte sich mit schaukelnden Hüften, mit Augen aus Ghazaholz, ihre Bluse gefüllt, ihre wiegenden Hinterbacken wie straffe Säcke voll schweren Meeressandes, eine von den schönen Begleiterinnen Subaidahs, die zu dem Kalifen also redete: »Der Prophet erklärt, das Wild gehört dem, der es fängt, nicht dem, der es aufstöbert« . . . und ihre Blicke schweiften herum, als hätten sie irgend etwas zu suchen, scheu und verängstigt.

Simmchen war nicht mehr allein.

Nöllecke Giltjes gesellte sich ihm, die Mütze schief auf dem Kopfe und mit aufgekrempelten Ärmeln. Er sagte: »Simmchen, paßt Achtung! Ich wette zehn gegen eins: da wird wieder so'n niederträchtiger Siegeszauber verausgabt.«

»Nu, Herr Schmiedemeister, dann wollen wir gehen. Ich bin nicht for die preußischen Siege.«

»Nee, warten wir ab. Vielleicht haben sie auch Schmisse bezogen.«

Simmchen fummelte an seinem Hosenträger herum.

»Herr Schmiedemeister, was soll ich halten davon? In ein und demselben Atemzuge sagen Sie konträrige Ansichten. Bald sind's kriegerische Taten, bald sind's heillose Schmisse. Einmal so, einmal so! Schön! also bleiben wir hier. Rosalie und der Herr Kommis können inzwischen besorgen die miesen Geschäfte. Sie liegen unter dem Durchschnitt, weit unter pari. Ich setze zu. Geht's weiter so hin mit die Fahnenträgers und die schießenden Flinten, wie können die Leute da haben Andacht, for zu kaufen in meinem Manefakturwarenladen?«

»Je, Simmchen, was ich immer schon sagte!«

»Herr Schmiedemeister, recht werden Sie haben. Da sehn Sie: der Herr Polizeipräsident legt sich bereits in seine ganze Noblesse.«

Das letzte Klingelzeichen lief über die Menge.

Herr Iwan Kasimir Brill konnte beginnen, denn um seine Order kundzugeben, waren genügend Zuhörer vorhanden. Das amtliche Schriftstück hob sich straff in die Höhe. Dann las er und steigerte bei prominenten Sätzen die Stimme, als würde sie unter dem Knallen von Katzenköpfen verausgabt: »Im Namen des Königs, des hohen Gesetzes und des Herrn Bürgermeisters! Wir wollten den Frieden, konnten aber den Frieden nicht halten. Das Schwert mußte entscheiden, um den bedrängten Stammesgenossen diesseits und jenseits der Eider die Hand des Schutzes zu bieten. Dank der Opferfreudigkeit von Mannschaften und Offizieren wurde das Höchste geleistet: Missunde, die Dannewirkstellung, die Düppeler Schanzen – Marksteine im Laufe der kriegerischen Ereignisse.«

Herr Brill hielt inne, um Atem zu schöpfen.

Dann wie ein Kornett à piston: »Achtung, nun kommt es!« und mit scharfer Betonung jedes einzelnen Wortes: »Vornehmlich die Düppeler Schanzen! Sie wurden erstürmt unter einem Heroismus ohnegleichen.«

Dieses verflixte Wörtchen ›Heroismus‹ stellte ihm ein gewisses Hindernis entgegen. Er nahm es aber unter heller Bravour, wenn auch etwas verstümmelt: »Ja, unter einem Heroismus wie in den Tagen der Freiheitskriege. Und einer von uns, einer aus dem hiesigen Kirchspiel . . . in Gemeinschaft mit dem Feldwebel Probst . . . der Herr Unteroffizier Aloys Teerling, erklomm als erster die Schanze . . . ließ als erster die Fahne wehen . . . und die Gnade des Königs verlieh ihm ob seiner Tapferkeit und Umsicht das Düppeler Sturmkreuz. Gegeben . . .«

Die letzten Worte gingen unter in dem gewaltigen Singen:

»Was rauschen und jagen die Wasser der Schlei?
Der Feind ist geschlagen, und Schleswig ist frei.«

»Aloys soll leben! Aloys – Hurra!«

Hendrintje war bleich wie 'ne Mauer geworden.

