Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Fünftes Kapitel

Die lieben Schwalben sind wie Erinnerungen. Sie kommen und gehen. Ich vernehme ihr Wuchteln und Zwitschern, und die Erinnerungen tanzen ihren Ringelreihenrosenkranz und flüstern: »Hier sind wir! Hier sind wir!« und sie schauen mir tief in die Augen.

Als das erste Grauen und Aufhellen über die Jalousien streichelte, war mein nächster Gedanke: das Lämmelböckchen.

Ich drusselte noch geraume Zeit vor mich hin, dann wurde ich munter.

Nicht lange mehr – und Heinrich Hübbers rückte an, völlig komplett und marschbereit.

Der Mann kam mir vor wie ein Mann aus der Bibel, gesetzt und berufen, mir die Pfade des Heils zu ebnen.

Also los denn dafür!

Mit guten Ermahnungen im Sack ließ ich Vater und Mutter, die Traben-Trabacher Marie und das Haus ›Zu den sieben Linden‹.

Ich winkte ihnen zu, als gölte es, eine Pilgerreise in das gelobte Land zu machen, wo die Schafe auf dem Berge Gileat blöken und die Rosen von Saron so purpurrot blühen wie das vergossene Blut des Erlösers auf Golgatha.

Eine pontakfarbige, eben erst aufgewachte Augustsonne, mit einem Mantel voll violetten Duftes umnebelt, lag ob den taufrischen Wiesen, als wir in den jungen Morgen hineinzogen. Immer kleiner wurden die Häuser, die wir hinter uns ließen, immer freier, sichtiger und lichtfroher gaben sich die Fernen, in die wir hineinmarschierten. Aus den kanadischen Pappeln, die mit der Kommunalstraße liefen, wehte uns ein frisches Säuseln entgegen, aber so kühl es auch war, so freundlich es auch die klingenden Glöckchen der uns begleitenden Haferschläge auseinanderscheitelte, der unheimliche Moloch am fernen Horizont lag breitbäuchig am Boden, kletterte höher und höher, stündlich bereit, uns eine brütende Hitze auf die Köpfe zu brennen.

Ich hatte dessen nicht acht, freute mich vielmehr des fünfundzwanzigpfündigen Leibrockes, dieser himmelblauen Schneideridee, die wie ein animierender Farbenklecks in die weite Landschaft hineinknallte.

Nein, war das ein pläsierliches Reisen und Wandern! Und das köstliche Endziel erst! Der großartige Niederungsbauer vom Entenbusch . . . sein pompöses Anerbieten . . . Lämmelböckchen und Seligkeiten . . .!

Heinrich Hübbers jedoch schien anderen Sinnes. Bekümmerten Herzens sah er häufig auf das siegreiche Tagesgestirn. »Gottverdomie nochmal!« sagte er kleinlaut und wischte sich dabei die ersten Schweißtropfen von der Stirne herunter, »wenn das da noch höher heraufkommt, noch so'n bißchen mehr Odem empfängt, ich sage dir, Junge, dann setzen wir Öl ab, Provencer- und Rüböl. Das dröppelt uns denn so pieplings den Hosenboden herunter. Aber was hilft das? Vorwärts, Jupp! wenn wir auch als die delikateste Butter zerlaufen. Vor Mittag müssen wir wieder retour sein, sonst kleben wir an und schleppen die Zunge achter uns her.«

Rüstig schritten wir weiter, ich mit kurzen Beinchen, in einem schön aufgebügelten Nankingjackett, er in seinem stahlblauen Düffelpanzer, mit gestoppeltem Kinn, die Otterfellmütze tief in den Nacken geschoben, einen geschälten Hagedorn in der Hand, mit dem er zierliche und blitzgeschwinde Rädchen schlug, so daß die Luft aufsummelte, als sollte unser heiteres, wenn auch mühseliges Tagewerk in einem Bienenstaate einsetzen. Dabei erzählte er mir die Lebens-, Freuden- und Leidensgeschichte seines ›Getreuen‹, wie er die französischen Halunken- und Spitzbubenzeiten, die glorreichen Freiheitskriege mitgemacht, den Marschall ›Vorwärts‹ gesehen habe und es ihm letzten Endes vergönnt worden sei, die jetzige pummelige, Kinder in die Welt setzende, herzensgute Frau Hübbers, Petronella, geborene Hendriks, in seine blauen Ärmel zu schließen, um hierdurch eines vollgemessenen irdischen Glückes teilhaftig zu werden.

»Und so wahr ich hier stehe, so wahr ich mich Heinrich Hübbers unterfertige,« mit diesen Worten beschloß mein Gönner seine interessanten Mitteilungen, »acht Würmer hat er erlebt, acht leibhaftige Kinder, und wenn der Himmel es will, wird er so um Lichtmeß herum mit dem neunten zum heiligen Taufkessel marschieren. Auch eine Leistung! Und wie das so ist: viele Kinder – viele Vaterunser, viele Vaterunser – viele Schnitten Roggen- und Weißbröter! Jupp, es hat uns noch nicht schlecht gegangen im Leben! Wir machen's!« und mit einer lustigen Schelmerei um die Mundecken, exekutierte er einen surrenden Lufthieb, deutete fidel in die Richtung, wo ungefähr der Entenbusch liegen mochte, und sagte: »Wir machen's!« und klopfte mit der Linken forsch auf den dickmaschigen Düffel. »Unter jeder Bedingung. Schlankweg und mit allen Schikanen. Auch das mit dem Hammel. Wenn bloß nur die niederträchtige Sonne nicht wäre!«

