Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Neunzehntes Kapitel

Durch unsere Gemüter klingelte es mit den munteren Schellchen eines Tamburins, mit dem preziösen Säuseln und Summen von Äolsharfen.

Dazu ein Duften wie aus der Küche der Ewigen genommen. Ha, ›Schokumulade‹!

Gleich nach der Nachmittagsandacht traten wir an: Henn Pierentrecker, ich, Peter Hartjes und der Sommersprossige, sonntäglich gekleidet, schon halber berauscht von dem gaumenbetörenden Ruch, der uns zuströmte.

Der Papierene und Hannecke Brükers empfingen uns, er in sich gefestet, und sie in werktätiger und stiller Aufmachung, wie überhaupt ihr Tagewerk voll von Helfen und zutunlicher Güte war.

Mit Beihilfe Stinas hatte sie jegliches aufs schönste gerichtet. Die Tafel im Wohnzimmer, wo jetzt der Kanarienvogel wieder anhub, verträumte Geschichten hinzudämmern, als wäre er ein stiller Märchen-Erzähler, war sorglich gespreitet und mit dem Besten bestellt, was Weizenmehl, Zucker, Sultaninen und Kardamomen nur hergeben mochten. Da präsentierten sich zwischen den Tassen und Schälchen große Rodongkuchen, über und über gespickt mit Rosinen und Mandelsplitterchen, Janhagel, Spekulatiusmännchen und Nymwegener Moppen, sinnig überschattet von einem übernäsigen Tuff aus Astern und Sonnenblumen, die eine liebevolle Hand geschnitten und einer porzellanenen Vase anvertraut hatte.

»Bitte, nehmt Platz!«

In reger Erwartung saßen wir vier alsbald an den Längsseiten des Tisches, wahrend der Gastgeber und Hannecke an den Kopfenden der Tafel präsidierten.

Noch war es nicht so weit. Noch fehlte die Bunzlauer Kanne mit dem Zaubertrank aus den wundersamen Regionen, um die sich Don Cristoval Colon und Amerigo Vespucci unsäglich verdient gemacht hatten, so daß wir reichlich Muße fanden, uns an den aufgestapelten Delikatessen, an dem aus dem Flur herüberdüftelnden überseeischen Labsal umschauern zu lassen.

Schokolade!

Der Sommersprossige und ich hatten sie bereits früher, wenn auch nur spärlich, gekostet.

Henn Pierentrecker kannte sie nur aus seinen gewagtesten Träumen.

Dem braven Hartjes war sie bisher das Siegel des Hermes Trismegistus gewesen. Jetzt aber roch er sie, und sein spitzes Züngelchen hub an, wie das einer Miezekatze zu schleckern.

»Hm!« sagte er glücklich. Seine Gedanken weilten beim Kochherd, woselbst Stina Mengels hantierte und die Bunzlauer Kanne schon Anstalten machte, das exotische Gebräu aus Milchsahne, Zucker und Kakaobohnen in sich aufzunehmen.

Immer aufdringlicher, verlockender, gaumenkitzelnder apothekerten die süßen Narden herüber.

Henn Pierentrecker erging sich in utopischen Phantasien. Sein Fühlen und Denken war anders eingestellt als das gewöhnlicher Erdenbewohner. Für ihn blieben die Rothäute mit ihren Gebräuchen, Kriegshandlungen, Wigwams, Skalpen und Festlichkeiten das Höchste auf beiden Hemisphären unseres Sternes . . . und so stellte er sich denn auch vor: nur dem Großen Geist in den Rocky Mountains oder am Susquehanna konnten derartige Ovationen, bestehend aus Rodongkuchen, Nymwegener Moppen und Schokolade, dargebracht werden.

Er fühlte sich dieserhalb mit Haut und Haaren in das Wesensinnere des erhabenen Häuptlings versetzt, war ihm bis in die Zehenspitzen hinein verfallen und hatte kaum ein Interesse dafür, daß der eingeschrumpfte Kranz aus den Lohhecken, rechts und links von je einem dänischen Säbel flankiert, auf der einen Längswand des Wohnzimmers paradierte, just unter der Uhr mit dem imponierenden Kopf des heiligen Markus, dessen Augen sich bei jedem Perpendikelgang hin und her bewegten.

Eine fieberhafte Erregung ergriff ihn.

