Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Sechzehntes Kapitel

Während der folgenden Tage mußte ich oft an das Lied denken, das mir Hannecke Brükers des öfteren vorgesungen hatte. Ich fummelte es still ins Land:

»Ich bin das arme Tantelchen,
Da drauß, da drauß,
Und flieg' im grauen Mantelchen
Von Haus zu Haus.

Gar vielen aber ist's nicht recht,
Daß ich so bin;
Sie wünschen mich und mein Geschlecht
Zum Kirchhof hin.

Denn wo ein Lichtchen noch allein
Sich zehrt in Not,
Ich setz' mich still ans Fensterlein
Und sing' vom Tod.

So leb' ich armes Tantelchen
Jahrein, jahraus
Und flieg' im grauen Mantelchen
Von Haus zu Haus.

Mein Nickerhäutchen, rund und groß,
Nickt alles ein.
Nun sagt, ihr lieben Leutchen, bloß,
Wer mag ich sein!«

Da wir noch in den Ferien standen, sahen wir Mester Haan nur selten. Am Tage vor der Beerdigung Hendrintjes begegneten wir ihm jedoch. Er spazierte über den Paternosterdeich, als wir vom Mühlenwehr kamen, wo ich auf Wasserkäfer und ölige Kammolche gefahndet und Henn Pierentrecker sein selbstkonstruiertes Angelgerät ausgeworfen hatte, um Weißfische und Stichlinge aus dem leichten Strudel zu heben.

»Herr Lehr', wir täten auch 'nen Siegerkranz für Aloys machen,« warf sich der Sommersprossige stolz in die Brust.

»Das war schön von euch,« sagte der freundliche Mann und genehmigte sich eine köstliche Prise, »denn Heldenverehrung ist rar geworden in hiesiger Gegend, wie überhaupt rar geworden unter den Deutschen. In dieser Hinsicht haben wir viel vom Ausland zu lernen. Hierorts jedoch geht jegliches im Parteigezänk, im Pfuhl der Sonderinteressen unter, wird verurteilt, am Leibe faulicht zu werden. Möge die Jugend wieder den vaterländischen Geist erstehen lassen, ihn verknüpfen mit den auserlesenen Feuerköpfen des Landes, treu unserem angestammten Herrschergeschlecht und seinen siegreichen Fahnen . . . und euer Scherflein in Gestalt eines Kranzes, wenn auch noch so klein und geringfügig, es ist doch immer ein Scherflein.«

»Das wäre auch unsere Ansicht, Herr Lehr', aber wir könnten ihn noch nicht an Aloys übergeben, weil er sich noch in großen Ängsten befände.«

»Das weiß ich, mein Junge,« und Mester Haan sah in die Gegend hinein, in das Bovenholt mit seinen Hecken und Hägen, seinen unermeßlichen Äckern und Wiesen, die sich bis über Moyland hinaus erstreckten. Bald darauf hub er an, uns eine schlichte Legende auseinanderzulegen, über den Ausgleich der Dinge und eine ewige Vergeltung zu sprechen . . . und er war wie einer, der unsere jungen Herzen in seine Hände nahm, sie salbte und knetete und sie anhielt, nur für das Gute und Hohe zu schlagen. »Im Verkehr mit Aloys,« setzte er feierlich hinzu, »könnt ihr nur Ersprießliches in euch aufnehmen, euch darin belehren lassen, wie es nottut, vaterländische Gesinnung mit Hintansetzung des eigenen Lebens zu betätigen. Nur solche Männer sind auserwählt, nur sie sind befähigt, auch im bittersten Leid nicht über Bord zu gehen und das ihnen auferlegte Joch der Heimsuchung und das der Schicksalsschläge zu tragen.«

»Nu müßte ich den papierenen Aloys noch mehr als früher bewundern.«

»Auch ich!« rief Henn Pierentrecker.

»Und Hendrintje . . .?!« warf Peter Hartjes verloren dazwischen.

Mester Haan sah uns mit Augen an, in denen ein tiefes Verstehen aufleuchtete. Es waren Augen der Verzeihung und die der Barmherzigkeiten.

