Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Zwölftes Kapitel

Andern Tages, als Mester Haan nur noch eine Stunde zu geben hatte, denn nach ihm sollten wir vom Herrn Kaplan van Bebber Katechismuslehre empfangen, machte er ein äußerst pläsierliches Gesicht, verstreute er seine Makuba reichlicher denn sonst, so daß ein delikater Ruch nach Tonkabohnen die ganze Klasse erfüllte, und sagte: »Ihr seid heute über alles Erwarten gleich den emsigen Bienen gewesen, fleißig und habt Honig in eure sonst man schwächlich bestellten Zellen getragen. Lesen war gut, Rechnen lobenswert. Freut mich! Dieserhalb will ich euch eine schöne Geschichte, und zwar die von den vier Haimonskindern, erzählen, erstens, um euch zu belohnen, zweitens, weil wir in 'ner glorreichen Zeit leben, drittens, weil in dieser Geschichte viel von Helden, tapferen Männern und großen Abenteuern die Rede sein wird.«

Das Wort ›Abenteuer‹ elektrisierte uns.

Der Sommersprossige schurrte erregt auf seinem weitläufigen Hosenboden herum, in dem zwei, sich der Liebe hingebende Stallhasen reichlich Platz fanden, ein angenehmes Rammelstündchen zu feiern.

Peter Hartjes plörige Mundecken heiterten auf. Die gelblich überlaufenen Schimmelpferdchenhaare nahmen einen silberigen Glanz an.

Henn Pierentrecker grunzelte vor eitel Vergnügen. Er streckte seinen rechten Arm über die Bank hin und ließ seinen Biceps spielen.

»Fein!« sagte er mit dem innigen Schmunzeln des Kupfernen Geistes in den Rocky Mountains.

An die Ereignisse des verflossenen Tages dachte keiner von uns. Sie waren uns rein in die Bohnen gewuschert. Simmchen Vitt sagte uns nichts mehr.

Mester Haan begann unter lautloser Stille: »Lebte da vor Jahren unter dem Zepter des großen Karolus, der aus christlicher Nächstenliebe heraus ungezählte brave Sachsen an der Aller ins Gras beißen ließ, als wären es räudige Hammelböcke gewesen, ein tapferer Recke, seines Namens Haimon von Dordone. Selbiger nun heiratete die schöne Aya, die Schwester des Kaisers und Sachsenbekehrers. Ihnen wurden vier Knaben geboren. Sie hießen Rittsart, Writsart, Adelhart und Reinold, und hatten Kraft wie 'ne Eiche, Mut wie 'ne Lanze, Mannestugend wie das junge Licht auf den Bergen, und trug ein jeder ein Schwert an der Seite, mit dem er 'nen ganzen Türken bis zum Sattelknopf durchhauen konnte.«

»Ha!« sagte Henn Pierentrecker. Irgendeine grandiose Indianergeschichte, in der Wigwams, Prärierosen, Tomahawks und blutige, frischabgezogene Skalpe eine nervenerschütternde Rolle spielten, wandelte durch sein erregtes Gesichtsfeld.

»Diese Haimonskinder nun ritten gemeinsam ein übermächtiges Roß, das sie Beijart benannten. Sein Mut übertrumpfte den eines Giganten, sein Verstand den eines Gelehrten. Mit diesem zogen sie gegen Sarazenen und Heiden, und wenn das Wiehern des Pferdes ertönte, brachen die Festungsmauern zusammen, ächzten die Steine, packte die Ungläubigen ein kaltes Schauern, daß sie wie die Pardelpferde auf den brennenden Steppen Peträas dahinrasten. Die Haimonskinder natürlich – Sporen ein, im Galopp hinter den Flüchtigen her, daß nur die Funken so stoben. Und Roß Beijart wieherte immer aufs neue . . . und vier Schwerter wurden blank . . . sausten in die Türkenscharen hinein, daß bei Gottes Angesicht nur die Köpfe so flogen: Turbane und Reiherbüsche. Hier ein Kopf, dort ein Kopf und zu guter Letzt Köpfe bei Köpfe – solche von Agas, Großmoguls und Wesirs mit silbernen Halbmonden. So hielten sie's in Spanien, so im heiligen Lande, so daß viel des Rühmens von ihnen war in der gesamten Christenheit. Nur mit ihrem Öhm, dem majestätischen Karl, dem Sachsenverderber, standen sie auf Hauen und Stechen, weil selbiger ihre Taten und sonstigen Rechte nicht sachlich einzuschätzen vermochte. So kamen Krach und Krieg und sonstige Nöte zwischen ihnen auf. Die Folge war: zerstampfte Äcker, mißratene Ernten, Brand und Lohe und ein gewaltiges Sterben, soweit die Hand des Kaisers nur reichen mochte. Das Zünglein der Glückswage schwankte auf und nieder. Bald siegten die Kaiserlichen, bald die Haimonskinder. Aber schließlich kam es zu einem traurigen Ende. Rittsart sagte: Meine Kraft geht zu Ende. Writsart meinte: Genug ist des Mordens. Adelhart versetzte: Mein Schwert stumpft sich ab, während der tapfere Reinold seine Augen bedeckte und klagte: Was bleibt uns da übrig, als Frieden zu schließen.«

