Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Siebzehntes Kapitel

Funken, Sternschnuppen, flirrende Sonnen! Gleich silberigen Möwen flatterten sie durch ein wirres Gesichtsfeld, peitschten das Blut durcheinander, rauschten im Ohr, warfen den Ärmsten auf einen Stuhl in einer verschwiegenen Ecke, als er von dem bittersten Gang seines Lebens heimkehrte und Moritz neben ihm stand, ihm Trost zu spenden und die bösen Eingebungen von ihm zu nehmen.

Aber das fruchtete wenig.

Die Funken, die Sternschnuppen, die flirrenden Sonnen wichen nicht von ihm. Er wurde ihrer nicht Herr, konnte sie nicht abtun, sie nicht aus seinen verstörten Sinnen verweisen. Sie kreisten um ihn, machten ihm das Zimmer, das Haus, die ganze Umwelt zu einer brausenden Schleuse. Jetzt erst fühlte er die Schwere seines verfehlten Daseins, die Last seiner Unehre, die völlige Blöße seines Schicksals.

»Du . . .

Er sah Moritz mit toten Blicken an.

»Weißt du schon alles?«

»Was soll ich denn wissen?«

»Hier dieses!«

Er griff in seine Rocktasche, entnahm ihr Hendrintjes Schreiben, glättete es und reichte es hin.

»Da lies! Denn ohne dieses verstehst du nicht, wie einer dazu kommt, mit dem Kopf gegen die Wände zu klopfen. Verdammich!«

Der Riese sah auf.

»Was soll das? Du bist wohl nicht richtig?! und hast mir doch in die Finger geschworen . . .«

»Ja so!« lallte der Heimgesuchte. »Ich weiß, ich weiß. Du hast mir Ruhe gepredigt,« und stieren Auges sah er, wie Moritz den ihm übergebenen Brief auseinanderfaltete und Zeile um Zeile verfolgte.

Es war ein langes und banges Zergliedern jedes einzelnen Satzes, denn Moritz las schwer, aber bedachtsam. Endlich war er damit fertig geworden. Er ließ den Schriftsatz herunter.

»Ein Vermächtnis der Toten,« sagte er traurig.

Aloys zitterte.

»Moritz, sie ist mein Weib gewesen,« mahlte er zwischen den Zähnen, »und wenn Mutter auch sagte . . . wenn sie auch dartat und die Hand gegen sie hob . . .«

»So hat sie richtig dargetan und die Hand nicht zu Unrecht gehoben, denn Hendrintje . . . Blexem! nur wolle bedenken . . . Lasse mich ausreden, Aloys. Auf stunds darf ich dir bloß sachlich begegnen. Drum wisse . . .«

»Nein, Moritz! erst müssen wir sagen: Es fällt über mich wie'n Bahrtuch. Draus hör' ich sie rufen: Aloys, hilf mir! Ich bin durch Schuld und Sünde gegangen. Ich bin wie 'ne Hündin gewesen; aber dann wieder: Du – erbarme dich meiner!«

Sein Partner machte einen Strich durch die Luft.

»Gut! Drauf wollte ich kommen,« und er holte aus, als hätte er eine kaum zu bewältigende Last aus der Tiefe seiner Seele zu heben. »Aloys, kapierst du, was es heißt, ein Schiff in schwerer Seenot zu wissen? Ich habe nicht die Ehre gehabt, die Nase gegen Seewind zu halten . . . niemals . . . aber auf'm Rhein, da kenn' ich mich aus . . . und Rheinnot und Seenot bleibt so ziemlich das nämliche. Dereinstmals! im Bingerloch war's . . . vor Jahren . . . so bei Hochwasserzeiten. Ein Holländer kam . . . lief auf . . . knackte wie'n Streichholz zusammen. Zwei Mann über Bord . . . die Ladung geliefert . . . und der Kaptän selber: vier handfeste Kerle mußten ihn halten, sonst wäre auch er ins häßliche Wasser gestolpert. Das ist Seenot, mein Junge . . . veritables Elend . . . und, wie du richtig bemerkst, um mit dem verdösten Kopf durch die Wand zu brechen.«

Aloys starrte ihn an.