Hannecke Brükers schluchzte still vor sich hin.

»Aloys – Hurra!«

Die Alte stand wie ein Kerzenstock in der Gnadenkapelle zu Kevelaer.

»Mein Aloys, mein Aloys!«

Dann ging sie.

Von Hannecke geleitet, schritt sie wie eine Königin durch die sie umbrausende Menge.

Das Düppeler Sturmkreuz!

»Sind die Leute meschugge?« wandte sich Simmchen an Nöllecke Giltjes.

Der schlug sein Schurzfell und lachte.

»Was schreien sie, was lamentieren sie sich heiser mit ihrem Munde? Ich bin nicht for die neumodischen Sachen. Lieber fahr' ich auf der Eiserbahn von Köllen bis Krefeld, als so was zu hören. Was tu' ich überhaupt mit 'nem Düppeler Sturmkreuz? Nicht mal in Kummischon will ich's nehmen. Es würde mir liegen bleiben auf Lager wie'n Stück Wull aus 'ner vermotteten Ecke . . . und wenn ich es täte, mein erster Kommis würde sagen: Herr Vitt, Sie werden doch nicht sein so unbewußt, sich einzulassen mit 'nem patriotischen Rummel?! Sie würden aufgeben Ihre eingeborene Ansicht und Ihre demekratische Freiheit. Tu' ich auch nicht. Ich nehme Aloys seine militärische Pracht, um sie aufzustellen zwischen die jungen Erbsenfelder, daß die Spatzen sich förchten. Stehn mag sie dort bleiben, bis zu ihr kommt der Würger des Fleisches und der Bevölkerer der Totenäcker.«

Eine weiße Hand legte sich ihm kalt auf die Schulter.

»Herr Vitt, also auch Pazifist?«

Simmchen wandte sich und zog seinen Hosenträger eine Handbreit höher.

»Hochwürden, zu dienen. Pazifinist und Republikaner – bin ich noch immer, will es auch bleiben, bis mir aufgetan wird meine Stätte auf dem mosaischen Friedhof.«

»Das ehrt Sie.«

Simmchen gedachte noch einige Worte zu sprechen, allein der Kaplan schlenkerte bereits mit seiner Soutane durch die Reihen der Männlein und Weiblein. Aber eine andere kam. Sie berührte ihn mit ihrer Bluse, ihn und Nöllecke Giltjes.

»Wir haben auch was zu zeigen,« sagte sie hart und verärgert, aber doch mit einem heißen Gluckern in der Stimme, »wir sind auch nicht so ohne, wir können uns auch sehn lassen mit dem Düppeler Sturmkreuz! Versteht ihr?!«

Sie lachte.

Nöllecke wisperte ihr zu: »Hendrintje, bald blühen wieder die Apfelbäumchens im Garten.«

»Ach was!« rief sie im Vorbeistreifen. »Ich denke nicht dran.«

Dabei schaukelte sie mit ihren beiden Sandsäcken wie eine getragene Dünung.

»Abwarten!« rief Nöllecke ihr nach und dachte das seinige.

»Da geht sie hin wie 'ne Förschtin, in der Pracht ihrer Buckeln, die auf dem Libanon stehen und nach Damaskus zeigen. Sie ist schön wie Rebekka, die Tochter Bethuels, die da ihres Weges kam, um zu tränken am Brunnen die Kamele und die durstigen Maulesel. So, und nu kommen Sie mit mir. Wir wollen genießen ein gefälliges Schnäpschen Wein in meinem Manefakturwarenladen. Rosalie und der erste Kommis werden sich freuen.«

»Gerne, Herr Vitt.«

»Soll denn ein Wort sein,« und gemeinsam suchten sie das Haus mit den großen goldenen Lettern auf.

