Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Achtzehntes Kapitel

Treue um Treue, und wie im Garten nebenan das neue Pasterhaus aus der Erdkrume aufwärts strebt. Ein langsames Hingleiten in den Sommer und dann in die Zeit, wo die Blätter wieder zu fallen beginnen. Der Tag der Erfüllung. »Benjamin, auch das ist vergeben.« Wie der alte Magister seinen Schwiegersohn anruft, den unlauteren Geist in die Säue von Gerasa zu bannen. Advent und Schneetreiben, und wie der Prediger im Namen einer Verstorbenen Einlaß begehrt, um des verlorenen Sohnes willen.

Kommet alle zu mir! und so einer seines Weges daherzog, etwa ein vagabondierender Spatz auf krankem Schuhwerk, in zersplissenem Röckchen, dem ein Knopf war wandern gegangen oder eine Naht allzu offenherzig geworden – hinter den weißen Gardinen im ärmlichen Priesterhause saß ein Geisterlein mit Nadel und Zwirn und behob allen Schaden.

So ein irdenes Töpflein vorsprach, an dem bittere Tränen hingen, Tränen, die um Brotschnitten bettelten – das irdene Töpflein trollte sich gefüllt aus der Küche und machte dankbare Herzen . . . und so da einer anpochte, dessen Seele in Not war und dessen Sündenbündlein drückte wie das des ewigen Juden im Karmelgebirge – den führte eine gütige Hand in das Kämmerlein Jesu und sprach ihm Trost zu und segnete ihn und hieß ihn weiter pilgern, getröstet in sich und leichter an Sünden.

So die jungen Predigersleute.

Die Tage gingen ihnen dahin, als hantierte eine gütige Fee hinter den Fuchsien- und Geranienstöcken, emsig bemüht, eine kostbare Perle an die andere zu reihen.

Aber was ihnen das erfreulichste war: in dem Garten nebenan, reichlich bestellt mit Gemüserabatten, Mistbeeten und Obstbäumen, entwickelte sich ein geschäftiges Treiben. Karren fuhren ab und zu, Mörtel und Bauholz wurde angeliefert. In holländischen Klinkern gefügt, sorglich gerichtet und mit allen Bequemlichkeiten der Neuzeit ausgestattet, arbeitete es sich mit dem schnellen Gedeihen eines Pilzes aus der jungfräulichen Erde heraus. Bis spät in den Abend hinein dampfte die Kalkgrube, ertönte das Behauen der Steine, das Raspeln und Sägen, das unermüdliche Kommen und Gehen.

Unter der tüchtigen Umsicht des Rentamtes, das alle Hebel in Bewegung setzte, die Arbeit möglichst rasch zu fördern, reifte der Neubau immer mehr seiner Vollendung entgegen.

Auch Herr Knörke, ein kundiger Zeidelmeister, ließ sich täglich dort sehen. In einer verschwiegenen Ecke bastelte er ein Bienenhäuschen zusammen, stiftete vier Körbe dazu und belegte sie mit den nötigen Völkern.

So war jedereins darauf bedacht, dem jungen Pärchen die Honigmonde noch mehr zu versüßen.

Als dann die vom Niederrhein abermals ihre Sicheln schärften, um den Grummet einzuholen, die Zentifolien am schwülsten dufteten, grüßte bereits eine junge Fichte von den höchsten Sparren herunter, verziert mit Bändern und Schleifen, die in den Farben des herrschaftlichen Hauses die atlasblauen Lüfte durchspielten.

Rinse van Bommel und der Magister sahen das artige Treiben, das Auf- und Niedersteigen der Handwerker, das Einziehen der Windrispen und das rührige Verkleiden der Lattung mit grauen Dachziegeln.

So ums Vespern herum saßen sie gemeinsam im Vorgärtchen des ›Goldenen Ankers‹, sprachen von diesem und jenem, von der fröhlichen Hochzeit, die noch immer in den Gemütern nachzitterte, von dem bedeutsamen Ohm Bärendonk und seinen rhetorischen Leistungen, schmunzelten sich an und folgten mit innigem Behagen der tapferen Werktätigkeit, die ad majorem Dei gloriam sich mühte, den Neubau möglichst bald fix und fertig herzurichten.

»Nun, mein lieber Magister,« nahm Rinse das Wort auf, »Sie mögen über den Jonkheern denken, was Sie wollen, aber das müssen Sie sagen: er hat sich Ihrem Schwiegersohn gegenüber mehr als nobel erwiesen. Wo in aller Welt wird denn einem Landprediger ein derartiges Entgegenkommen gezeigt, ihm eine solche Wohnung verstattet? Das Beste war eben gut genug. Nichts wurde gespart, kein Titelchen am Bauplan gestrichen. Das scheffelte man so aus dem Vollen heraus. Selbst die junge Baronin ließ es sich angelegen sein, schon jetzt die Tapeten zu wählen und der späteren Einrichtung ihr Interesse zu schenken. Hierzu möchte ich submissest bemerken: bis zum heutigen Tage hatte ich zwölftausend Taler zu buchen und stehe nicht an, den totalen Bau mit fünfzehntausend in Rechnung zu stellen. Also mein Lieber . . .

Er schnippte mit Daumen und Mittelfinger, die Blicke fest auf den Magister gerichtet.