Er seufzte. Mit gekniffelten Augen blinzelte er wieder nach oben. Aber sie war nun mal da, ließ sich nicht fortwischen und fand ein niederträchtiges Spezialvergnügen darin, Feuer und Lohe über die Erde zu gießen. Mit ihrem Höhersteigen verließen wir die chaussierte Straße, bogen nach rechts ein und wiewackten jetzt an Wehren und Schleusenwerken vorbei, durch unabsehbare Wiesen und Weiden, die sich über Till und Huisberden hin bis nach Holland erstreckten. Da lag sie nun vor uns – die niederrheinische Ebene. Die hohen Gräser nickten in einer leichten Brise. Zeitweilig tat sich ein grauer Pfahl auf, der aber Beine bekam, schnellfüßige Läufe, um auf diesen als Meister Löffelmann weiterzupurzeln. Lange Nebelstreifen lagerten auf den kreisrunden Kolken, drehten sich jedoch behutsam dem Binnenlande zu, wo sie fahrig und in zierlichen Spiralen verstrahnten. Wasserjungfern rasten in tollem Zickzack vorüber oder hingen wie blaugrüne Nadeln in der Luft, großköpfig, mit glashellen Flügeln, jeden Augenblick bereit, gleich blitzschnellen Gedanken und Einfällen vorwärtszuschießen. Irgendwo wurde eine Sense gedengelt. Die erste Glocke hallte herüber. Unter ihrem Geläut ging Gottes heilige Morgenfrühe über die Erde.

Bald darauf kam eine Mühle in Sicht, eine historische Mühle, denn sie hatte schon vor vielen, vielen Jahren des großen Königs großen Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz gesehen, wie dieser als kleiner und wagemutiger Bursche sein Rößlein tummelte, mit Einsetzung seines jungen Lebens ihre Sauseflügel durchsprengte, leuchtenden Auges, ohne dabei mit der Wimper zu zucken, bis er endlich so weit war, sich den Dreispitz über die gepuderte Zopfperücke zu stülpen, sein Pfeifchen in die Lüfte zu werfen und mit eingelegten Sporen den Franzosen und anderen Reichsbedrängern das Leder zu gerben.

»Jupp, Reverenz!« sagte Hübbers und salutierte mit seinem Geschalten. »Achtung, Friedrich Wilhelm von Seydlitz! Hier ist heiliger Boden, heiliger, preußischer Boden! Hier können die Demokraten was lernen, denn ohne Seydlitz und den preußischen König wären wir all miteinander vor die Hunde gegangen. Kotz den Donner, da garantiere ich für, und das muß anerkannt werden!« und respektvoll grüßte er mit seiner Otterfellmütze nach der Mühle, die gemächlich mit ihren Segeln schlappte, mit stoischer Ruhe ihre gravitätischen Arme bewegte.

Hei noch mal! das war ja die Höfkenssche Mühle, dem Vater meines Freundes Jan Höfkens sein wahrhaftiges und liegendes Eigen! Meine Brust schlug höher, denn abgesehen von kleinen Dämlichkeiten und Alfanzereien, die wir gemeinsam mit Peter Hartjes und Henn Pierentrecker begingen, hatten wir eine unerschütterliche Liebhaberei für Kropftauben, nur mit dem Unterschied, daß Jan sie in Wirklichkeit besaß, ich sie jedoch höchstens aus der Ferne bewundern und ihnen nachpfeifen durfte. Und jetzt, wo wir gerade die Mühle passierten, stolzierten sie wieder auf dem knallroten Ziegeldache des Wohnhauses herum, blähten sich auf und ließen ihre prächtigen Kröpfe und Flügeldecken in allen Farben des Regenbogens aufschillern. Melodisch tönte ihr sanftes Rucksen und Rokuzen durch den friedlichen Morgen. Herrlich und nicht auszudenken diese Besitztitel! Aber zwischen Haben und Nichthaben liegt ein unüberbrückbares Hindernis, steht ein entsetzliches ›Bis hierher und nicht weiter‹ geschrieben. Unwillkürlich mußte ich an die Christenlehre denken, in der uns der gestrenge und nörgelnde Klemens van Bebber die Bibelstelle zitierte: »Und Moses ging von den Gefilden der Moabiter auf den Berg Nebo, auf die Spitze des Gebirges Pisga, gegen Jericho über. Und der Herr zeigte ihm das ganze Land Naphtali, Ephraim und Manasse und Juda bis an das äußerste Meer. Und er zeigte ihm Jericho, die Palmenstadt, und sprach: Dies ist das Reich, das ich Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen habe, indem ich sagte: Deinen Nachkommen will ich es geben. Du selber nun hast es mit eigenen Augen gesehen; aber hineinkommen wirst du nicht. Du sollst es nicht haben.« – Herrgott noch mal! ich kam mir vor wie Moses auf dem Pisgagebirge, und der Neid wandelte mich an, ein giftgrüner Neid auf Jan Höfkens, von wegen seiner ausbündigen Kröpfer, die mir unerreichbar erschienen, unerreichbar wie die jüdischen Gefilde und das heitere Saron mit seinen duftenden Zentifolien. Nein, das waren ja auserwählte Tierchen! – und allen Mutterwitzes bar, zogen Heinrich Hübbers und ich an diesem unerschwinglichen Taubenwunder vorüber, schon etwas schleppenden Fußes und jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Bald darauf kam der Rheindeich in Sicht, hinter dem die schwarzen Straußenfedern der zu Berg und Tal gehenden Steamer auftauchten, dann, nach einem halbstündigen Marsch, erschien ein Komplex von Häusern, Ställen und Scheunen tief in der Niederung: das Gehöft im Entenbusch, das ersehnte Ziel unserer Reise . . . und wäre ich in damaliger Zeit in Xenophons ›Anabasis‹ bewandert gewesen, hätte sich das Anwesen des stiernackigen Grundbesitzers mit seinen Wiesen und Triften, seinen Äckern und Hutungen in das unermeßliche Salzmeer des göttlichen Poseidon verwandelt, ich hätte mit Nenophons schier verdursteten Söldnern gerufen: »Thalatta, Thalatta!« Da aber diese zwei Voraussetzungen fehlten, unterblieb der zündende Jauchzer, und als ganz gewöhnliche Wandersleute, nüchtern und wegemüde, klopften wir an die gastliche Pforte. Das heißt, wir brauchten gar nicht anzuklopfen, denn in seiner opulenten Herrlichkeit und geberischen Würde, im leinenen Rock, eine schwergoldene Uhrkette auf dem stattlichen Bäuchlein, kräftig genug, einen störrischen Bullen an die Raufe zu legen, trat uns bereits Herr Jakob Raaths auf seiner eigenen Schwelle entgegen. Donnerknispel noch eins, der Mann imponierte!

