Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Zehntes Kapitel

Te Deum laudamus! und dennoch . . .

»Es geht komisch zu in der Welt,« sagte mein Vater, »besonders in der deutschen Umwelt. Ein Narrenkasten, angefüllt mit absonderlichen Kostgängern des Schöpfers, ist eine Pflanzstätte der Auserwählten dagegen.«

Er strählte seinen weichen Bart auseinander.

Wir saßen wieder bei der gespeisten Rübsenöllampe. Draußen flockte es aufs neue, riffelte es weiß und blank an den Scheiben herunter, tänzelten Liebeseelchen nieder, die sich in ihren eigenen Tränen verzehrten, denn die warmen Geisterlein des Ofens arbeiteten so tapfer gegen die bitterkalten Schneesternchen an, daß diese zergingen, wie sie gekommen waren.

Meine Mutter sah von ihrem engmaschigen Straminrahmen auf.

»Wie meinst du das?« fragte sie leise, wie tastend.

Mein Vater sprach weiter: »Seit Jahrhunderten sind unsere markanten Köpfe die Lichtbringer des Volkes gewesen. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Suprema lex salus populi, soll heißen: Erstes Gebot für die Führenden ist, ihrem Vaterlande das Heil zu gewährleisten. Ging nicht ein wärmendes Scheinen von ihnen aus? Unter diesem warmen Scheinen erstarkte die gesamte Nation, erstarkte Preußen bis in die jetzigen Tage hinein, erstarkten die Provinzen bis an ihre äußersten Grenzmarken. Man sollte nun annehmen . . . Ja so! nur zu natürlich, daß die Nachbarstaaten uns dieses Blühen neideten. Sie beneideten uns um das eiserne Gedeihen, die eiserne Zucht, um den eisernen Mann, der die Stunde regiert und die Geschicke des Volkes vernietet. Kurz, wir wurden und werden gehaßt um unserer Erfolge willen, um unserer Heroen willen, um Kant und Lessing, um Goethe, der die Welt aus ihren morschen Angeln wuchtete, sie neu begründete, um Bismarck und den stillen versonnenen Mann, mit den karmoisinroten Streifen an den Beinkleidern.«

Meine Mutter, die fleißig ihre Nadel führte, hielt mit Sticken inne.

Ich machte Augen wie ein luser Katechumene.

Die emsigen Graupeln riffelten nachhaltiger an den klingenden Fensterscheiben.

»Ja,« sagte mein Vater, »alle da draußen sind des Neides voll, eifrigst dabei, unseren großen Führern die infamsten Knüttel zwischen die Beine zu werfen. Von den Belgiern will ich gar nicht mal reden. Ihre geschwollene Brabançonne tönt wie eine lügnerische, verstimmte, marktschreierische Komödiantentrompete. Schwindel und Anmaßung, leeres Geschwätz und das freche Gehabe eines Harlekins mit zerrissenen Hosen – das sind die Belgier. Und wenn ich der Tellensöhne gedenke . . .«

Er lachte.

»Die glauben wenigstens an ihre aufgeputzten Helden, an denen sie festhalten wie die Kälber an den Eutern der stumpfsinnigen Kühe, und haben somit Stolz und Nationalgefühl zwischen den Rippen. Aber wir . . .«

Und wieder ein Lachen, aber ein bitteres.

»Immer dieses verächtliche Schielen und Katzebuckeln über die Grenzen. Überall Parteigezänk und Parteifähnlein, grellilluminierter als die spitzigen Fähnlein der Gnadenorte, plumper und derbfarbiger als die Bilderbogen aus der Offizin von Gustav Kühne in Neu-Ruppin, Sonderinteressen, widerborstig in bezug auf das Große und Ganze, aber fanatisch bei Abschlachtung ihrer selbstaufgezogenen Ferkel. Ich bin der gute Hirt. Ich kenne die Meinigen, und die Meinigen kennen mich. So Johannes, der Evangeliste. Allein viele wollen von diesen Lapidarsätzen des Jüngers nichts wissen. Wir zum Beispiel haben im preußischen Staatswesen der Hirten und Leiter in Hülle und Fülle. Sie werden angefeindet. Besonders am Rhein. Was frommen uns die exakten Draufgänger, was die hungrigen Eindringlinge aus der brandenburgischen Sandstreubüchse?! so geht es hämisch von Mund zu Mund. So reden die Laien, so die Kleriker. Und der jetzige Krieg! Schafsgeblöke umtost ihn aus dem eigenen Pferch. Den ehernen Gang der Ereignisse verstänkern Pazifisten und Nörgler. Noch gestern, als der tapfere Lehrer Haan seinem Präludieren das zeitgemäße ›Schleswig-Holstein meerumschlungen‹ verwebte, warf der löbliche Kapellanus von Bebber von der Epistelseite her einen giftgrünen Blick auf die Orgel. Ein Zeichen der Tage. Die Kritiklosigkeit und Stumpfheit des Bürgertums fördern diese bedrohlichen Zeichen. Möglich, andere Völker haben einen feineren Instinkt für Ehre und Nationalgefühl, aber es bleibt doch ein niederziehendes Geschehen, daß bei unserm allesumfassenden Wissen, bei unseren großen Männern und kriegerischen Erfolgen . . .«