Er dachte an die Bunzlauer Kanne. Noch befand sie sich auf dem Kochherd. Noch war sie nicht unbeschädigt auf die Tafel gesetzt worden. Noch konnte ihr irgendein Unheil zustoßen. Gewiß, er sonnte sich in schwelgerischen Erwägungen. Aber zwischen Kelch und Lippenrand . . . nein, nein . . .! alle trübseligen Voraussetzungen verflüchteten sich in ein Nichts, zerfielen gleich den Sporen eines moderigen Bovisten, denn draußen erhob sich ein Gehen von vorsichtigen Socken – und das waren die Socken von Stina Mengels, und ins Zimmer trat ein wohlgenährtes, opulentes Frauenzimmer mit einem Gesicht auf den mit Matronenspeck behafteten Schultern, das an eine Pfingstrose in ihrer üppigsten Glorie erinnerte – und das war Stinas Gesicht, und auf einer Porzellanassiette balancierte sie eine braunrote, glasierte Amphora mit Henkel, der ein Ruch nach allen Ingredienzien der tropischen Zone entströmte – und das war die Bunzlauer Kanne mit ›Schokumulade‹.

»Ha!«

Stina setzte sie hin und überließ das Weitere den fürsorglichen Händen Hanneckes.

»Kinder greift zu!«

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.

»Das könnte man trinken,« ereiferte sich der Sommersprossige.

»Und essen,« ergänzte Henn Pierentrecker, während der vom Himmel Gefallene sich mit den aufgetischten Herrlichkeiten beschäftigte, als wäre ihm geboten worden, die Mysterien der Eleusinischen Feste zu ergründen.

»Ja, Kinder, langt zu!« animierte uns Hannecke, und der Papierene schmunzelte in sich hinein: »Klein, aber wacker. Wer uns so selbstlos dabei half, Goldparmänen, Reinetten und Bohnäpfel einzubringen, dem muß auch schöner Hafer vorgestreut werden.«

Er lachte. Na, dieser Hafer! In Gestalt von gespickten Rodongkuchen, Korinthenwecken, Janhagel und Spekulationsmännchen schmolz er dahin wie Jungschnee vor den Strahlen der Märzensonne, vorher gesalbt und eingeweiht mit der samtbraunen Frucht von Surinam, Bahia und den Kleinen Antillen.

Dabei blieb das liebe und eigenartige Mädchen die herzlichste Spenderin, die man sich denken konnte. Unermüdlich schenkte sie ein, besorgte sie dieses und jenes, und wenn sie uns dabei mit ihrem Ärmel, mit einem Teil ihres jungfräulichen Leibes streifte, dann war es uns, als berührte uns ein goldenes Federchen aus der Schwinge des Engels Gabriel, der Maria die Botschaft brachte und sagte: »Gegrüßest seist du, Holdselige! Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern.«

Auch Aloys vernahm diese Stimme, sah die Geschäftige und Fürsorgende von der Seite an, streichelte ihr in Gedanken über ihre schwere Flechtenkrone, über den Zauber ihrer jungen Glieder, die die Bestimmung des Weibes noch von sich wiesen, und verfiel in ein träumerisches Sinnen und Sichvergessen.

Nach halbstündiger Arbeit legte Henn Pierentrecker sein Schokoladenlöffelchen hin, stülpte auch seine Tasse auf das Unterschälchen. Ich folgte. Dann Peter Hartjes. Schließlich der Sommersprossige.

»Ich könnte nicht mehr,« behauptete er, »wenn ich auch wollen tun täte.«

Wir waren gesättigt und schnappten nach Luft, gleich einem angemästeten Spiegelkarpfen, den eine kunstfertige Angel auf den grünen Rasen geworfen hatte.

Nein, wir konnten nicht mehr. Unsere Leistungen zählten zu denen des Übermenschlichen. Unser Interesse wandte sich anderen Dingen zu.

Henn Pierentrecker seins verfiel auf die beiden dänischen Säbel, seitlich des Kranzes aus den Lohhecken. Er musterte sie mit kriegerischen Blicken.

Auch Jan Höfkens stierte sie an.

»Wo kämen die her?« fragte er nach einigem Nachdenken.

