Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Zwanzigstes Kapitel

Kanaille . . .

Moritz murmelte es vor sich hin wie das Murren und Grummeln eines aufsteigenden Gewitters.

»Aber dann – nachher: aufbrechen werden die Wasser aus der Tiefe, wie Moses erzählt, und auftun werden sich die Fenster des Himmels . . . und das geht einem 'runter wie 'ne Bouteille Burdo, aber eine mit Spinnweben, bezogen von Dores Kuypers am hintern Stammtisch. Aloys, sagtest du was?«

Nein, Aloys hatte gar nichts gesagt.

Ohne noch ein Wort weiter zu sprechen, rollten sie die lange Kesselstraße auf.

Bloß das noch, als die Schmiede auftauchte: »Stolze Erinnerungen werden es bleiben, müssen es bleiben, wenn wir unsere Gesandtschaft hinter uns haben.«

Dann nichts mehr. Die harten Schritte verfingen sich zwischen den niedrigen Häuserzeilen. Der von Moritz hörte sich an wie der eines Riesen aus Brobdingnac, schütternd, mit dem lauten Hallen von Schiffsplanken . . . und der Getreueste aller Getreuen gewahrte mit Staunen, daß sein Partner immer freier und offener wurde, je näher sie dem Ziele kamen, je kürzer sich die Minuten drängten, bis sich die Stunde des Tages erfüllte.

Wenige Leute begegneten ihnen.

Die meisten saßen beim Vespern.

Nur Schwalben, die ersten Schwalben des Jahres!

Jetzt war es so weit.

Vor der Schmiede präsentierte sich der aus Holland importierte moderne Schwingpflug, die Messer blank, die übrigen Teile in blauer Farbe gehalten. Die Reklame fiel auf.

»Haha!« sagte Moritz.

Er stierte in das Düster des Raumes hinein. Nur ein mageres Feuerchen glimmte auf der Esse. Im übrigen: kein Meister, kein Gesell, kein gar nichts.

»Also leer! Dann man weiter. Ich kenne mich aus. 'ne richtig gehende Ratte hat verschiedene Löcher.«

Sie begaben sich zur Haustür.

»Halt!« sagte der Riese »hier wird Schutt abgeladen, Schutt und Scherben, mit denen so'n unhonoriger Kerl 'nen properen Garten versaute. Also angtree!« und dann zu Hübbers: »Ihr bleibt . . . Ihr steht auf Schnarrposten . . . uns zu Gefallen und unserer Mission zuliebe. Wir können keine Störung gebrauchen.«

»So propter und prätorius – ganz meine Auffassung.«

»All right!« Sie traten über die Schwelle.

Totenstille empfing sie. Die Alte war auswärts, hatte sich während des Verschwindens ihres Drückebergers bei ihrer Tochter in Aldekerk eingetan, um den Verlauf der Dinge von hier aus zu beobachten und abzuwarten.

Bei dem Dröhnen der festen Schuhe erschien eine hagere Person in der Tiefe des Ganges. Sie war aus der Nachbarschaft. Der Kröllige hatte sie bis zur Ankunft der Mutter für vierzehn Tage verpflichtet.

»Wer ist da?« fragte sie mit quäkender Stimme.

»Moritz und Aloys Teerling. Ist Giltjes vorhanden?«

»Zu dienen. Im Stübchen. Er vespert. Kann ich sagen, wer da ist?«

»Nicht nötig. Das besorgen wir selber.«

Sie tappten über die Fliesen, dann über etliche knarzende Treppenstiegen.

Sie wußten Bescheid.

Die erste Tür zur Linken, die war es, die führte ins Rattennest.

Nöllecke Giltjes saß zwischen den Binsen, im Schurzfell, die Beine unter den Tisch gestreckt, 'ne dicke Bouteille Ollen Klaren in Reichweite, ein halbgeleertes Schnapsgläschen vor sich und 'ne brennende Zigarre zwischen den Zähnen.

Er sielte sich in Zukunftsplänen. Mit dem eingeführten neumodischen Pflug hoffte er Geschäfte zu machen. Die Bauern in der ganzen Niederung glaubte er in der Tasche zu haben. Sie mußten Order parieren. Kusch dich, allong! Ohne sein erworbenes Patent war die hiesige Ackerwirtschaft kaum noch ertragsfähig, konnte gegen die holländische Konkurrenz nur kläglich bestehen. Daran dachte er jetzt. Er sah, wie ihm die Speziestaler und Goldfüchse in die Fäuste hineinklimperten. Großartig sollte es werden. Respekt sollten sie haben – alle seine Neider und Verkleinerer. Eine Laterne wollte er ihnen anstecken, die man so in die verdammelten Köpfe hineinleuchtete. Gesellen waren anzuwerben, Gesellen und Lehrlinge, die Schmiede war zu erweitern, mit neuzeitlichen Gerätschaften auszustatten, um allen Anforderungen der umliegenden Grundbesitzer und der kleineren Betriebe Genüge leisten zu können. Das mußte knappen und knallen mit der Präzision einer Fliegenklappe. Die vom Niederrhein sollen Augen machen, Augen wie Teetassen. Er wollte mal sehen, ob sie ihm nicht wie gierige Hühner aus den Händen fressen würden – und zwar als noble Hühner: reinrassige Spanier, Andalusier, mit rotem Gesicht und schieferblauen Läufen, Brahmaputraviecher, auch echte Bauernhühner und bergische Kräher.

