Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Sechstes Kapitel

Eine getragene Wehmut wisperte um mich her. Sie kam aus der Tiefe, wo sich die Karauschen im munteren Wasser ergötzten, sie drang aus dem Himmelreich, wo zarte Rosenwölkchen stumm ihres Weges gingen, sie flüsterte aus den hohen Pappeln herunter, die unentwegt ihre silberigen Blätter auf und nieder schlenkerten.

»Was tun, spricht Zeus?« meditierte ich in diese getragene Wehmut, in das Quirlen und Raunen, in das sanfte Läuten der Abendglocke hinein. »Was tun, spricht Zeus?« Diese Redensart hatte ich der ›Schittbox‹, dem kleinen Rollenabschreiber, abgeluchst, der es in seinen humanistischen Studien auf der Rektoratschule bis zur Tertia gebracht hatte.

Henn Pierentrecker sah mich fassungslos an. Er wußte es nicht und schlug sich seitwärts in die Büsche, wie der Kanadier, der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte, als habe er schon jetzt die Schriften von Johann Gottfried Seume gekannt und aus ihnen seine Nutzanwendungen gezogen.

Hübbers hingegen . . .

»Da ist gar nichts zu tun,« sagte er grimmig, fast drohend, »höchstens, daß wir uns jetzt zu deinem Pappa und deiner Mamma begeben. Das heißt, du ganz alleine, ich nicht, denn ich habe propter und prätorius anderweitig zu schaffen und kann dich bloß noch bis zu die Lindenbäume begleiten. Aber Junge, Junge, Junge,« und er legte sein Gesicht in ernste und bedenkliche Falten, »daß du mir nichts von Hendrintje Teerling und dem krölligen Nöllecke Giltjes verkündest. Es ist zwar ohne jedes Bedenknis, könnte aber, wenn es an den papierenen Aloys käme, 'ne große und larmoyante Geschichte draus werden. Solches kannst du auch deinem Freunde, dem Semmelfuchs, auf die neugierige und dämliche Seele vermelden, denn dieser ausverschämte Kröpperbesitzer und Blechkopp . . . Im übrigen aber,« und seine listigen Augen fielen auf den Korb, den ich noch immer am Arme trug, »fort mit das leere Gefäß, denn es hat nichts mehr zu sagen!« und das aus rohen Weidengerten geflochtene Machwerk trudelte hoch durch die Luft, um von hier aus kopfüber in die Tiefe zu fahren und aufs Wasser zu klatschen. Ich sah es schwimmen. Mit ihm segelten meine heißesten Wünsche, mein Hammel, mein eingetauschtes Objekt, kurz, mein ganzes Hab und Gut in das unbekannte Reich, das die Gelehrten mit ›Nirwana‹ bezeichnen.

Nichts mehr, nichts mehr, nichts mehr!

Die Augen gingen mir über. Ich dachte an den armen Lazarus, an den verlorenen Sohn, an Simmchen Vitt, der noch vor wenigen Tagen mit seinem Manufakturwarenlager Bankrott angemeldet hatte und nun vom frühen Morgen bis spät in den Abend hinein vor seiner Haustür saß, um seine zehn Finger zu zählen. Er kam aber damit nicht mehr zurecht. Mit knapper Not brachte er es auf neune. Den Daumen der linken Hand vermochte er nicht in Rechnung zu stellen. So glaubte er sich denn von aller Welt und allen guten Geistern verlassen. Amen, Sela!

Ich dünkte mich heimgesuchter als Simmchen Vitt, als der arme Lazarus, als der verlorene Sohn in der Bibel.

Bekümmerten Herzens sah ich auf Hübbers.

Mein Betreuer zuckte die Achseln.

»Nichts mehr zu machen.«

Ganz verdammelt lurksten wir dem elterlichen Hause zu.