Da erhob sich Aloys. Bedachtsam langte er eine von den Waffen herunter. Die stählerne Scheide legte er ab. Mit prüfendem Finger glitt er über Korb und Parierstange und ließ die blanke, leichtgebogene Klinge im einfallenden Sonnenlicht funkeln.

»Kavalleriesäbel!« sagte er halb vor sich hin. »Ein Andenken von Alsen her. Leider, bei einem Patrouillengang mußten wir zwei schwere Reiter aus den Sätteln werfen. Ich tat es nicht gerne. Es waren immerhin Menschenleben, wenn auch aus dem gegnerischen Lager. Es war auch kein besonderes Bravourstück. Weiß Gott nicht! aber man ist sich doch selber der Nächste.«

Hannecke trat zu ihm hin.

»Und wie kamen sie in deinen Besitz?« fragte sie hastig.

»Der Hauptmann sprach sie mir zu, und der Regimentskommandeur bestätigte es.«

»Und was tust du damit?«

»Ich weiß es noch nicht. Vorläufig hängen sie gut an der Wand.«

Sie hatte seine Rechte ergriffen.

Der feine Duft des Weibes war bei ihm.

»Lasse sie dort ruhen und rasten,« flüsterte sie heimlich.

»Hannecke . . .

»Ja, du – lasse sie ruhen und rasten. Es ist nicht wohlgetan, mit Waffen zu spielen.«

Ihre Blicke schwammen in einem hellen Wasser.

»Aloys, tu's mir zuliebe. Ich bitte dich herzlich.«

Ihre Hand drückte inniger.

Da sah er zum Fenster hinaus, in Gottes Oktobersonne hinein, als sähe er in den freien Lüften die weiße Taube der Verkündigung fliegen.

Ein schwerer und lauter Seufzer stieg irgendwo auf.

»Und wenn ich Aloys wäre . . .«

Henn Pierentrecker schien übersinnig geworden.

Er stöberte hoch, als hätte sich eine Nadel durch die Stuhlbinsen geschoben.

»Ja, wenn ich Aloys wäre . . .«

Noch einen verzückten Blick warf er auf Hannecke, krempelte seine Ärmel zurück, ließ den Biceps spielen, um dann mit einem gewagten Salto mortale köpflings auf der Tischkante zu stehen – eine Ovation für das von uns allen heißverehrte Mädchen.

Wir starrten sie an und dann wieder den Akrobaten.

Wie ein Götzenbild, das Haupt auf der Tafel, Beine und Füße zur Decke gerichtet, verharrte der Wundermann wenigstens zwanzig Sekunden in dieser fakirartigen Stellung, wobei er tief aus der Seele hervorholte: »Ja, wenn ich Aloys wäre, ich freite bloß Hannecke Brükers, bloß Hannecke Brükers, bloß Hannecke Brükers!«

Gleich darauf verwandelte sich der Kopfsteher wieder in Henn Pierentrecker, in unseren Freund aus den Lohhecken.

Wir bewunderten ihn und sahen, wie Aloys und Hannecke noch immer Hand in Hand beieinander standen, gleich den Stillen im Lande, im feinen Licht der Mittagssonne, umklingelt von der silberdrähtigen Weise des Kanarienvogels, die nicht aufhören wollte.

*

Die Tage vergingen, die Wochen, die Monate. Die Blätter drehten sich von den Bäumen herunter. Weiße Schneesternchen pendelten aus dem grauen Himmel hernieder, betteten sich wie Eiderdaunen über die Felder. Weihnachten ging vorüber, Silvester mit dem Dampfen seiner Punschgläser, der Tag der heiligen drei Könige, die närrische Fastnacht. Die Erde schneite ein und grünte dann wieder.

Gleich nach Ostern steuerten wir in die klassischen Gefilde hinein, das heißt: nur der Sommersprossige und ich. Henn Pierentrecker und Peter Hartjes verzichteten resigniert auf die humanistische Bildung, suchten ihr Heil auch fürderhin bei dem wackeren Mester Haan, seiner trefflichen Lehrmethode und der vielversprechenden Anweisung der mageren Emma, während wir mit steifen Ohren der Dinge harrten, die da kommen sollten: der unregelmäßigen Verben, der Deponenzien, des gefeierten Cornelius Nepos ›De excellentibus ducibus exterarum gentium‹.