»Was willst du damit?«

»Dich zusammenschüttern – das will ich. Dich vor Anker legen in blödem Stauwasser – das habe ich vor. Dir 'ne Laterne am Fockmast aufhissen, daß du dich selber zurechtfindest – das will ich dir aus Freundschaft besorgen. Warte bloß ab. Denn das mit dem Holländer im Bingerloch, das ist genau deine Affäre. Aloys,« und seine Stimme schrumpfte ein, »euer Schiff lief sich kaputt . . . und ist koppheister gegangen und aufgestoßen auf den Hundsfott da drüben. Der Mensch hat die Havarie besorgt . . . aber gründlich.«

»Mein Gott und mein Himmel!«

»Lasse das man. Ich bin noch nicht fertig. Hendrintje ist um dessentwegen über die Planken geworfen. Du aber nicht, wenn du dich auch noch in 'nem schweren Wetter befindest. Und da sollte ich annehmen . . .«

Aloys erhob sich.

»Moritz, ich kann ihretwegen keine Besinnung finden, denn immerzu ruft sie: Hilf mir! Ich bin durch 'ne schmutzige Sünde gegangen. Ich bin wie 'ne Hündin gewesen . . .«

»War sie. Aber die meiste Schuld . . . Höre mich an, denn mein Wort ist wie'n Kommando auf Deck: Ihretwegen hast du das deine geleistet . . . hast bei ihr in der Kammer vorgesprochen . . . hast ihr 'ne ehrliche Bestattung zukommen lassen . . . hast ihr gesagt: Erbärmlich, wenn auch nicht völlig erbärmlich! denn wer noch so'n liebes Schriftstück hinlegen konnte . . . Aloys, das geht an die Nieren, und da sollte ich annehmen: laß sie jetzt ruhen. Mache 'nen dicken Strich durch die Sache . . . und wenn der dort oben ein Einsehen hat, dann kannst du auch so ganz sachte und langsam ins tote Vergessen hineinnavigieren.«

Aloys wurde gefaßter. Ein frommer Mut beseligte ihn.

»Ja, du wirst es schon machen. Aber ich habe immer geglaubt, hier mein Haus wäre 'ne heilige Stätte und draußen mein Garten wäre heiliger Boden . . . und da kommt so ein Mensch und streckt seine schmutzige Hand drüber hin, und behaftet die Lebewesen mit Meltau, und ringelt die Bäume an, daß sie absterben müssen, und verwüstet das alles . . . und verwüstet das alles . . .«

Der gesunde Arm steilte sich hoch.

»So'n Viechskerl!«

»Genug!« donnerte Moritz. »Jetzt gilt's nur: rette dich selber . . . vor Voreiligkeit . . . vor dummen Alfanzereien. Es bleibt dabei: Hendrintje soll ruhen . . . aber das da, die Begleichung der Infamie – die kommt auch an die Reihe.«

Er schwieg und schien mit sich selber zu ringen.

Dann brach's aus ihm plötzlich heraus, unvermittelt, mit der Gewalt eines geworfenen Steines.

»Du – hast du den Kreisanzeiger gelesen?«

»Welchen Kreisanzeiger?«

»Nu, die heutige Nummer.«

»Lesen? – und das in meiner jetzigen Verfassung? Nein, Moritz, wir haben gar nichts gelesen.«

»Brauchst du auch nicht. Das hätte ich auch als Dummheit angesprochen . . . als 'ne komplette Dummheit . . . 'ne Dummheit mit Stunk an den Füßen, denn sie wäre kumpabel gewesen, dich noch mehr aus dem Senkel zu werfen. Aber ich . . . ich habe gelesen . . . 'ne wahre Erleuchtung. Hier steckt das Blatt . . . hier unter der Weste. Das wird mal mobil . . . mobil bis zu den Stiefelschäften herunter. Ja, du – schon lange war ich von besonderen Mutmaßungen angefallen. Ich erinnere nur an das letzte Begegnen mit dem krölligen Schurzfell . . . damals, als du nach Wesel machtest. Und diese Mutmaßungen – sie klebten mir an wie Blutegel. Ich konnte die Biester nicht loswerden. Jetzt bin ich sie los, denn aufgetretene Umstände haben ihnen 'ne gehörige Portion Salz auf die Köppe besorgt, daß sie abfielen wie überständige Fliegen.«

»Und was beweist du damit?«

»Das ist meine Affäre . . . lediglich meine Affäre. Denke du bloß an den heutigen Tag . . . an Hendrintjes Begräbnis. Halte ihn fest, denn an dem heutigen Tage: ich habe gelesen . . . und das stößt ihm das Genick ab . . . aber völlig. Für ihn gibt's keine Ostern mehr . . . keine Auferstehungsfreude . . . kein Leben.«

Er legte ihm die Hand auf die Binde.