Hier angekommen, sagte mein Stab und mein Stecken in das Schummern des Abends: »Daß wir so power hier stehen, ist nicht auf mein Konto zu schreiben. Ich habe das Entenbuscher Präsent nicht an deinen Kameraden und Schulkollegen verschunken, dito desgleichen nicht den Kröpper fliegen lassen. Ich kann ganz getrost wie Pontius Pilatus meine Hände in 'ne porzellanene Waschschüssel stechen. Bei dir jedoch ist das 'ne andere Sache. Aber grüß' deinen Pappa und deine liebreizende Mamma. Adjüs denn.«

Damit ging er, wahrscheinlich, um der Destille von Pittje Pastores noch einen Besuch abzustatten.

Klopfenden Herzens betrat ich das weiße Haus mit den grünen Jalousien. Sonst so traut und vertraut, war mir in der jetzigen Stunde die elterliche Wohnung zu einer Stätte des Unbehagens und des Richterlichen geworden. Der Türklopfer grinste mich an, auch die messinggelbe Klingel, die mir sonst so liebevoll zubimmelte, wenn ich gezwungen war, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Die erste, die auf diesem Passionsweg meine Pfade kreuzte, war die Traben-Trabacher Marie.

Sie strahlte.

Sie lief mir entgegen.

»Junge, so spät! Wo hast du das Lämmelböckchen gelassen? Gewiß wohl im Stalle?«

»Nee,« sagte ich kleinlaut.

»Um Gottes willen, wo ist es denn bloß?«

»Ich hab's schon vertauscht.«

»Vertauscht?! Gegen was denn vertauscht?«

»Gegen 'nen Kröpper.«

»Wo ist denn der Kröpper?«

Ich hielt's nicht mehr aus. Es übernahm mich. Lautweinend schlang ich die Arme um die gute Marie, die mich an sich preßte, als gölte es, das Leiden Christi ihrer tapferen und wohlig austapezierten Bluse einzuverleiben.

»Nu sag's nur, wo ist denn der Kröpper?«

»Fort!« schluchzte ich auf. »Nicht mehr da! Am Kesseltor . . . Henn Pierentrecker . . . Hübbers . . . der Kröpper . . . Er ist wohl aufs neue zu Jan Höfkens geflogen.«

»Christus, Christus!«

Mein Lazarustum steigerte sich, weinte heiße Tränen auf die sanfte Dünung eines lebendigen Pfühles. Eine mildtätige Hand glitt über mich fort, über Nacken und Scheitel. Nein, die gute Marie! Sie ließ nicht ab, mir ihre ganze Liebe und Barmherzigkeit darzutun, mir ihr schmerzlichstes ›Ach, mein gütiger Herr Jesus Christus!‹ vorzuseufzen. Dazu klingelte sie mit ihren Ohrgehängen, als würde jenseits eines verträumten Waldes irgendwo das Glöckchen einer Sterbekapelle geläutet.

Plötzlich knisterte es neben mir.

Es war die Krinoline meiner Mutter.

»Nun,« meinte die stille Frau, »was ist mit dem Jungen geschehen?«

Die Traben-Trabacher Marie erklärte ihr jegliches, räusperte sich zwischendurch und beschloß ihre breite Auseinandersetzung mit den erregten Worten: »Madam, das kann man doch nur als 'ne unbewußte Handlung anrechnen, wenn's nicht sogar auf 'ne ausgetragene Fuchsgeschichte hinausläuft! Ich kann mir nicht helfen, aber dem Kerlchen muß doch sein Recht und seine Gerechtigkeit werden, denn ohne dieses müßte man ja Gottes Erkenntnisvermögen anzweifeln.«

»Wollen mal sehen,« sagte die Mutter.

Sie nahm mich bei der Hand und führte mich in das Kabinett meines Vaters. Er hatte Feierabend gemacht. Auf seinem Schreibtisch brannte die Lampe. Sein Scheitel war goldig umschienen. In seinem friedensstillen Gesicht zitterte noch das Schaffen des verflossenen Tages nach. Er las die vorletzte Ausgabe der Kölnischen Zeitung. Bei unserm Eintritt blickte er auf.

»Da hätten wir ja den vielgewanderten Mann,« sagte er ernsthaft,

»Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat.«

Hierauf legte er die Gazette ab.