Seine Pläne machten ihn wirbelsinnig, gingen ins Ungemessene, schlugen eine Volte über die andere.

Er streckte die mächtigen Glieder, daß sie knackten.

Sein hartes Schurzfell rappelte lautmäulig.

Er war mehr als zufrieden.

An Hendrintje dachte er kaum noch, an all die Tränen nicht, an all das Elend nicht, was er hinterlassen hatte, als er sich in einen abgelegenen holländischen Winkel drückte, um dort seinen Kopf nach Art des Vogels Strauß in ein Sandloch zu schieben. Fort damit! Erst gestern abend wiedergekommen, hielt er die ganze dumme Geschichte für abgetan, für verjährt, für eine mit einem Stein beschwerte und ins Wasser geworfene Katze. Nur noch einige Blasen röchelten aus der Tiefe auf, zerplatzten an der Oberfläche . . . nichts weiter. Hendrintje war hin. Lange Kirchhofsschwaden wehten auf den geworfenen Schollen. Die deckten alles Geschehene mit dem dunklen Wispern des Vergessens zu.

»Mir kann keiner was wollen!«

Er leerte sein Gläschen und machte Anstalten, sich aus den Lehnen zu wuchten, denn das Feuerchen auf der Esse mußte aufgemuntert werden. Seine Stimmung wurde immer glorioser, immer ausgreifender. Er hatte einen eigenartigen Bolzen erfunden. Den wollte er ausprobieren.

»Also 'ran ans Geschäft!«

Er kam nicht dazu.

Er klebte an den Binsen.

Die Tür wurde aufgerissen.

Moritz und Aloys erschienen.

»Nanu!«

Er warf sich im Sessel zurück.

»Ihr?! – ohne anzuklopfen?!«

Der Riese trat vor.

»Brauchen wir nicht. Wir haben uns das ›Herein‹ selber zugestellt und gegeben.«

Auch 'ne neue Manier, andermanns Dreck in andermanns Haus zu tragen. Aber ich denke: ungebetene Gäste sind manchmal willkommene Gäste. Setzt euch!«

»Nicht nötig. Was wir zu verhandeln haben, wird im Stehen verhandelt. Wir danken für jede Invitierung. Auch für die Stühle. Wir würden uns bloß den Hosenboden verschweinigeln.«

»Dann bleibt stehn, wo ihr steht.«

»Merci. Bedarf keiner Aufforderung.«

Nöllecke stierte sie sprachlos an.

»Was wollt ihr denn hier?« sagte er schließlich.

»Darüber wird Aloys berichten.«

»Berichten?! Unsinn, verfluchter! Hier ist kein Geschäftslokal. Ich verbitte mir das. Außerdem: ich mache mit euch keine Geschäfte.«

»Das haben wir zu bestimmen.«

»Verdammich! Ich bedinge mir 'nen anderen Ton aus.«

»Hilft nichts. Wir sind nu mal auf diesen Ton gestimmt. Der muß ausgespielt werden.«

Nöllecke ballte die Fäuste. Blieb aber sitzen, wie angeschmiedet.

»Also Überfall, 'n regulärer Überfall oder Erpressung!«

»Nee,« sagte Moritz. »Keines von beiden. Daran hat niemand gedacht. Blexem! selbst wir nicht, obgleich's an der Zeit wäre, 'ne stramme Faust auf 'ne ausverschämte Visage zu drücken. Nee, mein Sohn, wir kommen bloß in ehrlicher Absicht. Nur so 'ne kleine Geschichte . . . 'ne unbeglichene Rechnung. Das Konto muß klargestellt werden, und das soll heute geschehen. Aloys, mach' deine Sache.«

Da begab sich der Aufgerufene dicht an den Tisch heran, dicht neben den Lehnstuhl.

Papier, Tinte und Feder deponierte er dort.

Auge stand gegen Auge.

Er begegnete einer eisernen Stirne, einem verächtlichen Lächeln.

»Na, los denn dafür, obgleich ich darüber nachsimuliere, von meinem Hausrecht Gebrauch zu machen oder euch reden zu lassen.«

»Lasse man reden,« fiel der Riese ein, »das ist für beide Parte der bekömmlichste Ausweg. Mit dem Hausrecht läßt sich man wenig anfangen. Das brächte dich noch mehr in die Nesseln. Das wollen wir nicht; denn wir sind im großen und ganzen trätable Kostgänger.«

Er legte seine Hand auf die seines Freundes.

»Aloys, nu aber mach' deine Sache.«

Dieser nickte, und mit beherrschter, straffer und eindringlicher Stimme begann er: »Nicht aus Totenverehrung stehen wir hier, sondern aus Reinlichkeitsgefühl. Daß wir so lange damit im Rückstand bleiben mußten, war nicht anders zu machen. Die Schuld liegt nicht an uns. Für das Aufscheuern waren zwei vonnöten. Der eine jedoch hielt es für angezeigter, sich abseits zu drücken. Das soll hiermit festgelegt werden.«

Nöllecke stierte ihn an.

»Schwerebrett und kein seliges Ende! wo ich dabei war, den neuen Pflug in Schwung und Schwänke zu bringen, mich großartig herauszumustern, da kommt so'n Knaster daher, um mich in die Wicken zu jagen?! Aber ich sehe: der abgelederte Rummel soll wohl aufs neue aufgefrischt werden!«

»Was – Rummel?!«

Moritz griff ein.