»Laß das erst ausgeheilt sein, dann sprechen wir weiter darüber. Und dann noch: hier diesen Brief nehme ich mit . . . kann ihn gebrauchen. All right! Das wäre kalfatert. Kein Wort mehr, denn jetzt können wir uns 'ne Tasse Kaffee vergönnen. Komm mit,« und Aloys folgte ihm wie ein geduldiges Kind.

Die Funken, die Sternschnuppen, die flirrenden Sonnen ließen von ihm ab. Er fühlte sich freier. Es war ihm, als wenn ein warmes, versöhnendes Licht ihn umbüschelte.

Sie trafen Hannecke im Wohnzimmer.

Sie hatte bereits das Nötige gerichtet.

Mit Hilfe der Lichjuffer waren die traurigen Überreste der Beerdigung aus dem Wege geräumt. Die Fenster standen geöffnet. Eine wohlige Luft strömte herein. Der aufdringliche Geruch nach Krepp und Kalmus war ins Freie gezogen. Die Stühle befanden sich wieder an der richtigen Stelle. Keine tote Blume verunzierte mehr die Dielen. Der Spiegel sah wieder freundlich ins Zimmer, die Uhr tackte und tickte wie an sonstigen Tagen, und der gewaltige Kopf des heiligen Markus auf dem Zifferblatt verdrehte bei jedem Gang des Perpendikels die Augen, seine Lippen schienen die Worte zu reden: »Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wenn es Zeit ist.«

Hanneckes sorgsames Walten legte sich mild auf die Herzen. Ein Versöhnen wisperte darüber hin, mit dem Säuseln eines linden Sommerabends. Immer geschäftig, schenkte sie den duftigen Kaffee ein, reichte sie Sahne und Zucker, ohne auch nur im geringsten die aufgenommene Unterhaltung durch ein Klimpern mit Tassen und Unterschälchen zu stören. Sie mutete an wie aus einer Glasservante genommen, so leicht ging ihr alles vonstatten, so achtsam und freundlich verstand sie es, der ernsten Stunde Rechnung zu tragen. So machte sie jedes Geschehen und die verflossenen Tage weniger schmerzlich und hoffnungslos. Sie sammelte alle vergossenen Tränen und stellte sie in einem Krüglein beiseite. Sie erinnerte an eine der edlen Frauen, die sich in der Gesellschaft Jesu befanden, an Maria von Magdala, an Salome und Maria Jakobi, so da Essenzen und Spezereien zutrugen, um die Wunden des Herrn zu salben. Nur hin und wieder fiel ein Wermutströpflein dazwischen, ein herbes und qualvolles.

Und bei einem solchen Wermutströpflein . . .

Aloys sah sie an.

»Hannecke, es ist mir so, als wenn ich mich auf einer Stätte befände, die man lieb haben könnte. Die Kränze sind fort, das Licht scheint wieder ins Zimmer, die Schildereien begrüßen mich, wie sie es immer taten. Nur eine sehe ich nicht und höre sie nicht. Ich höre sie weder nebenan, noch über uns. Und so denke ich mir: sie hat wahr gemacht, was sie mir androhte.«

Seine Stirn furchte sich.

»Mutter ist wohl von uns gegangen?«

Hanneckes Lippen wurden schmal.

Mit wehem Nicken sah sie in ihr Schälchen, legte das Kaffeelöffelchen auf die andere Seite. Dann verschränkte sie die Hände, löste sie wieder und streichelte über ihr Kleid hin.

»Ja, Aloys, sie ist von uns gegangen.«

»Mein Gott, mein Gott!«

»Mensch, ich habe dir doch soeben verkündet: Wenn du dich auch noch in schwerer Seenot befindest – ein Auflaufen gibt's nicht. Du bist der Bestmann deines eigenen Schiffes. Immer den Sturmriemen untergezogen. Sonst geht die Besinnung flöten. Denke an den Holländer im Bingerloch und seinen Kaptän.«

»Moritz, das will ich ja auch. Nur möchte ich wissen . . .«

»Ich verstehe,« sagte die Ärmste. »Als Hendrintje fortmußte, hat Mutter Order gegeben, Kleider, Wäsche und alles, was sie sonst noch benötigte, zu ordnen und in die große Reisetasche zu packen.«

»Und dann?«

»Was soll ich noch sagen? Sie ließ sich nicht halten und ging zu den barmherzigen Schwestern. Gleich darauf schickte sie jemand vom Kloster, um ihre Sachen zu holen.«

»Und sie kommt nicht retour?«

»Nein, Aloys; ich glaube, sie hat sich dort eingerichtet für die Zeit ihres Lebens. Dort wolle sie sterben und ihren Erlöser erwarten. So sagte sie wenigstens.«

Moritz schlug auf den Tisch.