Er unterbrach sich.

Von Sankt Nikolai schlug es sieben. Die dumpfen, mit Baumwolle umwickelten Rufe ließen sich ernst und feierlich durch das weiße Rieseln in alle Weiten tragen.

Gleichzeitig klopfte ein zager Finger an.

Das brave Gesicht der Traben-Trabacher Marie schob sich durch den Türspalt.

»Herr Notar, um Vergebung. Aber Frau Johanna Kordula Teerling ist draußen.«

»Was gibt's denn?«

»Sie hätte mit dem Herrn Notar, wenn sie gelegen käme, noch ein Wörtchen zu sprechen. Wenn nicht, würde sie morgen erscheinen. Indessen, es läge ihr dran . . .«

»Soll kommen.«

»Bitte, Frau Teerling. Der Herr Notar wird noch die Freundlichkeit haben . . .«

»Merci.«

Die Staatse trat ein, mit Krückstock, blankgescheuerten Holzschuhen, geklöppeltem Häubchen und den langen Ohrgehängen, die wie Glassplitterchen über keimende Erbsen zwitscherten.

Ihr durchdringender und fester Blick umgriff meinen Vater.

»Sie müssen schon exküsieren, Herr Notar, wenn ich noch zu so später Stunde . . . aber unsereins hat so seine schweren Gedanken. Besonders in jetziger Zeit, wo es heißt: heute rot und morgen schon so weiß wie 'ne frischangestrichene Klostermauer.«

Sie räusperte sich, begrüßte meine Mutter und warf mir einen freundlichen Blick zu.

Mein Vater deutete auf einen Sessel.

»Bitte, nehmen Sie Platz. Eine Frau Teerling ist mir zu jeder Tagesstunde willkommen.«

»Herr Notar, meinen gehorsamsten Ausdruck.«

In dem Augenblick, wo sie sich setzte, erhob sich meine Mutter.

»Nein, Madam,« wehrte die Staatse ab, »unter keiner Bedingung. Ich will nicht stören. Was ich zu sagen habe, ist für jedermanns Ohren. Ich laure nicht an den Türen, bin aber auch gewohnt, alles frank und frei unter die Leute zu bringen, was mir das Herz bedrückt oder was meine Pflicht ist, weiter zu geben. Selbstverständlich mit Auswahl. Hier hingegen . . . ich kann Zeugen gebrauchen, daß die Böswilligen später nicht sagen: Frau Johanna Kordula Teerling ist so hart und eigenwillig gewesen wie die Treppensteine am Stationsweg, und diese finde ich äußerst bedrückend bei's Knien in meinen alten Tagen.«

Ihre Ohrgehänge zwitscherten leiser.

Weiten Blickes sah sie in den warmen Schein der Lampe.

»Und Sie kommen, Frau Teerling?« fragte mein Vater.