»Ruhe!« gebot er. »Hier in diesem noblen Hause wird nicht durcheinandergekegelt. Alles der Reihe nach. Das ist von jeher meine Liebhaberei gewesen. Erst Aloys. Er hat was zu sagen. Ist er fertig damit, dann du, heißt das, wenn wir dir hierzu Erlaubnis erteilen und unseren Stempel darunter setzen. Sonst wird dir das Mundwerk abgeknöpft. Ich spreche doch deutlich?«

»Ganz deutlich,« grinste Nöllecke ihn an. »Also man weiter. Ich höre.«

Er schob sich knarrend in den Sessel zurück und legte die klobigen Hände zusammen.

»Ich höre, ich höre.«

Dann Stille. Das ausgestorbene Haus legte sich ein Sterbehemd zu. Nur draußen vernahm man Hübbers mit derben Schuhen auf und ab patrouillieren.

In diese Stille hinein sprach Aloys mit klarer und vernehmlicher Stimme: »Wer auf Ehre hält, wandelt durch Licht, wer sie hintansetzt, verfault bei lebendigem Leibe. Wir wollen nicht bei lebendigem Leibe verfaulen, und da mir ein Abwegiger 'ne Portion Unehre auf den Leib pfropfte, bin ich willens, mir diesen Krebs aus der beigebrachten Wunde zu schneiden. Der Erreger dieses Krebses aber sitzt da, da in dem Lehnstuhl, bei der Schnapsbouteille, den Zigarrenstummel abgelegt, die Hände gefaltet, sorglos wie ein Mann, der sein Leben lang die Gesetze des Herrn beobachtete und seine Werkeltage honorig beendete. Aber dieser Mann . . . Von ihm ging der Krebs auf mich über . . . verpestete mich . . . verpestete meinen Herd . . . verpestete . . .«

»Kein Wort mehr!« Giltjes fuhr steil in die Höhe, die Knöchel auf dem Tisch, die Blicke, die fast nur ihr Weißes sehen ließen, wie im Irrsinn auf die seines Gegners gerichtet.

»Mensch – du! Kein Wort mehr, oder ich vergesse mich selber.«

Das erstarrte Auge schweifte ab, suchte herum, nach irgendeinem Gegenstand, nach irgendeiner tauglichen Waffe.

»Sitzen bleiben und schweigen,« herrschte der Riese ihn an. »Wir haben dir doch das Mundwerk verboten. Das wird nicht zurückgenommen. Unter keiner Bedingung. Wir sind zwei gegen einen.«

»Hausfriedensbruch . . .

Nöllecke sackte zurück, mit bebenden Mundecken, mit knirschenden Zähnen, willens, auszubrechen oder das erstbeste Gerat seinen Bedrückern über die Schädel zu hämmern.

Und zum dritten Male das ermahnende: »Aloys, mach' deine Sache.«

»Und dieser Mensch – mit brutaler Faust hat er in mein Familienleben getastet . . . mit Fäusten, so gemein wie nur möglich . . . hat den Leib eines jungen Weibes entweiht . . . ihm verbotene Früchte zu kosten gegeben . . . ihm gewissermaßen nahegelegt: Schere dich mit der Frucht deiner Sünde zu den Engeln im Himmelreich. Da bist du aller Schande enthoben.«

Immer härter fielen die Schläge.

Aloys ging über sich fort.

»Und dann die Hauptsache! Wir wiederholen zum andern: Wer durch Ehre geht, wandelt durch Licht, wer sie hintansetzt, verfault bei lebendigem Leibe. Wir aber wollen nicht bei lebendigem Leibe verfaulen. Der Krebs muß herunter, noch heute, in sofortiger Stunde. Reine Bahn wollen wir haben. Durch Licht wollen wir gehen, uns nicht mit dem Dunkel der Fledermäuse begnügen.«

Jetzt stürmte sein Atem.

Er fuhr fort: »Ich dachte mir erst – die blanke Waffe, die tut es. Stirn gegen Stirn und Stahl gegen Stahl. Das hat mir Moritz ausgeredet und das von Rechts wegen ausgeredet, denn das mit dem ›Stirn gegen Stirn und Stahl gegen Stahl‹ ist nur bei einem ebenbürtigen Gegner zulässig. In diesem Fall jedoch ist das anders und besser auszumünzen, verständiger, den obwaltenden Umständen gegenüber sachlicher und erschöpfender.«

Er nahm den Schriftsatz, entfaltete ihn und ließ ihn wieder herunter.

»Durch das hier auszumünzen. Papier, Feder und Tinte sind da, und bevor es nicht unterschrieben ist, gehe ich nicht von der Stelle.«

Giltjes lachte ihm hell ins Gesicht.

»Du und der Teerquast – ihr seid wohl aus 'nem Narrenkasten gesprungen?! Bevor man die Pfote ansetzt, seinen Namen hergibt, muß einem der Wisch mit seinem Inhalt erst vorgelegt werden. Wir sind doch nicht von heute und gestern. So schnell schießen die Preußen nicht und Nöllecke Giltjes erst recht nicht. Der Satan soll euch frikassieren. Bleibt mir mit eurer Wichtigkeit und eurem dämlichen Brimborium vom Halse.«

Er schlug auf den Tisch, daß die Bouteille aufhoppelte.

»Hier ist mein Haus und mein Tempel, und drin habe ich zu befehlen.«

Er streckte die Hand aus.

