Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Einundzwanzigstes Kapitel

Die Staatse machte eine große Bewegung.

»Erledigt! denn für derartige Redensarten kann ich mir keine Elle von dem billigsten Kaliko kaufen. Jeder für sich. So'n junger Hahn aus dem Hühnerstall des Friedensbereiches darf mir doch keine Vorschriften zulegen wollen. Wer die Backe hinhält, aus lauter Pläsier, sich 'ne Maulschelle geben zu lassen, ist drum dem Himmelreich nicht um 'ne Handbreit näher gekommen. Wer immer von Vergebung redet, dem befindet sich das Herz im Hosenboden, und solche Augenverdreher liegen mir nicht, weil sie nicht die Courage besitzen, vor ihre eigene Ehre zu treten . . . und Ehre ist Leben . . . und Leben ist Kampf . . . und Kampf ist das, was die Menschen nötig haben, um sich 'nen zuständigen Platz im warmen Sonnenschein zu sichern. Ich will nicht im kranken Schatten stehen. Auch Aloys nicht, und da er dieses nicht wollte, bin ich mit ihm äußerst zufrieden.«

Sie setzte sich wieder, nahm das Neue Testament, schlug das Evangelium Lucä auf und las aus freier Seele heraus: »Ich aber sage euch: Wer sich selber erhöhet, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden. Und dieses ist meinem Aloys passiert. Er wurde bewertet und nicht zu leicht befunden, und damit erhöhet. Nun besitze ich wieder, was mir mangelte: Ruhe in Gott und Vertrauen zu mir und meinem Erlöser.«

Ein nachsichtiges Klopfen ließ sie aufhorchen.

Sie kannte den Knöchel, der anpochte.

»Herein!« rief sie freundlich.

Mit hellem ›Pickwerick‹ glitt Schwester Eusebia ins Zimmer: »Ist was passiert, meine liebe Frau Teerling? Der Herr Kaplan hat soeben das Kloster und uns in äußerster Unruhe verlassen.«

»Passiert eigentlich nichts. Bloß so kleine Meinungsverschiedenheiten. Das kommt immer mal vor. Jedes Menschenkind hat seine eigene Gangart. Ich auch, und wenn meine ihm nicht paßt, so kann ich das höchstens bedauern, aber mich selber nicht bemitleiden. Ein priesterliches Wort in Ehren, indessen, auch meins darf nicht ausgeklinkt werden.«

Schwester Eusebia machte Äugelchen wie ein verstörtes Wachtelhühnchen.

»Also doch eine kleine Verstimmung,« sagte sie schüchtern.

»Man kann es so nennen. Ja, Schwester, man kann es so nennen. Ich habe meinen Aloys erhöht, dagegen den schmiedeeisernen Nöllecke Giltjes so'n bißchen erniedrigt – ihm gegenüber erniedrigt, und ich mußte das tun, um meine innersten Gefühle nicht betteln gehen zu lassen. Schwester, Sie wissen das nicht, sind ein Himmelsbräutchen, denn Sie stehen außerhalb der Welt, haben mit ihr nichts mehr zu schaffen. Ich aber stehe noch drin, habe 'nen Sohn, den ich aufs neue als den meinen beanspruche. Glauben Sie mir, ich habe zwei Augen, die das Weinen kennen, aber nur innerlich kennen, und das geht mehr an die Nieren, als Weinen mit offenkundigen Tränen. Und dieses innerliche Weinen, mit 'ner gehörigen Portion nunmehriger Freude dazwischen, wurde mir übel genommen – von dem Kaplan übel genommen. Das ist es, da liegt der Hase in der Pfeffersauce. Ich besitze Stolz und Mutterpflichten zwischen den Rippen, und wenn ein Stellvertreter Gottes mir diese abdividieren will, so halte ich das für eingreifender, als wenn irgendein Laie käme, um mich darin irrezumachen. Bisher konnte ich sagen: Ich glaube an ihn, denn er gibt sich seiner Priesterschaft mit Anbetung hin. Aus kleinen Verhältnissen heraus brachte er es zu einem Auserwählten des Herrn, zu einem würdigen Seelsorger im hiesigen Kirchspiel, obgleich ich seine Ansichten über den König, den dänischen Krieg und die gloriosen Taten unserer Leute nicht zu teilen vermag. Ich halte meine Backe nicht hin, um mir ›eine‹ herunterhauen zu lassen . . . und weil ich darin mit ihm im Gegenteil stehe, habe ich meinen Glauben an ihn, besonders in der jetzigen Stunde, so'n bißchen verloren, denn Hand aufs Herz: ich halte zu meinem Aloys und nicht zu dem schmiedeeisernen Nöllecke Giltjes. Der Mensch war unmöglich geworden, und was sie ihm antaten – ich sage Amen dazu, dreimal ein gesegnetes Amen.«

Schwester Eusebia senkte die Lider.