»Das ist die Staatse!« und dann zu Aloys gewendet: »Auch gut! Darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen.«

»Hannecke, hat sie für mich nichts hinterlassen? Kein Wörtchen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Von ihren Wimpern tropfte es.

»Nein, sie hat nichts hinterlassen.«

»Nu aber genug!«

Der Riese polterte auf.

»Was sie getan hat, das brauchst du nicht auf dein Konto zu buchen. Das ist Ansichtssache. Aber die ihre steht nicht so ganz auf dem zuständigen Boden. Diese Frau überhaupt! Sie hat hartes Sperrholz zwischen den Rippen.«

»Moritz, sie ist meine Mutter.«

»Ist sie. Soll sie auch bleiben. Daran tipp' ich auch nicht, 'ne Mutter ist wie 'ne Hostie. Ihre Füße gehen nicht müßig . . . ihre Hände kennen kein Ruhen . . . pflegen den Weinstock am Hause. Sie ist wie'n Schiff, das 'nen betriebsamen Kurs hat. Aber sie kann auch'n Leck beziehen, wie'n Boot, wenn die konträrigen Umstände 'ne verkehrte Peilung aufbringen. Und was deine Mutter ist – sie hat in dieser Beziehung nicht umsichtig gepeilt, nicht auf die Flaggenzeichen geachtet. Dich kann sie dafür nicht verantwortlich machen. Ich weiß: du hast sie immer eingeschätzt, wie's 'nem braven Menschen ansteht . . . ihr die Hand unter die Füße gelegt . . . sie in den Abend geführt . . . in 'nen laulichen Abend, mit Amselsingen und 'nem feinen Himmel darüber. Und wenn sie dir jetzt widerhaarig kommt, so fahre das getrost auf den Kirchhof, denn auf dem Kirchhof ist Auferstehung, blühen öfters die schönsten Nelken und Nachtviolen.«

»Ich danke dir, Moritz.«

»Hat keine Eile. Aber was ansteht, das muß sich 'ne Extrapost bestellen. Wir müssen deine Zukunft in Überlegung nehmen. Ohne selbige kann sich unsereins nicht mehr an Gottes Atem erfreuen. Also erstens: Du fängst wieder aufs frische an . . . versiehst dein Ladengeschäft . . . verfertigst deine Bücher nach altem Turnus . . . Halbfranz und Leinen . . . lieferst dem Herrn Notarius Aktendeckel und was er sonst in Gebrauch nimmt. Deine Firma muß in floribus bleiben . . . und wenn du manchmal in purem Eis stehst . . . in Treibeis und Randeis . . . das tut nichts. Auch dieses wird von der Sonne angeknabbert . . . geht ab . . . schwimmt auf Nimmerwiedersehen dem grauen Meer zu.«

Er räusperte sich, um dann weiter zu sprechen.

»Zweitens: Dein Hausstand wird aufrecht erhalten . . . nach altem Brauch und guter Gewohnheit. 'ne wahre Liebhaberei muß er vorstellen, blank wie 'ne Kombüse auf 'nem Ostindienfahrer. Drittens: 'ne Stütze ist nötig . . . 'ne brave und däftige. Keine mit 'nem noblen Latz an der Schürze, sondern eine mit Klumpen und Lammwollsocken. Hannecke, so denke ich, wird sie besorgen . . . und wo's mal fehlt, da wird sie 'n Auge draufhalten und nach dem Herdfeuer sehen. Mamsell, da stehen wir doch in der nämlichen Ansicht?«