»Allerdings,« sagte dieser, »unter sotaner Beziehung – wir sind äußerst zufrieden und müssen gestehen: der Herr von Klabasterboompjes haben sich hinsichtlich seiner baulichen Generosität über alles Erwarten gemausert, und ich bin der letzte, solches in Zweifel zu ziehen oder ihm gar diese Meriten zu schmälern. Fünfzehntausend Taler wollen verdient sein, wollen auf den Tisch des Hauses gelegt werden . . . aber mein Bester,« und er schnupperte nachdenklich mit seiner kurfürstlichen Nase in den werdenden Abend hinein, »wenn es erlaubt ist, zu reden . . . man muß die gegensätzlichen Erscheinungen abglätten, sie wechselseitig in Dienst stellen. Vornehme Kleider bedingen ein spendables Auftreten. Ein Stall mit Klinkern belegt, verlangt prominentes Rindvieh, sonst paßt er wie die Faust auf's Auge . . . ein räudiger Bock auf kostbarem Estrich wäre ein Unding . . . und so bin ich der Meinung: würde der Baron ein übriges tun und die Stelle besser dotieren, wäre dem Ganzen eine Abrundung gegeben, der man nur beipflichten könnte.«

»Wir kalkulierten bereits und sind nicht müßig gewesen. Auf besondere Fürsprache der gnädigen Frau wurden seit kurzem die Präliminarien in die Wege geleitet. Ein Mehr von dreihundert Talern pro anno dürften dabei in Anrechnung kommen.«

»Das wäre denn doch . . .!« und Kosman Theophil Banning nahm sein Glas und stieß mit dem Rentmeister an.

»Rinse, die gnädige Herrschaft!«

»Banning, ich danke der Güte.«

»Und dann,« blinzelte der Magister ihm zu, »auf das, was wir lieben sub specie aeternitatis

Er dachte dabei an die jungen Pastersleute, die zurzeit noch unter den alten Pfannen wirtschafteten.

»Es gilt,« tat ihm Rinse Bescheid, »aber mit Einschluß auf einen fröhlichen Nachwuchs da drüben.«

»Wieso?« fragte der Alte.

»In diesem Falle,« echote das Sardellenmännchen, »stand mir allerdings der Nachwuchs bei meiner eigenen gnädigen Herrschaft vor Augen.«

»I den Zackerzucker noch mal! so hätten Sie damals nicht ins Blaue geredet?«

»Ich denke nicht dran, denn ich bin immer gewohnt, Nägel mit extraordinären Köppen zu machen.«

»Wie, was . . .?« rief der Magister, wobei ihm das Wort zwischen den Zähnen zerbröckelte. »Potz Wetter, was muß ich da hören? Also geschehen doch noch Mirakel auf Erden!«

»So scheint es. Aber ich ersuche submissest: alles noch unter Petschaft und Siegel belassen zu wollen, denn man kann immer nicht wissen . . . der Herr Jonkheer zwar . . .«

»Ah! ich verstehe,« und die kurfürstliche Nase begann wieder zu schnuppern. »Es ist noch nicht aller Tage Abend geworden. Festina lente! Solches führte oft der römische Cäsar im Munde. Gedulden wir uns. Allzu hoffnungsfreudig zu sein, bedingt vielfach Enttäuschung und lange Gesichter. Oft glaubt man, Heilige zu sehen, und es sind nur solche aus Gips. Das Credo und Gloria liegen oft weit auseinander. Die sogenannten pia desideria sind nicht immer gleichberechtigt mit hoher Erfüllung. Sollte aber wider Erwarten sich besagte Botschaft verwirklichen, Gott gebe allen, auch dem verlorenen Sohne, den Frieden.«

»Sie sind ein guter Mensch,« sagte Rinse und sah still in den Abend hinaus, der langsam jenseits der laubschweren Bäume heraufzog.

Und das Land dunkelte ein . . . und die Tage kamen und gingen. –

Das Korn wurde niedergelegt, die Ernte eingebracht und der Acker umgebrochen. Die Heideläufer hatten alle Hände voll zu tun, Birkenreiser und Ginster zu schneiden, um ihre Besen zu richten und an den Mann zu bringen. Auf den Kappesfeldern lagen die weißen und blauroten Köpfe eng nebeneinander. Hänflinge und Goldammern scharten sich in dichten Geschwadern, umlagerten die Futterkrippen vor den Ausspannungen und rüsteten sich für die unwirtlichen Zeiten. Und da eines Tages, als die falben Blätter sich wiederum von den herbstlichen Zweigen drehten, die Kraniche gen Süden trompeteten, ein frisches Lüftchen den Oktober durchfröstelte – ah, siehe da: vom Turm des Schlosses hob sich das Flaggentuch steil in die Höhe. Fünfundzwanzig Böllerschüsse donnerten über den Park hin. Sie meldeten: »Dem Hause van Klabasterboompjes wurde der ersehnte Erbe geboren.«

Der junge Prediger versteinte bei dieser niederschmetternden Botschaft.

Seine Seele jammerte auf, und sein Herz wollte zerreißen.

»Ihr Berge fallt über mich, ihr Hügel bedeckt mich! Wo berge ich mich vor deinem Zorne, o du mein Herr und Erlöser? Wohin soll ich mich kehren vor deinem Angesicht, auf daß ich meine Schande verwinde?« . . . und war wie einer, dem das Tagewerk zerstückte und dem eine Stimme zurief: »Diesen werfet hinaus, denn er ist seines Amtes nicht würdig.«

Seine duldsame Hausfrau jedoch legte ihren weichen Arme in den seinen und sagte mit allverzeihender, wenn auch trauriger Stimme: »Benjamin, auch das ist vergeben . . .« und die großen Augen des Predigers standen voll Tränen.