»Buschur!« sagte er herzhaft, fast überbrüstig, und wieherte dabei so prahlerisch, daß davon die Türpfosten bebten und die Fensterscheiben des Oberlichtes in ein gelindes Klirren gerieten. Kurzum, der Großgrundbesitzer war trefflich bei Laune, fühlte sich ordentlich in seiner Eigenschaft als Hammelspendierer, riß einen saftigen niederrheinischen Bauernwitz über den andern und führte uns dann in sein ökonomisches Reich, wie er sagte, an Dungpyramiden und Schweinekofen vorüber, bis wir zu den weitläuftigen Schafställen gelangten, die uns mit ihrem aufdringlichen Odör nach Ammoniak, Hammelvliesen und Bockmist schon aus der Ferne entgegengeduftet hatten.

Gott nein, dieses piekfeine Stänkern!

Mit besagtem Odör war meine unermeßliche Sehnsucht zum Klöpfer wesentlich abgekühlt, die zum Lämmelböckchen dagegen in eine ordentliche Siedehitze geraten, denn es blieb ein überwältigender Anblick für mich, so aus heiterem Himmel herunter siebenhundert, sage und schreibe siebenhundert, durch Hürden getrennte Woll-, Horn- und Euterträger urplötzlich vor Augen zu haben. In geballten Gruppen lagen die Mutterschafe zusammen, daneben die Lämmer und seitlich davon, gesondert von den Widdern, die verschnittenen Herren, die ausrangierten Paschas, wahrend ein einzelnes milchweißes Tierchen, gleich beim Eingang angeseilt, sofort meine ganze Aufmerksamkeit erregte.

Herrgott nicht! das war er, da stand ja der Hammel!

Ich erschauerte, und dieses Erschauern mußte meinem biederen Gönner wohl aufgefallen sein, denn mit dem fidelsten Gesicht von der Welt polterte seine speckige Stimme über mich hinweg und fragte: »Na, kleiner Notariatssprößling, wie gefällt dir das Kerlchen?«

Hübbers nickte mir zu.

»Ganz ausgezeichnet, Herr Raaths,« stotterte ich denn auch aus meiner tiefsten Erregung heraus, »eigentlich über alles Erwarten.« Ja, ich verstieg mich sogar zu der kühnen Behauptung: »Wie'n Lamm Gottes am Prozessionstage, Herr Raaths!« um doch etwas Gediegenes, Anerkennendes, Schönes und Liebenswürdiges zu sagen. »Ich bedank' mich auch vielmals!« und damit langte ich auch schon die mitgeführte Leine aus der Tasche heraus, um die umständlichen Präliminarien eines sofortigen Transportes kunstgerecht in die Wege zu leiten.

Allein das ging nicht so einfach, denn der Herr aus dem Entenbusch, in diesem erhabenen Augenblick so spendabel wie ein wohlgenährter Kantinenwirt, legte mir salbungsvoll seine rechte Hand auf die Schulter und meinte: »Was, schon nach Hause?! Ohne Trocken und Naß zu besitzen, wieder retour und in die infamige Hitze hinein?! Gibt's nicht. Unter keiner Bedingung. Ausgeschlossen, mein Junge! Wer auf den Entenbusch kommt, wird regaliert und wie'n König behandelt. Ist das erledigt, kann er meinetwegen den Weg unter die Füße nehmen. Bis dahin aber . . . erst wird gefuttert. Geschäft und Krippe stehen hierorts dicht beieinander. So 'ne Hammelgeschichte muß 'ne gehörige Grundlage haben. In zwei Stunden wird zu Mittag gegessen. Basta!« und sein befreiendes Lachen knallte wie Flintenschüsse durch die langen Stallgassen, daß die Schafe sich stumpfsinnig anglotzten und ängstlich zusammendrängten. Ach, und mein Lämmchen?! Es sah mich an, als wenn es andeuten wollte: »Tu's nur, mein Junge.«