»Moritz, wie gerne!«

»Das dachte ich mir. So!« und der Riese stülpte seine Tasse auf die Unterschale, »jetzt nehme ich noch 'ne kleine Portion Schlaf in die Augen, um, wenn du gestattest, nach's einfache Mittagessen wieder nach Grieth zu machen. ›Miekske‹ wartet auf mich. Sie hat lange in Behandlung gelegen: Teerung und neues Segelwerk. Auch die Wanten waren splissig geworden. Jetzt, in ihrer Aufmunterierung, muß sie aufs neue 'ran an die Arbeit, sonst kommt sie noch auf den dummen Gedanken, sich dämlicherweise in Pensionierung zu geben und sich auf den Altenteil zu setzen. Das sollte ihr passen. Aber ich denke nicht dran. Aloys, auch du nicht. Also bis gleich denn.«

Über das kleine und bescheidene Häuschen am Großen Markt senkten sich endlich die weißen Fittiche der heißersehnten Beruhigung und die des Friedens.

Die Schwalben freuten sich des Sommertages. Sie drillten hoch, zerschnitten in reißendem Flug die atlasfarbigen Lüfte, um gleich darauf mit gebreiteten Schwingen wieder in die Tiefe zu gleiten.

Das Mittagläuten verhallte; die letzten Klänge verwehten, zogen flügellahm über die Dächer, über die Landwehr, betteten sich auf die niedergelegten Roggen- und Weizenparzellen, auf die Blumen des Feldes.

Auf Sankt Nikolai setzte das Glockenspiel ein. Es sang die alte Weise: »Heb' das Auge, das Gemüte, Sünder, zu dem Berge hin . . .«

Auch dieses zerfaserte.

Wir warteten auf sein Ausklingen wie auf eine Offenbarung: Henn Pierentrecker und ich, denn wir saßen auf der Steinbank unter der großen Linde und harrten unseres gemeinsamen Freundes.

»Und meinst du auch wirklich . . .

»Ja,« bestätigte Henn, »Klock zwei geht er fort. Er muß wieder nach Grieth hin.«

Über uns holte die Uhr auf dem Rathausturm zu einem langen Raspeln und Schnaufen aus.

Dann rief sie die Zeit an. Die zweite Mittagsstunde.

Moritz erschien.

Er trat allein aus dem uns lieb gewordenen Anwesen. Wir riefen ihn an.

»Jungs, da seid ihr ja wieder!«

»Wir möchten gern mit.«

»Bonus, aber bloß bis zur Bunten Schleuse. Nicht weiter. Aber wo sind denn die anderen?«

»Hartjes ist vom Begräbnis her noch so'n bißchen benaut,« berichtete mein Freund, »und Jan Höfkens ist hinter seinen Kröppern her, weil drei ihm ausritschten, und zwar seine besten.«

»Schön!« sagte Moritz, »und 'ne gute Verrichtung. Aber wir . . . Kinder, es bleibt doch 'ne wahre Liebhaberei, so mit euch durch die Sommerwiesen und über den Deich zu klätern. Über uns das liebe Gotteslicht und Gottes Barmherzigkeiten! Das geht einem wie Honig und Sirup herunter. Aber Donnerknispel noch mal . . .

Sein hartes Gesicht verfinsterte sich.

»Das wäre mir ja bald ins Kielwasser gespült. Ich meine: hat einer von euch 'n Stück Kreide im Sack?«

Natürlich! Das wäre noch schöner, wenn wir das Angeforderte nicht mit uns führten. Stockfarbe, Kreide, Bindfäden und verrostete Nägel waren immer vorhanden.

»Hier, Moritz!«

»Merci.«

Wir gingen die Kesselstraße hinauf, die nunmehr todstumme Straße. Sonst schnob schon der Blasebalg von ferne herüber, pinkte es, zischelte es, jammerte der Amboß unter den Hieben von Zuschlag- und Bankhammer. Jetzt schwieg jegliches an allen Ecken und Kanten, schurfelte es mit den weichen Schuhen eines Leichenansagers über die mit Moos durchsprenkelten Pflastersteine.

Moritz griemelte ernst vor sich.

»Die Ratzen haben Leine gezogen.«

Unter seinen derben Transtiefeln hallten die niedrigen Häuserzeilen wider. Er brachte Musik in die Sache, Marschmusik, preußische Musik. Den Düppeler Sturmmarsch von Piefke und sonstige Stücke.

Die Bürgerschaft hielt noch Mittagsruhe, drusselte in irgendeinem Lehnstuhl oder in einer Sofaecke herum.

Das störte ihn nicht. Mochte sie aufgeweckt werden. Warum auch nicht? Er, für seine Person, hatte noch vieles in Grund und Boden zu stampfen, noch mancherlei durch seinen Schädel musizieren zu lassen.