* * *

»Laß gut sein, laß gut sein!«

Das erquickte ihn wie Milch und Honig und schmeichelte sich um sein ängstliches Herz wie Narden und Benzoesalbe . . . und dann ging er hin zu den Heideläufern und zu denen, die abwegig hausten, brachte ihnen das Evangelium, weise Lehren und Ermahnungen und, wo es nottat, ein Scherflein für das tägliche Leben. Was er schon als Adjunktus getan hatte, das tat er jetzt mit verdoppelter Liebe und Barmherzigkeit. Die Kranken suchte er auf, die Traurigen tröstete er, den Sterbenden gab er die Wegzehr mit auf den langen und weiten Weg, der zuerst durch ein dunkles Tor führte und dann in ein immer stärker werdendes Glorienscheinen hinein, von dem die Legende gar wundersame Dinge erzählte . . . und wenn er heimkehrte, zufrieden in Gott, wenn auch etwas ermattet und abgespannt, und dann seine Gefährtin in ihrer ganzen Anmut und Fülle vor sich sah, ihr Walten und unermüdliches Schaffen beobachtete, dann tändelte er ihr des öfteren über die ährenschwere Flechtenkrone oder legte ihr die Hand auf das Bündlein zwischen den Brüsten und sagte: »Ein fleißiges und keusches Weib ist der Stirnreif des Mannes. Sie ist rarer denn die seltensten Steine. Sie gürtet ihre Lenden fest und stärkt ihre Arme. Es mangelt ihr niemals an Öl, und ihre Lampe erlischt nicht. Also zählt sie nicht zu den törichten Jungfrauen. O du . . . sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger ergreifen die Spindel. Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Sprache . . .« und er umfing sie und gab ihr heiße Liebe zu kosten . . . und sie gewahrten es kaum, daß zwischen den nunmehr kahlen Zweigen der Bäume oftmals ein großer Stern geisterte, der auf die Menschwerdung hinwies und von einer Jungfrau und ihrem Kindlein verkündete. –

Es ging stark in den Advent hinein.

Schon häufig standen blanke Spiegelchen in den Rinnsalen und zwischen den Ackerfurchen.

Die Goldammern drängten sich immer mehr in die Nähe der Scheunen. Schon frühzeitig brannten die Lampen hinter den Fenstern. Die vom Niederrhein taten sich bereits kurzes Stroh in die Holzschuhe, um ein wärmeres und behaglicheres Schreiten zu haben. Und dann das Tacken und Tocken in der weiten Umgebung! War das eine liebliche Musik, wenn so die Kornelhölzer durch die Tenne arbeiteten und mit ihrem ›hülzernen‹ Glockengeläut den Ewigen priesen, von Säen und Ernten sangen und den Broten zujubelten, die schon halbwegs aus den springenden Roggen- und Weizenkörnern dufteten! Nun hatte Mutter Erde ihre Arbeit getan, empfangen, geboren; nun durfte sie ausruhen, lange Monde hindurch, sich eindecken lassen von einem weißen Linnen, bis ihr Schoß aufs neue begehrte nach Lust und Liebe, nach träufendem Regen, warmem Sonnenschein und der Wohltat des gestreuten Samens.

Jetzt schlummerte sie.

Die grauen Adventnebel schleierten über sie hin.

Um diese Zeit geschah es.

Schon zu Beginn des Dezember hatten die jungen Leutchen ihre neue Wohnung bezogen, in Dank gegen Gott, in Dank gegen die Herrschaft, die ihnen dieses verstattet.

»Nun sind wir König und Königin in unserm kleinen Reich, Gebieter und Gebieterin über fünf Zimmer, Küche, Keller, Garten und Wieswuchs und über alles, was die Liebe nötig hat, es sich behaglich zu machen . . . und da drüben der Bienenstand . . . Welche Aussichten für die kommenden Jahre! Es ist so, als wüchsen uns unermeßliche Kornfelder zwischen den Händen, als schritte der Herr durch die Roggen- und Weizengassen, um jede Granne und jede einzelne Ähre zu segnen und fruchtbar zu machen, und die Grillen musizierten dazwischen wie Lautenisten und Zitherschläger. Wie schön doch die Erde ist! so schön, daß Gott seinen einzigen Sohn dahingab, um sie vor dem Verderben zu retten . . . und nun dieses Psalmodieren und Feiern allerorten, in allen Lebewesen und Kräutern des Feldes . . .« so redeten sie gar oftmals zusammen, wobei sie sich ansahen, als wäre über sie ein Johanniswunder gekommen.

Die junge Frau trug bereits etwas Versonnenes, Nachdenkliches in ihrem Wesen und Wirken. Ein stilles Werden begann sich unter ihrem Herzen zu regen. Des freute sich Benjamin, und in seiner Freude überflog er die Zeiten und meinte: »Ach du, wie glücklich würde ich sein, falls ich über die Jahre hinaus, sechs oder sieben vielleicht, das schreiben dürfte, was Doktor Martinus geschrieben.«

»Was schrieb denn der Luther?«

»So höre,« sagte er herzlich, trat an sein Repositorium und entnahm ihm ein abgelesenes Büchlein, ›Sermone und kleinere Schriften‹, nebst einem Anhang von Briefen, so der Reformator verfaßte.