Vom langen Moritz hörten wir nur wenig, fast gar nichts. Der milde Winter hatte ihn auf dem Wasser gehalten, ihn und sein ›Miekske van Grieth‹, obgleich außer Zweifel stand, daß er mit Aloys, seinen Geschicken und denen seiner Vaterstadt rege Verbindung hielt und von allem wußte, was sich innerhalb ihres Weichbildes abspielte. Die Staatse hingegen . . . sie lebte ihr eigenes Dasein im Kloster der barmherzigen Schwestern, in dem blaugekälkten Stübchen mit den Musselingardinen, der Kirschholzkommode, der weißumkleideten Bettstelle und dem beinernen Kruzifixus, geziert mit geweihtem Buchsbaum und roten Papierröschen, die bei jedem Luftzug den bleichen Leib des Gekreuzigten umraschelten. Von ihrem Fenster aus sah sie in den weiten Garten, beobachtete das Sprießen auf den wohlgepflegten Bosketts, das Grünen und Blühen der Obstbäume und Stachelbeersträucher, das erste Segeln der wiederkehrenden Schwalben. Gemeinsam mit den Nönnchen besuchte sie allsonntags das Hochamt. Die Welt mit ihrem Treiben berührte sie kaum noch. Ihrem Sohn gegenüber verhielt sie sich noch immer in Abwehr. »Was sich nicht biegt, muß brechen,« sagte sie sich des öfteren, »sonst ist nicht Ziel und Maß gesetzt, weder den Eltern noch den Kindern, weder im Bösen noch im Zuträglichen.« Das verfolgte sie mit zäher Hingabe, ohne abzuirren, wenn auch ihre Liebe zu ihm nicht kränkelte, sie diese vielmehr gewissenhaft nährte, ihn mit ihrem Zutun umschmeichelte, wie der Frühlingswind eine Blume des Feldes umschmeichelt . . . und wenn Hannecke sie aufsuchte – das gerade und offene Mädchen fühlte heraus: wie gerne spräche sie das erlösende Wort aus: »Aloys, komm zu mir, es ist alles vergessen!« und doch: die Alte bohrte sich nur tiefer in ihr schiefes Denken und Grübeln hinein, blieb abwendig in ihren kalten Klostermauern, ohne sich in ihrer Voreingenommenheit nur um Haaresbreite von dem linden Wehen des Frühlings überrieseln zu lassen.

Uns aber überrieselte das linde Wehen der warmen Frühlingstage, denn plötzlich hieß es: »Julius Alexander Pieploo ist da, der große Julius Alexander Pieploo!«

Wir kannten ihn alle. Alljährlich suchte er mit seiner bescheidenen Truppe die kleine Stadt auf. So auch in diesem Jahre. Draußen vor der Landwehr, auf der Wiesenkoppel, hatte er sich installiert: vier Pferde, zwei grünangestrichene Komödiantenwagen, ein gespanntes Seil und fünf dressierte Pudel, die so klug und verständig waren, als wären sie bei Mester Haan in die Schule gegangen.

In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag war er angekommen, geheimnisvoll, mit dem lautlosen Wuchteln von Fledermäusen, hatte in aller Stille die Zelte aufgeschlagen, die Hegung umspannt und seinen Thespiskarren gerichtet.

Gleich nach dem Hochamt meldete er sich.

Mit Pomp und Paukenschlag ritt er ein.

Vor ihm marschierte ein Kerl mit Spitzhut und butterblumengelber Watt. Der maultrommelte, kurbettierte, triangelte, um in dem nämlichen Atem die dicke Trommel mit Bumbum und Tschingtara zu schlagen. Von Zeit zu Zeit stieß er noch ein gellendes Kikeriki aus.

Ihm folgte Julius Alexander Pieploo auf kohlschwarzem Hengst, von dem er behauptete, daß er, wenngleich auch mit Piephacke, Mauke und Hahnentritt behaftet, dem Gestüt Abd-el-Kaders entstammte. Aber das genierte nicht weiter, denn wir hielten den Hengst dennoch für den Hengst aller Hengste, einschließlich des Rosses Beijart und des noch gewaltigeren Buzephalus . . . und erst sein Reiter! Da saß er im Sattel: ein pomadisierter, stiernackiger Riesenkoloß, in fleischfarbigem Trikot, den Schamschurz mit Flittern besetzt, den Schnurrbart gewichst und ausgedrillt, ähnlich dem eines selbstgefälligen Magyaren auf ungarischen Märkten – ein Bombastikus von Gottes Gnaden und inkraft seiner eigenen Gnaden, aber oho und mit Verve! – und hinter ihm: eine liebe Erscheinung, der wir heute zum ersten Male begegneten.