»Oh, oh, oh!« sagte sie traurig.

Durch ihr sonst so heiteres ›Pickwerick‹ zitterte eine dringliche Mahnung.

»Wo bleibt da die Nächstenliebe, Frau Teerling?!«

»Nächstenliebe?! die hab' ich in überreichlichem Maße. Ich kann davon pfundweise abgeben. Aber alles mit Ausnahme, und wo der Pott überläuft, da bin ich stark genug, meine Maßnahmen zu treffen.«

»Duldsamkeit ist die höchste Zierde des Menschen.«

»Aber nicht immer.«

»Der Herr Kaplan meint es gut mit Ihnen, Frau Teerling. Das sagte er mir, als er fortging, auch innigst bedauerte, mit Ihnen dieses Erlebnis gehabt zu haben. Seine morgige Predigt wird es erweisen. Er gedenkt darin zu vermitteln, die Herzen aneinander zu schmiegen, Unliebsames aus der Welt zu schaffen, im Sinne unseres Herrn und Seligmachers zu sühnen und zu versöhnen.«

»Warten wir ab,« kam es kalt zurück.

»Hoffen wir, hoffen wir,« sagte das Nönnchen.

Der herzige Wachtelschlag kam darin wieder zur Geltung.

Mit gütigem Lächeln empfahl sie sich.

Auf lautlosen Schuhen verließ sie das Zimmer.

Das Haus sank zurück in traumhafte Dämmerung, in ein andächtiges Schweigen von stummer Vergebung und Zärtlichkeiten.

Von den Wiesen her räucherte eine Wolke von köstlichen Aromen über die kleine Stadt hin. Sie gemahnte an den wohligen Hauch von Kuckucksblumen und Salbei, von Lerchensporn und Ehrenpreis. Sie sank über die Dächer, über die Herzen, die in Frühlingsfeier lebten, über die kleinsten Anwesen und Gerechtsamen.

Nur eine Stätte vermied sie: das Haus und die Schmiede in der Kesselstraße.

Die Leute stießen auf verhangene Fenster und abgeriegelte Türen. Kein Krüsel stand über den Pfannen, keine frohen Gesichter ließen sich sehen. Der Schwingpflug mit den blanken Messern und dem blauilluminierten Rüstzeug war im Dunkel der Einfahrt verstaut und geborgen. Seinem Protzentum war ein baldiges Ende gesetzt. Die Menschen hatten ihn bereits zu den Toten geworfen, sprachen wohl ab und zu von ihm, von ihm und dem Geschick seines abwegigen Herrn, um bei Schafskopf, Kegelschieben und 'nem guten Glas Bier im ›Waldkarnickel‹ ganz allmählich in ein gleichgültiges Vergessen zu steuern. Sie liebten keine störrische Trift, sondern ruhiges Wasser.

Nur der rote Kaplan vergaß nicht. Die halberloschene Kerze brachte er heimlich zu Atem, schnauzte den verkohlten Docht und stellte das erweckte Licht selbstgefällig auf einen hohen Leuchter, daß alle es sehen konnten und wieder helläugig wurden.

Und morgen war Sonntag.

Zwinkernd schälte sich das erste Leuchten aus violblauen Dämmerungen.

Die ersten Dohlen flogen von Sankt Nikolai in die Felder hinein, um sich dort mit den Saatkrähen bei aufgestöberten Engerlingen und Maulwurfsgrillen gütlich zu tun.

Stäwe Rademaker fuhr die Frühpost nach Kleve. Während die Gäule goldene Äpfel spendierten, blies er herzerquickend in den frischen Maienmorgen hinein.

Eine kleine Viertelstunde vor Beginn des Hochamtes läuteten die Glocken zur heiligen Feier.

Die Straßen wurden lebendig.

Herr Iwan Kasimir Brill stolzierte in seinem martialischen Sonntagsstaat über den Markt. Sein gekreidetes Lederbandelier fiel allgemein auf. Ebenso sein Seitengewehr mit schwarzweißer Troddel.