Die amtliche Klingel rasselte und lärmte bereits an einer anderen Stelle.

*

Der Vogel Bülow war ins Land gekommen. In schwefelgelben Wellenlinien arbeitete er sich an den Waldhölzern vorüber, schwenkte in die Schneisen und Gestelle ein, um aus dunklen Laubmassen aufs neue seine wundersame Stimme, die der einer Zauberflöte ähnelte, vernehmen zu lassen.

»Vogel Bülow, Vogel Bülow!«

Sein märchenhafter Ruf zupfte die Lichtnelken aus dem Erdreich, ließ das Tausendgüldenkraut blühen, spreitete die Kuckucksblumen über die Wiesen und häkelte die rot- und weißgeflammten Winden um Roggen- und Weizenähren. Das Korn ging in grüngrauen Wogen. Mit dem zarten Schimmern eines Katzenfelles fächelte und wiegte es sich gegen den Horizont an, der wie eine scharfumrissene violblaue Linie Himmel und Erde abgrenzte. Dann später: in den Wäldern von Moyland tönte es ums Dämmerigwerden zuweilen wie eine Domorgel, als spielte irgendein kundiger Organist eine Fuge von Johann Sebastian Bach oder sein majestätisches ›Immanuel, du süßes Wort‹ oder die Baßarie des Simeon ›Schlummert ein, ihr matten Augen,‹ so heilig klang es herüber, so mit verhaltenen Pauken und Posaunen. Die weite Erde lag fruchtschwer unter der heißen Kuppel des Firmamentes, hingestreckt, mit braunen und üppigen Gliedern, ihrer Stunde harrend. Über sie hin, hoch in der Höhe, zog ein Fall seine Kreise, einen neben den anderen, Kreise getaucht in Licht und Gold, als wären es die von Heiligenscheinen gewesen. Die Simsen nickten. Die blauen Libellen standen gleich Stahlnadeln über den Ravelinen, aus deren Tiefen die Wasserrosen aufstiegen, als höben sich weiße Nonnengesichtchen aus den Mysterien ihrer Entsagung und Weltabgeschlossenheit. Das Ried fummelte. Die schwere Stille des Niederrheins hatte weder Anfang noch Ende. Sie ging den dunklen Wäldern zu, um doch einen vollen und sonoren Ton in den Ohren zu haben, ein Klingen des mächtigen Johann Sebastian Bach, des Lehrers und Kantors an der Sankt Thomasschule in Leipzig.

»Vogel Bülow, Vogel Bülow!«

Bis in die Vorgärten der kleinen Stadt drang das Locken und Jubeln. Ach, diese stillen, verträumten Gärtchen zwischen den einsamen Stiegen und Bocksdornhecken! Das schönste und verschwiegenste lag aber in der Nahe der Höfkensschen Windmühle. In ihm rührte sich kaum ein Lüftchen; kein Blättchen legte sich auf die andere Seite. Die mit Buchsbaum abgezirkelten Kraut- und Blumenbeete streckten sich dem vollen Sonnenlicht zu, ließen in schwülen Nächten das helle Sternenfeuer über sich hinschauern. Stocksteife Malven, violettbraune und musselinweiße, erhoben sich zwischen Birn- und Äpfelpyramiden. Die Pfirsiche setzten schon rotgoldene Streifen und wolligen Flaum an, und die heimelige Laube erstickte fast in ihrem Genist und Rankenwerk von blühenden türkischen Feuerbohnen.

»Vogel Bülow, Vogel Bülow!«

Selbst in den tiefen Frieden des Hauses ›Zu den sieben Linden‹ verlief sich zuweilen die Zauberflöte des seltsamen Märchenvogels.

Meine Mutter hörte darauf, als wären die köstlichen Noten aus dem schönsten Teil von Haydns ›Jahreszeiten‹ gekommen.

Und so eines Tages . . .