»As't üh belieft, da ist das Zimmermannsloch, groß genug für Kerle, wie ihr seid.«

»Maulwerk gehalten oder Faust und Visage kommen zusammen. Aloys, lies vor!«

Und Aloys las vor, sachlich, mit scharfer Betonung jedes einzelnen Wortes: »Ich, Arnold Giltjes, Schmiedemeister dahier, gebe zu und bekenne: Ich habe gefehlt in Worten und Werken . . . bin eingebrochen in andermanns Ehre und Eigentum . . . habe mich hingelegt wie'n Tier, um andermanns Weib zu beschnüffeln . . . einer bis dahin ehrsamen Frau das Heiligtum aus der Brust gestohlen . . . ihren Leib in Schande gebracht . . . sie bis dahin getrieben, daß sie nicht mehr anders konnte und wollte, als Schluß mit ihrem drangsalierten Leben zu machen. Das gestehe ich ein und gebe es zu, so wahr ich ein Lump bin.«

Nöllecke Giltjes erhob sich, die gekrampfte Rechte um den Flaschenhals, die Augen rot unterlaufen.

»Hand von der Pulle!« donnerte Moritz. »Wir sind noch nicht fertig.«

Er trat näher heran, dicht an die Seite des Aufgestolperten. Und wieder das dumpfe, schwere und unerbittliche: »Aloys, mach' deine Sache.«

»Weil es so ist, so wahr mir Gott helfe«, rang es sich ernst und fest durch das Zimmer, »weil ich räudig bin an Leib und Seele, weil ich moralisch die Luft verpeste, die um mich hersteht, gelobe ich hiermit: Binnen vierundzwanzig Stunden bin ich nicht mehr dahier . . . habe ich die Stadt im Rücken . . . suche ich anderwärts unterzukommen, ohne auch nur noch den Kopf über die Schulter zu drehen. Ich erkenne das freiwillig an und verpflichte mich hiermit: erst nach Anfrage, ob es genehm ist, bitte ich um der Barmherzigkeit wegen und nach reuiger Buße darum, wieder Einkehr halten zu dürfen. Darüber müssen fünf Jahre vergehen. Aber der ›Lump‹ wird nicht gestrichen. Vorgelesen, genehmigt . . .«

Ein Schrei durchriß den Schlußsatz, ein Geheul wie das eines gepeinigten Tieres hinter Eisenstangen.

»Verdammich! ob Lump oder Nichtlump, es wird nichts unterschrieben!«

Die Schnapsbouteille stand zwischen Diele und Decke: der gläserne Tod, bereit, niederzuklirren.

Eine stählerne Faust fuhr dazwischen, und diese Faust saß an einem stählernen Arm, und dieser Arm war Moritz sein Eigentum.

»Hundsfott, infamer! 'runter damit! Gegen geifernde Kinnladen und Schnapsbouteillen gebraucht man die Faust. Hier ist sie, dir dicht vor der Nase. Entweder oder! Entweder du unterschreibst, aber sofort, oder das wird mobil. Hier – das hier! Das steht wider dich auf . . . stößt dir das Genick ab . . . bringt dich nach Kleve,« und im Handumdrehen hatte er ein Zeitungsblatt aus der Tasche gelangt, den ›Kreisanzeiger für Stadt und Land‹, ihn auseinandergefaltet, auf eine Stelle getippt, groß gedruckt und mit fetten Lettern.

»Hier steht es . . . schwarz auf weiß. Du kennst es. Brauchst nicht erst lange zu lesen. Aber ich sage dir . . . bloß der Auffrischung wegen: Dänischer Krieg . . . Bestechung der Musterungskommission . . . drei wurden verurteilt . . . auch der Bezirksfeldwebel . . . haben zwei Jahre Zuchthaus zu fressen. Nur du nicht . . . ein Kerl wie du . . . ein Bulle mit Nerven wie Stricke. Aber kein Denken dran. Du fandest Mittel und Wege . . .«

Die Flasche polterte nieder, zerklirrte am Boden.

»Wa . . . was . . .?!«

Giltjes torkelte in die Binsen zurück.

»Mensch, das geht dir so glatt von der Leber herunter?«

»Glatt und direkt. Aber hoho! Dich packten sie nicht. Der Fuchs blieb im Bau . . . schnürte dann ab. Der lumpige Feldwebel hält's Maul, um nicht noch weiter in Morastus und Mistus zu kommen. Hundert Taler, die machten's . . . hundert Speziestaler . . . Dafür hast du deine Knochen salviert . . . du Maulheld in Schlappstiefeln . . .

Nöllecke war fahl wie Asche geworden.

»'ne Lüge!«

»Was – du Galgengesicht?! Ich brauche dir nur in die Löffel zu schreien: Dores, der Schiffsknecht! Das gibt Luft. Auch so'n Halunke . . . hat gleichfalls 'ne Portion auf dem Kerbholz. Und wenn ich befehle: Dores, die Hand in die Höhe . . . die Schwurhand . . . dann spinnst du Wolle, mein Junge.«

Der Eingekesselte stieß einen heiseren Laut aus . . . brach in sich zusammen . . . den Kopf auf den Tisch . . . wie verlähmt . . .

»Das lasse ich mir nicht gefallen. Verdammich, ich nicht!«

Der Riese zuckte verächtlich die Schultern.

»Du wirst schon. Entweder die Unterschrift hingesetzt, oder Dores nimmt den Schwur auf die Gabel.«

Er beugte sich nieder.