Auch Heinrich Hübbers erschien mit seinem pummeligen Frauchen. Die himmelblaue Schneideridee konnte es getrost mit der neuen Montur des Polizeigewaltigen aufnehmen.

Gleich darauf sah ich die Staatse kommen.

Sie war nicht allein.

Zwei Nönnchen in schwarzen Faltenröcken und lichten Stirngebänden begleiteten sie.

Und als ich sie kommen sah . . . wider Erwarten: sie schien mir gealtert, als befürchte sie ein nahendes Unglück. Ihre Gestalt gab sich hinfälliger, ihre kurfürstliche Nase gestreckter. Dabei blieb sie für mich die gebietende Oma: absonderlich, unbeugsam, die Züge wie mit einem scharfen Messer aus einem harten Kloben geschnitten. Ab und zu umspielte diese Züge ein Lächeln . . . und wenn ich mich jetzt ihrer erinnere, dann läuten für mich die Glocken im toten Brügge, die Glocken im Schlosse von Tordesillas, weit drüben in Spanien . . . weit drüben in Spanien. Ich sehe es deutlich: die nämliche Strenge, dieselbe Abkehr von der Welt, von ihren Lockungen und Anfechtungen, die gleiche Verehrung zu Gott und seinen ewigen Werken . . . und meine Sinne schweifen in längstdahingegangene Tage.

Glockengeläut im toten Brügge, Glockengeläut im Schlosse von Tordesillas!

Führte da ein Kaisersohn ein spanisches Fürstenkind in das graue Flandern . . . und war eine Jungfrau, ernst und hoch gewachsen . . . und wurde sein Weib . . . und spielte mit seinem Haar, als wäre es das Gelock eines Engels gewesen. Verträumten Auges ging sie durch die nordische Stadt, sah in den traurigen Wassern, die wie Lava erschienen, die Sterne des Himmels und das matte Glänzen des Tages, lauschte auf das dumpfe Rufen von den Türmen herunter, erschaute das Flimmern von hundert und aberhundert Kerzen in den mystischen Kirchen, voll tiefster Neigung zu Gott, und freute sich dessen . . . und freute sich der linden Hand ihres Gemahls . . . und freute sich seines Minnespiels, umschmeichelte ihn mit dem köstlichen Schmeicheln eines hingebenden Weibes, bis sie eines Tages erstarrte und schwere Litaneien ihr zuflüsterten: »Nun ist Philipp, der König, auch der Schöne geheißen, an deiner Seite gestorben.« Und nicht diese allein sagten es ihr – auch die Tränen im Reich, die Tränen in Flandern, die grauen ewigen Wogen des Meeres, die die Küsten des Landes in lauter Unrast zernagten. Ihre Seele trübte sich, ihre Augen blickten nach innen, als müßte sie sich mit dem Tode befreunden. Auch sie wollte ihm folgen, aber sie starb nicht. Als Königin trieb es sie heimwärts in das sonnige Kastilien, die Sinne umflort, die weiße Hand auf dem Sarkophag des Vielgeliebten. Im Schlosse von Tordesillas horchte sie auf das Raunen der dunklen Zypressen, auf die Stimmen zwischen Himmel und Erde. Zwei Nönnchen bedienten sie, kleideten sie in tiefes Schwarz, geleiteten sie mit brennenden Kerzen zur Messe. Sie suchte das Bahrtuch und konnte das Bahrtuch nicht finden. Ihre Züge trugen die Runen des Schmerzes, ihre Lippen die des ewigen Starrseins. Ihre Flechtenkrone ergraute. Ihre Tage gingen in ein hohes und zerquältes Alter hinein, und noch immer spielte sie mit dem Haar ihres Einzigen wie in den Stunden der Freude, als wäre es das Gelock eines Engels gewesen . . . und sie konnte nicht sterben. Auch nicht mehr lächeln. Nur als ihr Abend sich neigte, fand Johanna von Kastilien ihr Lächeln wieder. Es umsonnte ihre Mundecken mit dem feinen Scheinen des Paradieses.

So auch die Staatse.

Sie war keine Königin, aber sie ähnelte ihr.

Schwarzgekleidet, ehrfurchtgebietend, im Antlitz die Wunden des Schmerzes, starr und strack, mit der Hoheit einer heimgesuchten Fürstin, schritt sie stumm ihres Weges.