Hübbers glaubte jedoch, mit Rücksicht auf die zu erwartende Mittagshitze, Einspruch erheben zu müssen, äußerte auch dieserhalb seine schwerwiegenden Bedenken, fügte sich aber, als ihm klargemacht wurde, daß wir mit 'nem doppelt angesetzten Kaffee, 'nem extraordinären Korinthenweck und etlichen Speck- und Zwiebelpfannekuchen regaliert werden sollten.

Vornehmlich die Speckpfannekuchen mit gebratenen Zwiebeln – diese in Aussicht gestellte großzügige Futter- und Freßorgie wirkte auf ihn ein wie Anissamen auf flüchtige Tauben. Mit einem energischen Ruck schob er denn auch seine kritischen Tastorgane beiseite, legte dem unheimlichen Tagesgestirn, seinem Glumsen und Glosen, dem staubigen Heimweg und allen Schweißtropfen, die er noch zu vergießen wähnte, keine große Bedeutung mehr bei, schmunzelte mit dem Schmunzeln der geladenen Gäste des reichen Prassers und sagte in einem schönen, tremulierenden Falsett, das wie eine muntere Schwalbe durch die Schafställe revierte: »Jupp, um deinetwegen – also wollen wir bleiben, und Ihnen, Herr Raaths, meinen gehorsamsten Ausdruck, dazu meine ergebenste Meinung,« und er drückte die Hand dieses Biedermannes mit einem so innigen und treuherzigen Gehabe, als wäre mit dem heutigen Tage ein Bund auf Leben und Sterben unter Siegel gebracht und vereinbart worden.

Aber Herr Raaths winkte ab.

»Keine Mouvements, mein lieber Herr Hübbers, ich kann meine Kronentaler für meine Person nicht ganz solo-alleine knappen. Sie sind für jedermann, der im Kamisol keinen Raum hat für Revoluzergeschichten und ähnliche Mätzchen. Wir haben's, und was wir haben, wird gerne gegeben.«

Na, das war denn ein Wort, und keine zwei Stunden vergingen, da saßen wir schon vor vollbesetzten Schüsseln und Assietten, streckten die Beine unter den Tisch, eifrigst dabei, ganze und propere Arbeit zu leisten.

Es war ein großes und behagliches Zimmer, in welchem wir die angenehmsten Augenblicke unseres ganzen Daseins verlebten: gediegener Hausrat, niederrheinische Schildereien an den Tapeten, über dem mit schwarzem Wachstuch ausgestatteten Sofa eine gute Lithographie Friedrich Wilhelm von Seydlitz', wie er in der Schlacht bei Roßbach seinen Tonstummel emporschleudert und die feinste Attacke seiner ganzen militärischen Laufbahn befehligt.

Schwerebrett noch mal, so was mußte man sehen!

»Mein Mann!« konstatierte denn auch Heinrich Hübbers, indem er mit der Gabel auf den größten Reitergeneral aller Zeiten und Völker deutete.

»Der meinige dito!« pflichtete der Gastgeber ihm bei, »denn als heimischer Heros und Hierlands geboren, tut er meine totale Estimierung besitzen. Gottverdorie noch mal!« und er schlug auf den Tisch, daß die Teller aufhoppelten, »hier auf dem Entenbusch ist er auch mal gewesen, um mit meinem Großvater selig Schmollis zu trinken.«

»Das wäre denn doch!« erstaunte sich Hübbers.

»Kann ich beschwören . . . und auf die Weiber ist er gewesen . . .! Na, ich sage man bloß: Feuer und Fett ist gar nichts dagegen, hallo und hellauf . . . und später, als er bereits mit dem alten Fritz auf du und du stand und die Franzosen vertobakte, da schrieb er an meinen nunmehr in Gott ruhenden Großvater: Soeben, vor 'ner guten Stunde vielleicht, hab' ich die Schlacht bei Roßbach gewonnen, 'ne opulente Affäre! denn neben 'ner lorbeerreichen Viktoria, hab' ich noch 'ne Anzahl von Frauenzimmerröcken, Krinolinen, Puderdöschen, Korsetts und piknoblen Damenhöschen erobert. Fein – was?! und damit verbleibe ich mit herzlichen Edelmannsgrüßen Dein alter Freund und Tabakskollege – Friedrich Wilhelm von Seydlitz. Das schrieb er.«

»Hm, hm!« sagte Hübbers, erstaunte sich abermals und gabelte weiter.

Ein auserwähltes Stück von 'ner Küchenmamsell servierte. Mit rahmweißen Armen und in einer leichten Kattunbluse, in der ihre straffen Halbkugeln als pflaumenweichgekochte und schalenlose Straußeneier vibrierten, präsentierte sie die duftigsten Topf- und Schüsselgerichte.

Hübbers schwamm in den angereichten Leckertäten herum wie eine Bachforelle im Sprudelwasser, desgleichen ich, desgleichen der Enkel des bedeutenden Großvaters.