»Er war damals auf der Veste in Koburg,« erläuterte er, »um dortselbst das Osterfest zu begehen. Er sah das reiche Land unter sich liegen: Triften und Auen, Weiler und Wasser, über den Baumkronen ruhte schon das erste Glänzen des Frühlings, der Odem des Erwachens. O du, mein Seelentrost, du mein Ostern, mein köstliches Ostern! War auch nebenan ein großer Wald, wohin die Dohlen- und Krähenvögel ihren Reichstag verlegt hatten und wie die Polacken und Malztürken ein ohrbetäubendes Spektakel und Gezänk vollführten, da schrieb er von der Veste herunter: Sonntag Judica den dritten April. Gnad und Fried in Christo, mein liebes Söhnichen. Ich sehe gern, daß du wohl lernest und fleißig betest. Tu also, mein Söhnichen, und fahre fort; wenn ich heim komme, so will ich dir einen schönen Jahrmarkt mitbringen. Ich weiß einen hübschen lustigen Garten, da gehen viel Kinder innen, haben güldne Röcklein an und lesen rotbäckige Äpfel unter den Bäumen – und Birnen, Kirschen, Spilling und Pflaumen, singen, springen und sind fröhlich, haben auch kleine Pferdchen mit gülden Zäumen und silbern Sätteln. Da fragte ich den Mann, dess' der Garten ist, wessen die Kinder wären. Da sprach er: Es sind die Kinder, die gern beten, lernen und fromm sind. Da sprach ich: Lieber Mann, ich hab' auch einen Sohn, heißt Hänsichen Luther, möcht er nicht auch in den Garten kommen? Und er zeigte mir eine feine Wiese, zum Tanzen zugericht. Da hingen eitel güldene Pfeifen, Pauken und silberne Armbrüst. Ach, lieber Herr, sagte ich da, ich will flugs hingehen und dies alles meinem lieben Söhnlein Hänsichen schreiben, daß er fleißig bete, lerne und fromm sei, auf daß auch er in den Garten komme; aber er hat eine Muhme Lene, die muß er mitbringen. Da sprach der Mann: Es soll so sein, gehe hin und schreibe ihm also. Drum, liebes Hänsichen, lerne und bete getrost, und sage es auch Lippus und Josten, daß sie gleichfalls lernen und beten! so werdet ihr miteinander in den Garten kommen. Hiermit sei dem allmächtigen Gott befohlen, und grüße Muhme Lene, und gib ihr einen Kuß von meinetwegen. Anno 1530. Dein lieber Vater Martinus.«

Benjamin ließ das Büchlein herunter.

Sie schmiegte sich an ihn.

»Wäre das schön!« sagte sie leise, hielt ihm ihren Mund hin und flüsterte: »Küsse mich – du, auf daß es also geschehe,« und er küßte sie innig, und sie hatten keine Gelüste nach fremden Göttern und goldenen Kälbern, auch keine Sehnsucht danach, ihr Leben noch wünschenswerter auszugestalten.

Ihnen wurden keine Pauken geschlagen, keine Pasteten und Forellen hergerichtet. Nur die Heimchen geigten ihnen zu, und ihr tägliches Brot teilten sie mit den Haushälterischen und Stillen im Lande. Sie genügten sich selber, zufrieden mit dem, was ihnen die Vorsehung in ihrer allumfassenden Liebe gegeben hatte.

Wieland blieb für immer verbannt. Dafür hielt Johann Heinrich Voß seinen Einzug. An traulichen Winterabenden, wo das Predigeramt Muße verstattete, hallten die Räume wider von Spondeen und Daktylen, von derben, nach Juchten und Kaffee duftenden Hexametern des Eutiner Eigenbrödlers und Ludimagisters: »Lieber Gott, wie es stürmt, und der Schnee in den Gründen sich anhäuft . . .«

Und da eines Tages . . . Heiligabend mußte bald kommen . . .

Es ging auf die fünfte Nachmittagsstunde. Graues, kaltes Gewölk schob sich von Osten her über die Niederung, die Leute schienen es eilig zu haben, die letzten Kornelhölzer tockten und tackten von den Tennen herüber, und einzelne Schneesternchen trieben schon über die verstreut liegenden Häuser, um bald darauf zu einem milchigen Gewimmel zu werden, da war es . . .

Benjamin, der in der letzten Zeit Vossens ›Luise‹ mit tapferem Übereifer und in getragener Stimmung vorgelesen, auch viel des Erfreulichen, Lehrreichen und Erbaulichen über Ernestine Boie, Gattin des Dichters, über prosodische Regeln und Gesetze eingeflochten hatte, war bis an die Stelle gekommen, die da lautete:

»Also der Greis; laut weinte, die Händ' auffaltend, die Mutter;
Laut auch weinte Luis' und barg an dem Vater das Antlitz;
Auch der Bräutigam weint', es weint' Amalie seitwärts.
Selbst die alternde Gräfin bezwang nicht länger die Träne,
Eingedenk des guten Gemahls und wie viel sie erduldet . . .«

als er plötzlich mit Lesen innehielt und wie der ehrsame Vikar Primrose verstummte, da eine schlimme Botschaft die andere einholte und mit hartem Anschlag gegen die Türe knöchelte.

Auch Johanna sah auf.

Noch immer knackten die Steinkohlen vergnüglich im neuen Kanonenöfchen, als auch sie mit ihrem Geplauder nachließen und kaum noch zu knistern wagten.

Draußen erhoben sich lärmende Schuhe, hastige, sich überstürzende Schritte, denen eine Ansprache folgte, die vor Erregung zitterte: »Bitte, nicht weiter . . . bleiben Sie hier . . . hier auf der Stelle. Unternehmen Sie nicht das geringste. Suchen Sie auch keine anderweitigen Ressourcen aus. Es würde nichts fruchten, vielmehr Ihnen nur zum Schaden ausschlagen. Verlassen Sie sich auf mich. Principiis obsta! Ich habe zuvor mit meinem Schwiegersohne zu sprechen, denn er allein ist die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit . . .« und noch den Abglanz dieser feierlichen Worte in den Augen, war Kosman Theophil Banning in die Stube getreten, Schnee an den Stiefeln, die Haare verstäubt und mit flirrenden Sternchen durchkrustet.