Die Kerzen fehlten. Aber in dieser Stunde: sie konnte noch lächeln, gleich der hohen Frau im Schloß von Tordesillas . . . und dieses Lächeln umsonnte ihre Mundecken mit dem feinen Scheinen des Paradieses.

Durch die buntbemalten Fenster von Sankt Nikolai spann das Maienlicht seine farbigen Netze. Weihrauchfäden quirlten zur Decke, zerteilten sich an den gotischen Bogen und Gewölben, senkten sich zu den Altären nieder, umnebelten Kreuze und Heiligenbilder, die dünnen Flämmchen auf den ragenden Messingleuchtern.

Von der Orgelempore sah ich das feine Ziehen und Gleiten, ich und meine Freunde aus den Lohhecken. Der Odem des Ewigen wehte uns zu. Wir vernahmen das monotone Umschlagen von Gebetbuchblättern, das fast lautlose Stammeln von frommen Lippen, das eintönige Fallen von Rosenkranzperlen.

Drüben, in den vordersten Bänken saßen Aloys und Hannecke Brükers. Nicht weit davon leuchtete der ›Blaue‹ von Heinrich Hübbers herüber. Er hatte sich so placiert, daß alle ihn sehen und bewundern konnten. Stina Mengels und die Traben-Trabacher Marie knieten nicht weit von der Kanzel.

Aber die Staatse! Da stand sie straffen Leibes im Chorgestühl auf der Epistelseite, eine schwarze Gestalt unter den dunkelgekleideten barmherzigen Schwestern. Sie rührte sich nicht. Sie fußte an, als wäre sie aus dem braunen Eichenholz gewachsen, das sie umpferchte.

Der Sommersprossige stieß mich an: »Großartig – was?! Das bekäme man nicht alle Tage zu sehen – das mit der Staatsen.«

Er verstummte.

Über uns begann die Orgel zu brausen.

Von der Sakristei her gellte eine Klingel herüber.

Sie kündete den Beginn des Hochamtes an.

Unter dem Beistand zweier Leviten zelebrierte der Pastor und Ehrendomherr der Kathedralkirche zu Münster die heilige Handlung.

Die Staffelgebete setzten ein.

»In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti. Introibo ad altare Dei.«

»Ad Deum, qui laetificat juventutem meam.«

»Qui fecit coelum et terram.«

Introitus und Graduale folgten.

Das Meßbuch wurde auf die Evangelienseite getragen.

»Credo in unum Deum . . . et in unum Dominum Jesum Christum, Filium Dei unigenitum . . . et in Spiritum Sanctum . . .«

Das große Opfer bereitete sich vor. Die hohen Kirchenfenster erstrahlten in voller Glorie. Lichte Garben büschelten aus der Höhe hernieder, senkten sich auf Kelch und Monstranz, auf Priester und Gläubige, erfüllten die weiten Hallen mit dem geheimnisvollen Schimmern und Leuchten des Himmelreiches.

Eine Viertelstunde reichte der andern die Zeit.

Ein Glöckchen ertönte.

Wein und Brot wurden konsekriert.

Reine Hände segneten sie, hoben sie auf.

»Dies ist mein Blut, dieses ist mein Leib!«

Empfanget in Reue und Keuschheit!

Die Gemeinde kniete im Staub.

Die Staatse blieb aufrecht, senkte nur den Nacken, klopfte die Brust und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes.

Und wieder das Glöckchen.

Auf zu den Himmeln!

»Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam meam in vitam aeternam.«

»Dominus vobiscum!«

»Et cum spiritu tuo!«

Unter dem Einsetzen aller Register kam es mit Engelszungen daher.

»Ite, missa est!«

»Deo gratias!«

Also geschehe es!

Aller Augen wandten sich, suchten nur ein einziges Ziel auf.

Der junge Kaplan hatte die Kanzel bestiegen, im weißen Röckling, die goldbestickte Stola um Hals und Schultern geschlungen. Die Augen geschlossen, den Kopf zurückgebeugt, mit beiden Händen das Gesims des Stuhles umgriffen, wartete er auf das Verklingen der Orgel. Nur langsam geschah es. Noch geraume Zeit hindurch summelten die Tonwellen nach, zitterte und schwebte die Vox jubilata unter den Kreuzgewölben dahin, als könnte sie den Ausgang nicht finden.

Dann verstummte auch sie.