Es war gegen vier an einem Sonnabend. Wiederum tönte das wundersame Rufen herüber. Hannecke Brükers hatte sich heute bei uns eingetan. Sie saß am geöffneten Fenster eines hinteren Zimmers, das auf den Garten mit seinen schwerbehangenen Birn- und Zwetschenbäumen hinaus sah.

Ich selber war frei und sorgenlos. Eine Quelle der Vergnüglichkeit kluckerte mir zu, hatten doch für mich die dreiwöchigen Sommerferien begonnen, die meiner Kameradschaft und mir Tage des Glückes und des süßen Nichtstuns einbrachten.

Was fehlte mir noch?! Eigentlich gar nichts. Ich war wunschlos geworden, denn meine Kropftauben rucksten auf dem nahegelegenen Schlag herum, flogen ab und zu und klatschten mit ihren festen Schwingen durch die Luft voller Duft und Sommerfreude. Und dann Hannecke Brükers . . .

Ich hatte meinen Stuhl dicht an das liebe Mädchen gedrängelt.

Auf ihr Nähzeug gebückt, ihre fleißige Nadel hin- und herziehend, erhob sie zuweilen ihr schmales Gesicht mit den golddurchpunkteten Augen, als wenn sie ihren Geschichten eine besondere Weihe und Feier geben wollte. Ich hatte bereits die vom ›Blumenkörbchen‹ gehört. Jetzt sollte die vom ›hürnenen Siegfried‹ aus den Niederlanden an die Reihe kommen, denn Hannecke hatte sich im Laufe der Tage daran gewöhnt, auch ihr Interesse und ihre Genußlichkeit an kriegerischen und tapferen Geschehnissen zu finden. So hub sie denn an: »Es lebte mal in undenklichen Zeiten ein stolzgewachsener Königssohn auf seiner Burg in hiesiger Gegend. Des Namen war Siegfried, und sein Leib war rank und stark wie 'ne eschene Lanze und sein Arm wohlgeeignet, ein scharfes Schwert oder 'ne eiserne Stange zu schwingen. Von dem hörten nun die im Reich der Burgunden. Dort wohnte eine Jungfrau, rein wie lauteres Wasser, schön wie eine Frühlingswiese zur Zeit der Ostern, und um dieses herzige Königskind zu minnen . . .«

Sie wurde unterbrochen und legte ihr Nähzeug beiseite, denn die Traben-Trabacher Marie erschien und bat sie zum Kaffee.

»Prima Sorte,« setzte sie schleckend hinzu. »Dabei noch 'nen extraordinären Weizenstuten mit pflaumengroßen Rosinen dazwischen.«

Die unliebsame Störung rüttelte mich auf.

»Aber Marie . . .

»Kaffee und Weizenstuten müssen auch sein,« versetzte die Vollbusige, »denn sie halten Magen und Seele zusammen. Geschichten sind gut, aber Butterbröter sind besser. So'n neugieriger Stöpsel muß den Damen auch ihr Deputat zukommen lassen.«

Sie lachte.

»Ach – du!« rief ich verärgert.

»Ich komme gleich wieder,« tröstete mich Hannecke. »Bis gleich denn. Es soll fein werden, mein Jüngsken.«

Gemeinsam mit der Dicken suchte sie den gespreiteten Tisch in der Küche auf.

Ich harrte ihrer Wiederkehr, angeschmiedet auf meinem Binsenstuhl, das Herz voll der kommenden Dinge und ritterlichen Abenteuer. Meine Sinne spannten die Flügel, schaukelten hoch und flogen mit langsamen Ruderschlägen in das ferne, mit Sagen umsponnene Reich der Burgunden. Dann wandte ich mich wieder meinen Kröpfern zu. Ich sah sie fliegen und vernahm ihr Klatschen wie gedämpfte Flintenschüsse. Trotz aller Mären und Geschichten, diese Tierchen waren auch nicht zu verachten! So dachte ich, als sich der Schritt von Lastingschuhen und das Rascheln einer weitbauchigen Krinoline erhob – da draußen auf den Fliesen.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet.