Henn Pierentrecker senkte den Kopf. Dieser Ausgang verstieß gegen seine preußischen Ehrbegriffe.

Jan Höfkens rief laut in die Klasse hinein: »Solches könnte ich nicht als mannbar bezeichnen!«

»Wenn man aber bedenkt, mein lieber Johannes,« erklärte der Lehrer, »daß ihnen alle Hilfsquellen fehlten, daß die Übermacht auch den Mann ohne Furcht und Tadel hinwirft, so kann man einen derartigen Entschluß, wenn auch schweren Herzens, nur billigen, denn es wäre ein Falsches, mit dem Kopf durch eine wohlgefügte Backsteinmauer rennen zu wollen, ein unnützes Tun und ein vergebliches Mühen gewesen, sich weiter zu sperren. Gut, sagte also der Herrscher, ich nehme die mir dargebotene Freundeshand an, aber nur unter einer Bedingung: Roß Beijart muß sterben . . . im Wasser . . . einen Mühlstein am Halse . . . ohne Gnade . . . von Rechts wegen. Ich will es, denn ich bin Gebieter im Lande. Vae victis!«

Da lief ein Zittern und Zagen durch unsere Herzen, ein Bangen und Frieren.

»Und der Mühlstein wurde gebracht. Fünfundzwanzig Müllerknechte fuhren ihn an. Mit dieser Last um den Hals, wurde das edle Tier in die Fluten gestoßen. Aber siehe: das Roß zerhufte den Stein, zersplitterte ihn, schwamm ans Ufer und drückte die bebenden Nüstern an die Wangen von Reinold. Die Menge jammerte auf. Der Kaiser jedoch blieb in seiner ebenmäßigen Ruhe. Zwei Steine! gebot er. Fünfzig Müllerknechte rollten sie zu, und wieder ging es in die gurgelnde Tiefe . . . und wieder zerstampfte das Roß, das so oft und freudig in den Sarazenenschlachten gewiehert hatte, die schweren Gewichte, kam glücklich an Land und leckte traurig die Hand seines Kaisers. Dieser jedoch fühlte kein Mitleid. Den Bart strahlte er nur, der feuerrot brannte. Das war auch alles. Keine barmherzige Regung erwärmte seine Brust. Seine Stimme hingegen wetterte über die Menschen: Drei Steine!«

»Das wäre verächtlich!« ließ sich Jan Höfkens vernehmen, »und täte mir dieser König begegnen, kalt müßte er werden.«

Peter Hartjes schluchzte laut vor sich hin.

Mein Herz wollte zerspringen.

Henn Pierentrecker stieß sich mit der Faust gegen die Stirn und zerbrach seinen Griffel.

»Drei Steine, aber die dicksten im Reiche! und mit diesen beschwert, mußte der edle Waffengefährte, mußte Roß Beijart hinein in den schäumenden Tobel . . . um unterzugehen . . . um nicht wieder zu kommen. Aber noch einmal, als wäre es ein Mensch gewesen, richtete es seine brechenden Augen auf seine Freunde, auf die vier Haimonskinder, die bitterlich weinten, um dann . . .«

In der rührendsten Szene wurde an die Türe geklopft.

Mester Haan unterbrach sich.

»Herein!« rief er mächtig.