»Nun, was ist denn aus deiner Reise geworden?«

Da fiel eine ängstliche Nacht über mich her. Mein schon an und für sich abwegiges Herz schwitzte Blutstropfen.

Meine Mutter trat für mich ein, erläuterte ihm meine Begebnisse und Abenteuer bis zum letzten Flügelschlagen meines eingetauschten Wundervogels, seines Dahinschwindens auf Nimmerwiedersehen.

Was würde nun kommen?

Gar nichts geschah.

Nur ein hingeworfenes verärgertes Wörtchen: »Dorfteufel!«

Alles!

Mit schmalen Händen nahm er die Zeitung und begann wieder zu lesen.

Ich atmete auf, aber der ›Dorfteufel‹ klebte mir zeitlebens an, und wenn ich mich des Wortes erinnere, muß ich immer meines Vaters gedenken. Schlimmeres habe ich niemals von ihm eingeheimst. Als Bonner Westfale allzeit ritterlich urteilend, ein treuer Diener seines Herrn und Königs, gewissenhaft seinen Amtspflichten obliegend, war er unter den Gerechten der Gerechtesten einer. Obgleich rheinischen Stammes, verband ich mit seiner Person stets den Begriff einer stillen, weiten und insichgekehrten westfälischen Heide. O so ein Heideland! Hier und da eine helle, sonnentrunkene Birke, ein schlichtes Wacholdergestrüpp, ein Gewirr von Porst und Erika, das sich in Spätsommertagen blümt, als wäre ein violetter Königsmantel über die majestätische Einsamkeit und Stille gefallen. Ab und zu gaukelt eine Phaläne, ein Trauerfalter vorüber. Dicht am Hellweg, der sich sandig durch die unermeßliche Ebene hinschleicht, erhebt sich die hohe Gestalt eines Mannes. Seine lichtblauen Augen sind in die Ferne gerichtet, obgleich sie in die eigene Seele zurückblicken. Er gehört zu den ›Blassen‹ im Lande, zu denen, die mehr wissen als andere Menschen. Er hatte Gesichte, tiefe Gedanken und Bilder . . . und über ihm, hoch unter dem glasigen Himmelreich, zieht ein einsamer Falke seine geruhsamen Kreise.

O so ein Heideland, so ein reines, warmfrohes und heiliges!

In solch ein warmfrohes und heiliges Land durfte ich schauen, bis es eindunkelte und Gottes Sterne traurig darüber hinzogen.

»Mann,« unterbrach meine Mutter das lange Schweigen, »was gedenkst du in dieser Angelegenheit zu tun?«

»Ich?« fragte er trocken und ließ die Zeitung herunter.

»Ja – du, denn man kann diese dumme Geschichte doch nicht so ohne weiteres hinnehmen oder gar als Bagatelle behandeln. Selbst die Marie ist darüber höchlichst erregt und völlig niedergebrochen.«

»Die Marie?!« sagte mein Vater mit einem kleinen Schalk auf den Lippen. »Leider, auch sie kann den juristischen Stand der Dinge nicht ändern, und sprächen ihre Argumente mit Apostelzungen. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich: Tausch ist wie Kauf. Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Materie verpflichtet, dem Käufer diese zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen – geltend für beide Parteien, so daß für jeden Kontrahenten der von ihm veräußerte Gegenstand als Ware, der erworbene als Preis gilt.«

»Aber ich bitte dich, Liebster! Erwäge doch nur: ein goldiges Lämmelböckchen und eine armselige Kropftaube!«

»Tut nichts zur Sache. Lediglich Spitzfindigkeiten, kaum dazu angetan, derentwegen den kleinen Finger zu krümmen! Meine Beste, denke doch nur an die Liebhaberpreise! Die versteigen sich ins Aschengraue hinein. Es gibt Vogelarten, die den Wert eines Quadrupeden weit überbieten.«

Meine Mutter ärgerte sich.

Ihre Krinoline zog Kreise um Kreise. In den unzähligen Falten und Fältchen hub es an, bedenklich zu rascheln.