»Eine ist tot,« knirschte er zwischen den Zähnen, »'ne andere ärgert sich von dieser Erde fort, ein dritter zernagt sich, aber der vierte hat noch frische Luft in der Lungenpfeife. Die wird kürzer gemacht. Was zu opulent ist, muß abgedreht werden. Räudigen Hunden gibt man 'nen Fußtritt.«

Plötzlich hielt er an.

»Achtung!«

Wir befanden uns vor der Giltjesschen Schmiede.

Ein Gesell stand vor der geöffneten Torfahrt, die Arme untergeschlagen, eine irdene Stummelpfeife zwischen den Zähnen. Hinter ihm strudelte kein Feuer, war keine Glut in der Asche, gähnte uns ein verrußter, arbeitsloser Raum entgegen, mausetot, abgeledert in seiner innersten und äußersten Aufmachung.

»Na, Andries, wie geht's denn?«

»Ich danke der Nachfrage – hundsmiserabel.«

»Warum das?«

»Es muffelt brandig dahier. Mein Kamerad ist schon fort. Er hat's übergekriegt. Hier gibt's nichts mehr zu brocken und nichts mehr zu beißen. Nächsten Sonntag mach' ich mich auch auf die Lappen.«

»Recht so! Da soll einer auch schaffen, wo's stinkt wie in 'ner Abdeckerei oder noch schlimmer.«

»Sage ich auch.«

»Na – und er, der Meister von's Ganze?«

»Längst über Strunk und Strünke, Mynheer!«

»Aber wohin?«

»Kann es nicht sagen. Ab nach Kassel. Möglicherweise nach Holland. Da steht er noch in 'ner gewissen Verwandtschaft.«

»Seit wann denn?«

Andries langte den Pfeifenstummel herunter.

»Seit er gehört hat: Hendrintje Teerling ist mit Tod abgegangen.«

»Glaub's schon. Und wann er zurückkommt, darüber hat er gar nichts verlautbart?«

»In 'nem Monat vielleicht. Können auch zwei werden. Indessen, wer weiß was Genaues!«

Moritz lachte.

»Also fahnenflüchtig! Prächtig! Ausgeritscht wie Jan Höfkens seine Kröpper. Nobel von ihm. Bei den Dänen hat er's auch so gemacht, oder besser gesagt: die Aushebekommischion hat ihm 'nen Freipaß zugestellt, um so'n Kröpper zu werden. Brav so! Solche Vaterlandsbrüder mit Bullenknochen kann der König gebrauchen. Immer man druff, auf andermanns Tisch gekloppt, andermanns Ehre verunziert, mit dem Kopp in die Federposen hinein, während die anderen eiserne Bohnen überschluckten und die Stirne in den Sand bohrten.«

Er verdrückte einen Fluch hinter die Binde.

»Saukerle bleiben Saukerle.«

»Hab's auch schon gedacht.«

»Andries, und niemand ist binnen?«

»Bloß noch die Alte. Aber wie lange noch? Soll ich mal anfragen?«

»Pressiert nicht. Überhaupt nicht nötig. Was soll ich mit ihr? Natürlich, sie kann einem leid tun, so 'nen Hinterhältigen in die Welt gesetzt zu haben. Indessen – 'ne Visitenkarte muß ich schon hier lassen.«

Er grabbelte in seiner Hosentasche herum.

»Kann ich's besorgen, Mynherr?«

Moritz schlug ihm fidel auf die Schulter.

»Nee, Andries, das geht nicht. Exküsiert, ich muß sie erst schreiben. Die Visitenkarte nämlich – weiß auf grün. Das macht sich nobel und sieht nach was aus. Ich bin mein eigener Besteller und Postmensch.«

»Dann man zu.«

Andries schob seinen Tonstummel wieder an Ort, während der Riese an die grünangestrichene Haustür trat und das Stück Kreide, das wir ihm zugesteckt hatten, herausbrachte.

Andries und wir sahen zu.

»Achtung! Ich biege nicht aus. Schlenkre nicht mit Fisimatenten herum. Hier heißt es, Farbe bekennen,« und er streckte den Arm aus – und an diesem mächtigen Schifferarm saß eine borkenrissige Faust, eine richtige Steuermannspratze – aus ihr wuchsen fünf klobige Finger.

Sie umgriffen was Weißes.