»Was soll ich da sagen? Nur dieses. Sie hat die Sakramente empfangen und ihre Seele geläutert. Der Herr wird sie führen. Möge sie ruhen in Frieden . . . und auferstehen . . . und das Licht finden, das uns allen dereinstens scheinen wird in der Finsternis, auf daß wir den Weg nicht verfehlen, der uns leitet zu den goldenen Tischen der Ewigkeit.«

Er nahm seinen Pfad wieder auf.

Drüben im Vorland rief eine Sense herüber. Es ähnelte dem Singsang eines Käuzleins ums Abendwerden:

»Ich bin das arme Tantelchen,
Da drauß, da drauß,
Und flieg' im grauen Mantelchen
Von Haus zu Haus.

Und wo ein Lichtlein noch allein
Sich zehrt in Not,
Ich setz' mich still ans Fensterlein
Und sing' vom Tod.« –

Anderen Tages um die elfte Morgenstunde läutete eine bange Stimme von Sankt Nikolai herunter: »De profundis clamavi ad te, Domine: Domine, exaudi vocem meam!«

Eine zweite setzte ein: »Quaesumus, Domine, pro tua pietate, miserere animae famulae tuae, et a contagiis mortalitatis exutam, in aeternae salvationis partem restitue. Per Dominum nostrum Jesum Christum.«

Eine dritte hub an: »Requiem aeternam dona ei, Domine!«

Die erste in sonoren Lauten: »Und das ewige Licht leuchte ihr!«

Die zweite: »Sie ruhe in Frieden!«

Dann alle: »Amen, Amen!« und es war der Ruf von Totenbeterinnen in metallenen Krinolinen, die hoch oben in der dämmerigen Glockenstube auf- und niederschaukelten und zur Beisetzung luden. »Ding dong, ding dong!« Stimmen des Unerforschlichen, die da aufforderten, durch das dunkle Tor zu treten, das keine Rückkehr verstattet. Einmal verrammelt, bleiben seine Planken für immer verschlossen.

Die Glocken verstummten.

Bei ihrem zweiten Geläut versammelten sich die Leidtragenden.

Beim dritten ging es hinaus auf den Gottesacker.

Dicht neben dem Sterbezimmer machte Aloys sich fertig.

Sein Schicksal erfaßte er mit grausamer Klarheit: die verflossenen Tage, die jetzige Stunde, die kommenden Ereignisse mit ihren Masken und grauen Verschleierungen, aus denen Gestalten herauswuchsen, als hätten sie Blut auf den Lippen. Mit aller Aufbietung seines inneren Menschen nahm er seine ganze Willenskraft zusammen. Er wollte und durfte nicht schwach sein. Schon nicht der Außenwelt gegenüber, wie es ihm Moritz nahegelegt hatte.

Draußen und drinnen herrschte Sonntagsfriede. Das Haus lag so still, als hätten das letzte Mäuschen, das letzte Heimchen ihren Auszug gehalten. Er hörte nichts, kein Gehen und Sprechen, nicht das Seufzen eines Sandkörnchens zwischen Fliesen und Dielen.

Nur einmal schreckte er auf.

Im Nebenzimmer war der Schreinermeister Henseler tätig geworden. Er hatte den Sarg geliefert, auch die Zinnbeschläge, auch die Hobelspäne. Nun war er dabei, mit einem umwickelten Hammer die toten Nägel in die toten Bretter zu schlagen, so lautlos wie möglich.

»Hendrintje, Hendrintje . . .

Jedes dumpfe Geräusch, jeder Nagel, jeder Hammerschlag zerriß ihm die Seele.

Und dennoch – Aloys machte sich fertig.

Der langschößige Gehrock fehlte noch. Er hatte ihn schon getragen, als er um Hendrintje freite, sie vor den Altar führte und sie, das Herz voller knospenden Plänen und Hoffnungen, in das eigene Heim geleitete.

Er entnahm ihn dem Schrank. Mein Gott, aber der Flor! Da mußte er lächeln in seinem schmerzlichsten Erdulden. Von Hannecke war das schon besorgt worden, in schöner und sachlicher Weise. Auch den Hut hatte sie trauergemäß hergerichtet. Nichts mangelte. Die schwarzen Handschuhe lagen auf der Kirschholzkommode. Daneben Gebetbuch, Sterbezettel und ein weißes Nastüchlein. Auch einige Zweiglein gesegneten Buchsbaums.