Noch von dem Erzählten bis in die Nieren erschüttert, sahen wir stur auf die Pulte und Schiefertafeln. Das Klopfen ging uns nichts an, hatte keine Bedeutung für uns, zu sehr waren wir noch mit Haimon von Dordone, mit dem Roß Beijart, den Sarazenen und Heiden, dem unerbittlichen Kaiser, mit Rittsart, Writsart, mit Adelhart und dem hochgemuten Reinold beschäftigt.

Bis plötzlich . . .

Weiche, abgewetzte Schuhe, die demütig über die ausgetretenen Dielen schurfelten, machten uns beben.

Ein aufdringlicher Duft nach Lauch, bedruckten Stoffen und Zimtborke, die die Herren aus dem gelobten Lande gerne kauen, um einen angenehmen Atem zu haben, apothekerte einschmeichelnd durch das verstaubte, nach tranigen Schuhen riechende und mit Buchstabierübungen durchsetzte Schulzimmer, kurz, ein Balsamhauch legte sich auf Pulte, Fibeln und Tintenfässer. Alles recht schön! aber dieser Geruch brachte uns der Verzweiflung nahe, wandelte er doch im Geleit unseres gestrigen Widersachers sacht und sanft durch die Gasse der Bänke hindurch, um dicht vor dem Katheder stehen zu bleiben und sein ganzes Odör zu entfalten.

Aus dieser Lauch- und Zimtborkenwolke heraus dienerte Simmchen.

»Um Verzeihung, Herr Lehrer, daß ich gekommen bin, Sie zu besuchen, um Sie zu stören bei die zu belernenden Schüler. Es war nicht anders zu machen. Ich dachte mir nämlich, besser ist besser, denn wer frühzeitig kommt, hat auch zu rechnen auf 'ne frühzeitige Sündenbewertung.«

Er lächelte das Lächeln seines heimgesuchten Volkes.

Mester Haan runzelte die Brauen. Er nahm die Tabaksdose. Der Deckel begann leise zu seufzen.

»Womit kann ich dienen, Herr Vitt?«

»Herr Schulinspektor, ich bin'n ehrlicher und betriebsamer Kaufmann, alles prima und von der obersten Sorte. Mein Geschäft steht im Glanze, beziehe ich doch meine Perdukte von's große Haus Guttmann, in Firma Sally und Elkan, in Krefeld. Hab' ich da nötig, mich verhohnepiepeln zu lassen von die Herrens, welche diese Schule besuchen?«

»Nein, das brauchen Sie nicht.«

»Habe ich nötig, mir fingern zu lassen den runden Unrat des Pferdes direkt in dem Munde?«

»Auch das nicht.«

Eine Portion Spaniol sah sich in die Höhe gehoben.

»Hab' ich da nötig, daß sie aufheben den gewaltigen Stein, um ihn zu werfen in mein gläsernes Manefakturwarenfenster?«

»Haben Sie Zeugen dafür?«

»Dessen ist der Herr Schmiedemeister Nöllecke Giltjes aus die Kesselstraße Zeuge gewesen.«

Die Prise verschwand. Die Dose klappte zu mit dem infamen Klappen eines Raubvogelschnabels.

»Wer war es?! Wer sind die Attentäter dieses Deliktes?«

Simmchen wuscherte sich den rechten Hosenträger etwas mehr in die Höhe.

»Herr Schulrat, um es ehrlich zu sagen,« und seine Äugelchen überflogen die Bänke: »Da drüben der Hartjes, der Spettmann, der Höfkens von die Mühle da draußen und der junge Herr vom Notarius im hiesigen Kirchspiel. Lieber möchte ich sein der krummbeinige Schickme, der Pharisäer, um mir 'ne Bewährung zu nehmen auf dem Hakeldama, dem schmutzigen Blutacker, als so was noch einmal über dem Halse zu kriegen.«

Er meckerte wie ein lahmer Schnepfenhahn um Okuli.

»Herr Schuldirektor, bedenken Sie den Unrat von's Pferd und den Stein von der Straße!«

»Herr Vitt, eine Frage. Ihr zertrümmertes Fenster . . . wurde der Schaden behoben?«

Simmchen zuckte die Schultern.

