Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Achtzehntes Kapitel

Marienfäden im Herbstwind, reifende Äpfel im Herbstlaub, blanke Sterne in ruhigen Herbstnächten – ha, wie das wohltat, wie das über die Seele schmeichelte, mit dem Schmeicheln von lieben Frauenhänden in den Stunden des Genießens und der Beschaulichkeiten! und wenn sich ums Abendwerden die Nebel aus den Altwassern des Rheines drehten, sich als lichtzarte Schleier um die alten Weiden häkelten, dann war es so, als ständen weißgekleidete brabantische Edelfrauen aus der Zeit der schönen Maria von Burgund in der schweigsamen Niederung, um den Flimmerglanz des Mondes aufzufangen und damit ihre hellen Gewänder, den köstlichen Schmelz ihres Fleisches und die steilen Hauben zu schmücken.

Reifende Äpfel und brabantische Edelfrauen!

Wir freuten uns ihrer, wenn auch nur an wenigen Tagen, nur dann, wenn die Schulgesetze es zuließen; denn wir hatten den Ferien Valet gesagt und lauschten wieder dem heimlichen Zischeln der mageren Emma, den weisen Lehren und Ermahnungen des biederen Magisters, denen es oblag, uns für die schwierigen Angelegenheiten des Ablativus absolutus und des Accusativus cum infinitivo ganz allmählich vorzubereiten . . . und wie schon eingangs bemerkt: wir freuten uns dessen.

Um diese Zeit geschah es . . .

Eines Tages stand im ›Klever Volksfreund‹, in dem Berater für Stadt und Land, für Politik und seelsorgerische Angelegenheiten, dieses angezeigt:

»Einem verehrlichen Publiko tu' ich Nachstehendes kund und zu wissen. Ich befinde mich auf weiteres in Holland, um den neumodischen Schwingpflug dahier studieren zu können. Bloß aus Opferfreude heraus hab' ich zu Hause meine Schmiedewerkstatt auf den Stillstand versetzt, damit ich mich auf den holländischen Status begebe, um für unsere rückständige Ökonomie den bezeichneten außerordentlichen Pflug in Schwungkraft zu bringen. Wenn ich retour mache, soll es mein äußerster Akki sein, dem landwirtschaftlichen Publiko nur primissima Ware unter die Augen zu führen. Dieserhalb halte ich mich im ›Roten Hüsken‹ bei Nymwegen gehorsamst empfohlen.

Arnold Giltjes, genannt Nöllecke Giltjes.«

Da stand es schwarz auf weiß, im allwissenden ›Klever Volksfreund‹, mit aufdringlichen Lettern und dem breiten Gehabe eines wohlwollenden und braven Spendierers, und dieser Spendierer nannte sich Nöllecke Giltjes. Allein die tapfere Bürgerschaft machte nicht viel Wesens davon, las es wohl, kannegießerte darüber, um dann die Angelegenheit ad acta zu legen, zur Tagesordnung überzugehen und schließlich zu vergessen . . . wie sie so vieles vergaß, was sich in den letzten Wochen und Monaten in ihrem Bannkreis abgespielt hatte. Sie vergaß das Trauerspiel im Hause des papierenen Aloys, seine ruhmreiche Rückkehr aus dem Felde, das plötzliche Ableben Hendrintjes, die Übersiedelung der Staatsen ins Klösterchen der barmherzigen Schwestern und so vieles, was noch immer mit verweinten Augen und schmalen Lippen einherging und den Schlaf nicht finden konnte. Sie vergaß sogar die kurze, aber geharnischte Türepistel, die Mutter Giltjes anderen Tages mit tiefen Seufzern und einem quatschnassen Scheuertuch fortgewischt hatte.

Inzwischen reiften Äpfel und Birnen immer mehr ihrer Bestimmung entgegen, bekamen geflammte Streifen und rote Bäckchen und brachten uns schließlich die Einladung des Papierenen ein, den reichlichen Obstsegen in seinem Garten vor dem Kesseltor mit einzuheimsen.

Frohen Herzens sagten wir zu, hatten vorher aber noch den Katechismusunterricht vor dem Herrn Kaplan zu überstehen, denn heute war Sonnabend, und die letzte Stunde des Vormittags war seiner Fürsorge überantwortet.