»Vater, was ist dir?!«

»Ich bitte, Johanna . . .«

Stock und Hut legte er eiligst beiseite.

Ohne sich weiter an seine Tochter zu halten, wandte er sich direkt an den Prediger, der, noch Vossens ›Luise‹ zwischen den Händen, ihn fassungslos ansah.

»Herr Schwiegersohn, ich bin wie der feurige Elias, so heiß und turbulent ist es mir im Kopfe geworden, und wenn es erlaubt ist, zu reden . . .«

Er hob beschwörend die Hände, um sie mit einem tiefen Seufzer fallen zu lassen.

»Herr Schwiegersohn, glauben Sie ja nicht . . . ich gehöre absolut nicht zu denen, die sich allzeit bemüßigt fühlen, bei irgendeinem spielenden Feuerchen, so biderbe Rindsledersohlen augenblicklich austreten können, Mordio und Feurio zu rufen. Auch bin ich nicht willens, bei dem geringfügigsten Anlaß, zum Exempel das Magdalenentum betreffend, die Sammelbüchse hinzuhalten oder Vorstandsweibern zuliebe die Mildherzigkeit meiner Mitmenschen auf die Probe zu stellen. Nein, Herr Schwiegersohn, das steht mir nicht an, und ein Sergeant unter dem gloriosen Soldatenkönig dürfte sich keines zugeknöpfteren Herzens rühmen, als ich es besitze. Aber man muß Ausnahmen machen, sobald einem die Einsicht gebietet: hier ist solches am Platze. Da muß ein frischer Wind durch die Landschaft wehen. Nur die Not, die blutleere Not, die erfrorenen Tränen eines Büßenden, die Seelenbedrängnisse eines Unglücklichen hießen mich in solcher Verfassung und Wirbelsinnigkeit diese Stube betreten. Schon vor Jahresfrist, am Abend des Dreikönigentages, sah ich ihn weinen, hatte ich dieses Elend vor Augen, mußte ich wahrnehmen, wie er hoffnungslos in die Finsternis tauchte, obgleich ihn das Heimweh wie mit Tierkrallen packte. Damals predigte ich an berufener Stelle vor tauben Ohren, prallten meine Erwägungen im ›Goldenen Anker‹ wirkungslos ab – prallten ab an Voreingenommenheit und starren Doktrinen. Das würgte mir den Atem in die Kehle retour. Ne bis in idem! diese Sentenz wird bei mir nicht in Zahlung genommen. Sie ist heidnischen Geistes und widerspricht den christlichen Heilswahrheiten. So hoffe ich denn mit festem Vertrauen und in froher Zuversicht: heute und an dieser Stätte soll mir das nicht wieder passieren, krebse ich nicht mehr zurück, denn in Ihnen, Herr Schwiegersohn, wohnt die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit, Wunden zu heilen und Tränen zu stillen . . .und wo Schuld war: auch diese scheuchen Ihre Hände hinweg, wie ein Gottgesalbter von einem unsauberen Brunnen, der in seiner Jugend bar des Schmutzes gewesen, diesen Schmutz hinwegnimmt . . . und so sage ich denn: er ist wieder gekommen. Er ist wie ein Toter, der an der Tür steht und anklopft.«

»Mein Gott, wer ist wieder gekommen, wer ist denn der Tote?«

»Der Enterbte von drüben.«

Der Prediger war unrastig in die Höhe gefahren. Er streckte die Hände, er faltete sie, er preßte sie auf sein dunkles Kleid. Hoheit umgab ihn, machte seine Lippen zucken. Es rauschte um ihn mit den Harfen Davids, mit denen der Evangelien. Die warmen Lichter der zirpenden Lampe verklärten sein Haupt.

»Und der da, von dem Ihr das sagtet – er befindet sich draußen?«

Der Alte nickte und deutete ernst auf die Türe.

»Ja, er befindet sich draußen.«

»Und ist einverstanden mit meiner Vermittlung?«

»Er ist es.«

»So laßt mich, so laßt mich!«

Ihm war es zuerst, als glitte er lautlos zwischen Mummeln und Pfeilkraut in eine unermeßliche Tiefe, haltlos, ohne Grund und Boden zu finden, um durch eigene Kraft sich wieder zu heben und mit hoher Erregung zu sagen: »So einer um der Barmherzigkeit willen und des lieben Brotes wegen anpocht, dem soll aufgetan werden. So einer in heißer Bußfertigkeit nach seinem Seelsorger ruft, reuigen Sinnes, geschmückt mit der Dornenkrone der Selbsteinkehr, dem soll gleichfalls aufgetan werden, selbst dann wenn er Zeugnis gegen den Hilfreichen ablegt und wider ihn aufsteht. Drum lasset mich, lasset mich! Vielleicht ist es mir vergönnt, durch des Ewigen Fügung begangenes Unrecht wieder in Recht zu verwandeln, im Namen dessen, der da regiert und lenket alle Dinge auf Erden und solche im Jenseits.«

»Brav so, Herr Schwiegersohn. Bannet den unlauteren Geist in die Säue von Gerasa, predigt ihn in den steinichten Abgrund, der keine Wiederkehr zuläßt, und Ihr lebet in Christo. Und solltet Ihr stammeln wie Notker, der Schwerzüngige – es würde Euch nicht Abtrag geschehen: denn das Herz tut es allein, und Ihr habt das Herz dieses Mannes. Viele machen einen großen Wind daher, ohne ein Blättchen auf die andere Seite zu legen. Ihr aber – werft Euer Panier auf, und Gott wird Euch helfen.«

So Kosman Theophil Banning.