Der Schreinermeister Henseler war nebenan mit seiner Arbeit fertig geworden.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Auf Zehenspitzen verließ er das Zimmer.

Draußen versammelten sich bereits einige Menschen, obgleich die Glocken noch keine Zeit gefunden hatten, den zweiten Anruf zu läuten.

»Das hilft nun nicht,« sagte Aloys in sich hinein, »ich muß nun wohl zu den anderen gehen – im Namen des Vaters, des Sohnes . . . Hendrintje!« und er winkte der Seitenkammer zu, »möge dir die Erde leicht werden bis zur Auferstehung dereinstmals.«

Auf Flur und Treppe wehte ihm ein fader Ruch nach zerschnittenem Kalmus und verwelkenden Blumen entgegen, nach Sommerlevkojen und Rosen, die in der zweiten Blüte standen.

Lottchen Merlo streute noch immer Grünes und Weißes bunt durcheinander.

»Gott helfe!« meinte sie leise.

»Lottchen, wir danken.«

Als er das Wohnzimmer betrat, fiel ihm auf, daß er nur Hannecke und Moritz antraf. Er sagte verloren: »Ein Menschenleben dahin, ein Menschenleben dahin! Wo ist Mutter? Ich habe mit Mutter zu sprechen.«

Moritz trat ernst auf ihn zu.

»Aloys, noch vor dem Begräbnis?«

»Warum nicht? Ich will doch in aller Ruhe und Liebe . . . Wir haben noch mit Mutter zu reden.«

Hannecke unterbrach ihn, zupfte ihm den Flor am Ärmel zurecht, wischte ihm noch ein Stäubchen von der Weste herunter.

»Mutter ist dort . . . in der Küche. Sie will keinen sehen und sprechen . . . und drum ist es besser . . .«

Sie kämpfte mit den Tränen und fand wieder ein Stäubchen.

»Auch mich will sie nicht sehen und sprechen? Auch mich nicht?!«

Ein Schrei stieg in ihm auf, ein Schrei, wie ihn ein verfolgtes Tier ausstoßen will, wenn es in äußerster Not ist. »Auch mich nicht?!«

Moritz und Hannecke schwiegen.

»Da muß ich schon selber . . .«

Der Riese vertrat ihm den Weg.

»Aloys, ich bitte dich innigst . . .«

»Ich verstehe dich, Moritz. Aber in dieser Beziehung muß ich schon selber wissen, was ich zu tun habe.«

Er trat in die Küche.

Da saß die Alte am weißgescheuerten Tisch mit einer Kälte und Ebenmäßigkeit, als gäbe es für sie kein Sterbegeläut, keine welkenden Blumen im Hause, als wäre der Schreinermeister Welm Henseler nur in der Kammer gewesen, um irgendeine schadhafte Leiste auszuwechseln oder einem kranken Kleiderspind eine bessere Verfassung zu geben.

Die jetzige Stunde war für sie eine ganz alltägliche Stunde.

Die Schnupftabaksdose in Reichweite neben sich, die kurfürstliche Nase stur auf ihre Arbeit gerichtet, ließ sie ihre stählernen Nadeln, die an einem Wollstrumpf strickten, gemächlich gegeneinander klimpern, mit harten Fingern, mit dem gleichgültigen Tun einer düsteren Schicksalsschwester.

Die Außenwelt war gestorben für sie. Die Glocken, die den ersten Anruf gesungen hatten, sagten ihr nichts. Den aufdringlichen Duft der ausgestreuten Rosen und Levkojen spürte sie nicht. Das dumpfe Hämmern über ihr war spurlos an ihr vorübergegangen. Sie lebte nur sich und ihren eigenen Vorstellungen, die sie mit den Garnen einer dickleibigen Spinne umzwirnten. In diesem Gespinst gingen ihr die Stunden unter, die Wochen, die Jahre, verhüllten sich die Regungen des Herzens, das Gefühl für ihre Mitmenschen, das Leid und die Freude anderer, die ihr nahe gestanden hatten im Leben. Nur dunkle Vögel umschaukelten sie, nur Schatten, nur trübe Erinnerungen. Was galt ihr das Dasein noch, das Klagen und Weinen? Nicht soviel wie eine räudige Katze hinter dem Ofen. Für sie gab es nur fallende Blätter, Moder, das letzte Glumsen einer ausgetretenen Asche. Sonst gar nichts.