Meine Mutter war ins Zimmer getreten.

»Soeben ist dieser Brief angekommen,« sagte sie mit ihrer gelassenen Eigenart. »Aus dem Felde, mein Junge. Von deinem Freunde Aloys, und wenn du von seinem Inhalt Kenntnis nehmen willst . . .«

»Ich bitte, ich bitte!«

Da las sie:

»Gegeben im Lazarett zu Eckernförde.

Sehr geschätzte Madam!

Für die uns gütigst durch Feldpost zugesandten Zigarren und sonstigen Liebesgaben übermitteln wir hiermit unsere gehorsamste Dankesbezeigung. In manchen Augenblicken sind sie uns wahre Kameraden gewesen, liebe Genossen, die wir nicht hätten missen mögen in dieser Kampagne der Entbehrung, aber auch nicht in der der innigsten Siegesfreude. In den schwersten Stunden waren sie uns Tröster und Mutbringer, in den stillen und beschaulichen Vermittler zwischen hier und der Heimat. Im übrigen alles sehr interessant, sehr interessant! Von unserem werten Freund, dem langen Moritz, hörten wir dann und wann. Der Mann bleibt immer voller Anregung und Pläsierlichkeit. Auf ihn kann man Häuser errichten. Ja, wir hörten von ihm. Von unserer Mutter nur wenig, denn sie ist zwar hellen und offenen Geistes, aber nur schwach mit der Feder. Allerdings – die Frau hätte mehr schreiben können. Sie wird wohl, so denken wir uns, viel zu schaffen haben in der Wirtschaft, in unserem Gärtchen da draußen vor dem Kesseltor. Missunde und Düppel haben wir gut überwunden. Es war sehr interessant, so die preußischen Fahnen auf den eroberten Schanzen fliegen zu sehen. Bloß bei dem Übergang nach Alsen, da hat's uns gepackt. Daß wir dabei waren, kam so. Einer versprengten Kompagnie angehörend, hieß es mit einem Male: Freiwillige vor! und da wurde ich im letzten Augenblick dem 1. Korps unter Herwarth von Bittenfeld überwiesen. Mit diesem machten wir die stolze Bewegung nach Alsen. Schon in der ersten Stellung schmiß mich 'ne dänische Kugel direkt in den Sand. Nicht schlimm; es war bloß ein Schuß durch die Schulter . . . und so sind wir denn ins Feldlazarett nach Eckernförde verschlagen. Die Wunde ist heil. Wir tragen bloß noch den linken Arm in der Binde und denken, in den nächsten Tagen entlassen zu werden, denn der Dänenkönig hat's aufgegeben, weiter zu fechten. Daß wir dies alles vermelden, ist nur aus dem Wunsche geschehen, daß es nicht auffällt, wenn wir als Blessierter Ihnen gegenüber solange geschwiegen haben. Aber wir bitten darum: die Mutter braucht vor der Hand nichts zu wissen. Auch die anderen nicht. Es könnte bloß Unruhe geben. Früh genug sehen sie uns mit dem Arm in der Binde. – Verehrte Madam, wenn Sie dieses Schreiben empfangen, dann sind wir schon auf dem Weg nach Hause. Wir freuen uns drauf wie'n kleines Kind auf seine Geschenke am heiligen Weihnachtsabend: auf unser bequemes Kamisol, unser Troddelmützchen, die Buchbinderei, das Papiergeschäft, auf unsere liebe, wenn auch etwas harte und eigenwillige Mutter, die es aber gut meint im Leben und Sterben. Auch auf mein Weib. Mutter ist zwar nicht eines Sinnes mit ihr, denn alt und jung mahlen oft scharf und schwer gegeneinander. Drin muß man sich schicken, wenn auch öfters unter Tränen. Aber das arme Herz kann's kaum erwarten, sie nach so langer Zeit wieder in die Arme zu schließen. Soll das eine Weihe geben nach all dieser Trennung! Und nun: Gott befohlen für heute! Bitte, empfehlen Sie uns dem Herrn Notarius. Unserm jungen Freund die innigsten Grüße. Auf Wiedersehen in der Heimat!