Dann trat er mit seiner Tochter in das benachbarte Zimmer und wetterte noch: »Das Panier, das Panier! Laßt es fliegen im Herrn!«

Benjamin aber riß die Tür auf und rief in den umdüsterten Hausflur: »Deo gratias! Das Herz tut mir weh. So Ihr aber meines Rates bedürfet, wollet eintreten, denn geschrieben steht: Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken . . .« und seine Augen durchstießen das Dunkel, seine Hände tasteten sich vor, um gleich darauf einen jungen Menschen, abgetrieben an Kleidern und Ausstattung, strauchelnd und haltlos und mit einem verwüsteten Kindergesicht, in die Stube zu führen.

»Kommen Sie, kommen Sie!«

Erst ein Schluchzen und Stammeln, dann ein Niederbrechen beim Ofen, und bevor es sich der Prediger noch versah, rutschte es auf den Dielen heran und umfing seine Knie . . . und siehe: aus dem verwüsteten Kindergesicht stierten ihm zwei Augen entgegen, in denen das Heilige der Seele noch nicht gänzlich erloschen war . . . und diese Augen flehten aus der Tiefe heraus wie die eines verwundeten Tieres.

»Hochwürden, daß ich hier knie . . . nicht um meinetwillen geschieht es . . . nicht um Hab und Gut . . . nicht meines Vaters wegen. Von ihm habe ich wenig Liebe empfangen, konnte es nicht und durfte es nicht, denn ich bin ihm stets ein Pfahl im Fleische gewesen . . . durch meine Schuld, durch meine Sünde, durch das, was wider mich aufsteht. Immer wieder trieb es mich in den untätigen Werkeltag hinein, in das schmutzige Wasser zurück, bis er es über hatte und nicht mehr helfen wollte und konnte . . . Und wer so dahinsinkt . . . immer tiefer und tiefer . . . wem so alles zwischen den Händen verrottet . . . wer da schließlich darbt und hungert und bettelt . . . Aber Hochwürden,« und seine Arme rangen sich hoch, »um das klage ich nicht, um das knie ich nicht, nicht um Hab und Gut . . . nicht, um des Wohllebens und der Freude wegen . . .«

»Um was sorgt und bittet Ihr denn?« fragte Benjamin, ganz betäubt von den sich drängenden Worten.

Der junge Mensch hörte über ihn fort, straffte den Nacken.

»Nein! und könnte ich mich dadurch vom Tode erlösen, um das habe ich nicht da draußen im Hofe gelegen . . . damals . . . vor Zeiten . . . auch jetzt nicht . . . Aber die Mutter, meine selige Mutter . . .! Ich sehe sie wieder. Sie reißt sich das Herz aus der Brust . . . und zeigt es mir . . . und spricht durch ihre Tränen hindurch: Siehe mein Herz an! Um deinetwillen verblutet es in der Ewigkeit und wird ewig so bluten. Helft mir, Hochwürden! Helft mir, auf daß ich mich wiederfinde: in meinem Leid, in meinem Gewissen, auf daß ich die kalte Hand nicht mehr sehe, die mir die Schwelle verweigerte! Es geht um meine verstorbene Mutter . . . Mutter, Mutter . . .!« und seine Stimme fiel nieder. Hart stieß sie auf, und die Dielen hörten das Jammern eines Reuigen, das Scherbeln der Finger, die sich haltlos verkrampften.

»Helft mir, Hochwürden!«

»Es sind der Qualen genug,« versetzte Benjamin, »denn der Mittler will keine ewigen Qualen,« und er beugte sich nieder, hob den Verzweifelten auf und bettete ihn an die Brust, die vor eigener Scham und Einkehr zu zerreißen drohte, und sagte aufs neue: »Heimat und Mutterliebe! O! sie können Berge versetzen und Ströme ableiten. Sie sind wie ein Kränzlein aus Sternen gewunden. Ist's aber nicht in Gottes Namen angefangen, zieht es dahin wie Rauch vor dem Ofen, wie ein Nichts vor dem Herrn; ist's jedoch in seinem Namen geschehen, ist es von Dauer und bleibet. Daß Ihr es wisset: zu allem Beginn ist die Sünde klein und spielerisch, später aber groß und beschwerlich – ein Werkzeug des Satans. So Doktor Martinus. Aber wollet mich richtig verstehen, mich nicht mit Doktor Martinus verwechseln. Nicht als ob ich mein eigenes Fleisch oder mein Geschlecht nicht empfände, denn ich bin nicht von Holz oder Stein und gleichsam auch durch Anfechtung und Sünde gegangen . . . nur: meine Seele barmte und büßte. Sie wurde geläutert, sonst – es stände mir schlecht, im Namen einer Toten sprechen . . . und so frage ich denn: Trägst du Leid um dein früheres Leben, bereust du im Namen dessen, der berufen ist, zu binden, zu lösen und das Unlautere hinweg zu nehmen?«

»Bitterlich, bitterlich!«

Der Arm Benjamins schnürte fester und inniger.

»Hier ist Anker und Hafen für dich. Flüchte dich zu mir, auf daß ich verstehe, was dir innewohnt und dich noch scheidet von den Tischen der Einfältigen im Geiste. Hier ist Sternennähe und Gottesnähe. Das beseligt und heiligt . . . und so frage ich weiter: Und bist du nicht gekommen, die Hand wider deinen Vater zu heben, ihm zu trotzen, sie nach verlorenem Mammon zu strecken?«

»Verflucht wäre die Hand . . .«

In Benjamin jubelte es auf.