Bei seinem Kommen fältete sie den halbfertigen Strumpf umständlich zusammen, glättete ihn, legte ihn mechanisch neben die Schnupftabaksdose. Mit leeren, nichtssagenden Augen sah sie den Eintretenden an.

»Also doch!«

»Mutter, was meinst du damit?«

»Ich meine nur: du siehst so feierlich aus, so ganz in Schwarz, so großartig in dem neumodischen Gehrock.«

»Mutter, du weißt doch . . .«

»Was soll ich denn wissen? Das mit dem noblen Gehrock? So was trägt man sonn- und feiertags, bei der Fronleichnamsprozession, an Königsgeburtstag . . .«

»Auch bei Sterbefällen,« sagte Aloys schwer vor sich hin.

»Jawohl, aber mit Einschränkung,« versetzte die Staatse. »Wenn ein Liebes hinweggenommen wird, eine ehrliche Seele, wenn einer sagen kann: Mein Leben ist dein Leben, mein Sterben das deine. Dann allerdings. Aber sonst wüßte ich nicht . . . kann mich gar nicht erinnern . . . Oder hast du vielleicht die törichte Absicht . . .

»Ja, ich habe die Absicht.«

»Und diese Absicht willst du in schwarzem Sonntagsrock und richtig gehendem Trauerflor betätigen von wegen der da?«

»Mutter, soll es denn wirklich zum Äußersten kommen? Willst du mir auch dieses verübeln?«

»Ich will gar nichts, mein Junge, und will dir nur sagen: Es heißt wohl: Mann und Weib gehören zusammen, sind unzertrennlich, teilen einen Tisch und ein Bett, bilden einen Leib und eine Gemeinschaft. Wie eine Verbindung Christi mit der Kirche eine ewige und unauflösliche ist, so soll sich auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib auslösen. So behauptet wenigstens die Kirche, so stellen es ihre Diener hin, die angeben, von der Sache was zu verstehen. Aber sie kennen das Weib nicht. Nicht in seinen Regungen, nicht in seinen Begierden, wenn die Nächte schwül werden und die Feuerbohnen sich um eine Laube hinranken. Das kennen sie nicht, und trotzdem: sie wollen keine Trennung, auch nicht in den traurigsten Fällen, wenigstens keine völlige Scheidung. Ich meine: sie lassen es nicht bis zum völligen Auskehren kommen. Das ist die kirchliche Ansicht. Meine ist anders.«

Und ihre Augen begannen zu flackern.

»Ja, meine ist anders. Sie wäre auch für dich bekömmlich gewesen. Aber du wolltest ja nicht. Lumpenbündel soll man zu Lumpenbündel werfen. Da gehören sie hin. Kurz, man soll sie nicht aufheben, nicht im Herzen verwahren, und da willst du mir die Schmach und die Schande antun . . .?! Besser wäre es, du sagtest: Sie existiert nicht für mich, ich habe sie ausgelöscht in meinem Gedächtnis. Das solltest du sagen.«

»Mutter, ich tu' das, was mir die Pflicht gebietet, denn nachdem ich ihre Zeilen gelesen, das herzzerreißende Schreiben von ihr, das sie kurz vor ihrem entsetzlichen Ende . . .«

»Du Narre!«

Die Trauerglocken huben aufs neue an. Sie riefen zum zweiten Male und streckten die Alte.

Steil fuhr sie in die Höhe.

Sie stand wie eine Planke im Eiswasser.

»Also ich sehe, du willst ihr trotzdem die letzte Ehre erweisen?!« Aloys nickte.

