Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Viertes Kapitel

Wisset und höret: das Wiehern der milchweißen Stute, das Gleißen des Reiherbusches eines der Größten im Reiche des Morgenlandes, die ehernen Schläge der Wassernot- und Feuerglocke, der papierene Aloys und seine absonderliche Kometenpredigt, Omas Gegenrede und Ansichten – alles das haftete mir an wie hingetupfte Sommersprossen, die selbst das feinste Birkenwasser nicht fortwischen konnte. Es begleitete mich durch meine jugendlichen Tage, Wochen und Monate. –

Die Wildgänse schwaderten ein, fielen in die Altwasser des Rheines, um sich bei den ersten Aprilbisen aufs neue zu heben und nach Norden zu fliegen. Zweimal rückten sie vor, und zweimal führte ihr Trieb sie in die Heimat zurück, wo Kiefern- und Fichtenlatschen sich nur kümmerlich über den Boden hinkrüppeln und das Licht des ewigen Poles anmutet wie das schönste Strahlen in einer Zauberlaterne.

Glückauf!

Ich war A B C-Schütz geworden, kurzhosig, mit geschmalztem Haar und abstehenden Ohren.

Meine Mutter hatte mir zur Feier des Tages einen schnurgeraden Scheitel gezogen, mir das erste Nastuch in den Hosensack gedrängelt. Selbstbewußt, Fibel, Griffel und Schiefertafel im Ranzen, marschierte ich dem geheimnisvollen Lokal zu, wo mir das feine Empfinden für Haar- und Grundstriche, das rätselhafte Walten der vierundzwanzig Buchstaben beigebracht werden sollte.

Mester Haan thronte auf hohem Katheder, vor sich fünfundsechzig brandrote, brünette oder aschblonde Knirpse, welche mit stupsigen, welche mit pielgeraden Nasen, und hinter sich die hölzerne, schwarzlackierte Tafel, bedeckt mit Runen und sonstigen Zeichen, die mir anfangs so fremdartig vorkamen wie Hieroglyphen in ägyptischen Königsgräbern.

Er war einer von den Stillen im Lande, mit glattrasiertem Gesicht, fuchsigem Gehrock, etwas verschimmelten Haaren und einer großgeblümten Weste aus Perkal, die ein blaugestärktes Schemisettchen sehen ließ, das jedesmal losknatterte, wenn er nur die geringsten Anstalten machte, sich in seinem abstrapazierten Spenzer etwas mehr oder weniger auf die Seite zu neigen.

Ach, und die Schnupftabaksdose erst! Sie ähnelte einem Lebewesen. Beim Öffnen seufzte sie auf mit dem Seufzen einer überständigen Beginne, der es oblag, ihren Herrn und Heiland von dem Marterholz zu beten, ihr Schließen erinnerte an das herausfordernde Knappen eines Eulenschnabels, willens, ein hartes, kurzes und gediegenes ›Prosit‹ zu sprechen.

So gütig nun der Inhaber dieses Spaniolbehälters auch war, so anregende Geschichten er auch von Bauberger und Herchenbach zu erzählen wußte – er vertrat allezeit den kategorischen Standpunkt: »Was nicht in den Kopf hinein will, wird mit ungebrannter Asche auf den strammgezogenen Hosenboden geschrieben,« wobei er die schwungvolle Haselgerte mit den Worten unterstützte: »Ich tue, was nötig, und erlöse auf diese Weise meine unsterbliche Seele.«

So zwischen Fibel und Bakel, Eckenstehen und Nachsitzen, amüsanten Legenden und pläsierlicher Lerntätigkeit verbrachte ich meine jungen Tage, faßte ich Fuß unter meinesgleichen, nahm das Nötige in mich auf und hatte dabei noch das unbändige Glück, meine besten Freunde zu finden.

Der erste: Jan Höfkens.

Wenn ich seiner gedenke, vernehme ich das Klappern einer weißgekälkten Mühle, das Schlappen der Segel auf den geschachteten Windruten, sehe ich ein semmelfuchsiges, dazu merkantil veranlagtes Kerlchen mit lurigem Gesicht, über und über mit braunroten Sommerklecksen gesprenkelt, kurzen Beinchen und mit einem Hosenboden behaftet, in dem zwei stattliche Karnickel ganz bequem ihre Rammelzeit hatten abhalten können. Etwas schwer auf der Zunge, bediente er sich bei seinen Reden und Gegenreden ausschließlich der Möglichkeitsform und hielt daran so trotzig und eigenwillig fest, als läge die Wirklichkeit gänzlich außerhalb seiner Erlebnisse und Erwägungen. Draußen vor dem Kesseltor hob sich die Mühle seines Erzeugers auf einer Hügellehne empor, eingebettet zwischen unermeßlichen Wiesen und Bocksdornhecken.