»Ja so!« sagte die Alte. »Heute bloß um so 'ne Art von Konzept zu besprechen. Die Reinschrift kann man ja in den nächsten Tagen besorgen, denn ich simulierte mir das in den letzten Stunden so aus: mußt den Herrn Notar ein bißchen vorbereiten, damit sich beim eigentlichen Aktus die Dinge geregelter abwickeln können.«

»Sehr verständig,« warf mein Vater ein, »denn man soll nichts übereilen.«

»Ganz meine Ansicht. Nur in dieser Woche müßte die Sache perfekt sein.«

»Welche Sache?«

»Herr Notar,« und die Alte holte das Nachstehende tief aus ihrem Seelenwärmer heraus, »Sie wissen ja selber: mein einziger ist als Füsilier und Landwehrmann von's erste Aufgebot mit Gott und für seinen König an die Eider gegangen. Da ist nu nicht viel Bemerkenswertes dabei, denn in 'ner properen Pflichterfüllung kann ich nichts Großartiges erblicken. Jeder Staatsbürger, der mitmachen kann, darf nicht den Kopp ins Mauseloch stechen. Drückebergerei kennen nur unfreie Menschen. Wenn der Tambour ruft, dann muß man eben marschieren.«

»Sehr tapfer,« sagte mein Vater.

Mit der Aufmerksamkeit eines Erwachsenen hörte ich zu. Dann trat ich ans Fenster, um noch unauffälliger hören zu können. Vor mir pendelten die weißen Daunen durch einen endlosen Klumpen von Finsternis. Mit dem weichen Glanz von Perlmutterschalen fielen sie nieder. Hinter mir begann wieder die Alte zu reden, klar und bestimmt, mit der Ruhe eines mit sich im reinen befindlichen Weibes: »Getrosten Herzens ließ ich ihn ziehen, wenn es mir auch schwer wurde, ihn ziehen zu lassen, denn der Krieg ist furchtbar und sein Nutzen schwer für unsereins zu begreifen. Darüber müssen die gesetzten Machthaber befinden. Wenn er aber gerecht ist, nicht bloß aus dem Genüge der Könige heraus, dann muß man das hinnehmen als eine Fügung Gottes. Wer 'nen Wolf auf die Decke zu legen hat, schiert sich den Kuckuck darum, ob die Häher lärmen oder nicht. Nein, Herr Notar, ob Krieg oder nicht Krieg, darüber mache ich mir in diesem Fall keine besondere Sorge, aber das andre . . . Ich sagte bereits: heute rot und morgen schon so weiß wie 'ne frischangestrichene Klostermauer, und da kann es immer passieren . . . Jeden Tag kann so 'ne unbarmherzige Kugel . . . und da ich noch freie Verfügung über mein Haus und mein angeerbtes Vermögen besitze . . .«

Sie stellte ihren Krückstock hart vor sich, klingelte mit ihren Ohrgehängen und legte nachdrücklich ihre linke Hand über die rechte.

»Ich verstehe,« sagte mein Vater. »Sie sind also willens, ein Testament zu errichten?«

»Das wäre es,« versetzte sie mit blanken Augen, reckte den Geierhals stärker aus dem Seelenwärmer heraus, um nochmals zu bestätigen: »Ja, Herr Notar, ein Testament auf Leben und Sterben. Die Zeit ist da, solches errichten zu müssen.«

Ihr Stock klopfte energisch, wenn auch behutsam, gegen die Dielen.

»Das wäre so meine Liebhaberei, um mit dem langen Moritz zu sprechen.«

»Und wie denken Sie sich den Gang der Beurkundung, ich meine, es wäre mir lieb, die Beweggründe, sagen wir, die einzelnen Punkte Ihrer noch zu betätigenden Willensäußerung schon jetzt zu erfahren.«

»Ganz richtig. Da haben Sie dem Nagel direktemang auf's Köppchen gehauen. Das ist es, und drum bin ich noch zu so 'ner späten Stunde erschienen, denn was man heute betreibt, braucht man andern Tages nicht mehr lange auseinanderzusetzen.«

»Ich höre,« sagte mein Vater.

Alsbald saß er mit übergeschlagenen Beinen zwischen den Lehnen, den Kopf nach vorne gesenkt, und ließ das bereits etwas graumelierte Haar seines Bartes langsam durch die durchgeistigten Finger gleiten.

»Um Vergebung, Herr Notar,« sagte die Staatse. »Aber wie der Herr Mester Haan das so im Befinden hat, sich toujours 'ne Portion Spaniol zu genehmigen, um seine Jungs gediegener belernen zu können, so gebrauche auch ich dann und wann so'n kleines Schnüffelchen, um meine Gedanken auf die richtige Stelle placieren zu können. Also ich bitte . . .« und ich sah von meiner Fensternische aus, wie sie die mir wohlbekannte Schnupftabaksdose aus ihrer Rocktasche langte und sich eine derbe Prise in die kurfürstliche Nase fingerte. Überständige Klümpchen rieselten abwärts.