Er machte das Gesicht eines Frettchens, gleichzeitig das eines gutmütigen Amis. Die rotunterlaufenen Lichter drückte er ein. Sie umschlichen uns, als wenn sie auf lautlosen Pirmasenser Pantoffeln ihres Weges einhergingen.

»Wie kann ich es sagen? Was heißt überhaupt: ist der Schaden behoben?«

»Jawohl!« rief ich ihm zu. »Noch gestern abend ist Hübbers bei ihm gewesen. Er hat sechs Kastemännchen von meiner Mutter empfangen und sie an Simmchen geliefert.«

»Das könnte ich bestätigen,« kam mir der Sommersprossige zu Hilfe.

»Ich auch!« ließ sich Henn Pierentrecker vernehmen.

Peter Hartjes legte sein Gesicht in die Falten eines duldsamen Schafes. Er wähnte bereits, das Unheil sei vorübergegangen. Völlig beruhigt faltete er die Hände, erwartete er den weiteren Gang der Ereignisse.

Mester Haan blieb kalt wie ein zugestellter Wechselprotest, freundlich wie ein königlich preußischer Steuerempfänger.

»Herr Vitt, was haben Sie hierauf zu sagen?«

Simmchen schmunzelte mit dem Schmunzeln eines Synagogendieners, dem es oblag, die Sefer-Thora aufzurollen und in fetten Gutturaltönen ›Lecho Daudi Likras Kalle‹ zu singen.

»Gott, Herr Geheimrat, wie die Kinder so sind! Sie sind unbewußt, solche Kinder. Was verstehen sie von's Geld und die übrigen Kosten? 'n Kastemännchen ist immer nur ein Kastemännchen, nichts weiter. Aber 'n gläsernes Manefakturwarenfenster bleibt sozusagen 'n gläsernes Manefakturwarenfenster. Ich kann es nicht ändern.«

Henn Pierentrecker empörte sich.

»Herr Lehr', es ist bloß 'ne ordinäre Scheibe in die Türe gewesen und hatte noch 'nen gesprungenen Ritz in die oberste Ecke.«

»Herr Vitt, wie stellen Sie sich zu dieser Behauptung?«

»Möglich, Herr Schulrat, es ist nur gewesen 'ne Scheibe in der Angtreetür, aber von dem kostbarsten Glase. Man kann es nur beziehen von dem teuren Glasermeister Stephan ter Heiden auf der Hinteren Stechbahn. Möglich, schon möglich! Indessen, wo bleibt meine leibliche Ehre? wo der gewaltige Stein und der geworfene Apfel von dem hingelegten Haufen des Pferdes?«

Seine Stimme war krötig geworden.

Mester Haan warf den Kopf auf die Seite.

Sein Vorhemdchen knatterte.

»Jungs, wie steht es damit?!«

In Henn Pierentrecker regte sich der Geist des letzten Mohikaners.

»Er hat angefangen, der Simmchen,« grollte er dumpf vor sich hin, »denn er hat den König und Bismarck, den Krieg und unsere vaterländischen Bilderbogens beschumpfen.«

»Das hat er!« akkompagnierten wir pflichtschuldigst.

»Um Verzeihung, Herr Schulrat. Was verstehen die Herrens von die Lazzeruntasch und die Flinten, um damit zu schießen von hinten?! Sind sie angestellt bei's Militär, oder bekleiden sie 'ne politische Werktätigkeit? Ich mag nicht das gewalttätige Schießen. Es tötet die Menschen und verdirbt die Geschäfte. Ich hab' nur gesprochen von wegen 'ner friedlichen Einheit. Gut, und wenn die Herrens sich for ihren König und den Herrn Bismarck einsetzen, was haben sie zu schmeißen mit bräunliche Äpfel auf harmlose Bürger, die sich bemühen im Schweiße ihres Angesichtes, nur aus dem Grunde, ihre Kunden zufrieden zu stellen?! Was haben sie zu werfen Steine in 'n kostbares Manefakturwarenfenster?! Ich bleibe dabei: die Sache ist unrein. Sie ist 'ne schofele Sache.«

Mester Haan nickte ihm zu. Seine Stirne umdüsterte sich. Er rief in das Klassenzimmer hinein: »Habt ihr mit Steinen und Pferdeäpfeln geworfen?«

Wir schwiegen.