Der zweite: Henn Spettmann, meistens jedoch mit seinem Spitznamen Henn Pierentrecker gerufen.

Sein Vater, der das Amt eines königlich preußischen Briefträgers bekleidete, kränkelte stetig und hüstelte sich mit bitterem Gesicht und traurigem Kopfnicken so ganz allmählich seinem letzten Lebensende entgegen, während mein Freund . . . Er schien einem Enaksgeschlecht entsprossen, so knapp und fest nahm er den Weg unter die Füße, warf er jeden von uns so kunstgerecht auf den Boden, daß er Hören und Sehen vergaß, wobei er noch Muße fand, den rechten Arm zu strecken, den Biceps spielen zu lassen und leichthin zu sagen: »Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.« Sonst sprach er nur Hochdeutsch, denn er wußte, was sich für den Sprößling eines königlich preußischen Briefträgers ziemte und schickte, ohne den Ehrgeiz zu haben, für diese sprachlichen und körperlichen Leistungen eine höhere Bewertung seiner Person zu beanspruchen. Henn Pierentrecker war köstlich. Indianer- und Räubergeschichten gehörten zu seinen wichtigsten Besitztiteln. Er träumte lediglich von Prärierosen, dem Großen Urgeist, von heimgebrachten Skalpen und den weißen Adlerfedern am Orinoco . . . und blieb trotzdem rührselig und leichten Schwankungen des Fühlens und Denkens ausgesetzt, zutunlich und anschmiegend, wie die mächtige Tränenweide neben dem Kalvarienberg auf unserm heimischen Gottesacker. Henn Spettmann, auch Henn Pierentrecker geheißen . . . Das war es ja eben! Den ›Pierentrecker‹ verdankte er seiner klugen Einsicht, lange, fette, rötlichweiße Regenwürmer zu graben, sie über gehäkelte Nadeln zu streifen, um so und vermittelst Gerte und Bindfaden kleine Weißfische und Stichlinge aus einem Wässerchen zu holen, das klar und munter an der Höfkensschen Windmühle vorübergluckerte.

Der dritte und letzte.

Er war gleichsam aus einem grauen und vergrämelten Himmel gefallen, denn er hatte weder Vater noch Mutter, weder die Wohltat einer angenehm zirpenden Lampe durchkostet, noch die, an einem behaglich gespreiteten Tafeltuch seine Beine strecken zu können. Eine bejahrte Tante betreute ihn, eine vermickerte Tante im Armengäßchen, die sich kaum ein- noch auswußte und ihre liebe Not und Arbeit hatte, die nötigen Brotschnitten auf den Tisch des Hauses zu legen. Aber tapfer tat sie ihre Wäschebläue in die Bütte hinein, wusch und reckte das Leinen, bleichte es auf dem jüdischen Friedhof, um es dann feinsäuberlich gestärkt zu ihrer Kundschaft zu tragen . . . und später erst, viel später, als ich die ›Alte Waschfrau‹ von Adalbert von Chamisso kennenlernte, sagte ich mir in wehem und doch glücklichem Erinnern: »So ähnlich wie die ist auch die arme verhutzelte Tante von meinem Freunde Peter Hartjes gewesen.« Und ihren Pflegling – ich sehe ihn deutlich, scharfumrissen, wie mit einem subtilen Pinsel auf ein Elfenbeintäfelchen hingesetzt: ein Mausegesichtchen mit etwas plörigen Mundecken, Haare, wie die eines vom Ammoniakgeist des Stalles gelblich überlaufenen Schimmelpferdchens, und Äugelchen, als hätte ihm der Bäckermeister Ößchen Lüb zwei vive abgezirkelte Korinthen mit einer Konditorspritze direkt unter die sandfarbigen Brauen geschossen. Ach, und wie schön konnte er singen! Wie'n Distelfink, und wenn er in sommerlichen Tagen an irgendeiner Deichlehne auf dem Rücken ruhte, dann vigilierte er in das blaue Gottesparadies hinein, als hörte er von dort aus die seligen Stimmen von Vater und Mutter, die bereits von ihm gegangen waren, als er noch nicht die Einsicht besaß, Licht und Finsternis voneinander unterscheiden zu können.

Mit diesen allen hielt ich treue Gemeinschaft, durchkostete mit ihnen die Miseren und Freuden der Schule, die abenteuerlichen Fahrten zu Wasser und zu Lande, in Ställen und Scheunen, in Hecken und Hägen, was mich aber nicht abhielt, das Wohlwollen und die Geneigtheit des papierenen Aloys bestens zu pflegen.