Oma war köstlich.

»Herr Notar,« fuhr sie fort, »was ich zu betätigen habe, darüber werden viele Bußprediger gewaltig aus dem Häuschen geraten. Aus meiner Erfahrung heraus kenne ich das. Aber sie täten besser, vor ihrer eigenen Türe zu predigen, denn so 'ne Bußpredigten sind nicht für alle verfertigt. Manchesmal kommt einem so 'ne Gänsehaut an, wenn der leibhaftige Teufel aus 'nem Evangelienbuche vorliest. Herr Notar, schon seit Jahren . . . Mit dem Erscheinen des Besensterns hat's angefangen. Da dachte ich mir, es ist schon profitlich, ein Testament auf Leben und Sterben niederzulegen, weil man nicht wissen kann, was sich ohne menschliches Beitun noch abwickelt, was überhaupt solche Besensterne bezwecken. Aber wie das so ist: man trudelte so hin, hatte seine täglichen Ablenkungen, hatte dieses und jenes zu besorgen, kurz, um es mit einem Worte zu sagen: es wuchs Gras über die feinsten Beschlüsse und Eingebungen. Nu aber, als mein Aloys fortmußte, als ich meinen jetzigen Zustand betrachtete, als ich bemerkte, was außerhalb und innerhalb meines Hauses passierte, als ich mir keine Antwort drauf geben konnte, was ist dran und was ist nicht dran, als sich die junge Frau noch mehr gehen ließ wie in früheren Zeiten, ihren Kanarienvogel höher estimierte als meinen Aloys, der so forsch in den Krieg zog, als wäre er einer der Jüngsten gewesen, da kamen mir die Eingebungen wieder und sagten mir: Nu geht das nicht anders, du mußt zum Herrn Notarius hin, um wieder unter dem königlich preußischen Siegel meine beschaulichen Tage und meine kommoden Schlafenszeiten zu haben.«

Mein Vater nickte.

»Und Ihre Entschlüsse, Frau Teerling?«

»Ja so! Meinen Mann, den seligen Fennand Christian Teerling, haben Sie nicht mehr vor Augen bekommen. Solches muß ich als 'ne große Lücke ansprechen. Schade, sehr schade! Das war einer mit fleißigen Händen und nobel bis zum äußersten Ertragen. Von morgens früh bis in den späten Abend hinein bei seinen Kanzleibogen und bei's Buchbindergeschäft. Fennand Christian hatte bloß Spärliches mit in die Ehe gebracht. Dafür aber mächtige Kenntnisse und 'ne ehrliche Handfertigkeit, genau 'ne Handfertigkeit, wie sie unser Aloys empfing, als wir nach zehnjährigem Warten sagen konnten: Wir haben 'nen Jungen erhalten. Ich hingegen . . . Mein Vater selig, ein umsichtiger Erzeuger, hatte als Tabakpflänzer in Wissel 'nen ordentlichen Profit auf die Seite gearbeitet, preußische Kassenscheine, städtische Schuldverschreibungen und dergleichen mehr, so daß ich nach seinem gottwohlgefälligen Ableben als alleiniges Erbkind so rund herum zwölftausend Speziestaler dem bereits Verdienten hinzulegen konnte. Dafür erstanden wir das Häuschen am Markt, den opulenten Garten bei der Höfkensschen Mühle und konnten den Restbetrag dazu anwenden, das Papier- und Buchbindergeschäft mehr in Schwung und Schwänke zu bringen.«

Sie atmete auf.

»Sehr erfreulich,« sagte mein Vater.