Unsere Nacken verrenkten sich, unsere Blicke fanden nicht Eile genug, ihren Spuren zu folgen. Ein Wunderwesen auf rahmweißem Zelter! So kam Milka geritten – Milka Pieploo, angeblich die in freier Ehe erzeugte fünfzehnjährige Tochter des Herrn Pieploo, ein Geschöpfchen zum Anbeißen und voller Genußlichkeiten . . . im Trikot . . . in einem Falbelröckchen von einer niedagewesenen Kürze . . . das impertinente Blondhaar zu Honiglöckchen ausgedrechselt.

Gleich Feuer und Fett wie die verliebten Waldesel, erschienen uns ihre Augen wie Köhlchen, ihre Lippen wie zwei rosinfarbige Herzkirschen, und wären wir des Englischen kundig gewesen, zweifelsohne, wir hätten ihr zugejubelt: »Milka for ever

Auf dem Großen Markt verstummten jählings das laute Bumbum, das Tschingtara und Hufgeklapper.

Dafür stieß Julius Alexander Pieploo dreimal in sein Kornett à piston, falsch aber feierlich, zwirbelte seinen magyarischen Schnurrbart und verkündete mit eingerosteter Stimme: »Dem löblichen Publiko zur geneigtesten Kenntnis: Seine Exzellenz der Herr Bürgermeister hiesiger Stadt- und Kirchengemeinde haben sich bewogen gefühlt, mir, dem Direktor einer illüstern Truppe, die allergnädigste Erlaubnis zu einer dreitägigen Gastspielrolle zu verbriefen. Meine Leistungen hinsichtlich der Equestrik und Parterreakrobatik stehen außer Wettbewerb. Die erste Vorstellung auf der Koppelwiese heute um viere. Entree drei Silbergroschen. Für Dienstmädchen, Mamsells und Kinder die Hälfte. Ich bitte um Zuspruch. A rivederci!«

Und wieder das Bumbum und Tschingtara, und mit Piephacke, Mauke und Hahnentritt ging's in die Kesselstraße hinein, wobei unser Goldkind uns Kußhändchen zuwarf und die rosinfarbigsten Herzkirschen zeigte.

Natürlich, aus Rand und Band, wie wir uns gaben, wohnten wir allen Vorstellungen als Zaungäste bei, verliebten uns sterblich in Trikot und Mullröckchen und erklommen den Gipfel aller irdischen Glückseligkeit und den des wildesten Schmerzes, als uns Milka bei ihrem letzten Debut zu verstehen gab: Leider, die Trennungsstunde würde bald schlagen. Das beängstige sie, denn sie habe ein gewisses Interesse an uns. Aber im nächsten Jahre käme sie wieder.

A rivederci!

Wir überkugelten die Wiesenkoppel nach Länge und Breite, teils aus Wonne, teils aus Wehleidigkeit; denn Milka bewundern zu dürfen, ihre Gunst zu besitzen, war uns Manna und Pfefferkuchen, sie scheiden zu sehen, herzzerreißendes Siechtum.

Gewiß, Julius Alexander Pieploo und seine Truppe bildeten nur eine Episode in unseren Jugendtagen, aber wie war uns zumute, als die Komödienspieler abrückten, als Berberhengst und Zelter, als Thespiskarren und Milka hinter dem Vorgehölz der klevischen Landstraße verschwanden! Hundsmiserabel! Wir hätten aufschreien und den Kopf in den Sand bohren mögen.

Ich stand wie ein Eisklumpen.

Peter Hartjes zählte die Halme des Rasens.

Der Sommersprossige wühlte blindmollartig in seinem Sextanerschmerz herum und fand nur das einzige Wörtchen: »Milka!« – das er so zärtlich hinschmalzte, als hätte er den tränenreichen ›Sigwart‹, eine Klostergeschichte von Johann Martin Miller, gelesen.

»Unsinn!«

Henn Pierentrecker hatte gesprochen.