In seiner Werkstätte fand ich mein höheres Dorado, mein frommes Genießen, denn wenn sich die Papierschnitzel so ganz absonderlich unter dem Messer kräuselten, der Buchbinderkleister meine Sinne umnebelte, Omas Stricknadeln sich kunstfertig gegeneinander drängelten und nebenan der Kanarienvogel eine feindrähtige Wasserrolle herüberklingelte, dann war es mir immer, als glitte eine zutunliche Hand mir sanft und wohlig den Rücken herunter. Und da eines Tages . . . Der Papierene war gerade dabei, einem schadhaften Werk eine frische Montierung zu geben, die Deckelpappen anzusetzen und ein straffes Pergament darauf zu kleben, als er die Rechte darauf legte und mich feierlich, beinahe priesterlich ansah.

Die Stricknadeln der Staatsen verstummten.

Auch der Andreasberger nebenan hielt mit seinem Vortrag inne.

Eine warme Sommersonne, die durch ein Oberlicht in die Werkstätte fiel, streichelte über Aloys fort, über ihn und sein Troddelmützchen, so daß beide vergoldet erschienen.

Dann ein einleitendes Räuspern.

Der Papierene streckte sich in seinen Plüschpantoffeln.

»Jupp,« hub er an, »dieses Buch, das wir die Ehre haben, aufs frische einzubinden und ihm 'nen echten Goldschnitt zu verleihen, ist ein unveräußerliches Eigentum seiner Hochwürden des Herrn Pastors von Sankt Nikolai. Wir begutachten es als das Buch aller Bücher. Neben dem Neuen Testament kann es getrostsam bestehen, denn es wurde von 'nem Landsmann von uns, von Thomas von Kempen, ediert und führt den erhabenen Titel ›Die Nachfolge Christi‹. Jupp,« und in seinen harmlosen Augen, die wie blaue Teetassen in seinem schmalen Kaplansgesichtlein standen, begann es zu leuchten, »studiere bloß fleißig und lerne auf geistlich. Vielleicht wirst du dann auch befähigt sein, 'nen ähnlichen auserwählten Schriftsatz niederzulegen, im Hinblick zu Gott und die ewige Anschauung. Das wäre doch sehr interessant, aber äußerst! Wir selber – wie gerne hätten wir ein solches Büchlein geschrieben, mit all seinen Ermahnungen, Weisheiten und Tröstungen um der Barmherzigkeit willen; aber wie sollten wir können?«

Seine Ansprache verzitterte.

Die Alte hob sich starr und steif in die Höhe.

Schon bei den letzten Worten ihres Sohnes hatte sie die Stricknadeln unwillig gegeneinander gestichelt.

Jetzt legte sie Strumpf und Nadeln beiseite.

»Aloys,« sagte sie heftig, »du bist zwar mein einziger, aber bei Licht besehen: du könntest noch mehr nicht.«

»Mutter, was könnte ich nicht?«

»Das Wichtigste nicht. Die Hauptsache nicht. Das geht immer so weiter, immer in dem nämlichen duldsamen Lassen und Hinnehmen. Oma nennen mich die Menschen, aber bin ich denn wirklich Oma geworden? Mir endlich diesen Ehrentitel zu geben, daran versagst du.«

»Aber Mutter . . .

»Aloys, laß mich. Dein Weib, die Hendrintje, die vom Emmericher Eiland – gelte ist sie bis heute geblieben. Daran ist gar nicht zu deuteln, und wenn das so bleibt, mit dir die Teerlings aussterben sollten, dann ist für mich das ganze Leben bloß Trauer und Arbeit gewesen, kann ich mich bei den barmherzigen Schwestern auf den Altenteil setzen, meine Finger betrachten und sagen, so wie es die unmündigen Kinder in der Gewohnheit haben: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen . . .«

Aloys unterbrach sie. Er machte eine wehe Handbewegung, obgleich das gütige Gesichtchen aus der Schneeeifel noch zu lächeln versuchte, und meinte: »Mutter, kannst du denn keine Ruhe geben im Hause?«

Kopf und Troddelmützchen neigten sich ergeben und still auf die Seite.

Er gedachte noch weiter zu sprechen, allein die Staatse fiel ihm ins Wort, wobei sie ihren Rosenkranz aus der Tasche langte und die Pockholzkügelchen gegeneinander klimpern ließ: »Keine Ruhe geben im Hause . . .?!«

Sie lachte bitter auf. Herausfordernd deutete sie über die Schulter.