»Noch besser: du frißt 'ne Kugel herunter. Aber so'n Feigling versteht nicht zu sterben, drum bleibt es dabei: hier unterschrieben oder ins Zuchthaus. Das ist mein letztes. Und ich sage dir hiermit: Nur noch zwei Minuten Bedenkzeit. Mankierst du auch dann – bist du geliefert.«

Giltjes stellte den Kopf in die Höhe, das erdengraue Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen.

»Hunde, ihr Hunde!«

Seine Hand streckte sich aus, griff nach der Feder, tauchte sie ein.

Der Schriftsatz knisterte.

Mit steifen Buchstaben setzte er seinen Namen darunter.

»Her damit! und binnen vierundzwanzig Stunden . . . Morgen um diese Zeit – letzter Termin. Na, wir werden ja sehen.«

Sie gingen.

Draußen stand Hübbers.

»Na – und . . .

Moritz spuckte scharf auf die Seite.

»Nichts von Belang. Aber fürs Postenstehen – Hübbers drenkt che der eene?«

»Waröm niet, Herr Moritz? Et es gut för kalde Füt.«

»Dann ins ›Waldkarnickel‹. Du aber, Aloys – erst zu Hannecke. Nu kannst du sie frei und forsch in die Arme nehmen und sie innigst beglücken, denn nu bist du gesäubert wie mein ›Miekske‹ auf Sonntag. Und die dänischen Säbels . . . an die Wand damit. Da machen sie 'nen erhabenen Eindruck. Bis gleich denn, im ›Waldkarnickel‹. Bloß zur Feier des Tages. Es will Abend werden, und wir wollen diesen Abend begießen.«

Er machte sich lang.

Mit gierigen Zügen trank er die Luft ein.

»Ha! das saugt Ozon in die Lunge.«

Aloys gab ihm die Hand.

»Ich danke dir, Moritz.«

Er sah in das letzte Glühen des Westens. Dunkle Pastorenvögel glitten gemächlich in das sterbende Scheinen. Vereinzelte Schwalben sangen noch hoch in den Lüften: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit . . .« Es war still und groß und hehr über den Dächern geworden.

*

Nun blühten auch die Apfelbäume. Weißgekleidet, mit rosigen Wattebauschen dazwischen, verwandelten sie den weiten Klostergarten in den eines Paradieses. In diesem Blühen und Sichbefruchten gingen die Lehren und Ermahnungen des Thomas von Kempen und die des heiligen Ambrosius unter, denn die Liebe kennt keine Grenzen und Erwägungen. Sie folgt nur ihrem eigenen Willen, handelt nach eigenem Ermessen, empfindet weder Anfang noch Ende, ist wie der Vogel unter dem Himmelreich, wie die Lilien auf dem Felde. Sie begehrt, um zu sterben, sie stirbt, um noch beim letzten Atemzuge heiß zu begehren.

Und diese Liebe umfächelte auch die gekälkten Wände, hinter denen die Staatse ihre Tage hinlebte. Sie saß am Fenster und sah von hier aus auf das rosigweiße Meer der Baumkronen. Auch in ihrer Seele das unvergängliche Sinnen und Suchen: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit . . .«

Ihr Gesicht war noch kleiner, die kurfürstliche Nase noch länger und markanter geworden. Nur wollte es scheinen: sie war insichgekehrter, zutunlicher der Welt gegenüber, leicht berührt von den Flügelspitzen einer freudigen Genugtuung.

Sie dachte an Aloys.

Für sie war er nicht der ›Papierene‹ mehr.

Sie hatte sich damit abgefunden. Auch zu ihr war das stolze Ereignis gedrungen, das den so lange Verkannten zum Helden stempelte. Es hatte Einlaß begehrt, um vor ihr niederzuknien, ihre Füße zu küssen und ihre Seele zu wärmen. Sie wehrte nicht ab. Sie ließ es geschehen. Sie sah gefaßter in die kommenden Tage.

Auf dem Fenstersims lag die Schnupftabaksdose, in ihrem Schoß das Neue Testament. Sie hielt das Evangelium Johannis aufgeschlagen und hatte eben aus dem elften Kapitel die Stelle gelesen: »Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer in der Sonne wandelt, der stößt sich nicht; denn er siehet das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm.«

Sie schloß die heilige Schrift, legte sie ab und horchte wieder mit verschränkten Fingern in das Blühen hinaus, in die glückverheißenden Atemzüge der Liebe und der Müdigkeiten.

»Ja,« sagte sie leise, »mein Weg führt wieder durch Licht, denn für mich sind des Tages zwölf Stunden geworden, nur fürchte ich, daß meine Augen die Fülle des Scheinens nicht mehr lange ertragen. Aber was soll das? Ich denke mit den frommen Legenden, die da sprechen: Dein Kampf wird bald ausgekämpft sein, deine Mühseligkeiten sind vorübergehend gewesen. Aber der Triumph dauert ewig. Die Krone wird dir nicht mehr vom Haupte genommen.«

»Frau Teerling . . .

»Ich bitte.«

Wie auf Eiderdaunen war Schwester Eusebia, die Pförtnerin, ins Zimmer getreten, rund und nett, einer Wachtel ähnlich, die sich wohlig ernährt in einem Lupinenfeld und in den benachbarten Weizenschlägen. Auch das helle, fröhliche ›Pickwerick‹ klang durch, als sie sagte: »Frau Teerling, würde Ihnen ein Besuch angenehm sein?«

»Wer will mich denn sehen?« fragte die Alte mit einem leichten Anflug von Unmut in der Stimme.