»Aber er hat ihn ja gar nicht – den Kröpfer!«

»Um so schlimmer für ihn,« war die bedächtige Antwort. »Hat sich das Tauschobjekt unwiederbringlich verflogen, das heißt, ist es für den Jungen heidi gegangen, bleibt ihm nichts weiter übrig, als ihm schmerzlichen Herzens nachzupfeifen. Anderen Falles jedoch: fand es seinen Weg zu seinem ursprünglichen Herrn zurück, wird sein Schulkollege wohl die Geneigtheit und das Gewissen aufbringen, fragliche Substanz wieder in die zuständigen Hände meines tauschfreudigen Sohnes zu führen. Und nun, mein Junge,« und er legte mir seine schmale Hand auf den Scheitel, »lerne daraus. Gehöre nicht zu denen, die den Schlüssel zur Zauberhöhle Xa Xa besitzen und so leichtfertig sind, sich ihn abschwindeln zu lassen. Die Arcana sapientiae sind Raritäten und ähneln den Sperlingen, denen es einfällt, im Schritt einherzuspazieren. Das vorliegende Schulexempel redet eine deutliche Sprache. Aber hoffen wir. Vielleicht werden sich Mittel und Wege finden, der verfahrenen Angelegenheit wieder eine gesunde Basis zu geben. Im Namen des Rechtes.«

Mein Gesicht und das meiner Mutter klärten sich auf. Auch die unwillige Krinoline gefiel sich in einem neckischen Wippen.

Mein Vater hatte gesprochen. Mit seiner salomonischen Auslegung wurden die ereignisreichen Geschehnisse des heutigen Tages beschlossen.

»Amen, Sela!« um mit Simmchen Vitt, dem Inhaber des bankrotten Manufakturwarenlagers, zu reden. »Amen, Sela!«

*

Parva leves capiunt animos. Kleine Begebenheiten erregen die Gemüter. Ich selber hatte noch keine Gelegenheit erwischt, mich mit Jan Höfkens ins Einvernehmen zu setzen; schwieg darum aus verschiedenen Gründen. Aber die anderen . . .

Die verteufelte Wechsel- und Handelsgeschichte hatte einen langen Schatten und ausgreifende Beine angesetzt. Das düsterte nur so und wuscherte mit der geschmeidigen Kunst eines Wiesels durch die engsten Spalten eines weitverzweigten Interessenkreises . . . und als nach etlichen Tagen das Beneficium caloris aufgehört hatte, seine für uns wohltuenden Strahlen zu spendieren, gelangte urplötzlich die heikle und delikate Angelegenheit vor das gesetzliche Forum.

Als wir nach einigem Zögern die Klasse betraten, stand bereits Mester Haan, der Stille im Lande, auf seinem schwarz angestrichenen Katheder. Sein Gehrock war noch fuchsiger denn sonst, die Haare noch schimmeliger als vor den ›hitzfreien‹ Tagen. Sein sauber rasiertes Antlitz erschien uns streng, wenn auch wohlwollend, richterlich, wenn auch mit einer gewissen Milde gepaart, geberisch, wenn auch zurückhaltend. Graumelierte Härchen wuchsen ihm gleich nordischen Flechtenbüschelchen aus Ohren und Naslöchern. Die letzteren wiesen getüpfelte Anhängsel auf, winzige Spaniolpartikelchen. Ähnliche sprenkelten das harte, blaugestärkte Schemisettchen. Es knatterte zuweilen wie ein Ofenblech.

Auf der Wandtafel hinter ihm stand mit Kreide und in lateinischen Lettern die Sentenz geschrieben: »Mene tekel upharsin.« Darunter in deutscher langer und feingeschnörkelter Schönschrift die vernichtende Übertragung: »Gewogen und zu leicht befunden.«

Vor ihm, neben der Fibel, lag die hürnerne Schnupftabaksdose.

Er nahm sie.

Mit einem Seufzer klappte sie auf.

Eine Portion des köstlichen Makubas, noch durch eine Tonkabohne verfeinert, trat seine Reise an, wurde an Ort und Stelle befördert.