»Wegen der da keine Ruhe geben im Hause? So glaubst du? während ich die Ansicht vertrete: Mutter und Sohn zögen toujours an einem und demselbigen Strähmel. Aber nu muß ich sehen . . . Nein, Aloys, da sind noch andere Geschichten, die mir das Leben verbiestern, mir die Tage zu unheiligen machen. Das geht immer so hin und sucht den gestrigen Morgen, ohne den gestrigen Morgen finden zu können. Du solltest dich als Mann erweisen, ihr die verschiedenen Standpünkter klar und deutlich präsent geben, um auf diese Art ihre großartigen Rosinen mit Korinthen zu vertauschen. Das wäre noch was. Du hingegen, du läßt Gottes Wasser über Gottes Ackerparzellen dahinlaufen, ohne auch nur den kleinen Finger zu rühren. Das steht nu schon Jahre um Jahre an, ohne daß ich 'nen anderweitigen Turnus bemerke. Nein, Aloys, das muß einmal hellsichtig zwischen uns werden, zwischen dir und mir und der da vom Emmericher Eiland, denn das, was ich dir soeben anofferierte, ich meine, um es kurz und bündig zu sagen, das mit der ledigen Wiege und den ausgefallenen Kindersächelchen, das, Aloys, so wahr ich hier stehe und dereinstmals hoffe, in die Gnaden und Freuden der heiligen Dreifaltigkeit aufgenommen zu werden – nein, das tut es allein nicht.«

Das Gesicht meines papierenen Freundes verfärbte sich, nahm einen erdigen Ton an.

Die ›Nachfolge Christi‹, die er für ein Kleinod ansprach, die ihm so sakrosankt erschien wie das Tabernakel in der Kirche von Sankt Nikolai, dieses Büchlein nun, dieses gute, treuherzige und mit tiefer Weisheit durchplätscherte Büchlein des hochseligen Thomas von Kempen, umgriff er mit klammen Fingern, hob es auf und pfefferte es, die Weihe des Gegenstandes außer acht lassend, zwischen Kleistertöpfe und Papierschnipsel.

»Was tut's denn?!« fiel es ihm steinern von den Lippen herunter. »Mutter, was tut's denn?! Das möchten wir wissen, ja, das möchten wir wissen, denn schon lange haben wir das Unterbewußtsein: wir sind nicht mehr Herr zwischen unseren vier Pfählen, nicht mehr Herr in unseren ehelichen Pflichten und Angelegenheiten. Da schiebt sich etwas Aufdringliches zwischen uns und Hendrintje, da sehen uns die Tapetenmuster an, als hätten sie Gesichter bekommen, Gesichter, die dem Frieden des Hauses zugrinsen: Was tust du noch hier? Gehe man weiter. Hier wird doch alles zertöppert, kurz und klein und zu Scherben geschlagen.«

»Nanu! Was soll das? Seit wann ist es Mode geworden, 'ner Mutter 'nen Spiegel vorzuhalten? Ausgerechnet – du mir? Das ist ja, um den Schwanz von 'ner Katze zwischen 'ne Kieke zu klemmen und ihr glühendes Pech in die Ohren zu löffeln. Aber ich sehe: es ist schon am besten, die heilige Ölung und den letzten Stups zu empfangen, um mit 'nem kurzen Vaterunser den Widerwärtigkeiten dieses Lebens aus dem Wege zu gehen.«

»Mutter, Mutter . . .

»Ja, es ist schon das beste.«

Sie warf den Kopf in den Nacken, als vernähme sie etwas, das ihr nicht lieb war, zu hören.

Die junge Frau trat ein, begab sich auf die Seite ihres Mannes und sagte: »Aloys, ich brauche das nicht als mein volles Teil zu erachten. Das klebt einem an wie 'ne unreine Sache. Ich bin doch auch nicht von heute und gestern, sozusagen nicht als malproperes Gelumpe vom Spülstein gefallen. Ich als Marienkind kann Ansprüche erheben. Schwarz auf weiß will ich das vorzeigen. Vom Herrn Pastor unterfertigt. Aber es scheint, ich stehe euch beiden nicht an. Ihr wollt mich loswerden. Immer dieses Stoßen und Drängen. Dieses Nörgeln und Bohren. Lieber Mäuse fangen und angestockte Erbsen auslesen, als solches noch länger über sich reden zu lassen. Ihr sucht Ruhe im Hause. So meint ihr. Ich habe gar nichts dagegen, und so denke ich denn, ich packe meinen Kram und mein Eingebrachtes zusammen, um wieder fort zu machen.«

»Du hast wohl auf Werda-Posten gestanden?« versetzte die Alte.

»Na, so was! Das brauchte ich nicht. Da war überhaupt kein Ausspekulieren dabei, denn das konnte man hören, als hätte der Polizeisergeant es ausgeschellt und lauthals gerufen.«

»Du bleibst,« sagte Aloys mit fester Betonung, »denn wir zwei sind gesegnet im Herrn.«

Er legte ihr den Arm um die Taille.