»Der da die letzte Ehre erweisen, die so nackt an weiblicher Scham war wie das glatt rasierte Gesicht eines Küsters an Stoppeln?!« und in die Glockenstimmen hinein, die da riefen und beteten: »Und das ewige Licht leuchte ihr! Sie ruhe in Frieden! Amen, Amen!« lachte sie häßlich, als wäre dieses Lachen aus der Zelle einer Irren gekommen: »Der da die letzte Ehre erweisen . . . gegen den Willen deiner Mutter . . . gegen Anstand und Herkömmnis?! Der da, die es mit einem andern hielt, die dein Bett verstörte, ihren Leib entweihte, als wäre er der einer Dirne gewesen?! Die so reich an Sünden war wie das Scharlachfieber an Flecken?! Der brünstigen Kamelin da . . .?! Lasse dich auslachen – du. Mir lieber, du gingest nach dem Mannskerl – dem Schänder, dem Zertöpperer meiner und deiner Ehre. Diesem Hund – haue ihm mit deinem Säbel von Düppel und Alsen eins über den Bregen. Nöllecke Giltjes – schlage ihn tot, diesen Viechskerl . . . und das Weib da über uns . . .«

»Mutter, genug! Ich weiß jetzt: mit dir ist kein Auskommen mehr.«

»Was – du?!«

»Nein, kein Auskommen mehr,« und seine Stimme war zerquält, schartig, von Rost angefressen. »Ich sehe, es ist alles vergebens. Wir schwimmen weit auseinander. Nach der Beisetzung werde ich sehen. Den Menschen finde ich noch . . . und die Tote?! ich werde versuchen, sie vergessen zu können.«

»Nur versuchen?! Also auch das noch! Und du bleibst dabei, sie persönlich auf den Kirchhof zu bringen?«

»Ja, ich bleibe dabei.«

Sie nickte. Ebensogut hätte ein ehernes Weib nicken können, wäre es lebendig geworden.

»Dann geh' nur, mit deinen schwarzen Handschuhen und deinem opulenten Trauerflor am Ärmel. Sie wird es zu schätzen wissen. Reisende und Handwerksburschen soll man nicht aufhalten. Geh' nur. Ich warte darauf. Trotz deines Heldentums da draußen – hier zu Hause bist du eben der papierene Aloys geblieben. Tu', was du willst. Ich bin gleichfalls entschlossen, das zu tun, was ich für richtig erachte. Keine Gemeinschaft mehr zwischen uns. Da drüben wohnen die barmherzigen Schwestern. Wenn du retour bist, habe ich mich eingetan bei den Nönnchen im Kloster. Adjüs denn.«

Sie setzte sich wieder, als wäre nichts vorgefallen. Sie nahm ihr Strickzeug und ließ die blanken Nadeln gegeneinander sticheln, mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, als hätte ihr einer gesagt und zugesprochen: »Oma, die Winterkartoffeln und Runkeln sind eingemietet. Besonders die Winterkartoffeln. Alles propere Nieren- und Biskuitsorten. Gutgedüngte und aus sandigem Boden. Ich hab's schon besorgt. Du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern.«

»Schön so! Ich bin einverstanden damit.«

Aloys sah nur schwankende Gestalten, nur Kreise um Kreise, fühlte nur Hände, die ihn zu Moritz und Hannecke geleiteten.

Ein Schrei fiel ihm von den Lippen herunter.

»Moritz . . .

»Das wußte ich, das sah ich so kommen.«

Der gutmütige Riese streichelte ihm über die Wangen, versuchte es, ihm die Stunde leichter zu machen.

»Blexem! auch das darf dich nicht über Bord schmeißen. Niemals. Jetzt erst recht nicht. Lege dich stramm in die Weste . . . der Mutter gegenüber . . . der Welt gegenüber. Du hast es jetzt nötig. Es heißt wohl: die Ratten verlassen das Schiff . . . quartieren sich um. Aber bei dir? Ausgeschlossen . . . niemals, mein Junge. Gewiß, du sitzt jetzt in dickem und schäumigem Wetter . . . bei mächtiger Schlagseite. All right! da geht das nicht anders . . .«

Er schlug ihm mit seiner Pranke fest auf die Schulter.

»Verdammich! die Nas' in den konträrigen Wind . . . den Ölmantel übergezogen. Und daß du es kannst: hier, das hier wirst du beim Begräbnis auf deiner Heldenbrust tragen . . . daß alle es sehen . . . aber auch alle. Das mußt du. Du wirst dich und deinen König doch nicht unter die Futterschwinge placieren. So was betreiben bloß die Nörgler und Dustermänner. Heraus mit den Medaillen und Ehrenzeichen!« und bevor es sich der Zerrüttete noch versah, hatte ihm Moritz bereits die schlichten Kreuze auf die Brust geheftet.