Herr Klemens van Bebber war über jedes Erwarten gütig und zuvorkommend. Sein sonst so strenges Gesicht spiegelte den weichen Glanz des Herbstes wider, seine Hände lagen gefaltet auf dem Katheder, ohne die Ambition zu hegen, die magere Emma aus ihrer dunkelen Lade zu heben. Er erzählte ein langes und breites über seine reichen Erfahrungen in Beziehungen auf das Leben der Heiligen, erging sich in überaus lehrreicher und anschaulicher Weise über christliche Helden und Heldenverehrung und stellte uns als leuchtendes Beispiel den heiligen Polykarpus, den Schüler des Lieblingsjüngers des Herrn, vor, der sein Märtyrertum auf dem Scheiterhaufen mit den Worten besiegelte: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.« – »So, meine Kinder,« fuhr das rote Kaplänchen eindringlich fort, »nun möchte ich wissen, wer von euch imstande ist, mir aus neueren Tagen einen christlichen Helden anzugeben, der, ohne Blutzeuge zu sein, dennoch den Ehrentitel eines wahrhaften Helden beanspruchen könnte.«

Er schwieg, seine Blicke revierten über uns hin mit den sanften Schwingen von Turteltauben.

Wir zerbrachen uns die Köpfe, zerkauten die Federhalter, brüteten in unsere Katechismen hinein, als sollten wir den Stein der Weisen heben oder die Quadratur des Zirkels ergründen.

Endlich hob sich ein Finger.

»Nun, Peter Hartjes?«

Der Kaplan winkte ihm aufmunternd zu.

»Nur keine Bange.«

»Herr Polizeidiener Brill,« sagte unser gemeinsamer Freund und Bundesgenosse und sah sich dabei um, als wäre etwas Einzigartiges bei ihm jung geworden.

»Soso, Herr Brill!« meinte unser geistlicher Führer. »Gar nicht so ohne. Herr Brill hat seine Verdienste, ist dafür gesetzt, Ordnung und Frieden zu halten und den Bürgern ein beschauliches Dasein zu gewährleisten. Er repräsentiert das wachsame Auge hiesiger Stadt- und Kirchengemeinde. Und dieses ist viel, sehr viel; allein ich möchte ihn nur für einen Beamten in gehobener Stellung, für einen Helden dritten und vierten Grades ansprechen, ohne dabei seine Meriten auch nur im geringsten zu schmälern.«

Die beiden Turteltäubchen schaukelten weiter.

»Ein anderer!«

Ich meldete mich.

»Nun – du?«

»Der alte Fritz.«

Ein mitleidiges Lächeln ließ mich verstummen.

Henn Pierentrecker sprang in die Bresche.

»Nun, mein Lieber, du wirst es schon angeben können. Wen denkst du dir, Spettmann?«

Henn zog ein Gesicht, als hätte er bereits das große Los in der Tasche.

»Herr Kaplan, ich denke mir: Bismarck.«

Eine schnarrende Stimme: »Setz' dich!«

Also wiederum nichts, und aufs neue wuchtelten die Turteltäubchen durch den atemlosen Schulraum.

Da erhob sich der Sommersprossige.

»Ich täte es wissen.«

»Nun, Höfkens?«

»Papa Wrangel,« versetzte Jan mit blankgeputzten Augen.

»Du Sauerampfer!« schmunzelte das rote Kaplänchen.

»Aber wir hätten das vom langen Moritz bezogen.«

»Der lange Moritz kann sich einsalzen lassen,« kam es gallig zurück. »Der lebt nur vom Unfrieden und brachte es fertig, ein stilles, sittsames und in sich gekehrtes Haus durch Kreide zu verunglimpfen – ja, zu beschmutzen, während der Inhaber des Anwesens in Holland weilt, um seinen Mitbürgern die Wohltat und die neue Errungenschaft eines verbesserten Schwingpfluges zu übermitteln.«