»Was Gott vereinigt, das sollen die Menschen nicht trennen; darin hat sich keiner zu mischen, denn seine Gesetze bestehen für ewiglich. Komm nur, Hendrintje. Wir müssen uns einrichten,« und immer enger zog er sie an sich.

Einen langen und hilfesuchenden Blick warf er auf die ›Nachfolge Christi‹, als bäte er das mißhandelte Buch, ihm zu vergeben.

»Ja, laß alles man gut sein.«

»Wie du meinst,« sagte die Staatse und zeigte ihre blanken und gesunden Zähne, »obgleich ich nochmals feststelle: 'ne richtig gehende Frau ist nicht wie 'ne Zentifolie vor 'nem Edelmannspavillon. So eine amüsiert bloß die Menschen von wegen ihres modischen Aussehens. Die duftet nur und hat 'nen angenehmen Atem zu vergeben, ohne Früchte zu tragen. Aber so'n Obstbaum, so'n ranker und gepflegter, der alljährlich seine vollgemessene Portion Äpfel abwirft, fest und kernig, ohne 'nen ekligen Kitsch drin, meintswegen 'ne späte Kalville oder 'ne graue Reinette mit kurzen Stielen und rundbemessenen Backen, so was erfreut die Herzen von allen, die davon 'ne nachweisliche Ahnung besitzen. Und wie das mit die Zentifolien und die Obstbäume ist, so ist das genau so mit die verschiedenen Frauenspersonen. Aber wenn sie dir recht ist, ich meine Hendrintje« – und sie raffte herrisch Strumpf und Stricknadeln zusammen – »dann natürlich, dann habe ich weiter gar nichts zu sagen. Bloß das noch, bloß das mit dem Besenstern, hingesetzt und festgelegt, um Gottes Willen und Strafe unter die Menschen zu tragen.«

Sie hob sich in ihrem mageren und ausgemergelten Körper.

»Ihr denkt wohl, der schiebt ab, ohne sich groß um uns Würmer zu kümmern. O ihr Armen im Geiste! Gewißlich, er reist immer weiter den geöffneten Toren des neuen Jerusalems zu, aber sein Zweck und seine Bewandtnis sind auf dieser Erde geblieben, um wahr zu machen, was die göttliche Botschaft verkündet. Der fährt den lässigen und üppigen Weibsbildern unter die Röcke, daß ihnen die Brunst genommen wird, wie sie den brünstigen Kamelinnen genommen wird in der heidnischen Wüste.«

Hierauf langte sie nach ihrem Krückstock.

Erhobenen Hauptes verließ sie die Werkstätte.

Aloys sah ihr nach, als habe er für immer die Mutter und die Mutterliebe verloren. Seine schmalteblauen Augen, die nach innen zu blicken schienen, gingen ihr nach. Ein Herbes und Bitteres stieg in ihm auf. Kaum vermochte er ein Schluchzen zu verheimlichen.

»Das war häßlich,« sagte er still für sich hin.

Große Tränen liefen ihm über die Wangen, über das hagere Kaplansgesichtlein aus der tiefsten Schneeeifel, wo selbst die harten und eigenwilligen Fichtenbäumchen enger zusammenrücken, um doch ein bißchen, wenn auch nur ein ganz kleines Tiftelchen von Wärme zu finden. Dabei bewegte er die Lippen, als wenn er noch irgend etwas zu sagen hätte.

Allein der papierene Aloys hatte nichts mehr zu sagen. Er beanspruchte für sich die Rolle des heimgesuchten Mannes im Lande Uz. Er sprach nicht wie dieser, aber er dachte wie dieser: »Nackt bin ich aus dem Leibe meiner Mutter erschienen. Nackt werde ich zur Erde wiederkehren. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen. Der Name des Herrn sei gebenedeit.«

Der Kanarienvogel im Nebenzimmer hub aufs neue an, seine anmutige Weise aufzunehmen und weiter zu spinnen.

Da aber drehte Aloys seinen Hals aus dem Kragen heraus, wie den einer Krähenscharbe, wischte sich über die Augen und sagte: »Wir verstehen das nicht und begreifen das nicht. Was die Mutter nur mit dem Besenstern wollte?!«

»Und das mit der brünstigen Kamelin in der heidnischen Wüste! Bei Gott! ich verlange ja nicht, als Dame estimiert zu werden. Aber mich auf den Altenteil der nichtsnutzigen Weiber setzen zu lassen, die dem lieben Gott das Licht fortstehlen oder nach andermanns Federposen vigilieren, hat niemals in meinem Katechismus gestanden.«

Die junge Frau wimmerte auf.

»Ach – du . . .