»Ist's auch,« konstatierte die Alte unter leichtem Zucken ihrer kurfürstlichen Nase, »wenn auch Fennand Christian etwas zu frühzeitig ›rips‹ gehen mußte. Aber mein Aloys war da. Einen besseren Nachfolger brauchte ich mir gar nicht zu wünschen. Die Gediegenheit vom Vater besaß er, wenn er auch gegen meine Alertheit so recht nicht aufkommen konnte. Aber das Geschäft brachte er hoch. Seine Kunstfertigkeit war außer Wettbewerb. Wir durften uns sehen lassen. Nicht der kleinste Dachziegel wurde mit 'ner Hypothekenverschreibung belastet. In all den verflossenen Jahren – und es waren schlimme darunter – ist uns die Achterseite niemals mit Grundeis gegangen, und da ist es denn auch nicht mehr als gerecht und vor meinem Erlöser und Seligmacher nicht anders zu verfechten, als daß ich meinem Sohn alles vermache, was mir erb- und eigentümlich ist an Haus und Garten, an Obligationen und Staatspapieren und an dem mir zustehenden Geschäftsanteil, denn laut Übereinkunft vor dem verstorbenen Justizrat Jean Baptiste Lenz dahier haben mein Mann und ich uns wechselseitig übermittelt, was uns der französische Napoleon gesetzmäßig zusprechen konnte.«

»Da wäre die Angelegenheit ja in der einfachsten Weise zu regeln,« versetzte mein Vater, indem er mir einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, weil ich mich unterfangen hatte, bei der ›Achterseite mit Grundeis‹ ein wenig zu schmunzeln. »Dann bitte ich Sie, sich morgen vormittag gegen elf in meinem Amtszimmer einzufinden. Ich werde die Zeugen benachrichtigen.«

Sie schüttelte nachdenklich ihren kleinen, etwas langgezogenen Kopf, der selbstherrlich auf dem Geierhals thronte.

Mit der Rechten zog sie eine vielsagende Arabeske durch den warmen Schein der zirpenden Lampe.

»Nein, Herr Notar, so glatt ist die Sache denn doch nicht. Man muß nämlich wissen: der Dänenkrieg ist dazwischen gekommen.«

Mein Vater lächelte.

»Aber liebe Frau, was hat denn dieser Krieg mit der in Rede stehenden Beurkundung zu schaffen?«

»Nanu!« meinte die Alte. »Aber viel, Herr Notar!«

»Wieso denn?«

»Wollen Sie gütigst bedenken: mein Aloys steht ja nu wohl bei die Eider, wo's unter dem alten Wrangel ganz schlimm, indessen auch tapfer hergehen soll, und ich bete jeden Tag ein paar Vaterunser und ein ›Gegrüßt seist du, Maria‹ für braves Verhalten vor dem Feind und 'ne glückliche Rückkunft, denn das ist wohl das Nächste für 'ne verängstigte Mutter. Aber wie die Kugeln so sind! Heute kommt der und morgen der an die Reihe. Was wissen wir schließlich, wir als unbefahrene Menschen? Nur, man muß an alles denken. Jedereins hat sich für das Unerforschliche vorzubereiten. Kugel bleibt Kugel. Jedereins kann so 'ne Bohne empfangen. Warum sollte mein Aloys 'ne besondere Ausnahme machen? Und wenn es passierte, dann stände ich da, dann wüßte ich nicht, was nach meinem Ableben aus unserm Häuschen, dem Garten bei der Höfkensschen Mühle und den sonstigen Rentabilitäten geschehen sollte, und da denke ich mir . . .«

Mein Vater unterbrach sie mit einer leichten Handbewegung.

»Meine liebe Frau Teerling, sind Ihrerseits noch Verwandte oder deren Abkömmlinge unter den Lebenden, denen Sie sich gegenüber verpflichtet fühlen? Diesen könnte geholfen werden durch Legate oder Schenkungen. Ich setze hierbei den Fall voraus, daß das von Ihnen Befürchtete eintreten sollte.«

»Nein, nicht ein Spierchen. Meine totale Familie, väterlicher- und mütterlicherseits, hat 'ne gütige Vorsehung schon in das Reich, wo die ewigen Lampen brennen, abgerufen, um dort für ihre Betätigung auf der Erde entschädigt zu werden. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Des Herrn Name sei gebenedeiet.«

Sie senkte den Kopf. Mißmutig glättete sie eine störrische Haarsträhne.

»Nein, Herr Notar. Mein Aloys und ich sind die letzten von der großen Verwandtschaft in Wissel und Uedemerbruch, und wenn er nicht wiederkäme – der Aloys . . .«

»Dann wäre das einzige, Sie würden in diesem Falle auf Ihre Schwiegertochter testieren.«

Ihre Augen flackerten, als wollten zwei tiefgebrannte Kerzen erlöschen.