»Aber wir täten es wissen . . .«

»Schweige, Johannes. Eure sogenannten Helden sind keine Helden im Sinne der christlichen Überlieferung. Stabstrompeter sind's, königlich preußische Stabstrompeter, Stabstrompeter, nur dazu da, die Eintracht niederzublasen, den verheerenden Krieg in die Höhe zu trompeten, dem König unverdiente Lorbeeren um die Ohren zu schmettern, kurz, nur ins Leben gerufen, das Unmögliche möglich und das Mögliche unmöglich zu machen. Nein, bleibt mir mit diesen königlich preußischen Stabstrompetern vom Leibe. Wir wollen in Geselligkeit leben, Pazifisten wollen wir sein. Stolz vor Fürstenthronen, den wollen wir haben . . . und wenn unsere Nachbarn unduldsam sind, so wollen wir trotzdem Duldsamkeit üben. Fort mit den Schwertern, fort mit Bellona, selbst dann, wenn sich unsere Grenzvölker bis an die Zähne bewaffnen. Das ist wahres Christentum. Und wenn unsere Gegner uns drangsalieren, uns Ohrfeigen geben, daß man es knallen hört vom Rhein bis zur Persante, so müssen wir auch die andere Backe hinhalten, damit auch sie in die Lage versetzt wird, ihr Teil zu empfangen. So will es das Evangelium. Der ersehnte Silberstreifen wird schließlich doch an unserem Horizont aufblühen. Unsere heiligste Erbschaft ist und bleibt die Wiederherstellung des demokratischen Geistes. In ihr müssen wir wirken, in ihr müssen wir sterben. Gedenket nur der leutseligen, fiedelfreudigen Dänen! Unsere Musikanten haben ihnen Schrecken und Graus über die Eider getrommelt, sie niedergehobelt, und ich fürchte, ich fürchte, bald wird es den frommen Brüdern an der Donau ebenso ergehen. Bruderkrieg – ist das nicht entsetzlich?! Nein, meine Kinder, mit wahrhaften Helden haben diese Stabstrompeter keine Gemeinschaft, sind vielmehr Diener Belials und seines heidnischen Kultes,« und das fuchsige Kaplänchen wuscherte mit seinen Turteltäubchen über die Abteilung hin, der die Lang- und Kurzzöpfigen angehörten.

»Nun, ihr Mädchen, wen meine ich wohl, wer von euch kann mir einen wirklichen Helden anführen, einen Helden nach dem Herzen der christlichen Kirche?!«

Er schmunzelte.

Erst ein Kichern, ein Tuscheln und Anstoßen, dann ein tiefsinniges Nachgrübeln auf den Bänken des findigen Geschlechtes. Dort hockten sie, die dickbäckigen, blond- und braunhaarigen Alräunchen, und spintisierten, was das Zeug halten wollte.

Besonders eine kleine, fette und dralle Maid.

Grüblerisch bohrte sie in ihrem Näschen herum, willens, dort die Erkenntnis aller Dinge zu suchen.

Dann hob sie den Finger.

»Ei, sieh da!« freute sich der Tonsurierte, »diese krallen und kregelen Äugelchen kenne ich doch! Ei, ich sollte das liebe Söphchen Verschüren nicht kennen?! Nun, meine Gute, beschäme die Knaben. Sie verdienen es über die Maßen.«

Und Söphchen Verschüren spitzte das Mäulchen, wie es die tapfere Therese von Avila spitzte, als sie ihren Seelenbräutigam erwartete.

Ein rotwangiges Hühnchen, krähte sie los: »Mein Onkel in Appeldorn!«

Hochwürden beliebten zu stutzen.

»Aber weshalb denn?« fragte er etwas befangen.

Die Kleine ließ sich nicht irremachen.

»Herr Kaplan,« sagte sie tapfer, »er war bloß ein einfacher Schneider und ist Marschangh Talljöhr geworden mit 'nem eigenen Laden.«

»Bravo, bravissimo! das war eine ehrliche und brauchbare Antwort, mein Kind. Ja, dein Onkel in Appeldorn! obgleich ich eigentlich an einen Großen in Rom dachte. Aber das tut nichts. Dein Wort läßt sich hören, denn der Generalfeldzeugmeister Derfflinger ist auch ein biederer Schneidergeselle gewesen . . . desgleichen der Flieger von Ulm . . . desgleichen mein Vater . . . und siehe da! nun auch Söphchen ihr Onkel. Brav so! und dessen zum Zeichen: Sophia Verschüren, tritt vor, du wirst deine Belohnung erhalten.«

Aus der Hand ihres Gönners empfing sie ein zierliches Heiligenbildchen aus der Offizin von Benzinger-Einsiedeln, farbig hingeworfen wie das knallige Umschlagetuch einer böhmischen Amme . . . aber was die Hauptsache war: mit dieser Ehrung beschloß auch Klemens van Bebber die Katechismusstunde, seine Belehrung über christliche Helden und christliche Heldenverehrung.