Mit Haut und Haaren fühlte er sich eins mit Julius Alexander Pieploo, war ihm mit Leib und Seele, in Worten und Gedanken verfallen. Der Große Geist kam über ihn; nicht der von Susquehanna oder der aus den Rocky Mountains, sondern der Große Geist der Kunststückmacher, der Trikots und des fahrenden Volkes.

»Ha!« rief er aus, »mein Vater will, ich soll Briefträger werden. Einer mit's Geld und die Anweisungen, denn darüber hinaus könnte man nur noch auf den Oberpostmeister angehen. Aber ich denke nicht dran. Ich weiß, was ich tu' und hab' schon darüber mit Pieploo gesprochen. Nächstes Jahr geh' ich mit ihm über Land, mit ihm und seine Pudels, um Komödienspieler zu werden.«

Sein Arm streckte sich aus.

»Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.«

»Bis Pappa kommt und dir so propter und prätorius die Jacke verhobelt.«

Das war noch ein Wort, das uns aus allen Himmeln purzeln ließ.

Hübbers stand hinter uns.

»Ihr seid wohl verrückt. Laßt Pieploo und Milka man laufen, denn hier . . . hier . . .«

Er schnappte nach Luft.

»Nöllecke Giltjes ist da und präsentiert seinen neumodischen Schwingflug. Und Moritz hat Lunte gerochen. Na, und wenn Moritz von seinem ›Miekske van Grieth‹ macht, extra hierhin kommt, dann hat's geschellt, dann kann was passieren. Das wollte ich sagen.«

Sein Gesicht war das eines Totengräbers.

Wir vergaßen Pieploo, seine Pudel und Milka und gingen bewegten Herzens nach Hause. –

Um dieselbe Stunde . . .

Hannecke Brükers hatte im Hause des Papierenen vorgesprochen, um den Küchenzettel für die nächsten Tage in Gemeinschaft mit Stina Mengels festzulegen, als sich Aloys damit beschäftigte, die ihm überwiesenen dänischen Säbel zu schmirgeln, sie auf ihre Schärfe und Handlichkeit zu prüfen. Er überhastete nichts. Still und gemessen betrieb er seine Arbeit mit dem zuversichtlichen Gehabe eines entschlossenen Mannes. Schließlich wuchtete er den Stahl und ließ ihn im Sonnenlicht des Mittags spiegeln, als Hannecke eintrat.

Sie schreckte zurück.

Ihr Antlitz verfärbte sich.

»Du,« sagte sie wie aufgescheucht, wie von einem heißen Bangen durchzittert, »was tust du? Was willst du damit?«

Er sah sie mit seinen stillen Augen an und fragte: »Hannecke, was sollte ich wollen?«

»Das mit den Klingen. Ich muß immer dran denken . . . auch an Hendrintje . . . auch an den andern . . .«

Er legte die Waffe ab.

»Hannecke, laß das. Es begegnen einem oft Dinge im Leben, gegnerische Eingriffe, mit denen die Gesetze nichts anfangen können oder nichts anfangen wollen. Sie lavieren so hin und her, ohne einer geschändeten Ehre zu geben, was ihr zusteht und sie beanspruchen kann, um sich wieder in 'nem properen Kleide zu wissen. Und wenn die Gesetze nicht helfen, wenn sie die Achseln zucken und sagen: Das können wir in unseren Paragraphen und Titeln nicht finden, da muß man sich schon selber zu helfen wissen, für sich selber die Courage aufbringen, auch ohne Titel und Paragraphen sein Recht zu verfechten, selbst auf die Gefahr hin, von Staat und Kirche als Abtrünniger angesprochen zu werden. Auch hier gilt das Wort: Ultima ratio regis! denn nur die Lumpen verstehen es, ihr Leben ohne Ehre zu leben.«

Sie sah ihn entgeistert an.

Ihre junge Brust stürmte.

Sie atmete, als säße ihr ein Tier an der Kehle.

»Mein Gott!« schrie sie auf, »und deshalb die Klingen?! Du könntest . . .?!«

Sie war dicht an seine Seite getreten.

Der Duft ihres jungfräulichen Leibes berührte ihn mit dem zarten Hauch von Schmetterlingsflügeln, ließ ihn die Wunderseligkeit ihres Herzens empfinden.

»Aloys – du?!«

Er schwieg und preßte die Lippen fest gegeneinander.