»Die, Herr Notar?! Die vom Emmericher Eiland?«

Ihr Stock rumpelte auf. Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Nie und niemals, solange ich noch Atem besitze. Lieber mit dem heiligen Laurentius den glünigen Marterofen besteigen, als dem Weibsbild freiwillig auch nur ein Kastemännchen übermitteln.«

Mein Vater legte ihr seine Hand auf.

»Nicht als Notar,« sagte er begütigend, »aber als Mensch rate ich dringend zum Frieden. Unfriede verzehrt.«

»Das weiß ich, das weiß ich schon lange. Aber die da,« und sie deutete mit ihrem Daumen erregt über die Schulter, »mit meinem Willen bekommt sie nicht soviel, wie ich was Schwarzes unter meinem Nagel besitze, und das ist man äußerst power.«

»Meine liebe Frau, nur gewichtige Gründe . . .«

»Die hab' ich, denn wenn ich auspacken wollte . . . Nein, Herr Notar, die steht mir bis hier, und wenn mein Aloys nicht wäre, schon längst hätte ich ihr die Haustür geöffnet: Bitte gehorsamst, sich freundlichst bedienen zu wollen. Hier nicht, aber auf dem Emmericher Eiland kann man 'ne derartige Sorte gebrauchen.«

»Aber Frau Teerling!«

»Meine Ansicht; denn dort machen die Weibsbilder allzeit verliebte Nasenlöcher, wird toujours die Vigiline gestrichen.«

Meine Mutter wurde unangenehm berührt.

Ihre bauschige Krinoline raschelte.

Sie nahm ihren Straminrahmen auf und begann wieder zu sticken, hastig, verstört, scheinbar um ihre aufsteigende Unruhe niederzukämpfen.

Atemlos verhielt ich mich in meiner Fensternische, von keinem bemerkt, aber eifrigst beschäftigt, die niedergleitenden Schneesternchen gewissenhaft zu zählen.

Mein Vater sprach leise: »Aber wenn noch Nachkommenschaft käme . . . Der Gesetzgeber bestimmt . . .«

»Gibt's nicht, Herr Notar.«

Mit einem Ruck, daß der Sessel schmerzlich aufseufzte, war die Staatse aus den Lehnen gefahren.

Übermächtig stand sie im Raum.

Die Lampe warf ihren Schatten an die gegenüberliegende Wand, gespenstisch, ohne die geringste Bewegung.

Ihre Hand glitt horizontal durch die Luft.

»Bis heute ist sie gelte geblieben, bis zur jetzigen Stunde. Daran ist gar nicht zu tippen. Das bleibt so . . . und wenn ich von wegen des Aktes etwas vorbringen dürfte, so bitte ich drum, der Testierung etwa die nachstehende Fassung zu geben: Will's der liebe Gott, daß mein Aloys zurückkommt – selbstverständlich und ohne Besehn wird ihm alles, was mir erb- und eigentümlich zusteht, auf sein zukünftiges Konto geschrieben, notariell und mit 'nem richtig gehenden Stempel darunter, ganz egal, wie er nach meinem Ableben darüber befindet. Das ist seine Sache und ganz in seinem Vorhaben und vor dem Richterstuhl seines Gewissens gegeben. Fällt er jedoch für seinen Herrn und König da drüben bei den Eiderdänen, bei Alsen oder in Düppel – dann, Herr Notar, geht mein ganzes bewegliches und unbewegliches Gut, sei es an Haus, Garten oder sonstigen Wertgegenständen, zum Drittel an die barmherzigen Schwestern dahier, das Hauptvermögen jedoch wird als 'ne milde Stiftung für solche hinterlegt, die sich dem Papiergeschäft oder der Buchbinderei zu widmen gedenken, ohne die hierzu benötigten Mittel aufbringen zu können. Als Syndikus dafür bestelle ich hiermit den jeweiligen Friedensrichter von Kleve. Ein kleines Legat wird zurückgelegt und dem Pastor überantwortet für's alljährliche Seelenamt für Aloys und mich. Fünfzehn Kerzen haben dabei auf dem Altar der schmerzensreichen Mutter zu brennen, im Angedenken daran: Aloys und ich sind mal auf dieser Erde gewesen, empfehlen jedoch unsere Seele dem Gebet der Geistlichen und dem unserer Mitmenschen, falls sie uns in 'ner angenehmen Erinnerung haben.«

Sie schwieg.