Wir also ins Freie hinein. Jan Höfkens als erster.

Unter den mageren Linden, die den Schulhof beschatteten, schlug er einen mannhaften Purzelbaum.

»Und ich täte Papa Wrangel doch als 'nen Helden betrachten!«

»Und ich den alten Fritz!«

Wiederum ein Purzelbaum.

»Und ich den Bismarck!« und Henn Pierentrecker purzelbaumte zehn- bis zwölfmal hintereinander, bis ihm der Atem ausging, er sich streckte und sagte: »Hondert Pond kann eck stämme.«

So dokumentierten wir unsere Angehörigkeit zur preußischen Staatsverfassung, bekannten uns zu seinen führenden Männern, seinem angestammten Königshause und begegneten den gegnerischen Ansichten durch meisterlich hingelegte Purzelbäume. –

Punkt 3 Uhr mittags standen wir vor dem sauber angestrichenen Pförtchen des Teerlingschen Gartens.

Dort hatte sich inzwischen vieles geändert, wie sich überhaupt in der Gemütsverfassung des Papierenen vieles geändert hatte. Die Laube mit den Feuerbohnen war niedergelegt, die Stätte, worauf sie gestanden, dem Boden gleichgemacht und mit lichtem Grün übersponnen.

»Gras soll drüber wachsen,« hatte Aloys gesagt, »starres Ruchgras und Wiesenschwingel, auf daß die böse Erinnerung abstirbt und alles das, was mir die Nächte beunruhigte und mir die Kehle abwürgte.«

Dann war Moritz zu ihm getreten.

»So und nicht anders. Ruchgras und Wiesenschwingel. Das hält, das setzt Stoppel bei Stoppel. Das überdauert die Jahre. Sorge du bloß dafür, daß nicht so'n Kamel dahertrampelt, um die feste Narbe wegzufressen, denn solche Kamele sind in ihrer Dämlichkeit schlimmer als die bissigsten Dorfköter. Also Ruchgras und Wiesenschwingel – die machen's!« und Ruchgras und Wiesenschwingel überwucherten den Ort, wo sonst die Laube gestanden, die Feuerbohnen sich rankten und den verhaltenen Schrei eines entweihten Weibes gänzlich erstickten.

Ja, Aloys Teerling war ein anderer geworden, völlig ausgetauscht und verändert. Der Krieg hatte ihm das Gesichtchen aus der Schneeeifel genommen, dafür aber scharfe Runnen durch das Antlitz gerissen, hatte ihm das Troddelmützchen fortgefegt und ihm einen harten Sinn unter die Schädeldecke gestoßen. Auch den blessierten Arm konnte er schon leidlich gebrauchen. Und das sonstige Geschehen! – Es fügte sich zu einem Großen und Ganzen, zu einer eisernen Kette, die ihn absperrte gegen Weichherzigkeit und die Umtriebe der Menschen. Jetzt, zu Ende Oktober, wo die geflammten Äpfel der Ernte harrten, war er fertig mit sich, konnte er sagen: »Ich habe keinen Honig aus den mir beschiedenen Tagen gesogen, sondern nur die Hefe von Wermut. Ich nehme es hin als ein Vermächtnis zur Läuterung. Wie oft habe ich an einem stillen Altwasser gestanden und mir gesagt, wie kühl muß es in der Tiefe sein, wie wohlig muß sich ein Fisch da unten befinden, so in dem klaren Element seine Flossen regen zu können, aufzustrudeln im kristallenen Sonnenlicht, Seite an Seite mit seiner Gefährtin die kleinen Sächelchen der Liebe auszukosten. Aber dann kam einer daher, einer von den Stillen und Unbarmherzigen, und zerstörte das Glück unter dem tiefblauen Spiegel. Und dieses Gleichnis – es sah mir ins Auge, belehrte mich, machte mich wissend. Ich vermied die entsetzliche Angel, aber ich war nahe daran, aus meinem Element gehoben zu werden, dem traurigen Geschick des sorglosen Bewohners des Altwassers anheimzufallen. Und siehe, wenn mir die Mutter auch abwendig wurde, mein Weib mich verließ, sündig geworden in einer laulichen Sommernacht – die Hand Gottes starb nicht ab für mich, leitete mich auf den Weg, der mich werkeln hieß und zur Erkenntnis führte. Ach, Moritz, ach, Hannecke Brükers! Es ist wie bei Großwasserszeiten. Sie kommen und verwüsten sorglich bestellte Erde und jegliches, was blühen und Frucht ansetzen will. Aber sie gehen auch wieder, und über die genesene Scholle spielt aufs neue das Sonnenlicht, weht der Odem des Schöpfers, allbelebend, allerzeugend, allbefruchtend, und so Gott will, bringen mir Ruchgras und Wiesenschwingel das ersehnte Vergessen.«