Hiermit verharren wir mit nochmaligem Dank als Euerer Madam

treugehorsamster und ergebenster
Aloys Teerling.«              

Meine Mutter ließ das Schreiben herunter.

Mit klopfendem Atem hatte ich zugehört, jeden Satz in mich aufgenommen, jede Zeile zergliedert.

Sie gab mir die Hand.

»Du weißt also, um was es sich handelt. Ich glaubte dir eine Freude zu machen. Jedenfalls – für mich ist es eine große gewesen. Doch schweige deinen Kameraden gegenüber. Überhaupt gegen jedermann. Aloys wird seine Gründe haben. Wir müssen sie achten. Besonders lasse nichts verlauten über den Arm in der Binde. Verstehst du?«

Ja, ich hatte verstanden.

Gleich darauf begann ihre strengmodische Krinoline wieder zu knistern.

Mit anmutigem Wippen und Wiegen verließ sie das Zimmer.

Ich saß wie vorhin, eine Neuigkeit zwischen den Rippen, still und allein auf meinem Binsenstuhl, meine Kropftauben beobachtend und den Wunsch im Herzen: Hannecke Brükers möge bald wieder vorsprechen.

Keine fünf Minuten vergingen, und ihr liebes Medaillengesicht erschien zwischen Diele und Decke.

Hannecke nickte mir zu und nahm ihren gewöhnlichen Platz in der Fensternische ein, aber nicht, wie ich annahm, um in ihrer begonnenen Erzählung fortzufahren, sondern um geruhsam die späten Kapuzinerrosen zu betrachten, die draußen in reicher Fülle ihre ganze Herrlichkeit und ihr süßestes Düften ausstreuten. Wie von einer höheren Eingebung beseelt, hub sie an, ein altes Lied während des Nähens vor sich hinzusummeln, dann mit dem zarten Musizieren eines Rotkehlchens zu singen, aber so fein und weltenfern, als wäre ihr Stimmchen aus dem entlegensten Raum des Paradieses gekommen.

Und also sang sie:

»Nun laßt uns singen und fröhlich sein
In den Rosen,
Mit Jesus und den Freunden sein!
Wer weiß, wie lange wir hier noch sein
In den Rosen.

Herr Jesus schenkt uns den Zyperwein
In den Rosen.
Wir müssen alle trunken sein
Wohl von der süßen Minne sein
In den Rosen.

Drum laßt das Gläschen ummegehn
In den Rosen,
So mögt ihr fröhlich heimwärts gehn
Und alle Zeit in Freuden stehn
In den Rosen.«

»O, welch ein Lied!«

»Ja,« sagte das liebe Mädchen, »ein uraltes Lied, und wenn die Kapuzinerrosen duften, dann muß ich es immerzu singen.«

»Immerzu?« fragte ich.

»Ja, immerzu.«

»Auch beim Herrn Pastor, denn bei ihm blühen ja auch so späte Rosen?«

»Ja, auch bei dem.«

»Und im Garten des Herrn Kaplan, da stehen dieselben Stöcke. Singst du da auch?«

»Nein,« sagte sie nach einiger Weile, »ich kann es nicht mehr. Seit Moritz mich auf andere Gedanken brachte, bin ich nicht mehr in seinem Hause gewesen.«