Ein duftiges Bröseln rieselte nieder.

Mit geladener Spannung verfolgten wir den feierlichst getätigten Vorgang. Gleich darauf vernahmen wir das geheimnisvolle Knappen eines Eulenschnabels.

Die Dose ruhte wieder an ihrer früheren Stelle, neben Kreide, Schwamm und Fibel.

Mester Haan schneuzte sich, wobei er einen sonderbaren kakophonischen Laut von sich gab. Wir wurden aufmerksam.

Wir sahen: in aller Gemütsruhe öffnete der Stille im Lande sein Pult, fingerte darin herum und brachte die knochentrockene, schmiegsame und von allen gefürchtete Hasel zum Vorschein.

O, diese Gerte!

In einer verlorenen Ecke des Magistergärtchens, das an ein stilles, mit grünen Linsen bestandenes Wasser grenzte, erhob sich zwischen Brennesseln, Schachtelhalm und Brombeergestrüpp ein ehrwürdiger Haselnußstrauch. In diesem abgelegenen Winkel jubelte in jungen Frühlingstagen zuerst die Nachtigall, tackte das Müllerchen, flötete die Amsel. Alljährlich trieb der knorrige Wurzelstock unzählige Schößlinge. Aus diesem reichhaltigen Vorrat schnitt Mester Haan seine Bedarfsartikel, sortierte sie nach Länge und Stärke und benamste jedes einzelne Mitglied die ›Magere Emma‹. Den Ein- und Ausgang registrierte er mit peinlichster Gewissenhaftigkeit, Curriculum vitae und Qualifikation lagen vor. Auch am Stammbaum mangelte es nicht. Zur Zeit führte Emma die XXXV. das Zepter.

Mit dieser deutete er auf mich und sagte: »Vor mein Parlament!«

Weiß wie der weißeste Kanzleibogen aus den Regalen des papierenen Aloys begab ich mich zögernden Schrittes vor das schwarze Katheder.

Es gemahnte mich an die dunkel ausgeschlagene Lade im Friedensgericht, bestellt mit Kruzifix und etlichen Wachslichtern auf silbernen Leuchtern.

Meine Knie schlotterten.

Die Hasel beschrieb einen Kreis durch die flirrenden Sonnenstäubchen. Jählings wandte sie sich hierauf nach links.

«Vor mein Parlament!« rief es zum andern.

Jan Höfkens erhob sich.

»Was täte ich denn?« kam es jammerselig zurück. »Ich wäre doch ganz stillkes gewesen.«

Peter Hartjes, als Unbeteiligter, griemelte vergnügt vor sich hin.

Henn Pierentrecker hingegen rieselte es kalt über den Rücken, denn als heller und viver Gesell schien er etwas von einer Götterdämmerung zu ahnen.

Jan blieb noch immer an der Stelle haften.

»Vor mein Parlament!« donnerte es ihm abermals zu.

Nun konnte der Sommersprossige nicht mehr ausweichen. Mit hängenden Ohren, eine gehörige Portion Klebestoff an den mehlbestäubten Schuhen, verließ er die Bank und schob sich sichernd an den Ort der Verhandlung und des Richterstuhles.

Die Lade färbte sich immer schwärzer und schwärzer. Die von uns in der verängstigten Phantasie gesehenen Kerzen begannen mit ihren Dochten zu knistern, nahmen einen roten und bedrohlichen Schein an. Der beinerne Christus schüttelte das dornenbekrönte Haupt mit einer unsagbaren Trauer und Wehmut.

Hinter uns reckten sich die Hälse meiner Mitschüler.

Das fühlte ich deutlich.

Eine kalte Hand saß mir im Nacken.

Ich wurde aufgescheucht.

Hoch über mir ertönten die Worte: »Es geht das Gerücht, du hättest einen Hammel vertauscht, ein wertvolles Objekt aus den Gefilden des Entenbusches. Stimmt das, oder ist das nur eine vage Legende?«

»Herr Lehrer, es stimmt.«

»Mit wem denn getauscht?«

»Mit Jan Höfkens, Herr Lehrer.«

»So! und du: hast du diesen Hammel empfangen?«

»Ja, ich tät ihn empfangen.«

Mester Haan wandte sich abermals.