Ihr großer Schatten bewegte sich leise, und leise fuhr sie sich mit ihrer knochentrockenen Hand über die Augen.

Ich sah: meine Mutter weinte still vor sich hin, ohne dabei ihre Nadel ruhen zu lassen.

Mein Vater schien nachdenklich und ernst geworden. Seine Rechte lag auf dem weißen Tafeltuch. Mit spitzen Fingern trommelte er irgendeine verlorene Weise.

»Bei weiterem Nachdenken,« meinte er schließlich, »werden Sie sich eines andern besinnen. Vorurteile, Mißhelligkeiten und beklagenswerte Ereignisse im Familienleben gelangen letzten Endes aus einer heiklen Situation in ein versöhnliches Ausklingen. Das sollte man stündlich erwägen, Frau Teerling. Es ist ein schlimmes Tun, im Übereifer einschneidende Maßnahmen für immer festzulegen. Wenn es zu spät ist, läßt sich ein notarielles Instrument nicht mehr ändern. Es geht durch die Tage wie ein bitteres Seufzen durch das Tal der Tränen.«

»Ich danke der Güte,« versetzte die Alte.

Ihre Blicke starrten in das stille Scheinen der Lampe, als suchten sie dort eine wärmere Regung. Aber sie fanden nicht, was sie suchten.

Sie warf den Kopf herum. Die Dunkelheit im Fensterrahmen gähnte sie an. Aus dieser Finsternis rangen sich ihre durchkosteten und eingebildeten Leiden. Deren graue Hände legten sich schwer auf ihren Scheitel, auf ihr Fühlen und Sinnen. Die Worte meines Vaters gingen ihr nach, empfahlen ihr, an eine geruhsame und waldesstille Nachsicht zu denken.

Allein die grauen Hände ließen sich nicht abweisen. Immer bleierner lasteten sie auf den Schultern, die schon soviel getragen hatten. Diese ewige, drückende Qual mußte herunter.

Ihre harten Züge wurden noch härter, die kalten Augen noch kälter.

Neben dem Hochaltar von Sankt Nikolai steht eine Tafel gerichtet, auf der ein Weib den mit Dornen gekrönten und mit Geißeln zerfleischten Dulder mit ihren Blicken mißhandelt.

Daran mußte ich denken. Es hämmerte mir in den Schläfen wie das Dröhnen von Glocken.

»Nein, Herr Notar, es muß dabei bleiben. Es ist nichts mehr zu ändern. Seine Überzeugung darf man nicht unter die Füße treten. Zu tief hat sich die Sache in meine Seele gefressen. Also lassen wir das. Mit Halbheit und Falschheit habe ich gar nichts zu schaffen. Gottes Gebote bestehen, und Gottes Gebote wollen ihre Betätigung haben. Was die Gesetze ihr zusprechen, dem kann ich nicht durch 'ne Parade begegnen. Mag's sie's erhalten. Aber insonsten – kein rotes Kastemännchen darüber soll ihr aus meinem Nachlaß zugesprochen werden. Suum cuique! wie es der preußische Kuckuck verkündet. Nackt und nur mit 'ner üppigen Bluse ausgestattet, hat sie mein Anwesen bezogen, denn mein Aloys war in dieser Beziehung ohne die rechte Besinnung . . . und nackt und mit 'ner üppigen Bluse kann sie sich wieder auf's Emmericher Eiland begeben. In diesem Sinne wollen Sie's aufsetzen. Also bis morgen um elfe . . . und dann noch: ich bitte mich exküsieren zu wollen, daß ich zu so 'ner ungelegenen Stunde Ihrer Mühewaltung benötigte. Aber ich bedanke mich vielmals.«

Sie nickte.

»Madam, Herr Notar . . .

Von meiner Mutter begleitet, verließ sie in ihrer ungebeugten Straffheit und Willenskraft das Zimmer.

Als hätte ein unbarmherziger, knirschender Frost die Stube verlassen, so war es.

Draußen im Flur hallte ihr Krückstock.

Dicht an der Haustür zerfaserte das herrische Klingen.

Unauffällig drehte ich mich der nahegelegenen Küche zu, einem hochgestochenen Raum mit breiten Steinfliesen, ehrwürdig durch seinen aufgemauerten Feuerherd, über den sich ein mit Steingut und Zinntellern bestellter Rauchfang schirmend ausbreitete.