Die Blicke des Klerikers erschlossen sich. Unauffällig revierten sie über die große Gemeinde, schweiften vom Hohen Chor bis in die entlegensten Winkel hinein, kehrten zurück gleich folgsamen Tauben, versenkten sich in das Evangelium des heiligen Matthäus. Und die Lippen sprachen, was die Augen auflasen: »Da trat Petrus zu ihm und sagte: Herr, wie oft muß ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt? Bis zu siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Nein, sage ich dir: nicht bis zu siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal! Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. Und war einer darunter, der in Unduldsamkeit und Nachtragerei seine Tage dahinbrachte. Da rief ihn sein Herr an und schalt ihn: Du böser Knecht, die ganze Schuld habe ich dir nachgelassen, weil du mich gebeten hast. Mußtest du dich nicht auch deines Mitbruders erbarmen, wie ich mich deiner erbarmt habe? Und voll Zorn übergab er ihn den Peinigern, bis er die ganze Schuld bezahlen würde. So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen verzeiht.«

Er küßte die Schrift und legte das Buch ab.

Hierauf kniete er und hörte auf das leise Scharren und Räuspern, das wie ein Säuseln und Rumoren in durchwühlten Ästen zu ihm emporstieg. Die Gläubigen setzten sich, Herz und Sinne auf die Kanzel gerichtet.

Auch die Staatse hatte sich niedergelassen. Mit aufgelehnten Armen thronte sie zwischen den Stuhlwangen, die Beine gestreckt, den hageren Leib emporgerichtet, als wäre sie aus Stein gehauen. Nichts verriet, was in ihr vorging, obgleich sie sich nach den einleitenden Worten sagen mußte, was kommen würde, ohne Erbarmen, mit dem gemächlichen Herantasten eines brütenden Unwetters.

Gestorben und doch nicht gestorben! Mit erloschenen Blicken sah sie ins Leere. Nähe und Ferne entschwanden ihr; sie erschaute nur Nebel, und in diesem Nebel verloren sich die Menschen, die zuckenden Flämmchen vor den Predellen, die Altäre mit ihren köstlichen Schnitzwerken und Schildereien, die Mysterien, die in lichten Engelsgestalten das Tabernakel umreihten.

Die Nönnchen stießen sich an.

Sie bangten vor dem fahlen Gesicht zwischen den ergrauten Haarsträhnen, vor dem Düster der bleiernen Augensterne, in deren Tiefen es nicht ruhen und rasten wollte. Zuweilen spiegelte es dort in der toten Öde auf, zuckte und züngelte es mit den Spiegelbildern in einer unheimlichen Zauberlaterne, die irgendetwas vorbereitete, ohne zu wissen, wie sich ihre Spiegelbilder auswirken und gestalten würden.

»Frau Teerling,« flüsterte ihr Schwester Eusebia zu, »der Herr Kaplan erweckt Reue und Leid. Er betet, um im Namen Gottes sprechen zu können, zu sühnen und zu versöhnen.«

Die Alte hörte sie kaum, träumte stumpf vor sich hin.

So mochte die greise Königin im Schlosse zu Tordesillas vor sich hingeträumt haben, als die Zypressen in den dunklen Gärten zu raunen begannen: »Nun ist dein Abend gekommen, denn der Tag hat sich geneiget und es nächtet bereits über den Bergen.«

»Geliebte im Herrn!«

Die ersten Worte der Predigt fielen von der Kanzel herunter.

Mit einem scharfen Ruck hatte der rote Kaplan die weiten Ärmel seines Chorhemdes zurückgeworfen.