Wegen des Lebens Notdurft und Bequemlichkeit brauchte er sich nicht groß zu bekümmern. Dafür hatte Hannecke Brükers Sorge getragen, sich gleich nach dem Beerdigungsgang umgesehen und in Stina Mengels, der bewährten Stütze des verstorbenen Pfarrers in Üdemerbruch, eine Schaffnerin gefunden, befähigt, den zerstörten Haushalt wieder in die Reihe zu bringen. Auch war sie, nach des Riesen Rezept, nicht modisch gekleidet, sondern begnügte sich mit blanken Holzschuhen und derben Lammwollsocken. Zeitweilig griff Hannecke selber ein, unauffällig und selbstlos, um Licht und Schatten gleichmäßig zu verteilen.

Unter dieser Betreuung gingen ihm die Tage leidlich dahin, frei von Anfechtungen und trüben Erwägungen. Nur in einsamen Stunden legte es sich dunstig um ihn her, kam es gerumpelt mit dem taumelsüchtigen Zwinkern eines aufsteigenden Wetters. Auch dieses zerstreute sich in einem feiertägigen Scheinen und Leuchten; denn gleichsam dem Marienleuchter entstiegen, ein Kränzlein von sieben Sternchen um die Schläfen gezirkt, den Mond im ersten Viertel unter den Füßen, nahm sich Hannecke seiner an, läuterte ihn von den Schlacken des Grübelns und denen einer schmerzlichen Befangenheit.

So auch heute.

In ihrer Nähe, umgeben von der nunmehrigen Reinheit des Gärtchens, den fruchtschweren Bäumen, dem heimeligen Schweben der Marienfäden, die wie Engelshaar die Lüfte durchglitzerten, fühlte er sich, als hätte ihm die gütige Vorsehung eine Gefährtin aus dem neuen Jerusalem gesellt und zugesprochen.

Unter ihrer Beihilfe herbstete er ein, ordnete er den Segen des Jahres in bereitgestellte Wannen und Körbe.

Wir, die vier aus den Lohhecken, waren ihnen treue Genossen und taten das Unserige, die Stunden des dahingehenden Tages zu Stunden der Erhebung und einer frohen Andacht auszumünzen . . . und als die Früchte eingeheimst waren: die Ananasreinetten, die Goldparmänen, die dickköpfigen Bohnäpfel und andere Sorten, da flüsterte Hannecke dem Papierenen etwas ins Ohr, und Aloys verfügte: »Jungs, von wegen getätigter Arbeit: morgen am heiligen Sonntag, mittags um viere, ihr werdet hiermit invitiert, 'n Schälchen Schokolade bei mir einzunehmen, dazu Spekulatiusmännchen und Nymwegener Moppen. Hannecke wird die Freundlichkeit haben, uns gleichfalls die Ehre zu geben. Einverstanden?«

Na – und ob wir einverstanden waren!

»Ha, Schokumulade!« ereiferte sich der Sommersprossige, »die könnte ich trinken, denn sie käme aus Afrika her, das die schwarzen Mohren bewohnen,« und seine Augen sprühten dabei auf wie das Feuerwerk eines kundigen Pyrotechnikers, und obgleich sich keiner unterfing, ihm das Gegenteil seiner Behauptung darzulegen, immer wieder versicherte er: »Die könnte ich trinken, ja, die könnte ich trinken,« und drückte dabei dem Papierenen und Hannecke so gesinnungstüchtig die Hände, als handelte es sich bei dieser ›Schokumulade‹ um eine Beurkundung auf Leben und Sterben.

Beseligt zogen wir heimwärts.