»Dann – tretet vor, alle viere!«

Wir taten's. Zögernd rückten wir an, langsam, als hätten wir Pech an den Schuhen.

»Den Anfangsbuchstaben nach – stellt euch auf Reihe!«

Es geschah. Zuerst Peter Hartjes, dann der Semmelfuchs, dann ich, als letzter Henn Pierentrecker, mit der Würde und dem Gleichmut eines ausgedörrten Büßers in der Thebais.

Mester Haan öffnete den Pultdeckel.

Mit Stöhnen knarzte er auf.

Der Gestrenge, wenn auch Gerechte, wühlte lange zwischen Heften, Bleistiften und zurückgelegten Kreidestücken herum.

Hierauf brachte er die Hasel zum Vorschein.

Die magere Emma!

Nun wußten wir, was wir zu gewärtigen hatten. Noch einen flehenden Blick warfen wir auf Simmchen, heiß bemüht eine kleine Barmherzigkeit, ein gewisses Rühren in seinen eingekniffenen Rattmausäugelchen zu entdecken. Aber er gab sich wie Shylock, der auf seinem Schein bestand, gesonnen, mit gewetztem Messer ein Stück Fleisch aus unserem Hintern zu schneiden. Nein, bei Simmchen Vitt war kein Mitleid zu finden. Eher hätte eine Metzgertöle ein Karnickel aus ihren Zähnen gegeben als dieser Manufakturwarenhändler ein Stückchen seines vermeintlichen Rechtes.

Mester Haan trat vom Katheder herunter.

Die magere Emma erhob sich mit einem bedrohlichen Zischeln.

»Nun, Herr Vitt, soll ich, oder soll ich nicht? Noch ist es Zeit.«

»Ich habe gespürt den Unrat im Munde, und dieser Unrat war widernatürlich. Ich habe gesehen fliegen den Stein in meine kostbare Scheibe, und diese Scheibe war mein Stolz und meine Bekömmnis. Sie haben beworfen meine israelitische Ehre mit ihrem christlichen Speichel, und dieser Speichel war ein ekliger Speichel. Herr Schulkommissar, tun Sie, was die Gesetze bestimmen.«

»Fiat justitia pereat mundus! Recht muß bleiben, oder die Welt geht zugrunde.«

In diesem Augenblick sah sich Peter Hartjes mit gestrafftem Hosenboden über die nächste Schulbank gezogen.

Er strampelte mit Armen und Beinen.

»Ich bin bloß dabei gewesen, Herr Lehrer!«

»Für dieses Dabeisein – hier dieses.«

Ein pfeifender Hieb sauste nieder.

»Au weh!« jammerte der vom Himmel Gefallene.

Jan Höfkens kam dran.

»Herr Lehr', ich täte bloß mit 'nem kleinen Roßapfel werfen!«

»Für den Roßapfel zweie!« und die magere Emma tat ihre Arbeit.

Jan wimmerte auf, als müßte er eine Haifischgräte verschlingen.

»Jetzt du!«

Auch ich wurde über die Folterstätte gezogen.

»Hast du nicht den Stein von der Straße genommen?«

»Jawohl! aber Herr Lehrer . . .«

»Nichts mit dem ›Aber‹!«

Drei, wie durch Seifenlauge bugsierte, haarscharfe Schmisse zermarterten mir den Teil, dessen der ehrliche Rücken sich schämte.

»Herr Lehrer, Herr Lehrer . . .

Ich hörte eine ferne Musik, ein Klingen von Geigen und Zimbeln, aber nicht das sanfte Spielen und Lautenieren, das im Himmelreich wohnte. Meine Sinne vergingen. Ich wähnte mich mehr tot als lebendig. Diese Torturen! Die Hiebe saßen, brannten schärfer als Feuer. Bald darauf scheuerte ich mein torquiertes Hinterkastell an der nahen Pultwand.

»Henn Spettmann!«

Die magere Emma sollte sich des letzten Delinquenten erfreuen.

Der stand wie angepfählt. Keine Fiber bewegte sich in seinem asketischen Antlitz.