»Sursum corda! Credo in unam sanctam catholicam ecclesiam. Sie ist uns Führer und Leitstern und zeigt uns Mittel und Wege, die zum Heile führen. Sie sendet uns ihren Boten des Lichtes, den berufenen Mahner, der durch die Straßen geht mit dem Kleid und der Gewalt eines Cherubs, der da Türen und Läden aufstößt und vernehmbar wird in den Worten des Evangelisten: Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gerichte gehören. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racka! soll dem Hohen Rate verfallen. Und der Cherub flammt auf: Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden! Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammet werden! Gebet, so wird euch gegeben werden: ein gutes, gerütteltes Maß, wie nicht mehr zu finden; denn mit demselben Maße, mit dem ihr einmesset, wird euch wieder eingemessen werden! Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders? Warum nicht den Balken in deinem eigenen Auge? und taumelst selber daher, trunken in Anmaßung, verstört in deinem Wirken und Werken. Warum nicht, warum nicht?! O ihr Kleingläubigen, ihr Seiltänzer auf dem schwankenden Seile falscher Ehrbegriffe, ihr Stolzlichen auf dem fahlen Pferde des Hochmuts, ihr biegt die Worte des Evangelisten, wie der Korbflechter seine Weidengerten biegt, um sie seinem Willen gefügig zu machen, ohne euch selber zu biegen, euren Dünkel zu brechen und die Hand der Versöhnung und die der Verzeihung zu reichen . . . und es steht doch geschrieben: Liebet euch unter einander und vergebt euren Peinigern. Aber ihr hört es nicht, wollt es nicht hören, ihr Widersetzlichen! Narrenkönige von eigenen Gnaden, mit Blechkrone und abgewetztem Purpur angetan, besteht ihr auf eurem Schein, auf eurem vermeintlichen Recht, als gölte es, Gottes Gebote an den Pranger zu schlagen. Reverenz! so heißt das mit Pochen und Prahlen – Reverenz vor dem Götzenbild unserer angekränkelten Ehre, denn wir fühlen uns berechtigt, unseren Widersachern und Beleidigern das Wort ›Racka‹ entgegenzuschleudern . . . wo es euch doch christlicher anstände, den niedergeworfenen Gegner aus dem Staube zu heben, ihm das Salböl der Absolution zu erteilen, Absolvo te, absolvo! Aber meine Geliebten im Herrn . . .« und seine Stimme schleierte sich durch den Nebel des Weihrauchs sachter hindurch, ähnelte einem Bächlein, das durch ein weites, ebenes und blumiges Wiesenland plätschert, überwirkt von Simsen und Akelei, umschaukelt von Zitronenfaltern. »Nein, Geliebte im Herrn, ich weise auf keinen, für niemanden unter uns sind diese Worte gemünzt. Es erübrigt sich nur, warnende Zeichen aufzuhissen, den ewigen Gesetzen eine sichtbare Folie zu geben. Es liegt mir fern, exemplifizieren zu wollen, nur um Haaresbreite irgendeinen aus hiesiger Kirchengemeinde des Unrechts zu zeihen. Lediglich den Verstockten der großen Umwelt gelten meine Darlegungen, und leider sei es gesagt: In dieser Umwelt gibt es so viele mit tauben Ohren und vereisten Herzen, die stumpf und dumpf ihres Weges dahingehen, ohne Mitleid, ohne Erbarmen, ohne auch nur im Traume das erlösende Wörtchen ›Verzeihung‹ zu stammeln. Sie sind wie die Steine und Felsbrocken in der Einöd. Was Steine, was Felsbrocken! Solche geben sich oft zutunlicher als die Verstörten im Geiste. Drum hört und vernehmt!«

Der Prediger machte eine vielsagende Pause, eine Pause des Nachdenkens und der Einkehr.

Dann begann er aufs neue zu sprechen, linder denn kurz zuvor, süßer denn Honigseim.

»Ach, wie so oft! – wo die Verstörten im Geiste schweigen, sich abwegig geben, tuen die Steine in der Einöd den toten Mund auf. Dieserhalb – ich will euch eine kleine Legende erzählen. War da ein Gesalbter in Gott, ein Priester, ein mit Blindheit Geschlagener. Der gedachte an die störrischen Sinne seiner Brüder zu pochen. Da traten etliche zu ihm und sagten dem Blinden in häßlicher Weise: Kommt mit uns. Wir geleiten Euch auf die richtige Stätte. Und sie führten ihn in eine traurige Wüste, in ein Land ohne Freude, auf einen Steinacker, voll Kiesel und Findlinge. Und wähnend, in seinem Sprengel zu sein, redete er mit Engelszungen, rief er Himmel und Erde an, holte er die Sterne aus ihren Bahnen herunter, sprach er mit den Eingebungen des heiligen Geistes, predigte er im Namen dessen, der das Böse ahndet und denen, die da verzeihen und Gutes tuen, die Pfade ebnet, so da hinweisen zu den gespreiteten Tischen der Seligen. Und seine Worte gingen zu den Steinen des verlorenen und unnützen Feldes, umschauerten sie, streichelten sie, verliehen ihnen den Odem des lebendigen Lebens. Und als er geredet: das Land ohne Freude wurde beseligt, die Kiesel und Findlinge erwachten aus ihrer Todesstarre, taten den Mund auf und riefen: Amen, ehrwürdiger Vater, Amen – Amen!«

Eine Bewegung entstand. Durch die vielhundertköpfige Menge ging ein Tuscheln und Raunen.