Ihr voller und doch geschmeidiger Leib strebte ihm entgegen. Die Brust stürmte. Mit jähem Schrei warf sie sich an ihn, schlang ihre Arme um seinen Nacken: »Ja, was die Mutter nur hatte, mich so auszuklinken, mich für'n hergelaufenes Freiwild zu halten, wo ich doch allzeit nach Lauge und properer Wäsche rieche und immer drauf halte, mich dir so bekömmlich wie nur möglich zu geben?! Das ist doch die Höhe!« und sie weinte bitterlich.

Mir wollte das Herz auseinander.

Zögernd kam ich aus meiner Ecke heraus, in die ich mich vor eitel Weh und Fürchten hineingedrückt hatte.

Mit Tränen in der Stimme nahm ich die Hand meines Freundes und sagte: »Das mit dem Besenstern und das mit der Kamelin in der Wüste, das stimmt nicht. Das verhält sich ganz anders.«

»Wie kommst du darauf?«

»Das sagte mein Vater.«

»Und was meinte er denn?«

»Ja,« fing ich an, »da lebte mal ein großmächtiger Sultan. Der war eitel Pracht und Leuchten und Scheinen . . . und wohnte in Bagdad . . . und nannte sich Harun al-Raschid.«

»So?!«

Hendrintje wandte den Kopf.

Sacht hatte sie sich aus den umstrickenden Armen gelöst.

Die nußbraunen Augen, die mir wie dunkler Samt erschienen, ruhten auf mir, als müßten sie mir etwas Liebes und Gutes von den Lippen nehmen.

»Ja,« sprach ich weiter, »dieser Kalif nun ritt von morgens bis abends auf seinem milchweißen Pferd, um nach dem Wohlbefinden seiner Untertanen zu sehen. Und weil er so gut und erhaben war, so versetzten sie ihn, als er die letzte Ölung empfing und sich ein Sterbehemd anziehen mußte, unter das Himmelreich, als 'ne Bekundung dafür: es gibt doch noch gerechte Emirs und Könige auf dieser Erde. Da fliegt er nun herum mit seinem goldgestickten Turban, bald diesseits, bald jenseits der Sterne . . . herrlich anzusehen . . . und zieht einen langen, silberstreifigen Reiherbusch hinter sich her . . . und ist bloß der Sultan Harun al-Raschid aus Bagdad . . . und hat gar nichts mit 'ner Kamelin oder so was zu schaffen. Und was Oma gesagt hat . . .«

»Ach du . . .!« jauchzte die Erlöste auf, »wie lieb und klug du bist, wie schön dein Vater solches erzählt hat!« und sie hob mich auf, drückte mich an sich und preßte mir einen langen Kuß auf die Stirne.

Durch ihre leichte Bluse hindurch fühlte ich ihren starken Leib, ihr heißes Blut und alles das, was ein stolzes und herbes Weib an sich hat, die Sinne glücklich zu machen.

Der Papierene aber nahm die ›Nachfolge Christi‹, streichelte das Buch mit linder Hand, lächelte bittersüß und sagte: »Seliger und lieber Thomas von Kempen, vergib mir, vergib mir um der Barmherzigkeit wegen!«

Der Andreasberger sang dazu seine köstlichste Strophe.

Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr, so kraus und wirbelsüchtig lief es mir über die Nieren. Aber ich weiß noch, daß ich mich in die Büroräumlichkeiten meines Vaters begab, woselbst die Sekretäre an schwarzen Pulten saßen, eifrigst dabei, schnurgerade Zeilen über blütenweiße Kanzleibogen zu kritzeln, daß ich einer gewissen Ecke zusteuerte, um hier entwertete Stempeloblaten und Freimarken aus den Papierkörben zu angeln.

Das feine Ziehen und Psalmodieren der Federn beruhigte meine Sinne.

Eifrigst raschelte ich in den abgelegten Kuverts und Schnipseln herum.

»Pst, pst!« mahnte der Bürovorsteher, ein würdiger Herr mit Ärmelstauchen und Haaren wie weißer Adlerflaum, als wäre ihm eine Schneehaube über Kopf und Ohren gestriegelt.

»Pst, nicht so laut!« sagte er freundlich und deutete mit seinem Gänsekiel auf das Kabinett meines Vaters, dessen offenstehende Türe freien Einblick gewährte. »Hierneben wird gerade 'ne wichtige Urkunde getätigt. Testament oder so. Ich bitte, ich bitte. Quod notamus lex est.«

Ich hielt den Atem an.

Geraume Zeit hindurch vernahm ich ein gedämpftes und gleichmäßiges Vorlesen.

Dann wurde die Stimme lauter und eindringlicher.

Es war die meines Vaters.

Deutlich klang es mir zu: »So geschehen in der Amtsstube des instrumentierenden Notars und am Tage wie eingangs gemeldet.«

Er legte die Feder beiseite und sah über das Schriftstück seinen Klienten an.