Plötzlich legte dieser Gabel und Messer neben sich und stierte auf den nachtwächterlichen Schuster, Zeugen und Inhaber einer frischen und strammen Lebensgefährtin, als käme ihm eine geisterhafte Erscheinung. Mit jeder Sekunde wurde er nachdenklicher. Sein Erstaunen wuchs ins Ungemessene. Er meditierte. Kein Zweifel: er, Herr Jakob Raaths, war von jeher ein tüchtiger Esser gewesen. Selbstverständlich mit Auswahl. Er tat sich auch etwas zugute darauf, seinen begüterten Nachbar, den sogenannten ›Rammsbock‹, mehr denn einmal mit geräucherten Mettwürsten in Sauerkraut unter den Tisch gefuttert zu haben, aber was er hier zu sehen bekam . . . Seine Kulpsaugen wurden immer runder und größer, wuchsen zu Schneckenfühlern aus, und sein Verwundern schoß ins Zeug wie ein geiler Salatkopf, als er die nie dagewesene Messer- und Gabelfertigkeit seines geschätzten Gastes bemerkte. Er und sein Nachbar, der ›Rammsbock‹, waren hinsichtlich dieser Schnabulierkunst Waisenknaben, ganz minderwertige Stümper dagegen. Mit der tiefgründigen Andacht der Feueranbeter von Baku, die am Kaspischen Meer auf der Halbinsel Apscheren wohnen, verfolgte er die ausgetragene Leistung dieses Freßmeisters in optima forma.

Der fünfundzwanzigpfündige Leibrock schien ein Behälter ohne Boden, das mirakelhafte Faß der Danaiden zu sein. Korinthenwecke, Pfannekuchen, gebratene Zwiebeln, kurz, alles, was Öl und Speck an den Füßen hatte, machte lange Beine und nahm den breiten Pfad des irdischen Fleisches. Das üppige Frauenzimmer in der leichten Kattunbluse nebst den rahmweißen Armen hatte alle Hände voll zu tun, den Ausgleich zwischen abgegrasten und frischgefüllten Tellern zu bewerkstelligen.

Mit keuchendem Atem lief sie ab und zu.

Machte nichts – Hübbers blieb tätig.

Sie nahm den Weg zwischen Küche und Eßzimmer so eilig, daß ihr die fadendünnen Röcke bis über die derben Schenkel wirbelten.

Mein Freund ließ sich nicht stören und arbeitete weiter. Auch erübrigte er hinlänglich Zeit, eine Anzahl Kaffeetassen zu leeren und diverse Schnäpse zu interpolieren, als da waren Dornkaat, Ruhrperle und Boonekamp of Magenbitter.

Herr Raaths hielt's nicht mehr aus. Sein Erstaunen hatte den Gipfel erklommen. Höher ging's beim besten Willen nicht mehr.

»Herr Jeses!« legte er los. »Bei aller Menschenmöglichkeit: wie kriegen Sie diese Leistung nur fertig?!«

»Wie Seydlitz! Immer aufs Ganze! Allens wird totaliter niedersporniert!«

So der Schuster, und er fingerte den letzten Pfannekuchen von der Assiette herunter.

Hierauf legte er Gabel und Messer ab, stülpte die Kaffeetasse auf das Unterschälchen, faltete die Hände darüber und sagte: »Merci und meinen alleruntertänigsten Ausdruck!«

Hübbers hatte das Seine geleistet. Die Zeit drängte. Dankerfüllten Herzens nahmen wir Abschied. Von den Segenswünschen und den fetten Lachsalven des gütigen Spenders begleitet, sockten wir ab.

Es war die dritte Nachmittagsstunde, die uns gebot, an den Heimweg zu denken. Aber Gott – dieser Wechsel! Ein glühender Backofen, eine tropische Hitze gähnte uns an, als wir uns mit dem angeseilten Lammelböckchen aus dem Zwing und Bann des gastlichen Hofes ins Freie begaben. Fast scheitelrecht stand nunmehr eine unerbittliche Sonne am weißflimmernden Himmel. Erst das kühle, mollige, kirchenfreundliche Zimmer, und jetzt diese infame grelle Beleuchtung! Die Zweige der steifleinenen Pappeln, die sich im Binnenland aufhoben, regten und rührten sich nicht. Kein Blättchen legte sich auf die andere Seite, kein Hälmchen brachte die Überwindung auf, sich in ein sanftes Schaukeln zu setzen. Wie zähflüssiges Blei flutete der Rheinstrom vorüber. Kein Säuseln durchrieselte die schrankenlose Ebene. Selbst die sonst so munteren Heupferdchen hatten ihr Geigen eingestellt; es fiel ihnen nicht ein, sich an ihren halsbrecherischen Akrobatenkunststückchen zu ergötzen. Alles tot, vereinsamt, lechzend, von flirrender Gaze durchsponnen. Nur die großäugigen Rindsbremsen kamen gefahren und suchten ihre Stecher durch die Maschen der himmelblauen Schneideridee, die langsam über die Deichkrone wegkroch, zu drängeln. Die Fernen klavierten mit zittrigen Glutfingerchen herum, als wären sie mit Veitstanz behaftet. Das ganze niederrheinische Land hatte nahezu den Atem verloren.