»Und was hast du als Gegenleistung beansprucht?«

»'nen Kröpper, Herr Lehrer.«

»So so, einen Kröpfer! und du: hast du ihm diese Taube verabfolgt?«

»Ich wäre so frei gewesen,« sagte der Semmelfuchs.

Er stellte den linken Fuß vor und schuppte sich hinter den Lauschern, wahrscheinlich des erfreulichen Glaubens, für ihn wäre hiermit die peinliche Angelegenheit als erledigt anzusehen. Doch aufs neue erscholl die bedrohliche Stimme. Sie war an mich gerichtet: »Wer ist denn Zeuge dieses Vorganges gewesen, oder besser gesagt: wer hat diesen Kuddelmuddel befürwortet und kurzerhand gebilligt?«

»Heinrich Hübbers, Herr Lehrer.«

Wiederum ließ sich das Seufzen der hürnenen Tabaksdose, das kurze Knappen des Eulenschnabels vernehmen. Gleichzeitig spektakelte die Haselgerte des öfteren auf den Pultdeckel.

»So'n Dämel! Er täte besser daran, zu nachtwächtern, Schuhe zu flicken und bei notariellen Beurkundungen den Schlaf der Unmündigen und Gerechten zu träumen, als fürderhin einen solchen Unfug zu betreiben. Aber fahren wir fort. Bist du noch im Besitz dieses Vogels?«

»Nein, Mester Haan.«

»Weshalb nicht?«

»Henn Pierentrecker, ich wollte sagen Henn Spettmann, hat ihn am Kesseltor fliegen lassen.«

»Wie geschah das?«

»So aus dem Körbchen heraus.«

»Henn, du dreibastiger Schlingel, wie kamst du dazu, dem eingekorbten Tierchen die Freiheit zu geben?«

Mein sonst so wagemutiger Genosse zitterte wie Espenlaub. Er trudelte hoch.

»Ich hab' bloß gekuckt, denn ich war gerade bei's Angeln,« sagte er kleinlaut, »und da ritschte er aus – ich meine den Kröpper.«

»Für's ›Kucken‹ nicht,« ertönte der Richterspruch, »auch nicht für's ›Ausritschen‹, aber wegen des unbefugten Angelns in fremden Gewässern schreibst du mir die Geschichte vom keuschen Joseph und der unkeuschen Potiphar dreimal in Reinschrift. Verstanden?!«

Jawohl, Henn Pierentrecker hatte verstanden. Er setzte sich wieder und malte ein Sinter Klaas-Männchen auf die Schiefertafel.

Mester Haan knatterte mit seinem Schemischen, hob die magere Emma und sagte: »Da ich annehmen muß, daß der Flüchtling, und zwar seinem Heimatstrieb folgend, sich voraussichtlich in unmittelbarer Nähe der Windmühle befindet, so stelle ich an dich, Jan Höfkens, die Frage: Bist du willens, binnen vierundzwanzig Stunden festzustellen, ob meine Annahme zutrifft, mit anderen Worten, ob der Ausreißer wieder auf dem väterlichen Dache herumspaziert?«

Mein Freund legte nach Art der hellhörigen Stallhasen die Löffel an.

»Das könnte ich wohl, aber das ging nicht so einfach.«

»Weshalb nicht?«

Jan suchte nach Worten.

»Heraus mit der Sprache!«

Jan stammelte los: »Da gäbe es solche und solche, und die auseinander zu halten . . .«

»Was meinst du damit?«

»Das könnte ich selber nicht wissen, denn ich besäße viele Tauben von der nämlichen Sorte.«

Ich verfärbte mich.

Hinter mir entstand eine laute Bewegung.

Henn Pierentrecker streckte den Finger: »Herr Lehr', er tut bloß so, denn er kennte sie alle.«

»Da hörst du, Jan!«

Die Haselgerte klapperte auf, worauf sie sich erhob und häßlich durch die Luft zischelte.