»Sternennähe, Gottesnähe! und du würdest als der Geringste unter den Geringen die Faust an den Pflug legen, den Acker umbrechen, im Schweiße des Angesichtes dein Brot verdienen, nur aus dem Wunsche heraus, um der Mutter willen im Hause deines Vaters zu wohnen?«

»Hochwürden, ja . . .!« und der junge Mensch warf sich an der breiten Brust jählings herum: »Ja, Hochwürden, gebt mir den Pflug, heißt mich, den Acker zu umbrechen, gebietet mir, Steine zu sammeln, sie zu schleppen unter dem Unsegen eines Hörigen – es geschehe im Andenken an meine verstorbene Mutter . . .« und es brach aus ihm heraus mit der Gewalt einer Sturmflut, mit dem Schrei einer Möwe, die eine Kugel aus der grauen Luft herunterholte: »Mutter, Mutter! nur einmal im Leben noch möchte ich die Stätte betreten, die dein Name heiligte, die Stätte, von deren Fenster aus du den Wald sahst, zum letztenmal die Sonne, das Licht und den Heimgang des Tages . . . nur einmal noch die Kissen berühren, die dir das Sterben leichter machten . . . dann geschehe, was wolle. Mutter, herzliebe Mutter, vergib mir . . .! Mutter, Mutter . . .

Er taumelte rücklings. Seine Hände griffen ins Leere.

Benjamin hielt ihn, kaum Herr seiner Kräfte. Er grauste vor diesem Ausbruch eines Gepeinigten.

Aber durfte er helfen? Richter und Versöhner sein?! denn siehe: war er nicht selber belastet? Konnte er für einen Abwegigen die Rechte erheben, ihm dienen, ihm willfährig bleiben in Gedanken, Worten und Werken? Mittler zu sein in seiner eigenen bedrängten und gefährdeten Lage – hieße das nicht, seinen Gott und seinen Heiland versuchen? und dennoch: dieser Appell an das Herz einer Mutter erwürgte alle Bedenken, war ihm ein dröhnender Posaunenstoß aus dem himmlischen Jerusalem, gebot ihm zu handeln, nicht linkwärts und rechtwärts zu schauen, denn wer also seiner Mutter gedacht, in ihr lebte und hoffte, in ihren Schatten sein reuiges Herz flüchtete, der war nicht aufgegeben von Gott, der atmete in ihm, dem leuchtete noch immer das Licht seiner Gnade und Barmherzigkeiten.

»Sternennähe, Gottesnähe! Oh! wenn sie doch kämen!«

Noch dunkelte es um ihn und in seinen Gedanken. Noch lag ein stumpfes Grau ob dem weiten Feld, das er absuchte, und war alles eitel Nacht und Finsternis. Aber dann erhob sich ein Lüftchen, ein Säuseln und Wehen, das die Halme bewegte, das die Zweige der Bäume auseinanderscheitelte. Im tiefen Osten klärte es auf. Das Land wurde sichtbar, die Nähen, die Fernen. Die ersten Vogelstimmen ließen sich hören. Wälder und Heiden röteten sich . . . die Täler rauschten . . . und dann kam das Licht und mit ihm die Erkenntnis und das Leben.

»Ja, ich darf es, ich will es!« rief Benjamin, von diesem Licht der Erkenntnis überschüttet. »Ich wäre ein Mietling, der die ehrliche Sache verließe, wollte ich mich gegen bessere Einsicht und Lauterkeit sperren. Sauer wird mir der Gang an den Berg Moria werden, des bin ich sicher. Aber ich werfe Panier aus. Hoch die Fahne des Herrn! Ja du,« und er drückte den Unseligen fester an sich, »folge mir nach durch Dorn und Gestrüpp, durch Wegestaub und Wirrnis – ich werde dich führen, nicht als Leisetreter, sondern als Bekenner und Büßer. Eine Gasse werfe ich auf bis dorthin, wo die Mutter die Stätte heiligte mit ihrem Namen, woselbst sie das Haupt in die Kissen legte, um sich das Sterben leichter zu machen. Ich schäme mich nicht, ich schlage mich durch, selbst dann, wenn mich alle verließen und mir allein nur die Überzeugung verbliebe: du mußtest . . . und wenn es nicht dort ist, wenn ich dort nicht gewinne – hier in diesem Hause wird dir ein Herz und eine Streu bereitet – zur Einkehr, zu einer neuen Zukunft, um wieder Mensch unter Menschen zu werden. Und du wirst nicht ermangeln: die Tage wirst du dir ausbauen und zurechtzimmern – im Angedenken an die, die dich liebte, im Geist deiner Mutter.«

Und Benjamin, der Wortgewaltige und Tröster, einst durch heiße Sünde und Not gegangen, jetzt umkleidet wie ein Starker mit rauher Schafschur, wenn auch rührend unbeholfen, so doch berufen, die Steine fördernder Arbeit zu wälzen, war ein Großer geworden, größer als die vielen Großen im Lande, denn er fand den ehernen Mut, hinzutreten vor seine eigene Schuld, wenn nötig, sie zu bekennen bis zur bitteren Hefe, um die seines Mitbruders weniger schmerzlich zu machen, sie dem Erbarmen und dem Mitleid in die Arme zu legen.