»Der Herr Kaplan. Er möchte sich die Ehre geben, Frau Teerling.«

»Warum verfällt er denn gerade auf mich?«

Schwester Eusebia lächelte gütig, dabei nahm sie den Rosenkranz, der ihr am Gürtel hing, und ließ die einzelnen Perlen durch ihre weißen Hände gleiten.

»Nicht auf Sie allein, meine werte Frau Teerling. Jedes Jahr macht der Herr Kaplan seinen Rundgang. Er beginnt damit am heiligen Dreikönigstage, um seinen Liebesdienst im Advent zu beschließen. Heute sind Sie an die Reihe gekommen, und unter dem Schirm unseres Klosters ›Jesus, Heiland, Seligmacher‹ möchte er vorsprechen.«

»Dann allerdings!«

»Herr Kaplan,« rief Schwester Eusebia mit ihrem hellen Wachtelschlag über die Schulter, »Frau Teerling läßt bitten,« und das pummelige, adrette und blanke Nönnchen stellte für den geistlichen Herrn einen bequemen Stuhl zurecht, den sie bis in die Nähe des Fensters rückte.

Die Finger ineinandergeflochten, sie knackend auf- und abschurfelnd, beehrte der junge Kleriker das Zimmer der Staatsen, während die Schwester mit einer stillen Verbeugung sich entfernte.

Man sah kein Gehen an ihr, keine Bewegung der Glieder, kein Hin und Her ihres dunklen Kleides. Gleichsam auf Draht gezogen, die Hände in den weiten Ärmeln verstaut, glitt sie auf den weiten, leeren Flur hinaus, in die friedliche Kühle hinein, als würde sie von lautlosen Gummiröllchen getragen.

Dafür zeigte Herr Klemens van Bebber eine andere Gangart. Er verschmähte es, sich der Samtpfoten zu bedienen. Seine Priesterschuhe knarrten derb und fest über die Dielen. Im übrigen setzte er bei seinem Erscheinen das ihm überkommene Wesen hintan. Er wußte, wie er die Alte zu nehmen hatte. Herrisches Benehmen verfing nicht bei ihr. Ihr gegenüber faßte er sein Amt auf als ein Amt der Versöhnung und des Ausgleichs. Ja, er verstieg sich sogar zu einem heiteren Schmunzeln.

»Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit, Amen!«

Er legte den Hut ab.

Mit verschränkten Armen, die schwarzbestrumpften Beine übereinander geschlagen, sah er sich alsbald der Staatsen gegenüber. Gesenkten Kopfes bekundete er ein gewisses Interesse für seinen beschnallten Schuh, den er taktmäßig auf- und niederwippte.

Dann hob er den Kopf.

»Frau Teerling,« sagte er nach einiger Weile, »ich freue mich, Sie hier zu wissen und hoffe zu Gott, Sie fühlen sich wohl im hiesigen Klosterfrieden.«

»Ich danke der Nachfrage. Mir fehlt nichts, Herr Kaplan, und ich habe keine Veranlassung, mich über irgend etwas zu beklagen. 'n Küchelchen bei 'ner däftigen Gluckhenne kann es nicht besser verlangen. Was die Nönnchen mir an den Augen absehen, geschieht, um mir die Tage so angenehm wie nur möglich zu machen.«

»Das ist erfreulich zu hören, und so denke ich denn, daß Sie auch gesonnen sind, Ihren Lebensabend hier in Gott und seinen Heilswahrheiten zu beschließen.«

»Das weiß ich noch nicht. Es könnten sich Umstände ergeben, die mich wieder in meine eigenen vier Pfähle brächten.«

»Soso!« kam es bedauernd zurück.

»Herr Kaplan, Sie wissen ja selber, was mich herführte. Da begaben sich Dinge zu Hause, die meine Ansichten und Gefühle direktemang auf den Kopf stellten. Ich kann vieles verknusen, aber nicht alles. Jedereins hat 'ne Portion Duldung zu tragen. Wird's aber zu dick, dann steigt's in die Galle, so daß einer sich genötigt sieht, Schluß mit die dumme Sache zu machen. Ehre und Anstand über alles . . . und so habe ich mich denn zu die barmherzigen Schwestern begeben, ganz im Sinne meines verstorbenen Mannes. Außerdem – ich bin 'ne Tochter vom seligen Tabakpflänzer Wintjes aus dem benachbarten Wissel. Beide hatten propere Westen. Dem war Rechnung zu tragen.«

»Ich weiß das, meine liebe Frau Teerling. Auch weiß ich: Sie können nicht vergessen, Sie tragen nach, Sie versteifen sich auf Geschehnisse, die verjährten, die mit heißer Buße ins Grab sanken. Ihre Schwiegertochter weilt nun dort oben. Das heilige Salböl und die letzte Zehrung nahmen ihr die Sünden hinweg, und so, wenn alle Erwägungen nicht trügen, hat sie Gnade gefunden, wurden ihr die Lockungen und Verfehlungen des Fleisches vergeben.«

»Der?!« fragte die Staatse mit gekniffenen Lippen. »Meiner Schwiegertochter? Der da vom Emmericher Eiland?!«

Sie schüttelte abweisend den Kopf.

»Nein, Herr Kaplan, in dieser Beziehung kann ich Ihnen nicht beipflichten, dafür ist doch ihre Aufmachung ein bißchen zu happig gewesen.«

Klemens van Bebber wurde unruhig.