Im Gänsemarsch zogen wir drei stumm unseres Weges: erst das Böckchen, dann Hübbers, dann ich. Wir wanderten in klebrigem Nomadengange dahin, ähnlich den Kameltreibern, die mit ihren langhalsigen Tieren durch die Sandwüste klingeln. Ich hatte bereits Pech an den Schuhen. Hübbers ging schwankend, hielt seine Otterfellmütze zwischen den Fingern und schwitzte wie ein überbeschäftigter Bäckergeselle. Der Vliesträger jedoch schien mir noch immer trefflich bei Laune.

So waren wir ungefähr eine kleine halbe Stunde gewallfahrtet, ohne Litaneien und mit hängenden Kirchenfahnen . . . da plötzlich: mit dem Ton einer Jerichotrompete, mit dem Ruf einer Schaufare von Sion rumpelte es über die Landschaft, murrend, ausholend, tutend – und doch feierlich und schön wie die Klänge in judaischen Tagen, die zum Synedrium riefen.

Ich schreckte unwillkürlich zusammen. Mein Gott! hatten das nun die Speckpfannekuchen mit den gebratenen Zwiebeln verursacht, oder aber wollte da drüben, von jenseits des Stromes . . .?!

Ich wußte es nicht.

Hübbers jedoch drehte sich um.

»Jupp,« entschuldigte er sich, »ich glaube, da will ein Gewitter über den Rhein fort. Das haben die Hitzetage so an sich,« und dabei stand nicht das geringste Wölkchen, weder Cirrus noch Cumulonimbus, wie die Wetterkundigen sagen, unter der ehernen Kuppel.

»Nein,« versetzte ich kleinlaut, »das kann ich nicht für voll nehmen.«

»Dann,« behauptete Hübbers mit apodiktischer Sicherheit, »ist es der Boonekamp of Magenbitter gewesen,« und er humpelte weiter.

Bald darauf verließen wir den Rheindeich, wandten uns landeinwärts, um die Wiesen zu erreichen, die uns mit dem schwülen und dunstigen Atem eines Treibhauses empfingen.

Jetzt wollte das Böckchen nicht mehr, denn die Hitze war inzwischen unerträglich geworden. Alles Aufmuntern und Zureden fruchtete nimmer. Die Hammelnatur des Kleinen machte sich geltend. Es stand, wo es stand, und warf sich schließlich mit einem kläglichen »Mäh!« in das knochentrockene Gras hin.

»Dann geht das nicht anders!« klagte mein Reisegenosse, zog den ›Blauen‹ aus, steckte seinen kräftigen Dorn durch die Schlaufe und präsentierte mir den Fünfundzwanzigpfündigen mit dem stummen Geheiß, ihn weiterzutragen.

Er selber nahm den sturen Hammel über die Schultern, schimpfte wie ein Rohrsperling, betätigte aber trotzdem das Werk eines guten Hirten nach besten Kräften und segelte vorwärts; ich hinterher mit dem Ungetüm, das er mir aufgehalst hatte.

Keine fünf Minuten vergingen, und abermals ertönte die Jerichotrompete über Wiesen und Altwasser, jedoch mit grimmigen Intervallen dazwischen.

»Jupp!« klang es mir zu, aber flügellahm und aus einer diesigen Atmosphäre heraus, »jetzt weiß ich's! Nu habe ich den diesbezüglichen Kasus gefunden: sie schießen auf der Spellner Heide. Ich kenne das aus meinen militärischen Verhältnissen. Obergefreiter und so. Das kommt von Wesel herüber. Da üben sie sich auf den Krieg ein. Es riecht nach Pulver. Ich glaube, Oma hat recht. Ja, das mit dem Besenstern! Das bringt uns Molesten und geschwungene Säbels. Wie das bummert! Da hör' bloß! Herr Jeses, Herr Jeses!«

Dieses Mal jedoch ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen, spielte vielmehr den steifnackigen und ungläubigen Thomas. Ich war wissend geworden. Keine Täuschung lag vor. Weder ein Gewitter wollte herauf, noch wurde auf der Spellner Heide bei Wesel geschossen. Die Zwiebeln waren's, lediglich die Speckpfannekuchen mit Zwiebeln! denn ich wußte, daß mein Berater und Gönner zu den musikalischen Nachtwächtern und Schustern gehörte.

Nein, dieser Hübbers!

»Jupp!« rief er wieder, »nu kommt die eigentliche Rübsen- und Baumölgeschichte! Herr, du mein Christus, diese sibirische Hitze!«

Und richtig, so war es. Ganze Strahlengarben und Feuerbündel züngelten unbarmherzig aus der kochgaren Höhe herunter. Konnte es am Toten Meer, wo der brodelnde Asphalt zwischen bituminösen Schlacken die Zunge heraushängen läßt, wohl drückender und benauter sein? Unmöglich! Selbst die Kühe, die bei den Salzlecken ruhten, waren so verdammelt und dösig geworden, daß sie uns kaum noch mit ihren dummen Augen anzuglotzen vermochten.

Ich stellte mir die Schweizer Alpen vor, ihre eisigen Firne und Grate, den Chimborasso, den Popokatepetl mit ihren ewigen Schneeregionen, um mir nur ein bißchen Kühle zu verschaffen. Es wollte nicht helfen. Mit dem besten Willen – ich konnte nicht weiter. Meine kleinen Beine versagten. Kurz, ich gab das Rennen auf, bekümmerte mich nicht mehr um den Hammel und Hübbers und warf mich mit dem Fünfundzwanzigpfündigen, dem geschälten Hagedorn und allem, was mein war, zu Boden.