»Das gehört sich so . . . auch in dieser miserabelen Stunde.«

»Moritz . . .

»Laß gut sein.«

»Ach – du!« und Aloys tastete nach Hanneckes Hand und der seines Freundes.

»Nun habe ich nichts mehr. Nur ihr beiden – ihr seid mir geblieben.«

»Sind wir!« echote der Bravste der Braven.

Wiederum setzten die Glocken ein: »De profundis clamavi ad te, Domine: Domine, exaudi vocem meam!«

Gleichzeitig öffnete Lottchen Merlo die Türe. Ein aufdringlicher Duft nach Firnis und abgestorbenen Blumen begleitete ihre Worte: »Der Herr Pastor ist da. Wir können anfangen. Gelobt sei Jesus Christus!«

Draußen standen die Leute. Der Sarg war bereits zugebracht. Er ruhte auf einer schwarzangestrichenen Bahre. Rechts und links erhoben sich je drei düster gekleidete Männer mit abgewetzten Zylindern und gedunsenen Nasen. Sie rochen nach Fusel. Am Kopfende ragte das silberne Kruzifix in die Lüfte. Florige Streifen wehten in einer leichten Sommerbrise. Unter Assistenz des roten Kaplans nahm der Pastor die ernste kirchliche Handlung vor. Mit dem Weihbronnwedel machte er das Zeichen des heiligen Kreuzes. In schweren Tropfen klatschte das gesegnete Wasser auf die dunklen Bretter und zinnernen Beschläge.

»Lasset uns beten!«

Ein dumpfes Gemurmel folgte der Aufforderung.

Wir beteten mit, denn wir vier aus den Lohhecken waren gleichfalls erschienen, völlig durcheinander – verängstigte Feldhühner in einer Ackerfurche, die vor eitel Not und Beklemmung nicht aus und ein wissen.

Ich wagte es, Umschau zu halten. Ich sah meinen Vater, den Apotheker, den Doktor, den Inhaber der Wirtschaft ›Zum Waldkarnickel‹, Mester Haan und andere Menschen. Auch Simmchen war da, auch der Herr Kommis, gestriegelt wie ein Levit am Brandaltare des Herrn. Etwas Blaues gesellte sich zu uns: Heinrich Hübbers mit seinem fünfundzwanzigpfündigen Leibrock, gleichfalls verbaselt, ein Häuflein Unglück in seiner azurenen Schneideridee.

Er tippte uns an, schüttelte den Kopf.

»Miserabel, miserabel! so 'ne Pilgerschaft antreten zu müssen. Dagegen ist unsere Reise nach dem Entenbusch doch der reinste Spaziergang gewesen.«

»Das täte ich meinen,« sagte Jan Höfkens.

Wir wurden aufmerksam.

Die sechs mit den gedunsenen Nasen hoben den Sarg auf. Unheimlich leuchtete er in der Flut des heißen Sonnenlichtes.

Aloys und Moritz traten in seinen Schatten.

Ein Raunen und Flüstern ging um.

Aller Augen waren auf die Medaillen gerichtet.

»Aloys, Aloys . . .

»Oremus . . .!«

Der Zug kam ins Treiben: weiße Gesichter, schwarze Röcke, lurksende Schritte, schaukelnde Pleureusen. Der Leichenbitter mit seinem Medaillenstab eröffnete den Reigen des Todes.

»Oremus . . .!«

»O du Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt – verschone uns, o Herr!«

»Christus, erhöre uns!«

»O Herr, erbarme dich unser!«

Der Medaillenstab beschrieb einen Halbkreis von Osten nach Westen, von Aufgang nach Untergang.

»Von der Pforte der Hölle – errette, o Herr, ihre Seele!«

»Sei gnädig mit ihr!«

»Laß sie ruhen in Frieden!«

O diese Leidensgeschichte! Da ging nun Hendrintje Teerling stumm ihres Weges – sie, die diese Erde so liebte, sie, die da sündigte in schwülen Sommernächten unter blühenden Feuerbohnen, sie, die da schuldig wurde und dabei an einen andern dachte.

O diese Leidensgeschichte!

Der Zug schwenkte ein. Er gewann die breite Landstraße, die unter Pappeln hinführte. Ihm zu Häupten säuselten die schweren Baumkronen, flogen dunkle Vögel dem tiefen Westen zu.