»Komm näher!«

Er folgte dem Anruf mit der gemessenen Ruhe eines Feueranbeters. Er war wie einer, den die Religion der Liebe vor ihr Sanctum officium forderte. In Schönheit wollte er sterben. Ein Glaubensbüßer, vor sich die rote damastene Fahne des heiligen Amtes, mit dem Sanbenito und der Koroza angetan, ging er verklärt seinem Verhängnis entgegen. Das vielbewunderte ›Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme‹ schien auf seinen Lippen zu lächeln. Weder Furcht noch Reue wandelten ihn an. Seine Seele war ruhig. Das imponierte.

»Hast du den Stein in das Fenster geschleudert? Gib Antwort.«

»Jawoll, aber ich wollte bloß den Pfeifenkopp treffen, denn der Jud hat mein preußisches Honnör mit Dreck beschmissen.«

»Herr Geheimrat, ich bitte . . .! Waih geschrien, meine Hände sind rein. Ich habe gar nicht geschmissen.«

Eine starke Faust packte zu.

»Herr Lehr', ich mach's schon alleine,« sagte Henn Pierentrecker, und mit der stoischen Gelassenheit eines Fakirs streckte er sich über die Schulbank, die Nase am Holz, die Kehrseite mit der stattlichen Sitzgelegenheit zur Decke gerichtet.

»Diesmal gibt's fünfe!«

Simmchen schob sich näher heran, um besser sehen zu können. Seine Äugelchen glimmerten.

Die magere Emma stand hoch in der Höhe.

»Nur zu, Herr Schuldirektor!«

Sie schwippte und schwappte.

Fünfmal hintereinander exekutierte sie ihre bissige Arbeit.

Kein Schmerzenslaut folgte.

Kein Seufzen und Stöhnen.

Henn Pierentrecker lag bewegungslos wie eine geworfene Säule.

Nur ein eigenartiges Klappern ließ sich vernehmen, ein Summsen von emsigen Spulen.

Beim letzten Hieb tat sich die Tür auf.

Der junge Kaplan trat ein, willens, die Katechismusstunde aufzunehmen. Seine Schuhe hafteten an. Die silbernen Schnallen blenkerten fahl im Schein der Mittagssonne.

Er war ein Mann Ende der zwanziger Jahre, riemig gewachsen, mit zurückfliehender Stirn, schmalen, vom Schermesser bläulich überlaufenen Wangen, deren Kaumuskeln sich ständig bewegten.

Den schweren Bambusstock mit dem elfenbeinernen Knopf in der Hand, von dem Henn Pierentrecker behauptete, er wäre bloß aus ganz gewöhnlichem Kuhhorn verfertigt, sah er befremdet auf die sich ihm darbietende Szene.

Seine scharfausrasierte Tonsur lag bleifarbig zwischen den rötlichen Haaren.