Hannecke Brükers sackte in sich zusammen. In ihr war ein verhaltenes Schluchzen.

»Hannecke – du!« sagte Aloys und sah bedrückt nach dem Hohen Chore hin, wo seine Mutter wie ein gemeißeltes Bild in den Stuhlwangen lehnte.

»Aber Geliebte, was habt ihr?! Weshalb dieses erstickte Schüttern in den Wipfeln unter mir?! Ich bin ja kein Blinder in der trostlosen Einöd, sondern ein Gesalbter des Herrn, der nicht den Steinen predigt, wohl aber den Menschen . . . und ich wünsche zu Gott, daß sie mich hören wie die Findlinge und Kiesel des Feldes, auf daß sie rufen werden: Amen, ehrwürdiger Vater, Amen – Amen!«

Hochwürden atmete tief. Die im Eifer vorgefallenen Ärmel schlug er wieder zurück und sagte: »Nein Geliebte, ich meine ja keinen, ich deute auf keinen, ich verurteile keinen, denn mein ist das Amt, das Öllampchen der christlichen Nächstenliebe zu hüten, es neu zu erquicken, falls es ihm an Nahrung mangeln sollte. Und wenn einer unter euch weilt, befangen in seinem Tun und Lassen, unnachsichtlich gegen die, die ihm Arges erwiesen – ich kann seine Herbe verstehen, wenn auch nicht entschuldigen, denn der Krieg und seine Folgeerscheinungen bewegen sich in den Stapfen des Satans, versperren die Einkehr zu Gott und seinen Weisungen. Trommeln und Pfeifen übertönen zu leicht die Worte des Priesters. Die auf dem sogenannten Felde der Ehre eingeheimsten Schmuckstücke und Medaillen leuchten ihm stärker als das schlichte Marterholz der Entsagung und das der Vergebung. Er trumpft auf gegen die, die ihrem Heiland mehr geben als ihrem König, schätzt die turbulenten Schwertführer höher ein als die Träger des Kreuzes – und weiß doch: Blut klebt an ihren Händen, das Tränensalz von Müttern, Frauen und Bräuten.«

Der Kaplan warf sich zurück.

Mit seinem Schnupftuch betupfte er Stirne und Schläfen.

Eine Stille ging um, wie die furchtbare Stille während der Karwochentage.

Mein Gott, wo das hinführen sollte!

Nur einige wußten es.

Besonders die Staatse.

Einer Sterbenden ähnlich, die noch einmal ihre letzten Kräfte einsammelt, hatte sie sich zwischen den barmherzigen Schwestern erhoben.

Den Krückstock vor sich gestemmt, ragte sie auf wie ein Pfeiler der Kirche.

Jetzt eine Königin, die kein Leben mehr hatte, stand sie auf den gemusterten Fliesen.

Nur in ihren aufgerissenen Augen begann es zu flackern, in düsteren Flammenzeichen zu wühlen . . . und dieses Flackern stieß nach der Kanzel wie ein glühender Sperber.

»Geliebte, hört meine Worte! Sie mahnen zur Einkehr, sie betteln um Milde und Barmherzigkeit. Und wenn einer unter uns ist . . . Aber beileibe: ich kenne keinen unter uns, will niemanden kennen, bin auch nicht willens, ihm den vaterländischen Geist, die Königstreue, die Gier nach Medaillen und Ehrenzeichen abzusprechen . . . aber wenn einer unter uns ist, der nicht vergessen kann, was nicht mehr der Sühne bedarf . . . der seinem Gegner die Rechte versagte . . . der da gesonnen ist, Zahn gegen Zahn und Stirn gegen Stirne zu setzen . . . der da seinem Feinde das Wort ›Racka‹ zuschleuderte . . . ihn von der heimischen Scholle verwies, wie man einen räudigen Hund hinausstößt aus der Gemeinschaft des Hauses . . . der ihm den Rauch auf dem eigenen Herde absprach, als gäbe es unter dem Himmelreich keine Liebe mehr, keine Tränen, kein Flehen um Gnade, nicht die Wohltaten eines barmherzigen Samaritans . . . ja, Geliebte im Herrn . . .«

Er kam nicht weiter.