Die Pratze setzte an. Bedachte sich nicht lange.

'ne atembeklemmende Pause.

Dann schrieb er mit Andacht, langsam, weiß auf grün, krakelfüßig, mit den steilen Buchstaben eines großen, aber eigenwilligen Kindes: »Ich komme wieder – du Lump!

Moritz.«

 

Henn Pierentrecker strahlte.

»Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.«

»Da steht's,« sagte Moritz.

»Aber feste.«

»Adjüs denn.«

»Höhö!« lachte Andries.

Die Köpfe summelten uns. Warum, das wußten wir nicht, aber wir hatten in diesem Augenblick einen Respekt vor dem Riesen und seiner imposanten Niederlegung wie niemals zuvor.

»Ich komme wieder – du Lump!« Wenn das nicht durch die kleine Stadt wie ein Erdbeben schütterte, dann schütterte nichts mehr im Leben.

Moritz kam uns vor wie eine immense Kraft, wie ein Vulkan, der ausholte, um Feuer und Lavabrocken aus seinem Krater zu flammen.

»Fertig!«

Auf dem Paternosterdeich sah er auf die Stadt zurück.

Er war durchblutet von Haß und Weltverachtung.

»Es ist noch keiner im Bett gestorben, der an den Galgen mußte,« stammelte er, »aber weiß der Geier, auch keiner honorig geblieben, der seinem Mitmenschen das Honnör zertöpperte.«

Er atmete auf, schwer und nachhaltig, als wäre die Luft, die mit dem Ruch der letzten Wiesenblumen geschwängerte, ein Arkan für Freiheit und Wiedergenesung. Wir verstanden ihn.

Stumm und in uns gekehrt gingen wir über die Deichkrone hin, um uns Weiden und stumpfsinnige Kühe, über uns die hellen Wirbel einer Feldlerche, neben uns Moritz, der Riese.

An der Bunten Schleuse nochmals ein Stauen.

»Jungs, haltet Tuch- und Ärmelfühlung, besonders mit Aloys. Laßt ihn nicht sitzen in seinen schweren Gedanken . . . niemals . . . unter keiner Bedingung. Blexem! sonst hol' euch der Satan. Gebt mir die Hand drauf.« Wir taten's.

»Der Mann hat zu tragen wie keiner von uns. Dem muß aufgepfiffen werden. Pfeift ihm eins auf wie'n Kanarienvogel oder wie die Himmelslerche da oben. Komm ich retour, pfeif' ich mit – aber dann feste . . .« und seine Stimme wurde ernst und bedachtsam. Er sah uns einzeln an und sagte: »Und ihr – werdet Kerle. Laßt euch nicht durch falsche Propheten aus eurer Gesinnung schmeißen, nicht durch ekelhafte Frömmler beirren. Werdet Gottesstreiter, Gottessucher und Gottesfinder, aber auch Streiter für König und Vaterland . . . und daß ihr es könnt – ich werde euch 'ne kurze Geschichte erzählen. Stand da nach 'ner heißen Kampagne ein Kornett vor Friedrich dem Einzigen. Wie heißt Er? – Bonin, Majestät. – Er hat brav gekämpft und seinem König die Ehre gegeben. Hat Er noch Brüder? – Ich hatte welche. – Und Er? – Majestät, ich bin der Letzte von Sieben. Drei fielen bei Mollwitz, zwei bei Hohenfriedberg, und als bei Soor die Reiterfanfare ertönte . . . Er schwieg. Aber der König half ihm und sagte: Da ging auch der sechste zu Gott. – So ist es, Majestät. – Und zu Hause? – Mutter weinte sich die Augen rot, der Vater jedoch: er biß die Lippen zusammen und schickte mich zu den Ziethenhusaren, indem er mir kundtat: Ware ein Achter noch da – ich gäbe auch den. So der Kornett von Bonin. Der König aber sagte still vor sich hin: Grüß' Er mir Vater und Mutter . . . und wischte sich eine Träne herunter.«

Und Moritz griff in die Luft: »Zupacken, zupacken! Denkt an den Vater Bonin und seine Söhne. Nasen steif und Ohren steif. Dann geht auch das Grauen von den Nieren herunter. Auf Wiedersehen, Jungs!«

Da ging er hin – der gewaltige Unrast.

Das Herz wurde uns schwer.

Über uns wirbelte die Himmelslerche weiter und weiter.

 


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