»Jetzt aber wird's Zeit. Wie denkst du darüber?«

Der Sommersprossige rang mit seinen beiden Gewissen. Mit seinem guten und mit seinem merkantilen Gewissen. Das letzte überwog. Er sagte denn auch: »Ich müßte immerzu denken: was einem retourfliegen täte, das dürfte man halten. Außerdem könnte man 'nen scheuen Kröpper so ganz sicher nicht kriegen.«

»Herr Lehr' . . .

»Was willst du, Henn Spettmann?«

»Herr Lehr', er braucht nur zu fleuten, dann kommen sie alle gelaufen, um ihm aus die Hände zu fressen.«

»Das wüßte ich nicht,« versetzte Jan Höfkens, »auch wäre Henn Pierentrecker noch niemals dabei gewesen, wenn ich meine Tauben befüttere.«

»Aber ich!«

Der Stille im Lande reckte sich hoch.

Desgleichen die Schnupftabaksdose.

Desgleichen die Hasel . . . und eine Stille ging um, als begönne ein atembenehmender Aschenregen von der Decke niederzurieseln.

»Aber ich!«

Das schwarze Parlament umdüsterte sich noch mehr, die aufgerichteten Kerzen flackerten bedrohlicher, der Gekreuzigte am Marterholz schüttelte noch trauriger und schmerzbewegter sein Haupt mit der Dornenkrone.

»Aber ich!«

Zum dritten Male ließ Mester Haan diese Einschüchterung laut werden.

Hierauf senkten sich Stock, Schnupftabaksdose und Stimme langsam hernieder. Letztere wurde zu einem zutunlichen und vertrauenerweckenden Flüstern: »Johannes! Vor undenklichen Zeiten lebte zu Nikodemia in Bithynien die Tochter des heidnischen Mannes Dioskurus. Sie wurde Bärbchen geheißen und war schön im Glasspiegel, noch schöner im Seelenspiegel gesehen. Wegen ihrer Festigkeit in christlichen Glaubenssachen und ihres Martyriums halber gab man ihr, als sie zu den Ewigen einging, ein Türmchen in die zerquälten Hände. Margarete hingegen, das sonnige Kind eines Götzenpriesters zu Antiochia, wurde mit einem Lindwurm begnadet, weil sie die Anfechtungen und Begierden dieser Welt wie einen solchen unter die Füße trat, dafür aber ihr blühendes Leben den brutalen Henkersknechten hingeben mußte. Katharinchen jedoch, aus hochedlem Geschlecht und in der Hauptstadt Ägyptens gebürtig, eine irdische Braut Jesu Christi, verteidigte die Heilswahrheiten mit einem so vorbildlichen Eifer, daß der römische Statthalter verfügte, sie auf das Rad zu flechten. Zum ewigen Andenken trägt sie jetzt das mörderische Instrument als Symbol dafür: ich bin heilig gestorben. Um diese Legende nun mit kurzen Worten und im sogenannten Volkston wiederzugeben, möchte ich dir und deinen Mitschülern, des besseren Gedächtnisses wegen, ein Sprüchlein ans Herz legen. Es lautet:

Die Bärbel mit dem Turm,
Margaretchen mit dem Wurm,
Kathrinchen mit dem Rädchen –
Das sind drei brave Mädchen.

Du aber . . .« und Mester Haan zog wieder vom Leder.

Das giftige Reptil zischelte aufs neue.

Das Schemisettchen rappelte.

»Fern steht es mir, dich mit diesen jungfräulichen Blutzeugen in Parallele stellen zu wollen, denn nur wenig gute Fadenschläge der Entsagung wurden dir mit auf den Lebenspfad gegeben. Sie aber litten und duldeten um ihres Glaubens, um ihres Herrn und Seligmachers willen; du aber wirst gegebenen Falles zu leiden haben mit Rücksicht auf dein Verstocktsein und dein unlauteres Wesen. Hier dieser Bakel . . . und ich stelle daher nochmals die Frage: Bist du gesonnen, binnen vierundzwanzig Stunden besagten Täuberich in deine Hand zu bekommen?«

Die magere Emma stand drohend über einem gekrümmten und eingezogenen Rücken.