»Und bei Oma und dem papierenen Aloys?«

»Ach, da . . .! Ja früher, da konnte ich auch bei Frau Teerling und Aloys singen. Aber seit der Kanarienvogel sich in dem netten Stübchen befindet und immer so laut ist, daß man sein eigenes Wort nicht versteht, da gefriert einem das kleinste Liedchen im Munde. Und dann noch Hendrintje . . .! Bei ihr muß ich nur an Trauriges und Schweres denken. Ich kann meiner Angst nicht Herr werden. Die Geranien- und Fuchsienstöcke, die sonst so heiter am Fenster blühten, sind für mich keine Geranien- und Fuchsienstöcke mehr, sondern Blumen vom Kirchhof, Blumen in Totenkränzen. Besonders seit Aloys fort ist. Es liegt nun überall etwas Schwüles und Dumpfes in den Stuben herum, etwas Schwarzes und Unaussprechliches, daß man sich scheut, auch nur einen Zipfel des Trauertuches zu heben, aus lauter Beklemmung, das Gesicht könnte einem in den Nacken gedreht werden. Wie soll einer da singen:

Drum laßt das Gläschen ummegehn
In den Rosen,
So mögt ihr fröhlich heimwärts gehn
Und alle Zeit in Freuden stehn
In den Rosen.«

Sie zog einen Faden ein und begann aufs neue zu sticheln. Ihr lichtes Haar vergoldete sich in dem schräg einfallenden Sonnenlicht. Ihr Kopf senkte sich tiefer. Ich sah, wie ein heller Tropfen auf das Weißzeug fiel und sich hier langsam zerteilte.

»Nein,« sagte sie beklommen vor sich hin, »lassen wir das mit den Rosen, das mit Hendrintje und dem Kanarienvogel, das mit dem kleinen Garten da draußen. Um solche Dinge soll sich unsereins nicht kehren. Es berührt einen mit kalten Fingern, trägt nur noch mehr Verwirrung und Wirrnis ins Leben. Was geschieht nicht alles zwischen Niederlegen und Aufwachen? Die einen reden dieses, die anderen jenes darüber. Man weiß nicht recht, mit wem man es halten soll. Schon besser, man verläßt sich auf keinen. Gott und die ewige Vorsehung können nur helfen. Nur sie allein mögen den Finger auf die Wunde legen, um zu heilen. Und wenn Aloys auch noch so herrlich dekoriert wurde, bei Teerlings fällt kein Licht mehr auf die Wegstrecke. Ihre Welt ist umschattet. Die Menschen und ihre Geschicke steigen herauf und vergehen, wie sie gekommen sind. Tage, die man zu den glücklichen zählte, werden zu traurigen werden. Unsereins kann ja doch nichts dran ändern. O Jesus, o Jesus!«

Sie sah wiederum auf die leuchtenden Büsche, die jegliches aufboten, ihre Kelche auseinanderzufalten, mit ihren warmen Aromen zu räuchern.

Ihre Blicke standen in Tränen.

Da schlang ich die Arme um ihren Nacken und drückte sie an mich. Ich spürte das Schlagen ihrer jungen Brust, das Ziehen und Strecken, das ihren wehen Leib zermarterte.

»Was ist dir? Was ist dir?!«

»Ach du!« sagte sie lächelnd. »Setz' dich man wieder. Es war ein Fehler, daß ich so was darlegen konnte. Es ist nicht wohlgetan, in die Tiefe zu steigen, sondern immer besser, durch Sonnenschein und eine heitere Wiese zu gehen. Hier blühen Blumen des Lichtes, dort nur solche der Finsternis . . . und solche haben Moder an sich und 'nen häßlichen Atem.«

Sie drückte mich sanft auf die Binsen zurück.

»Nein, lassen wir das. Es ist nichts für dich und die anderen. Auch nichts für mich. Ich will nichts davon wissen, nicht mehr dran denken, nicht davon sprechen.