»Ist das so richtig?« fragte er mit weicher Betonung.

»Jawoll! Ganz richtig. Es stimmt auf den Knopp,« erwiderte einer überbrüstig aus seinen steifen Vatermördern heraus. »Wie ich mir das ausspekuliert habe, so ist das Testamentum nu niedergelegt worden, freiweg und wie auf 'ner blanken Chaussee, denn ich sage mir immer: Haus und Hof, Horn und Huf, Ochs und Esel und alles, was sich in der Familie befindet, muß auch in der Familie dauern. So, Herr Notar, kann der bäuerliche Besitz nur im Flotten und in floribus bleiben, und wenn der Herr Pastor auch diesentwegen lamentiert, daß ihm hierdurch die fette Niederungsparzelle am Kalvarienberg aus den Fingern gespielt wird, ich kann's nicht ändern, denn jedermann ist sich selber der nächste, sozusagen sein eigener Vormund und Sachwalter. Fromme Versprechungen und Anweisungen auf die Ewigkeit habe ich niemals in besondere Beachtung genommen. Rosenkranzlitaneien, dito Schenkungen für Kirche, Küster und Seelenmessen tun es allein nicht. Auch ohne selbiges hoffe ich selig zu werden. Erst ein rundes Testament auf Leben und Sterben, dann erst das andere: 'n kurzes Gebet und 'ne ausgewachsene Mettwurst. Punktum! Es soll so bleiben. Ich bin zufrieden mit dem, was Sie aufgesetzt haben.«

»Dann bitte ich darum, unterschreiben zu wollen.«

»Soll geschehn, Herr Notar,« und der Testator malte mit steilen, widerborstigen Buchstaben sein »Jakob Naaths, Gutsbesitzer auf dem Entenbusch, gelegen in der Wisselward« unter die Urkunde.

Die beiden Zeugen Heinrich Hübbers und Gert Liffers taten ein gleiches und entfernten sich dann, nachdem ihnen der großspurige Niederungsbauer noch einen harten, blanken Speziestaler in die Hand gedrückt hatte.

Der würdige Herr zog hierauf ein buntgewürfeltes Nastuch aus seinem flohbraunen Rock und schnäuzte hinein, als gölte es, eine helle und laute Fanfare zu blasen.

»So, Herr Notar, der Aktus wäre jetzt fertig, und wenn Sie nichts dagegen haben, dann käme ich vor Tores Schluß mit so 'ner kleinen Bitte gehumpelt. Nichts für ungut, aber würden Sie mir wohl die große Ehre erweisen, mich so'n bißchen expektorieren zu lassen?«

Seine Kulpsaugen stülpten sich vor. Das kupferige Gesicht strahlte, und selbstgefällig fuhr er sich durch den ergrauten Quäkerbart, der sich wie ein steifer Taukranz von Ohrläppchen zu Ohrläppchen hinzog.

»Nu, Herr Notar, würden Sie meiner Bitte entsprechen?«

»Wenn's in meinen Kräften steht – gerne,« sagte mein Vater und legte die getätigte Urkunde beiseite.

»Na denn . . .« mit diesen Worten holte der vierschrötige Herr sein Anliegen gediegen und tief aus der Beiderwandweste, wobei sein Burgundergesicht gönnerhaft aufleuchtete. »Wenn Sie's nicht übelnehmen, so möchte ich mir gestatten, folgenden Vorschlag zu machen, bloß so propter la tant und sonder Verbindlichkeiten. Sie, Herr Notar, haben ja wohl so'n auserwähltes Stück von 'nem kapitalen Jungen im Hause; ich desgleichen dito ein piekfeines, extraordinäres Lämmelböckchen im Stalle, Heidschnucke mit Merinoeinschlag. Ich sage man bloß: auch'n kapitales Stück von 'nem prächtigen Tierchen, und das möchte ich gern dem Bengel als Präsent offerieren.«

Damit erhob er sich in seiner Breite und Selbstgefälligkeit und legte erwartungsvoll die Hände auf den Rücken.

»Einverstanden,« versetzte mein Vater. »Der Junge wird sich freuen, denn so was ist für ihn nicht alle Tage zu haben, und wenn nun auch mir ein Wörtchen erlaubt ist, Herr Raaths, so möchte ich fragen: Wann soll das Böckchen abgeholt werden?«

Der generöse Spender dachte nach.

»Ja so!« meinte er schließlich, »wenn's paßt: morgen zwischen neune und zehne.«

»Gut! ich schicke also den Schlingel, und Heinrich Hübbers soll mitgehen.«

Mein Herz pupperte auf.