Er spielte mit den Fransen seiner seidenen Schärpe.

»Frau Teerling, Sie kennen doch die Gebote der christlichen Liebe?«

»Ganz genau, Herr Kaplan. Daran mangelt es nicht, hat es mir niemals gemangelt. Nur vertrete ich die Ansicht: man kann die verschiedenen Liebesarten nicht über ein und denselbigen Leisten ziehen. Was dem einen Stiefel behagt, ist für den andern vom Übel.«

»Schon richtig. Allein reumütige Buße, christkatholische Einkehr in der Stunde des Todes zieht Liebe nach sich und damit Vergebung.«

»Nicht immer, Herr Kaplan. Manches im Leben kann auf solchen innerlichen Samariterdienst keinen Anspruch erheben, denn es verjährt einfach nicht.«

Der geistliche Herr zog die rötlichen Brauen zusammen.

»Ich verweise Sie auf die ›Moral‹ des hochwürdigsten Bischofs Konrad Martin in Paderborn. In seinen Auslassungen heißt es: Die Liebe ist duldsam und gütig. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles; denn wo sie weilt, ist Friede auf Erden. Vornehmlich: sie duldet und erträgt alle Schwächen und Verfehlungen der Mitmenschen. Die Liebe triumphiert über die niedrigen Instinkte, über Vorurteile und Intoleranz. Selbst über die Gerechtigkeit. Sie weist nach den Sternen.«

»Über die Gerechtigkeit auch?«

»Auch über diese.«

»Herr Kaplan, nehmen Sie's mir nicht verübel, aber Ihre Behauptung kann ich nicht zu meiner eigenen machen. Wenigstens in diesem Augenblick nicht. Sie müssen mir das schon deutlicher auseinandersetzen, sonst ist das schwer zu verstehen.«

»Frau Teerling, ich erinnere Sie an die Mahnung unseres Herrn. Diese Mahnung ist der Fels, auf dem die Kirche fußt, die Hoffnung auf das ewige Jenseits. Sie lautet: Liebet eure Feinde, tuet denen Gutes, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen, auf daß ihr Kinder eines Vaters werdet, der im Himmel wohnet.«

»Mag stimmen, aber er sagt auch: Zahn um Zahn und Auge um Auge, und das muß ich auf die vom Emmericher Eiland beziehen.«

»Sie ruht, sie ist unter der Wohltat der Sakramente dahingegangen. Über ihre Verfehlungen zu urteilen, steht uns nicht mehr an. Sie sollten vergessen, Frau Teerling, und bei diesem Vergessen auch verzeihen. Hebet überhaupt den Stein nicht auf. Besonders den Stein nicht, der in diesen Tagen geworfen wurde.«

»Was für'n Stein denn?«

Der junge Kleriker kniff die Lider bis zu einem fadendünnen Spältchen zusammen. Seine Blicke krochen langsam an die Staatse heran . . . fühlend, prüfend, erwägend.

Noch blieb er ruhig. Bis jetzt noch. Dann holte er seine Augen wieder zurück, betrachtete die Schuhschnalle mit forciertem Interesse und sagte: »Er wurde in der Kesselstraße geworfen.«

Die Alte merkte auf.

»Na, so was! Wo soll ich das hintun?«

»Warten Sie ab, meine liebe Frau Teerling. Auch hier leitet uns der weise Bischof von Paderborn auf den richtigen Pfad. Er meint: Gewißlich – besondere Darbietungen des Wohlwollens einem offenen Gegner gegenüber sind zwar nicht geboten, aber geraten. Sie gehören, wie der heilige Thomas sagt, nicht zur Necessitas caritatis, sondern zur Perfectio caritatis. Doch können sie unter besonderen Umständen ebenfalls pflichtmäßig werden, namentlich in Fällen, wo durch ihre Unterlassung ein Ärgernis entstehen oder dem Gegner ein leiblicher oder geistlicher Nachteil zugefügt würde.«

»Das geht mir zu hoch. Oder denken Sie vielleicht an Nöllecke Giltjes?«

»Ja, an ihn.«

»Warum denn?«

»Sein leibliches Wohl wurde zerrüttet, Ärgernis wurde gegeben. Nein, nein, nein! den Stein zu heben, ihn zu werfen, ist Versündigung. Und er wurde gehoben, und er wurde geworfen, und das von der Hand Ihres Sohnes.«

»Ha!« rief die Staatse, fast triumphierend, »das ist es ja eben, das ist mein Frühlingserwachen, meine ganze Bekömmnis – dieses Ausklinken von dem Schürzenmarkör und Weiberverführer!«

»Frau Teerling . . .

»Herr Kaplan, ich bin noch nicht fertig.«

Sie hielt ihm die innere Hand zu.

»Aussprechen lassen. In diesem Momentus habe ich noch zu reden, denn wenn jeder durcheinanderparlieren würde, wo sollte das hinführen! Für Kraut und Rüben in einem Pott hab' ich nie 'nen richtigen Gusto gefunden. Nein, Herr Kaplan, immer klares Gemüse . . . und wenn ich so meine letzten Jahre überdenke, mir dieses und jenes betrachte, wie ich gelitten habe, wie mir die Weibsperson meine Tage verekelte, wie Aloys zu schwach war, ihren Launen zu steuern . . . wenn ich dieses so kurz überschlage, dann muß ich schon zur Überzeugung gelangen: die letzten Jahre haben für mich nach dem Kirchhof und dem Spaten gerochen, bis schließlich doch so 'ne nette Wendung einsetzte und die Medaille sich auf die andere Seite drehte. Denn was mein Junge, unter dem extraordinären Beistand vom langen Moritz, in der Kesselstraße zuwege brachte, das hat mich doch so'n bißchen aufgerappelt und in die Höhe gehoben, denn nu sehe ich endlich: er ist wirklich der Mann von Düppel und Alsen . . . und das ist mein Stolz, Herr Kaplan, und diesen Stolz müssen Sie mir schon zugute rechnen, aus purer Einsicht und um der Gerechtigkeit willen.«

Der benommene Kleriker versuchte ein letztes.