Und seine weißen, aber klobigen Hände umgriffen die Schultern des verlorenen Sohnes, und seine Stimme erhob sich in treuherziger Wallung: »Mit Gott denn! Es soll uns nichts trennen, da überwunden ist, was in meiner Brust noch zweifelsüchtig aufbegehrte. Ich erwürgte es, warf es beiseite und zertrat es mit meinem Nagelschuh. Des sei eingedenk, damit mich später nicht reut, was ich tat, um das Angedenken und den Namen einer Toten zu ehren, ihr zu dienen und ihrem Sohne gerecht zu werden. Du bist eine reuige Waise und hast niemand, der dich liebet. Aber ich will dir das Waisentum nehmen und sorgen, daß sie dich wiederum lieben und hochhalten. Mache mich nicht irre an meinen eigenen Worten. Lasse mich nicht stehn in der Gasse, zum Gespötte der Menschen. Falle nicht vom Roß, auf das ich dich zu setzen gedenke. Du würdest elendiglich fallen, tiefer denn früher. Also fort mit Baal und dem goldenen Kalbe, fort mit den Dirnen, ihrem Flitterwerk und dem sündigen Fleische, auf daß es heißen möge: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schäflein gefunden, das verloren war. So wird auch Freude sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.«

Und dann redete er leichter und sanfter und sagte: »Ich will glauben, daß ich mich auf gutem Wege befinde. Ich will glauben, daß du dem Teufel entsagst, seinen Werken und Listen, daß du nicht des Weibes begehrst, nicht ihres weißen Leibes, noch ihrer heißen Liebe, wenn es nicht dein ist. Ich will glauben, daß es so ist, so und nicht anders, und so gehe denn hin zu deinem Vater und sage: Ich habe gesündigt in dem Himmel und vor dir, und ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. So mache mich denn als einen deiner Tagelöhner, und wenn es auch kein Weizenbrot gibt, sondern nur solches von hartem Roggen, so bin ich auch hiermit zufrieden . . .« und als er so redete, vernahm er ein krampfhaftes Schluchzen, das nicht aufhören wollte.

Da legte er seinen gewaltigen Arm um seinen Schützling und sagte mit umflorter Stimme: »So ist es gut. Weine dich aus, weine nur fort, denn einer sieht es, der unter uns weilt. Einer, der schlimmer duldete, als wir alle zusammen. Drum fürchte dich nicht. Wer in Reue und Gott ist, hat kein Fürchten vonnöten. Wohl Tränen; denn solche haben niemals geschändet. Nun aber genug dieser Tränen. Wir müssen jetzt gehen. Nur noch vierundzwanzig Stunden – und die heilige Nacht zieht herauf. Mögen die da drüben den Ruf des Geschickes nicht überhören, sich ein Denkmal setzen aere perennius. Eine Schuld pocht dort an, aber auch die weiße Hand einer verstorbenen Mutter. – Kommen Sie mit mir.«

Sein großes Gesicht war still und zuversichtlich wie die lautere Wahrheit . . . und sie verließen die Stube.

Benjamin führte den Ärmsten.

Draußen im Hausflur rief er durch die qualvolle Stille: »Ich habe noch einen Gang zu tun, ich und der Wiedergekehrte. Wir sind eins und einig geworden. Wartet und betet! Betet, daß ihm ein Kalb geschlachtet werde im Hause des Vaters, daß ihm bereitet werde eine Stätte für immer.«

Aus dem Nebenzimmer jedoch klang es mit den Tönen einer siderischen Orgel zurück: »Herr Schwiegersohn, wenn es erlaubt ist, zu reden . . . es wird Euch nicht mangeln. Ihr werdet Euer Wort und Eure Stunde schon finden, im Namen des Herrn, denn sein ist die Macht und die Kraft und die Herrlichkeit . . .«

»Amen, Amen!« sagte Benjamin und legte die Hand auf den Drücker.

Die Türe ging auf und schloß sich dann wieder.

Sie traten hinaus in das Geschaukel von Myriaden schneeweißer Pünktchen.

Lautlose Schritte, lautlose Menschen.

In der großen Allee begegnete ihnen Rinse van Bommel. Er kam vom Rentamt, um noch den ›Goldenen Anker‹ aufzusuchen.

Erstarrt blieb er stehen.

»Hochwürden, was betreiben Sie da?«

»Rinse, sehen Sie nicht? Neben uns schreitet die tote Baronin. Sie geleitet ihren Sohn in das Haus seiner Väter.«

»Wenn es denn so ist . . .!« und Rinse sah ihnen nach mit verhaltenem Atem.

So gingen sie weiter.

Als ihnen der matte Schein der Portallampe zuwinkte, trat ihnen einer aus dem Domestikenzimmer entgegen, in Eskarpins und Schnallenschuhen, ruhig wie immer, aber mit dem Gesicht eines von Gott Gezeichneten.

»Jean Pierre, melden Sie uns.«

Eine kalte, gespenstige Hand winkte ab.

»Hochwürden, in dieser Begleitung . . .? Sie kennen den Befehl des gnädigen Herrn.«

»Es gibt einen, der höher denn er ist, der Herzen und Nieren durchleuchtet, und so dieser Einlaß begehrt, so soll ihm aufgetan werden.«

»Hochwürden, ich darf nicht. Ich habe strikte Orders erhalten.«

»Vor Gott fallen alle irdischen Befehle wie ein Kartenhaus zusammen. Mögen sie purzeln, die Karten . . . und ich, sein Diener, achte selbst den Treffkönig für Null und ein Garnichts. Gott will es. Also – melden Sie uns.«

Die Bedientenseele verstummte und zeigte nach oben.

Da traten sie ein in das Haus des Vaters.


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