Neben mir griemelte der Bürovorsteher vergnügt vor sich hin, ohne dabei von seinem gestempelten Aktenbogen aufzusehen; desgleichen der erste Sekretär, desgleichen der zweite. Auch der kleine Rollenabschreiber, im gewöhnlichen Leben ›Schittbox‹ geheißen, der Sohn der emeritierten ›Schittbox‹, die unter dem heimgegangenen Notarius Lenz ihre büroliche Laufbahn begann und beendete – ein Kerlchen mit lusen Ohren und spitzem Muffelgesichtchen, kicherte los, spießte eine langsam dahinwandelnde Fliege auf seinen Gänsekiel und flüsterte mir zu: »Fein das! ich möchte auch so 'nen Lämmelbock haben.«

Mein Vater fuhr fort: »Es paßt sich auch gerade; die Jungen haben morgen ›hitzfrei‹, Beneficium caloris, wie es die Lateiner benennen.«

»Abgemacht und Sand auf den Schriftsatz,« lachte Jakob Raaths aus dem Entenbusch, hielt noch meinem Vater die Hand hin und zog dann breitbeinig dem ›Waldkarnickel‹ zu, woselbst er ausgespannt hatte, schlug auf den Wirtstisch, wie ich später erfuhr, und ließ sich eine Bouteille ›Langkork‹ aufstöpseln, um, wie er sagte, den heutigen Tag honorig zu begehen, dazu der hohen Freude Ausdruck zu geben, sein Hab und Eigen auf Leben und Sterben gesichert und dem Pastor von Sankt Nikolai mit der fetten und mulmigen Ackerpalzelle am Kalvarienberg ein Schnippchen geschlagen zu haben.

»A votre santé!« rief er die Spießbürger an, die an den Nebentischen saßen, kannegießerten oder sich bei einem mageren Gläschen Dünnbier auf eine angenehme Weise die Vesperstunde vertrieben. »Achtung! der vom Entenbusch hat Mist an den Füßen, gediegenen Stallmist, und wo Mistus, da buttert's! Prosit, Mynheers! Heda, Wirtschaft! den Herren drei Bouteillen Rotspon, aber vom besten!«

»Merci, Herr Raaths!«

»Hier ist gar nichts zu danken. Es ist gerne und mit Andacht gegeben. A votre santé!«

»Merci und abermals merci!«

Bald darauf karriolte er wieder in seinem blaulackierten und lustigen Schäschen, in dessen Gabeldeichsel ein gediegener Percheron trabte, aus der kleinen niederrheinischen Stadt, fuhr den mit stocksteifen Pappeln bordierten Kommunalweg entlang, an der Ziegelei und der großen Mergelgrube vorüber, dem eine gute Meile entfernt gelegenen Rhein zu, wo sich sein nicht unbeträchtliches Anwesen unmittelbar an die breitausholende Deichflanke lehnte: der reiche Besitz, bestellt mit Scheunen und Remisen, Äckern und Wiesen, überschaukelt von einem kräftigen Brotgeruch und dem urgesunden Arom aus den langgestreckten Hürden und Schafställen.

Gott segne den braven Jakob Raaths aus dem Entenbusch!

Ich war rein vor den Kopf geschlagen, taumelselig, von himmelanstrebenden Erwartungen in einen brausenden Tobel geworfen und konnte vor eitel Herzensfreude kaum den andern Morgen erwarten. Dazu noch die überwältigende und köstliche Aussicht: Heinrich Hübbers soll mitgehn – Heinrich Hübbers, dieser schleppsäbelführende Nachtwächter, dieser Inhaber eines fünfundzwanzigpfündigen Leibrockes mit zinnernen Knöpfen, der Träger einer echten Otterfellmütze! O Gott, o Gott, o Gott! Das war zu viel des Guten, zu viel des Glücks in einer und derselben Kasserolle zusammengemengselt.

Wie ein Heupferdchen geigte ich meinen überirdischen Zustand in den Abend hinein, über meinen abendlichen Hirsebrei mit Kandiszucker hinaus und war noch am Geigen, als bereits die Sterne wie feine Nadelspitzen aus dem blauen Kattun des Firmamentes hervorstichelten.

Großartig und über alles Erwarten! und noch im Schlafe traten mir Jakob Raaths, der geschenkte Hammelbock und Heinrich Hübbers vor die erregten Sinne. Ich wurde sie nicht mehr los. Sie verkörperten sich. Immer schöner und verklärter sahen sie in meine Traumwelt hinein. Schließlich trugen alle für mich einen Heiligenschein: Jakob Raaths aus dem Entenbusch, Heinrich Hübbers, auch das Lämmelböckchen. Es thronte zwischen den Wolken mit einem goldenen Vlies, mit einem leuchtenden Fähnchen. Und alle winkten mir aus ihrer Gloriole heraus und riefen mir zu: »Also bis morgen!«

 


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