Wer weiß, wie lange wir hier noch sein
In den Rosen . . .

und siehe: Jung Siegfried zog mit seinen Reisigen gen Wormse in das Land der Burgunden, wo Gunther, der König, regierte und seine Schwester Kriemhild den weiten Gottes- und Wundergarten durch ihre Anmut verdunkelte. Die sah er, und sein Herz flackerte auf, als wäre es eine geweihte Kerze gewesen. Sie nun begehrte er zum Gemahl, mußte aber zuvor die schwarzäugige Brunhild bekämpfen, die Heißumstrittene seines Herrn und Königs, so dieser nicht zu überwinden vermochte. Und Siegfried bezwang sie, führte sie in die Kammer Gunthers und nahm ihr den Gürtel, aber dergestalt, als hätte es der König selber vollbracht, in Kraft seiner Herrlichkeit und seines leuchtenden Glanzes. Das nun konnte die schöne Kriemhild nimmer verschweigen . . . und Brunhild fuhr auf, als hätte sie der Zahn eines Wolfes geschlagen. Daher berief sie den grimmen Hagen, einen Recken des Königs, mit dem Geheiß, den edlen Siegfried zu Tode zu bringen. Jenseits des Rosengartens von Wormse, über den Rhein fort, zieht der Odenwald seinen dunklen Rücken und seine finsteren Schluchten. Zwischen Brombeergesträuch und Hagedorn läßt allda ein kleiner Brunnen sein silberhelles Strudeln vernehmen. Als dann eines Tages die Mannen Gunthers erschienen, die Tiere des Waldes zu jagen, das Weidwerk aber in der drückenden Schwüle erlahmte, der junge Held sich auch niederbeugte, um eine Schale Wassers aus dem Bronnen zu heben, trat Hagen hinter ihn, gesonnen, ihm auf Befehl des königlichen Weibes das heillose Eisen in den Rücken zu bohren. Schon hob sich die Lanze . . .«

Aber sie sollte durch den Mund der Erzählerin nicht zustoßen, nicht das blühende Heldenleben vernichten.

»Mein Gott!« rief sie aus.

Ein heller, schriller, markzerreißender Pfiff gellte von draußen ins Zimmer.

»Christus, was ist das?!«

Ein zweiter folgte von der anderen Seite des Hauses.

»Da wieder!«

Fast gleichzeitig schob die Schittbox, der kleine Rollenabschreiber, sein verschlagenes Gesicht durch den Türspalt, den Gänsekiel hinter dem Ratzenohr, das sich wie die Fühler einer Weinbergschnecke bewegte.

»Jupp, mache rasch! Deine Freunde sind da! Sie pfeifen schon lange!« und fort war der Kerl, als wäre er von irgendeinem Aktenschrank aufgeschluckt worden.

Und nochmals ein Pfiff.

Der dritte.

Er ertönte dicht vor dem Fenster, an dem Hannecke nähte. Aber er war ein Pfiff, der die Nerven durchsägte, gleich dem einer dahinrasenden Lokomotive, einer wild gewordenen Sirene. So mußte der Pfiff des Großen Geistes aufbegehren, der wie ein scharfgewetztes Skalpmesser die Schluchten und Schrunden der Felsengebirge durchschnitt, um alle Stämme der Rothäute vor sein richterliches Parlament oder zu einer solennen Friedenspfeife zu laden.

Das war Henn Pierentrecker sein Pfeifen.

Da stand er, noch zwei Finger im Munde, neben sich Peter Hartjes und den Sommersprossigen.

»Jupp,« rief er mich in heller Begeisterung an, »soeben ist der lange Moritz hier durchmarschiert, in voller Kaptänsmontur und den Sturmriemen untergezogen. Ich sage dir sonder Besien . . . Er macht wieder dem Rhein zu, um seinen Freund zu empfangen.«

»Ja,« schrie Jan Höfkens dazwischen, »er täte morgen, auf Sonntag, eintriumphieren. Wir müßten dabei sein.«

»Wer?!« entsetzte sich Hannecke Brükers.

»Der papierene Aloys!«

Da streckte sie sich, als hätte sie eine Kugel getroffen, weiß wie das Leinenstück, das sie zwischen ihren Händen hielt.

Dann brach sie an dem kleinen Nähtisch zusammen.

»Jesus, Jesus! nun geschieht ein Unglück da drüben, ein furchtbares Unglück!«

 


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