Ich lag wie gemäht und blinzelte teilnahmlos durch die durstigen Gräser.

Der gute Hirt sah sich um. Mit dem Gesicht eines Feuermannes.

»Vorwärts, Jupp! Wir müssen nach Hause.«

Ich ließ rufen, was rufen wollte, und gab keine Antwort. Meine Lippen versagten. Keine zehn andalusische Maulesel hätten mich von der Erde gewuchtet.

»Gottverdorie noch mal, das ist ja 'ne Heidengeschichte!«

Der musikalische Schuster legte seine wollige Fracht ab, machte den Weg zurück und transportierte mich und den ›Blauen‹ bis in die Nähe des dickfelligen Präsentes, wobei er tutete, als sei er gewillt, alle Pappel- und Weidenbäume aus ihren Wurzelstöcken zu blasen. Dazu fluchte er mit dem Ingrimm eines königlich preußischen Zoll- und Steuerbeamten, hieß den Boonekamp of Magenbitter das ruppigste Destillat unter der Sonne, das man brevi manu gegen die Wand pfeffern sollte.

Ich schloß mich seinen Verwünschungen an.

Unter dem heiligen Gelöbnis, niemals mehr einen geschenkten Hammel vom Entenbusch einzuholen, ging es nunmehr den heimischen Penaten entgegen, aber langsam, immer fein langsam und unter den schwierigen Umständen. Erst wurde das Lämmelböckchen ein Stück Weges befördert, dann kam der Fünfundzwanzigpfündige, dann ich an die Reihe.

So vergingen Stunden um Stunden.

Die Hitze ließ nach . . . ein kühles Lüftchen wehte herauf . . . die Gräser raschelten wieder.

Ums Abendwerden erreichten wir endlich die Höfkenssche Mühle.

Der gute Hirt schimpfte und schwadronierte noch immer. Er verdammte mich, den infamen Hammel und die Speckpfannekuchen mit Zwiebeln. Mit Schrecken und Grauen gedachte ich unserer Leidensstationen, die hinter uns lagen. Jetzt endlich – endlich lächelte uns die ersehnte Ruhe.

Unmittelbar am Windmühlenhügel, nicht weit von den Gärten und Gärtchen, die zu den Besitztiteln der kleinen Bürgersleute gehörten, hielten wir die letzte Rast. Wie die Sackträger, mit hochroten Köpfen plumpsten wir am Straßenrain nieder, streckten uns und sahen zu, wie die niederrheinische Sonne langsam am tiefen Horizont verblutete. Die Schwalben hatten aufs neue ihren Flug aufgenommen. Im nahen Wehr gluckerten die Wässerchen, die Heupferdchen gaben sich alle Mühe, den Abend so schön wie nur möglich einzuschläfern. Aber es blieb noch geraume Zeit hell und sichtig auf Erden. Säuselnd bewegten sich die Mühlenflügel: »Susela, dusela!« Die Segelleinen schlappten gegen die Ruten. Der Haus- und Wirtschaftsesel graste in der Nähe. Eine Wiesenralle wurde lebendig. Die Bäume bekamen wieder Seele und Odem. Die Umwelt ließ sich traulich und feingliedrig an. Der Zauber des Niederrheins regte sich in Nähe und Weite. Auf heimeligen Sohlen streifte er durch die friedliche Gegend.

»Susela, dusela!«

Ah, wie das wohl tat!

Mein Freund und Schulkamerad Jan Höfkens hatte uns schon lange beobachtet. Behutsam schnürte er aus seinem Bau. Mit sommersprossigem Gesicht und ausgebauchtem Hosenboden rückte er vor. Endlich war er so weit.

»Tag Jupp!«

»Tag Jan!«

Mit mehlverstaubtem Jakett, die abstehenden Lauscher gespitzt, schlenkerte er sich an meine Seite und besah sich den Hammel, der zufrieden aufmeckerte. Er musterte mit Kennermiene das Schwänzchen, die Wolle, die Kläuchen.

»Wohl vom Entenbusch?« fragte er schließlich, aber bloß so von obenhin.

»Ja!« versetzte ich glücklich, beseligt, ein ausgemachter Krösus.

Er schrumpfelte die Lippen und stieß einen merkwürdigen Laut aus.

»Nicht viel dran,« sagte er lurig. »Ich als tierbewandert könnte ihn nicht für prima taxieren. Außerdem täte er stinken.« Dann griff er in die Taschen, die ihm fast bis zu den Kniekehlen hingen, und brachte Wicken und überjährige Erbsen zum Vorschein. Die streute er umständlich vor sich aus und pfiff dazu ganz meisterhaft die Taubenlocke.

Mit hellem Knattern kamen gleich darauf seine Kröpfer geflogen, Gummibälle mit zugespitzten Hinterteilen, taten sich nieder, umzirkelten ihn, pickten ihm sogar aus der Hand, blähten sich auf und rucksten und rucksten.