Ein munteres Feuerchen umspielte einen Wasserkessel am Sägblatt. Ein bläulicher Krüsel drehte sich aufwärts. Aus der Höhe des dunklen Fanges wölkte ein Duft von geräucherten Schinken und Speckseiten. Irgendwo geigte ein Heimchen.

Mitten auf dem Küchentisch erhob sich eine Messinglampe, an deren Schnauze ein spärliches Flämmchen sein Dasein fristete. Die Helle war mager, hatte aber noch immer Kraft genug, den Schatten der Traben-Trabacher Marie gigantisch über die Fliesen zu spreiten.

Die Moselmaid war eifrig dabei, Rapunzelsalat für den heutigen Abend zu lesen. Bei meinem Eintritt schaute sie auf.

»Was wollte die Staatse?«

»Sie hatte mit meinem Vater zu sprechen.«

»Das kann ich mir denken. So schlau bin ich auch. Aber was hatte sie so spät noch mit deinem Pappa zu reden? Man hat doch ein gewisses Interesse für sie und den papierenen Aloys.«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Dummer Junge!«

Unwillig stocherte sie mit einer Haarnadel den kohlenden Docht auf.

»Sieh einer mal an, so'n verstockter Knirps. So'n großmächtiger Schweiger!«

In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, die zum Hof und in den kleinen Nebengarten führte. Eine silberlichte Wolke von Schneepartikelchen stiebte über den Estrich.

»Mein Gott, man kriegt ja zuviel bei so 'nem unvorhergesehenen Einbruch!«

Die Tür klappte zu.

Heinrich Hübbers war in die Küche getreten, über und über mit lichten Stoppeln und Eiskristallen bedeckt. Er gestikulierte mit Armen und Beinen und schlenkerte die zerfließenden Flocken und Flöckchen von seiner Otterfellmütze herunter.

»Jupp, 'ne gewaltige Nachricht! Soeben ist 'ne Depesche gekommen. Das wollte ich dir und deinem Pappa vermelden.«

Er schnappte nach Luft.

»Die Dänen sind bei Missunde völlig zertöppert, ihre Dannewirkstellung – gefallen, gefallen!«

Der ganze Kerl bestand aus Fett und Jubel.

»Fahnen 'raus! Fahnen 'raus! Jupp, und was ich dir damals schon sagte, damals vor Jahren, als wir zum Entenbusch machten, um den dämlichen Hammel abzuführen, für den du jetzt die pompösen Kröpper im Taubenschlag hast . . . damals, als wir die ungezählten Speckpfannekuchens mit gebratenen Zwiebeln verzehrten und kein Aufhören fanden . . . damals, als wir dann über den Rheindeich spazierten und alles so heiß und still war, bis da mit einem Male und so ganz von selber aus dem glünigbrennenden Himmel herunter . . .«

»Na, was gab's denn da?« fragte Marie.

»Ich sage Ihnen bloß, da geschah ein Bummern, Mamsell, wie ich's niemals mehr in die Ohren empfangen habe. Das krachte man so aus weiter Ferne herüber, als wenn sich die Brüder von die Gesellschaft ›Gut Holz‹ mit 'nem auserwählten Kegeln benähmen.«

»Aber ich bitte Sie, Hübbers!«

»Just so ist es gewesen! Aber nicht die Speckpfannekuchens mit gebratenen Zwiebeln waren dran schuld. Die hatten keinen Teil an dem Bummern. Aber die schweren Artolleristen auf der Spellner Heide bei Wesel, die machten's. Die hatten schon Wind in die Nase und 'nen prächtigen Gusto von dem kommenden Feldzug bezogen. Und diese prophetische Ahnung nehme ich als mein Besitztum in Anspruch, denn ich bin einer der ersten gewesen, der so was in seinen Sinnen erkannte. Nein, diese Depeschen!«

Er zog seine Weste herunter.

»Fertig! denn nu muß ich mich zu deinem Pappa begeben.«

Erregt sah ich dem Biedermann nach.

»Missunde und die Dannewirkstellung . . .

Das war zu viel für mich.

Ich vernahm Trommeln und Pfeifen, knatternde Fahnen.

»Missunde, Missunde . . .

Taumelselig lag ich in den Armen der Dicken.

 


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