Er sprach mit Engelszungen. Er mahnte zur Einkehr. Er zeigte das Bild der Versöhnung in einem schönen und vergoldeten Rahmen. Er wölkte dieserhalb Weihrauch und Myrrhen. Er bat mit ernsten Worten darum, den unerträglichen Zuständen ein Ende zu bereiten, die Hand des Gegners nicht abzuweisen, schon aus dem Grunde heraus, kein Ärgernis zu geben, ihn nicht in das schaurige Dunkel der Verzweiflung zu peitschen, um mit dem Appell zu schließen: »Liebet euch untereinander, laßt euch nicht hinreißen von Zorn und Rache, duldet und leidet wie der Herr auf Golgatha duldete, wie er noch in der Stunde des Todes denen verzieh, die ihn verhöhnten und den Backenstreich gaben, die ihn geißelten, mit Dornen krönten und ihn den bitteren Weg gehen ließen, der zum Kalvarienberg führte. Drum, meine liebe Frau Teerling,« und er legte die Hände flehend zusammen, »ich bitte herzinniglichst um die Nachfolge Christi.«

Die Staatse sah ihn mit großen Augen an.

»Herr Kaplan, Sie müssen ein guter Mann sein, sonst könnten Sie sich nicht derart für die Menschen einsetzen, selbst nicht für die schlimmsten in unserm Kirchspiel. Das ist rührend von Ihnen, sich so von den Aasvögeln aus den Händen picken zu lassen.«

»Aber Frau Teerling . . .

Empört war der geistliche Herr in die Höhe gefahren.

Die Alte hieb nach. Ihre Worte rumpelten: »Ja, rührend von Ihnen. Indessen, ich bin anders geartet. Früher zweifelte ich an Aloys; jetzt tu' ich es nicht mehr. Den Hans vom Schneckenbach hat er abgelegt. Die Klopflaute der Tage sind ihm verständlich geworden. Er hat es aufgegeben, sich von den Reihern im Pfalzdorfer Reiherbusch bekleckern zu lassen. Früher glaubte ich, die Sonne würde mir niemals mehr zuwinken; jetzt scheint sie mir wieder mit ihren lieblichsten Kulören. Früher dachte ich allzeit: es kann nicht mehr werden; jetzt ist es trotzdem geworden. Früher ging ich durch Unrast; jetzt habe ich Ruhe in Gott. Ja, Herr Kaplan, Ruhe in Gott, denn heute weiß ich: die Ehre ist unserm Hause wieder zugute gekommen, und dieses bleibt, wie ich soeben schon sagte, meine größte Bekömmnis und mein Frühlingserwachen.«

»Und da billigen Sie das Vorgehen Ihres Sohnes, dieses unnachsichtliche Vorgehen, von dem die ganze Stadt überträuft?«

»Völlig.«

»Und sind einverstanden damit, daß er einen Unglückseligen, einen Verirrten, ich gebe selbst zu – ein räudiges Schaf von Haus und Anwesen vertrieb, um so, außerhalb der Gesetze stehend, seiner Rache zu frönen?«

»Ganz meine Ansicht.«

»Und können Sie sich damit abfinden, ihn, diesen Geächteten, in der Fremde zu wissen, ohne Erbarmen, ohne das geringste Mitleid zu empfinden – und das ohne Seelenqualen, Frau Teerling?«

»Mit Wonne.«

Der junge Kleriker nahm seinen Hut.

»Dann ist mein Liebesgang vergeblich gewesen.«

»Ich pflichte dem bei,« sagte die Staatse, indem sie sich gleichfalls erhob. »Schwester Eusebia ist die bravste und frömmste in diesen Mauern. Ihre rechte Hand weiß nicht, was die linke veräußert. Sie ist freundlich und zuvorkommend, ein Sonnenschein bei Tage, ein erquicksames Öllampchen zur Nachtzeit. Aber mit Ihrer Einführung, Hochwürden, hat sie kein Glück gehabt. Sie hat eben daneben gegriffen.«

»Also ich sehe: Sie sind nicht zu bekehren und nicht für den Frieden zu haben?«

»Ich denke nicht dran und muß leider bedauern.«

Ein harter Schnallenschuh stampfte auf.

»Dann noch ein letztes . . .«

»Herr Kaplan, ich habe nichts mehr zu hören und nichts mehr zu sagen. Nur eins noch: Lassen Sie mich von jetzt an in Ruhe.«

Sie wandte sich ab.

»Lassen Sie mich.«

»Leben Sie wohl.«

Die Tür wurde geöffnet und zugeschlagen.

Im Flur verhallten die Schritte.

Von draußen aber grüßte ein Blütenrausch aus dem Garten ins Zimmer und legte sich warm und wohlig um ein Mutterherz, das endlich wieder aufatmen konnte.

 


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