Als ich dort anlangte, gespensterte das Abendrot bereits in den Kronen der sieben Linden. Es spielte mit purpurnen Blutstropfen durch die goldenen Laubmassen und warf einen Kardinalsmantel über sie hin, als sollte ein hohes Gottesamt unter Beisein erlesener Priester getätigt werden.

In dieser feurigen Lohe trat mir die Schittbox eilfertig entgegen, den Gänsekiel hinter dem abstehenden Ohr, den rechten Arm noch immer mit der Ärmelstauche bewaffnet.

»Jupp,« sagte er hastig, »sie ist da, sie ist von den barmherzigen Schwestern erschienen und befindet sich im hinteren Garten.«

»Wer denn?« fragte ich in fliegender Erregung.

»Die Staatse. Sie hat sich aus dem Kloster begeben, um 'ne wichtige Handlung . . .«

»Was für 'ne Handlung?«

»'ne neue Instrumentierung ist fällig, 'ne ganz aparte, und ich soll die Zeugen bestellen.«

Ich wollte noch mehr wissen, allein die Schittbox zog Leine, indem sie vorgab, keine Zeit mehr zu haben, denn notarielle Traktate vertrügen keinen Aufschub, müßten schnellstens unter Unterschrift und Petschaft, weil es immer passieren könne . . . »Wir machen's!« dekretierte der Wichtikus noch und war dann wie ein Wiesel um die nächste Ecke gewuschert.

Also die Staatse!

Mein Gott, sollte dem Papierenen wieder ein Unheil drohen, sollte ihm auch der neue Halt unter den Füßen genommen werden?!

Ich bangte und zitterte um das Geschick meines Freundes.

Noch kurz vor Schluß der Geschäftsstunden hatte Johanna Kordula Teerling meinen Vater aufgesucht, der sich gerade zwischen seinen Rabatten befand, um des Tages Last und Fron abzutun und sich ein bißchen im laulichen Abend zu ergehen.

Vom geöffneten Fenster des Wohnzimmers aus konnte ich die beiden beobachten.

Nur selten noch war mir Oma vor Augen getreten, höchstens an Sonn- und Feiertagen, wo sie in Gemeinschaft der barmherzigen Nönnchen das Hochamt aufsuchte, in Gemeinschaft mit ihnen der Predigt folgte und den Rosenkranz betete. Von der Welt schloß sie sich völlig ab, wollte von ihr nichts mehr wissen, lebte nur sich und den Herbstastern, dem letzten Flor des weitläufigen Klostergartens, dem hinfälligen Blühen und Welken, das an die Vergänglichkeit allen Bestehens erinnerte.

Jetzt sah ich sie wieder. Sie war noch immer die alte, die selbstherrliche, die Frau, die weder rechts noch links schaute, sondern unentwegt ihren eigenen Kopf aufsetzte und ihn vertrat, als wären für sie keine anderen Köpfe vorhanden. Ihre Stimme schien mir so hart und eigenwillig wie einst und ehedem, nur ab und zu gemildert durch eine versöhnliche Klangfarbe. Sie sagte, an ihrem Stock steil in die Höhe gerichtet: »Sie werden mir zugeben, Herr Notarius, daß seit dem Tage, wo ich in Ihrem Beisein meinen letzten Willen niederlegte, sich die Medaille der anderen Seite zukehrte, sich dieses und jenes besser gestaltete, als ich es voraussehen konnte.«

»Kein Zweifel, Frau Teerling.«

»Und wenn ich Sie jetzt bemühe, Ihre kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen, so ist das bloß geschehen, freie Bahn zu schaffen, die letzten Bedenken aus den Röcken zu schütteln und mich so zu erklären, daß ich mir sagen kann: Du hast vor deinem Ableben alles getan, um dich, ohne dir Vorwürfe zu machen, sacht und still in die letzten Kissen zu drücken.«