Der Kaplan war eines Schneiders Sohn, zu Keppeln gebürtig, durch die Wohltat mildherziger Leute in die Lage versetzt, bei einem kränklichen Pastor dortselbst und auf der Gaesdonk, einem Alumnat an der holländischen Grenze, seinen humanistischen Studien obzuliegen. Nicht regen Geistes, mit der Schwerfälligkeit seines Vaters behaftet, der zwar den Rosenkranz als Sprungbrett zu den ewigen Freuden hinnahm, dafür aber den Ollen Klaren, sowie den Lehren des Sozialisten Karl Marx um so emsiger zusprach, hatte er schwer mit seiner Jugend und seinen stumpfen Sinnen zu kämpfen. Allein seine Ausdauer, sein unermüdliches Sitzfleisch triumphierten im Laufe der Jahre über die engen Grenzen seiner Begabung. Sie nahmen den Pferch des Maturitätsexamens mit knapper Not, wenn auch mit schnaufendem Atem. Im Priesterseminar zu Münster studierte er die Spitzfindigkeiten eines Thomas von Aquin, delektierte er sich an den subtilen Lehren des Kasuisten Alfons Maria von Liguori, empfing er die niederen und höheren Weihen. Bald darauf fand er durch bischöfliche Gnaden seine erste Stelle in einem mageren Ort an der Niers, wo die Kirchenglocken mit schwindsüchtigen Stimmchen zum Gottesdienst bimmelten, die zweite, fetter dotierte, im hiesigen Kirchspiel. Über seine Sittenstrenge herrschte nur eine lobende Stimme. Den Visionen der hochseligen Anna Katharina Emmerich, gebürtig in der Bauernschaft Flamske, abberufen zu Dülmen, schenkte er ein reges Interesse, folgte er ihren Spuren nach den Aufzeichnungen des Pilgers Klemens Brentano. Diese erweiterte er durch einen regen Grübeleifer, durch eine Broschüre, die Aufsehen machte. Im Laufe der Tage wuchs er sich zu einem Brausekopf aus. Die Gerechtsamen und Würden seines Standes schraubten ihn hoch. Ohne Zagen und Skrupeln waltete er des ihm gewordenen Amtes. Er verschmähte es, auf Samtpfoten zu gehen. Sein Wandel war keusch und geregelt. Seine Pfade waren gerechte Pfade. Er sah über die Weibsleute hinweg, als wären sie mistige Strohhalme, nicht wert, auf den Acker des Heiles getragen zu werden. Viele unter ihnen betrachtete er geradezu als Werkzeuge und Gespielinnen des Satans. Sein Programm war fest umrissen. Seine innerste Überzeugung gebot ihm, sich den marxistischen Glaubenswahrheiten zu nähern, ohne dabei sein seelisches Glück bei ihnen zu suchen. Er bewunderte in ihnen mehr die sozial-politischen Ziele. Nicht für seinen Erlöser und Dulder, nicht für das gebenedeite Wort ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹, aber für die streitbare Kirche als solche, für ihre Gerechtsamen, ihre Machtbefugnisse, ihre unerschütterliche Position dem eigenwilligen Staat gegenüber, für die unveräußerlichen Rechte der Toten Hand, ihre politischen Erwägungen und Anschauungen, für dieses alles ging er durchs Feuer, war er Heroldsrufer und Stabstrompeter, hatte er kein Verständnis für das monarchische Prinzip, waren ihm Schellenbäume und Musici lediglich klingende Spiele, nur dazu da, die gedrillten Erdenkinder anzufeuern, für ihren Herrscher in die gegnerischen Kugeln zu stürmen. Als eingefleischter Pazifist suchte er den utopischen Frieden, die allesumfassende Verbrüderung der Völker und Nationen. Kurz, er war der Gerechtesten einer.

Und dieser Gerechte trat vor, in schwarzer Soutane, mit befranster Seidenschärpe.

»Nun, Herr Lehrer, was gibt es?«

Mester Haan blieb die verkörperte Ruhe. Er langte sich die Schnupftabaksdose vom Pult und genehmigte sich eine genußliche Prise.

»Nichts von Belang,« meinte er schließlich. »Lediglich eine Ahndung kleiner Delikte.«

Der Kaplan sah ihn sauersüß an.

»Was, kleine Delikte?! Ich glaube Sie irren, Herr Lehrer.«

»Nein, ich irre mich nicht.«

»Aber die Anwesenheit dieses Herrn, die verstörten Kinder geben mir das Recht, auf größere schließen zu müssen.«

Simmchen griff ein.

»Hochwürdigster Herr, ich bitt' um Verzeihung.«

Er machte ein Gesicht wie die Schafe, die an den Myrrhenhängen auf dem Berge Gilead weiden.

»Hochwürdigster Priester, ich bin nur ein einfacher Kaufmann mit die Wull und die kattunenen Stücke. Bei's Messen mit die Ell' wird nicht mal gezogen die Selfkant in Rechnung. Sie wird for gratis gegeben. Ich lebe in Frieden und Bußfertigkeit. Amen, Sela! Und nu sind die vier jungen Herrens erschienen am gestrigen Tage, um mir zu halten die kriegerischen Bilderbogens unter die israelitische Nase.«

»Unerhört!«

»Ich hab' diese mörderischen Ereignisse von mir gewiesen, sie geworfen wie 'n Stück treferes Fleisch über die Schulter, weil sie beunruhigen die stillen Geschäfte und die Seelen von Menschen, die sich nicht wollen totschießen lassen mit die Flinten for gar nichts in Preußen. Ich denke mir immer: lieber 'ne schlechte Übereinkunft als 'ne kriegerische Großtat.«

»Nur zu natürlich.«

»Nu – und was taten die jungen Herrens?! 'nen pferdenen Apfel haben sie gerafft von die Straße, mir gesalbt damit meine Lippen, 'nen Stein haben sie gehoben aus der Gosse heraus, ihn geschleudert in mein gläsernes Manefakturwarenfenster. Sonst ist nichts weiter geschehen, hochwürdigster Domherr.«

Er zog sich bescheiden zurück.