»Du könntest mit dem da . . . mit dem entsetzlichen Menschen . . .«

Sie mußte sich an die Tischkante halten, um nicht niederzubrechen.

Da wußte er, was sie bewegte und was in ihr vorging.

»Hannecke, nun weiß ich es endlich!« und er riß sie an sich, daß sie fast in seinen Armen erstickte, innige und lautere Hingabe wurde und nur noch zu stammeln vermochte: »Wie ich dich liebe! Wie ich dich immer schon liebte! Alles begreifend, alles umfassend! Nur du und ich – allein auf der Welt! Nimm mich, auf daß ich in deinen Armen vergehe.«

Er schluchzte vor Glück. Der Glaube an ein neues Leben war in ihm.

»Ja, in dir ist die Ruhe,« sagte er leise.

Sein Mund senkte sich auf ihren goldigen Scheitel.

»Blexem! das ist die richtige Arbeit. Darauf hab' ich schon lange gewartet. Na endlich . . .« und Moritz trat ein, um ihre Hände zu fassen. »Prachtvoll! Das allein ist der zutreffende Kasus. Gratuliere. Topps hoch und das übrige dazu! Wir sprechen noch später darüber. Aber die hier,« und er legte seine Kapitänspranke auf die Kriegstrophäen, »was stellen sie vor? Mensch, ich sehe, du weißt schon. Und daher: mobil sollen sie werden . . . hier diese Klingen! Aber was bezweckst du damit?«

»Moritz, ich dachte . . .«

»Da ist gar nichts zu denken.«

»Wo er wieder im Ort ist . . .

»Drum bin ich vorgesprochen; vor 'ner Stunde vielleicht, um alles in Ordnung zu bringen. Verstehst du? Wie'n Spürhund hinter ihm her, hinter dem Viechskerl. Da hilft kein langes Fackeln und Parlamentieren. Jegliches der Ordnung gemäß. Mein oberster Grundsatz. Aber du – tanze nicht aus der Reihe heraus. 'ne extra Polka Mazurka steht dir nicht an. Kalt Blut und warm angezogen.«

»Das bin ich.«

Der Riese nickte.

»Gut, wenn es so ist.«

»Ja, Moritz, so ist das. Ich weiß genau, was geschehen muß. Ich bin mir völlig im klaren darüber. Mit Gott denn: freie Bahn und Auge um Auge. Noch heute, sonst zieht der Mensch wieder Leine, und wir haben das Nachsehen,« und Aloys, der längst seinen alten Adam ausgezogen hatte, gefestet in sich, gefestet durch die Liebe zu dem einzigen Mädchen, sah sich wieder vor Düppel und Alsen, mit gestählter Brust, ohne mit der Wimper zu zucken. »Moritz, ich weiß, was ich tue.«

»Also du denkst: die eine Klinge für dich, die andere dem Kerl mit dem Schurzfell?«

»Das wäre die Meinung.«

Er biß die Zähne zusammen.

»So und nicht anders.«

Hannecke stieß einen verhaltenen Schrei aus.

Sie warf sich in seine Arme hinein.

»Aloys! ich bitte dich, Aloys!«

»Nur Ruhe,« gebot der Riese und führte die Erschütterte still auf die Seite.

Dann zu seinem Freunde gewendet: »Ich verstehe das. Aber die Geschichte wird so nicht gefingert.«

Seine Stimme stieg hoch: »So nicht, mein Junge. Blexem! Lump bleibt Lump, das ist so alt wie dem Methusalem sein seliger Großvater, und Lumpen sind feige. Die reagieren höchstens darauf mit Maulfechten und 'nem Knüppelkomment. Du wirst doch keinem Lumpen mit deiner eigenen Ehre und deinem eigenen Leibe begegnen?«

Er lachte auf, daß die Scheiben zitterten.

»Ja, wäre der Kerl nicht so hundsmiserabel! Aber so . . . das wäre ja mit dem Mistfinken und Halunken gepfiffen.«

Er wandte sich jählings.

»Mamsell, für Sie: Ite, missa est. Wir haben jetzt unter Männern zu reden. Indessen – bloß keine Bange. Es wird alles geregelt. Nur 'ne Ratte wird aus ihrem Saukanal geräuchert. Sonst gar nichts. Also, Mamsell . . .«

»Ja, Hannecke, geh' jetzt,« sprach ihr Aloys zu und küßte sie sacht auf die Stirne. »Ich komme bald wieder.«

Groß und fest begegneten die Augen des blonden Mädchens den seinen.