»Ich verstehe, Frau Teerling.«

Die Staatse senkte ihre Stimme und meinte: »Herr Notar, wie Sie wissen, sind meine Besorgnisse von wegen des Weibes als hinfällig anzusprechen. Dafür hat der liebe Gott gesorgt und sie abberufen aus diesem Leben voller Eigenmächtigkeiten und Komödiantenstückchen, die sich als wurmstichig erwiesen, mir aber trotzdem die Luft abdrehten und Aloys und mich kurzerhand auseinandermengelten, als wäre er nicht mein Sohn, als hatte ich ihn niemals unter dem Herzen getragen. Was blieb mir da übrig? Das Nächste war, mich bei den Nönnchen im Kloster einzurichten. Sie verstehen mich und meine Anschauungen. Ich habe dort meine propere Stube, mit 'nem angenehmen Visavis auf die Gartenerzeugnisse der Schwestern, beziehe meine reichliche Verköstigung, ohne allzu ängstlich dabei auf die Finanzen zu sehen, und brauche nicht mehr die Tür zuzuhalten, aus lauter Beängstigung, ein frisches Malör könnte bei mir vorsprechen wollen. Offen gestanden: die jetzige Ruhe bekömmt mir. Ich sitze wie in 'nem Schlitten, der gemächlich in 'nen weißen und unermeßlichen Abend hineinbimmelt.«

»Das ist ja erfreulich zu hören.«

Sie nickte.

»Herr Notarius, das darf man wohl sagen.«

»Und Sie haben bei Ihrem jetzigen Wohlbefinden nicht an eine Verständigung gedacht, sind nicht gesonnen, wiederum die Luft Ihres eigenen Hauses einzuatmen?«

»Herr Notarius, niemals. Warum auch? Hätte er mir nicht den Tort angetan, mit ihr auf den Kirchhof zu gehen, obgleich er wußte, sie hat's mit der Hasenreinheit man schwächlich gehalten – möglich, man hätte darüber ein diesbezügliches Wörtchen reden können. Indessen – mir so zu begegnen, mich als Mutter unter die Tote zu stellen . . . nein, Herr Notarius, das kann man so leicht nicht in den Schornstein vermerken. Dafür bin ich 'ne geborene Wintjes, dem alten Wintjes aus Wissel seine ehelich erzeugte und einzige Tochter. Ich begreife Aloys nicht, wie so vieles nicht in meinen durchkosteten Tagen. Ich bin zeitlebens 'ne gute Katholikin gewesen, halte überhaupt meinen Glauben für die beste Aufmachung hinsichtlich der ewigen Anschauung. Nur das mit dem heiligen Vater! Gewiß, ich bin ihm untertänig bis auf die innersten Nieren, estimiere ihn als Stellvertreter Gottes auf Erden – aber warum der Allmächtige immer auf 'nen Italiener verfällt, ihn als seinen Bevollmächtigten hinzusetzen, und nie auf 'nen deutschen Priester, obgleich wir eminente in der Priesterschaft haben, das verstehe ich so wenig, wie ich meinen Jungen verstehe. Aber abgesehen hiervon – bei den barmherzigen Schwestern ist mir manchmal der Gedanke gekommen: Du bist ihm vielleicht zu sehr im Wege gestanden, hast ihm zu wenig Freiheit gelassen, um seinerseits einen durchgreifenden Willen zu betätigen. Das gebe ich zu. Drum mag er selbst den Pflugsterz in die Hand nehmen und seinen Haushalt betreiben. Ich kann warten und warte. Außerdem – die Niederschrift vom langen Moritz: ›Ich komme wieder, du Lump‹, wird ihn zusammenrappeln, gibt Aussicht darauf, daß er endlich begreift, was es heißt, Auge gegen Auge und Zahn gegen Zahn zu setzen, denn nur so kann einer sich die benötigte Luft und die benötigte Ellenbogenfreiheit verschaffen. Wenn nicht – bleibt er doch immer mein Junge, und ich sehe nicht ein, warum ich ihm nicht nach meinem Ableben mein gesamtes liegendes und bewegliches Eigen zusprechen sollte . . . und so erlaube ich mir denn, wegen der neuen Testierung vorstellig zu werden, um seinetwillen und mit Rücksicht auf meine eigene Beruhigung.«

»Ich bin völlig im Bilde, Frau Teerling,« sagte mein Vater nach einigem Nachdenken, »und wenn ich Sie richtig verstehe, bleibt Ihre letzte Verfügung von Todes wegen im großen und ganzen dieselbe.«

»Ganz richtig, Herr Notar. Nur ein Anhängsel daran und 'ne Streichung möchte ich zu Protokoll geben.«

»Und das wäre, Frau Teerling?«

»Wie bereits gesagt: mein Sohn ist als Universalerbe anzusprechen, hat aber den barmherzigen Schwestern ein Legat von dreitausend Talern preußisch Kurant auszuwerfen, wobei ihre Darbietungen an Logis und Verköstigung jedoch nicht in Anrechnung kämen.«

»Ich verstehe,« sagte mein Vater.