Der Gottesacker kam in Sicht. Seine Gittertore standen sperrangelweit geöffnet, willens, ein neues Opfer in sich aufzunehmen.

Neben der Einfahrt erhob sich Iwan Kasimir Brill. Er salutierte mit weißbaumwollenen Handschuhen. Es galt Hendrintje, aber zumeist den Kreuzen von Düppel und Alsen.

»Pompös!« sagte Henn Pierentrecker.

»Das könnte einem das Sterben leichter machen,« versetzte der Sommersprossige, »denn solches wäre doch eine militärische Ehrung.«

»Oremus . . .!«

Unter näselnden Responsorien ging es über Gräser und mit Unkraut bestellte Pfade zum Kalvarienberg. Dicht in seiner Nähe war ihr die letzte Stätte bereitet. In der Hegung eines breitästigen Holunders sollte sie die ewige Ruhe finden.

Bald darauf, unter Beihilfe des Leichenbitters, tauchten die schwarzen Bretter in die dunkle Tiefe.

Die Seile rumpelten hoch.

Das Kruzifix hob und senkte sich wieder.

Noch ein kurzes Gebet für die Abgeschiedene, ein solches für den, der zuerst ihr folgen würde, und dann . . . Im Verlaufe einer Viertelstunde war alles vorüber. Die Erdschollen begannen zu klunkern. Unter ihrem ebenmäßigen Schollern verabschiedeten sich die Leidtragenden von dem Heimgesuchten. Langsam verließen sie den Gottesacker.

Doch noch einer trat vor, bis dicht an die Grube. Er gebot dem Totengräber, mit seiner Arbeit vorläufig innezuhalten.

Es war Iwan Kasimir Brill.

Er nahm die Mütze herunter, funkte mit seinen Stielaugen, und als ein tieffrommer Mensch hub er an, ein kräftiges Vaterunser zu beten.

Dann sah er stumm und steif vor sich hin, schlug das Zeichen des Kreuzes, griff in die mulmige Erde und warf eine Handvoll fetten Bodens in die gähnende Tiefe. »Amen!«

Mit einem kurzen Ruck machte er kehrt, zog die Mütze über, salutierte und sagte, jetzt wieder amtlich und als im Dienste befindlich: »Wir haben das unsere getan – Mynherr Teerling, Ihnen zuliebe und aus purem Respekt für Ihre Forschheit bei Düppel und Alsen.« Dann ging er.

Nur wir blieben zurück; nur wir, Aloys und Moritz.

Die beiden standen noch abseits.

In dem Schatten eines Lebensbaumes warteten wir das Weitere ab.

Es währte nicht lange, da kamen auch sie gegangen: Moritz den Arm in den seines Freundes gelegt, Aloys noch immer den Zylinder zwischen den Fingern.

Wir hörten wechselseitig unsere Herzen klopfen.

»Da sind sie,« sagte der Riese, »die Getreuen aus den Lohhecken.«

»Ach – ihr!« rief Aloys.

Mit vorgestrecktem Arm schritt er auf uns zu.

»Da bin ich, aber als ein armer Schwalbenfänger stehen wir vor euch, denn ich habe nichts mehr auf Erden. Nur Moritz und Hannecke noch – und euch noch, und wenn ich mich umsehe im Leben, so ist es nur Arbeit und Mühsal gewesen. Ich muß nun wohl in die Einsamkeit lauschen. Was bliebe mir sonst auch übrig? Nur Schatten, graue Schatten! Aber über eins freue ich mich. Über euch freue ich mich und über das, was ihr mir angetan habt. Der Kranz bleibt mir zu eigen, wie eure Liebe mir zu eigen bleibt, und wenn ihr wollt: wir sind immer zu finden. Jungs, Jungs . . .!« Er kam nicht weiter.

Er fuhr sich über die Augen und blickte still auf die Seite.

Auf einem morschen Holzkreuz saß ein Liebeseelchen, ein Rotkehlchen. Das drillte sein Stimmchen wie ein silbernes Fädchen aus. Es klang aus einer anderen Welt, verstärkte sich, um wieder sacht zu verklingen . . . leise, ganz leise.

 


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