Mit begehrlichen Augen sah ich auf die schillernden Tierchen. Meine Nüstern hoben sich. Eine neue Welt lächelte mir zu. Die alte Sehnsucht der Deutschen, das zu besitzen, was sie nicht haben, dem Fremdartigen nachzulaufen, es zu bewundern, ihm Reverenz zu machen und es anzubeten, selbst dann, wenn es auch das Dämlichste wäre – diese alte Sehnsucht regte sich auch in mir.

Der semmelhaarige, schlacksige Bengel bekam von diesen Meditationen Wind in die Nase. Eine merkantile Idee ging ihm auf.

»Jupp,« sagte er unter verächtlichem Achselzucken, »für 'nen Notarssohn könnte sich so 'n Stänker nicht schicken. Weißt du was: gib mir den Bock, dann tätest du dafür meinen pikfeinen Kröpper empfangen und 'nen Korb noch für gratis dazu.« Dabei hatte er auch schon den stattlichsten Vogel aus der Gesellschaft herausgegriffen und selbigen mir hingehalten.

»Da kuck' mal! Ich müßte ihn für den Baas unter meinen Tauben betrachten. Ich täte bloß bis drei zählen, dann aber auch . . .«

Ich äugelte fragend auf Hübbers.

»Ja, nur fort mit dem Vieh!« erwiderte dieser, noch ganz verbiestert durch die Heimsuchungen der Hin- und Rückfahrt, kaum noch der reichlichen Bewirtung, der Schnäpse und Zwiebelpfannekuchen gedenkend. Sein Ärger dominierte, und daher . . .

»Ja, tu's man, tu's man! Ich rate dir zu. Mir steht der Korinthenverfertiger bis zum Halse.«

Da schlug ich ein, und als ich eingeschlagen und Jan 'nen Henkelkorb zugebracht hatte, ertönte der letzte und kräftigste Trompetenstoß über die Niederung, gleichsam, um den zwischen mir und dem Sommersprossigen getätigten Pakt unter Knall und Dunst und eine solenne Feier zu nehmen.

»Punktum, streu' Sand drauf! wie wir das bei 'nem notariellen Aktus benennen.«

Wir gedachten aufzubrechen, als Jan Höfkens, schon den eingetauschten Vierfüßler an der Leine, auf meinen Kröpfer vigilierte und sagte: »Wir täten hiermit gratulieren, denn der da wäre so gut wie prälimiert, könnte auch jeden Tag vom Herrn Bürgermeister die goldene Medaille beziehen.«

Wir gingen. Er aber rief noch hinter uns her: »Ja so! ich hätte soeben noch etwas Feines betrachtet.«

Wir sahen uns um.

»Na – und?!«

»Ich hätte soeben die schöne Hendrintje vom papierenen Aloys gesehen.«

»Wo denn?«

»In ihrem Garten dahinten. Dort täte sie sich bei's Frühkartoffelausmachen benehmen und hätte Nöllecke Giltjes als Beistand.«

»Junge, wen?!« brüllte Hübbers.

»Nöllecke Giltjes!«

»Unsinn, verfluchter! Du hast dich verkuckt. Das ist wohl Aloys selber gewesen!«

»Nee!« gab der Bengel patzig zurück. »Ich kenne ihn doch an seinem schmiedeeisernen Schurzfell und seine krölligen Haare. Zu's Ausruhen wären sie dann in die dichte Fitzebohnenlaube gegangen. Ja – das täte ich sehen.«

»I du imfamer . . .

»Nee, ich könnte nicht irren.«

»Maul halten!«

Hübbers war wild. Er drohte mit seinem Hagedorn.

Dann zogen wir ab. Glücklich, wenn auch ohne Lämmelböckchen, aber mit dem erträumten Vogel im Korbe, traten wir den letzten Rest unserer Heimreise an.

Auf der Brücke am Kesseltor stand mein zweiter Freund Henn Pierentrecker, der immer das Wort im Munde führte: »Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.« Er angelte mit seinen primitiven Angelgeräten, mit Gerte, Bindfaden, Regenwurm und gehäkelter Nadel, fand aber noch Muße, etlichen fetten Karauschen auf die Kiemen zu spucken.

»Jupp, was hast du da?« fragte er neugierig.

»'nen Kröpper,« sagte ich stolz, getragen von dem Bewußtsein eines grandiosen Besitzes.

»Laß mal sehen,« meinte er eifrig, und bevor ich es hindern konnte, hatte er auch schon den Deckel des Körbchens gelüftet.

Und als er ihn lüftete . . . fort war der Vogel. Himmel und Herrgott! Christus, mein Schrecken! Klatschend, sich tummelnd, stieg er höher und höher, um dann seitlich abzustreichen.

Der gute Hirt, Henn Pierentrecker und ich stierten ihm mit offenem Mund nach, sahen ihn in der allmählich stärker werdenden Dämmerung spurlos verschwinden.

Reich an Hoffnungen war ich in die niederrheinischen Gefilde gepilgert, habelos, geschlagen und bettelarm wie Hiob in der Feldmark Uz kehrte ich heimwärts.

Aber die Angelusglocke tat ihren Mund auf. Ihre weiche und fromme Stimme hallte ernst und allversöhnend über das schöne Land meiner Jugend. Das letzte Rot im tiefen Westen zerfaserte, und langsam erhob sich ein bleicher Stern am resedafarbigen Himmel. Es war Abend geworden.

 


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