Da ging das nicht anders: der sommersprossige Inkulpat mußte seine Hinterhältigkeit aufgeben, sich seiner kaufmännischen Seitensprünge entschlagen.

Er sagte denn auch: »Wenn ich es könnte, ich täte ihn fangen.«

»Ich nehme Notiz davon. Gut Ding, was sich bessert . . . und bist du ferner gewillt, eben diesen eingeholten Täuberich, frei von allen Fehlern und Verstümmelungen, deinem Tauschkollegen zuzustellen, sonder Nachtragerei in Gedanken, Worten und Werken?«

Jan atmete aus tiefster Jacke heraus.

»Ja,« sagte er endlich.

»Gut so! Das Parlament ist hiermit geschlossen. Ihr könnt euch auf eure Plätze begeben – ihr beiden.«

Und siehe: es war alles wie früher.

Eine behagliche Augustsonne tänzelte über die verschnipfelten Bänke hin, über Tintenfässer und Schiefertafeln. Die Friedensgerichtslade schrumpfelte für uns ein, die brennenden Kerzen verkohlten in sich selber, der Korpus Christi war nicht mehr zu sehen.

Mester Haan hatte seinerseits Birett und Robe abgelegt. Er stand wieder in seinem natürlichen Ich da: in seinem abgewetzten Flausrock, dem mit Wäschebläue übermäßig gestärkten Schemisettchen, hinter sich die schwarze Schultafel mit der noch immer drohenden Inschrift: »Mene tekel upharsin

»Fort damit!«

Er wischte sie aus. Für ihn und seine schulmeisterliche Gerechtsame war die Sache erledigt. Hierauf nahm er die Fibel und fragte: »Wo sind wir das letztemal stehengeblieben?«

»Beim Fuchs und dem Gansvogel!« rief einer aus der großen Gemeinschaft.

»Richtig! Hartjes, beginne.«

Und Peter Hartjes buchstabierte mit seinem hellen, wenn auch piepfeinen Stimmchen: »Es war mal ein Fuchs in einem benachbarten Flurstück . . . einer von den ganz schlauen und durchtriebenen . . . Der schnürte sich an einen Gänsestall heran . . . Darinnen schnatterten viele Langhälse . . . Eine davon . . .«

»Spettmann, lies weiter!«

Der aber stöberte verbaselt auf, denn er hatte sich eifrigst damit beschäftigt, seine Sinter Klaas-Männchen weiter zu malen und sich somit außerstande gesetzt, den Fuchs- und Gänsefaden voranzuspinnen.

»Von morgen ab sitzt du in der vordersten Bank, du Pröhlfink, du Schmutzian von der obersten Sorte. Johannes . . .

Jan Höfkens machte ein Gesicht wie das eines versteinerten Prinzen.

»Ich könnte es nicht, denn ich hätte gestern abend starkes Leibweh bekommen, und da hätte mein Vater gesagt, ich müßte Flierentee trinken . . . und das täte ich auch und könnte deswegen nicht lernen.«

Diese Entschuldigung wurde bewertet. Da las Peter Hartjes, der vom Himmel Gefallene, die erbauliche und lehrreiche Geschichte bis zu ihrem ersprießlichen, wenn auch traurigen Ende.

Als wir die Schule verließen, stellte Henn Pierentrecker unseren gemeinschaftlichen Kameraden, den Sommersprossigen, und sagte zu ihm: »Jan, wir sind Freunde. Da kavieren ich for. Einer für alle, alle für einen, genau so, wie wir solches unter uns festgelegt haben. Aber tust du noch mal so 'ne Mogelsache betreiben, dann hat es geschellt, dreimal geschellt; denn sieh mal . . .«

Er streckte den rechten Arm aus, stauchte den Ärmel zurück und zeigte seinen gewaltigen Biceps: »Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme.«

 


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