»Und zweitens,« fuhr die Staatse mit erhobener Stimme fort, »die seinerzeit von mir ausgesetzten Gelder fürs alljährliche Seelenamt und die hierzu benötigten fünfzehn Wachskerzen werden meinerseits hiermit gestrichen. Darin will ich ihm keine Vorschriften machen, weil ich doch annehmen muß, er, als dankbarer Sohn, wird schon aus eigenen Stücken mir das alljährliche Seelenamt und die fünfzehn Wachskerzen nicht mißgönnen, denn mich selig zu wissen, mich bald aus dem Fegefeuer heraus zu haben, dürfte ihm nicht schwer beikommen. Ich kenne ihn doch, und in dieser Stunde: ich trage nicht nach, habe mich abgefunden mit dem, was ich herumschleppe wie meine eigene Schande. Also gestrichen. Darüber muß er selber befinden. Die Auswerfung für junge Buchbinderleute erledigt sich selber. So, Herr Notar,« und ihre weiten Augen suchten das letzte Glühen des Abends auf, der jenseits der sieben Linden langsam verblutete, »das wären die beiden Punkte, die noch festzulegen wären: das etwas abgeänderte Legat für die barmherzigen Schwestern, die mir Gutes taten und tun, und die Streichung. Ich lege Gewicht drauf, denn die Nönnchen sollen mich im Angedenken behalten und Aloys soll nicht sagen können: Noch bei Betätigung ihres letzten Willens ist die Mutter dein Vormund gewesen, traute dir die Kindesliebe nicht zu, ihr das fällige Seelenamt und die fünfzehn Kerzen zu bestellen. Herr Notarius, davon kann keine Rede nicht sein, weil ich solches als unhonorig bezeichne . . . und damit wäre ich fertig geworden.«

»Gut,« sagte mein Vater, »so können wir zur Beurkundung schreiten.«

Er sah sich um, denn er glaubte ein vielsagendes Räuspern in seinem Rücken zu hören.

Der kleine Wichtigtuer mit der Ärmelstauche und dem gewaltigen Gänsekiel hinterm Ohr erstattete Meldung: »Herr Justizrat, die Zeugen sind beordert, Hübbers und die anderen. Sie warten im Vorzimmer.«

Mein Vater nickte.

»Frau Teerling, ich bitte.«

Da schritt die Staatse zu ihrer letzten Testierung, ein weiblicher Almosenier in schwarzer Tracht, dem der sterbende Tag noch einen feurigen Purpurmantel um die Schulter geworfen hatte, ein Zeichen dafür: Gott ist mit dir, er weiß dein Schaffen, deine Gedanken und dein bisheriges Leben zu werten.

Eine Stunde später verließ sie das Haus ›Zu den sieben Linden‹.

Es war dunkel um sie. Nur ein magerer Schein blinzelte über die schwarzen Dächer. Der Mond war im Aufstieg begriffen.

Durch dieses Dunkel nahm sie ihren Weg auf wie eine Tochter des Schattens.

Niemand begegnete ihr.

Die Grabenstraße hatte kein Leben mehr. Selbst das Hospital, wo die weltabgekehrten Frauen ihres Samariterdienstes walteten, war lichtlos.

Hier angekommen, zog die Staatse die Klingel, deren Messinggriff die Form eines Kreuzes zeigte.

Der angerufene Schall verzitterte in den weitläufigen Fluren, kletterte bis zum Söller hinauf, um sich auch dort zu verlieren.

Die Tür wurde geöffnet.

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte die Schwester Pförtnerin.

»In Ewigkeit, Amen!« versetzte die Alte. »Ich komme nicht mit leeren Händen, denn ich habe auch des Klosters gedacht, auf daß meine Seele es leichter hat, den Weg ins Paradies zu finden.«

»Gott wird es lohnen.«

»Schwester, ich danke,« und erhobenen Hauptes betrat Johanna Kordula Teerling ihr selbstgewähltes Asyl, in dem sie auch zu sterben gedachte.

 


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