»Nichts weiter geschehen?!«

Der Kaplan brauste auf.

»Das nennen Sie ›nichts weiter geschehen‹?! O Sie gläubige Einfalt! Sie Mann der Bescheidenheit und Demut. Ich bewundere Sie, aber bewerte das anders. Ich bewerte das als Nichtsnutzigkeit, als Flegelei, als Eingriff in die Überzeugung beschaulicher Menschen. Politische Umtriebe sind's, Ungeheuerlichkeiten in den Herzen unmündiger Kinder. Den Katechismus sollten sie lernen, die Bibel. Am Leben der Heiligen, an den Blutzeugen und Märtyrern sollten sie sich erbauen, aber nicht an derartigen turbulenten Begebenheiten, an dem Aufhetzen und Aneinanderprallen der Volksgemeinschaften. Und wenn keine andere Lösung möglich: ob Krieg oder nicht Krieg – darüber hat weder König noch Kanzler, sondern nur ein Plebiszit zu entscheiden. Aber ein solcher Krieg ist ein Unheil, ein angemaßtes Vorrecht der Störenfriede. Es ist gleichbedeutend mit Sinnlosigkeit, denn geschrieben steht: Liebet euch untereinander, vergebt denen, die euch hassen . . . und ich muß nun sehen: das Gegenteil davon treibt schon seine Blüten in der Sinnenwelt dieser ausgetragenen Früchtchen. Erbarmen mit ihnen – jawohl, aber kein Mitleid!«

Seine Kaumuskeln arbeiteten in dem herben Gesicht. Er warf einen schiefen, schneidenden Blick auf uns viere.

Henn Pierentrecker stand ihm unseligerweise am nächsten.

Den packte er sich.

Der Bambus mit dem gedrechselten Knopf aus gewöhnlichem Kuhhorn beschrieb eine Volte.

Schon sollte er fallen.

»Nicht weiter!«

Mester Haan fiel dem wütigen Bakel in die Parade hinein.

»Herr Kaplan, ich verbitte mir das. Ich verbitte mir ausdrücklich, meine Rechte zu schmälern. Ich habe bereits . . . Durch mich haben die kleinen Ausschreitungen schon ihre Sühne gefunden.«

Der Kaplan funkelte ihn an.

»Herr Lehrer, das nennen Sie Sühne? Mit diesem spielerischen Wuchteln der Haselgerte wähnen Sie diesem, in seiner Ehre, an seinem Vermögen geschädigten Herrn Genüge getan, glauben Sie diesen ungeheuerlichen Fall schon erledigt zu haben? Christus und seine Kirche verlangen eine gerechte, dafür aber auch eine gründliche Strafe. Dixi et salvavi animam meam!«

»Herr Kaplan, das zu entscheiden, steht lediglich in meiner Befugnis.«

»Nein, das gehört nicht zu Ihrer Befugnis. In nomine patris . . .«

Der grimmige Bambus begann wieder zu steigen.

»Herr, lassen Sie das.«

»Was fällt Ihnen ein? Wissen Sie nicht: ich stehe hier als Stellvertreter des Herrn, meines Gottes und Heilands.«

»Und ich im Namen der Schulbehörde und dem des Gesetzes.«

Mester Haan stand als Schild vor uns vieren.

Der Kaplan kaute und kaute.

»Gut,« sagte er endlich. »Die Katechismusstunde fällt aus. Ich bin zu erregt. Herr Vitt, kommen Sie mit mir.«

Sie gingen.

»Marsch auf eure Plätze, ihr vier Attentäter! und nun: wir singen das Lied vom Feldmarschall Blücher.«

Mester Haan nahm seine Geige. Er spielte falsch, aber mit Andacht, er spielte energisch, wenn auch mit diversen Kicksern dazwischen . . . und mächtig klang es durch die geöffneten Oberfenster ins Freie hinein:

»Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!
Es reitet der Feldmarschall in fliegendem Saus . . .«

»Brav so!«

Nach einer kleinen Viertelstunde wurde uns die ersehnte Freiheit, Licht und Luft und der Odem der ewigen Gottheit.

 


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