Ein Rumpeln und Brausen schlug gegen ihn an.

»Unerhört! Unerhört!«

Die Menschen erhoben sich.

Hübbers zwirbelte seine Otterfellmütze erregt zwischen den Fingern.

Wir auf der Orgeltribüne wußten nicht ein und aus mehr . . . und drüben die Alte . . .

«Jesus, Jesus! Herr, erbarme dich meiner!«

Wie eine starre Gliederpuppe, die ein inneres Uhrwerk bewegte, schritt sie von der Empore herunter: eine Große aus den grauen Tagen der Vorzeit . . . eine Königin in todschwarzem Krönungsornat . . . statt des Zepters den Stock in der Rechten . . . das Antlitz weiß wie ein Sterbelaken . . . die Blicke im Entsetzen geweitet . . .

Die barmherzigen Schwestern folgten ihr.

Sie wies sie herrisch zurück.

An den ersten Stufen, die zu den Gläubigen führten, hielt sie den Fuß an, ballte die Linke, hob sie empor, streckte sie dem Kanzelredner entgegen, schrie sie: »Mensch, Sie, wenn die Steine Ihnen nicht ein ›Verdammt‹ zurufen, so werde ich es besorgen. Mensch, Sie, was berechtigt Sie, mit brutalen Fäusten in ein Familienleben zu greifen?! Haben Sie denn kein Verständnis für das Herz einer Mutter?! Sie wollen ein Priester sein und lästern den König, verhöhnen seine Medaillen und Ehrenzeichen, heißen meinen Sohn, der reiner und wohlgefälliger ist als Sie, einen Aussätzigen. Racka, Racka! Ich gebe Ihnen diesen Schimpf dreimal zurück. Mensch, Sie da oben – herunter von der Kanzel, herunter, herunter! Ziehen Sie doch nicht den lieben Gott hinein. Er ist kein Blutzeuge für Sie. Er wendet sich ab, denn Sie sind nicht wert und würdig, das heilige Amt zu versehen. Herunter, herunter . . .

Ihre Stimme schlug um.

Mit gebreiteten Armen sank sie zurück.

»Mein Gott! Mein Gott . . .

Etliche Nönnchen fingen sie auf . . . und durch das Grausen der Kirche: »Mutter, Mutter!« ein Schrei wie der eines verschlagenen Vogels im Sturm, über dem aufgewühlten grauen Meer im ziehenden Nebel des Unendlichen.

»Mutter, Mutter!« und einer stürmte vor, rief der Verlähmten zu: »Mutter, deine letzten Tage für mich!« und hob sie mit starken Armen auf und drückte sie an sich . . . und Aloys, der papierene Aloys, das gutmütige Kind und doch der Mann, den das Leben zusammengerüttelt, der die Liebe verkörperte, der seine zerschlagene Hausehre wieder aufbaute mit dem Mut eines Gewaltigen – Aloys Teerling trug seine teure Bürde durch die verstörten Menschen hindurch . . . über die hallenden Fliesen . . . durch ein Weinen und Aufschluchzen . . . aus der Kirche hinaus, wo ihm und ihr so viel Unbill geschehen . . . in den Maienmorgen, voller Gotteslicht und Gottesverehrung.

»Mutter, Mutter! ich will dürsten für dich, hungern für dich. Ich lege dir meine Hände unter die Füße, auf daß du genesest. Mutter, Mutter, gehe nicht von uns. Segne Hannecke Brükers und mich, lasse uns nicht in der Finsternis zurück. Mutter, herzliebe Mutter . . .

So redete er, so schritt er seines Weges, Sohnesherz an Mutterherz, so schritt er durch das Kirchengäßchen, so über den Markt hin, geliebt von allen, die ihm begegneten, die ihm folgten, die heiße Tränen hinter ihm herweinten . . . und so, erhobenen Hauptes, ein Mann der Ehre, treu seinem König und treu seinem Pflichtbewußtsein, trat er über die Schwelle seines eigenen Hauses.

Ein halbe Stunde nachher erschien auch der Doktor, das kleine Männchen mit dem zugeknöpften hechtgrauen Gehrock und dem silberbeknopften Rohr, um bald darauf den Bangenden beiseite zu nehmen und traurig zu sagen: »Ich glaube, Herr Teerling, Sie müssen auf das Schlimmste gefaßt sein. Wie lange noch – und Sie haben Ihre Mutter verloren. Sie kann nicht mehr werden.«

 


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