»Ich vertraue auf dich,« sagte sie ruhig.

Dann ging sie.

Moritz zuckte auf.

»Deine Verlobung – sie ist das Vernünftigste, was du noch in deinem Leben ausklamüsiertest. Nu kommen Feiertage für dich . . . weißgekleidete Feiertage mit Buchfinkenliedern und 'nem verliebten Atemholen. Ich gratuliere dir nochmals, dir und Hannecke. Aber das steht nicht zur Diskussion. Das wird später besorgt.«

Er zeigte die Zähne.

»Ich denke jetzt nur an die Ratte und das verfluchtige Rattennest. Ausgeklinkt muß sie werden. Aloys,« und er deutete mit seiner rissigen Faust auf die Tür, die in den Laden führte, »dort hinein und besorge 'nen Bogen Papier! Nur keinen mit 'nem Wasserzeichen oder sonst 'nen noblen. Ein ordinärer Wisch genügt für das Biest . . . auch 'ne Feder und 'nen Tintenbehälter, den man mitnehmen kann. Ich warte. Aber mach' hurtig; wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Eine harte Furche durchschnitt seine Stirn.

Da ging Aloys und brachte das Verlangte zu.

»Was soll's nun?«

»Da setz' dich und schreibe.«

»Was soll ich denn schreiben?«

»Ungefähr so!« und Moritz beugte sich zu dem Sitzenden nieder, der bereits die Feder gefaßt hielt, und flüsterte ihm etwas zu . . . kurzausgestoßene Sätze . . . vereinzelte Worte . . . Gedanken und Einfälle, aber ganz leise gesprochen, aus Furcht, von einem dritten belauscht zu werden.

»Ist das deutlich genug?«

»Kein Zweifel.«

»Und du teilst meine Ansicht?«

»Völlig.«

»Dann schreibe . . . aber nach deinem eigenen Gusto. Du darfst noch das Deinige zutun, bloß der Inhalt muß derselbige bleiben, dann kannst du jede Plempe entbehren. Keine Schonung. Fasse den Menschen an, wie er's verdient. Hierfür gibt's 'nen Paragraphen: 'nen Bullen haut man mit 'nem Beil vor den Kopp, 'ner grindigen Ratze bloß mit 'nem Knüppel. Kurz und schmerzlos. Das ist die ganze Affäre. Einverstanden damit?«

Ja, Aloys war einverstanden damit.

Er schrieb.

Er schrieb eine lange und bange Viertelstunde hindurch, Wort für Wort, Zeile um Zeile.

Moritz verfolgte jeden Federzug mit gierigen Blicken.

Er war zufrieden mit dem dargelegten Schriftsatz.

Noch fehlte der Schluß.

Auch der kam zustande.

»Erledigt!«

»Hast du auch ›binnen vierundzwanzig Stunden‹ geschrieben?«

»Es steht.«

»Auch das mit dem ›Lumpen‹?«

»Auch dieses.«

»Dann sammle dich und mache dich fertig. Nimm das Papier mit, auch Feder und Tinte. In 'ner Stunde ist die Sache durchgeführt. Mein ›Miekske‹ wartet. Morgen mit dem frühesten muß ich wieder nach Mannheim.«

Er reckte sich.

»Pfui Teufel noch mal! Erst haben wir noch so 'nen kleinen Sturm zu überdauern, dann navigieren wir feiertägig in 'nen niedlichen Hafen hinein, um dort vor Anker zu gehen.«

Es war um die Vesperzeit, als sie über die Schwelle traten.

Am Eingang der Kesselstraße stießen sie auf Hübbers.

»Kommt mit,« rief Moritz ihn an. »Wir müssen 'ne ausstehende Rechnung begleichen. Schön und mit Liebe. Ihr könnt uns dabei so'n bißchen helfen. Habt aber bloß Posten zu stehen, 'ne Art von Ehrenwache. Honorige Leute wollen geehrt sein.«

»Mit Wonne.«

Sie gingen.

Über den Dächern stand die niedrige Sonne wie eine kupferne Scheibe.

 


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