Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Sechzehntes Kapitel

Mordje Tulpenstiel in Dankbarkeit gegen den Amtskandidaten. Zu diesem Behufe läßt er Mirjam tanzen mit Pauken am Reigen und die Bataillone des gewaltigen Judas im Parademarsch vorbeidefilieren. Die Geister Asmodi, Pampholini, Grimaldi und ihre Beschwörung durch Andreas Muskulus, gemeinhin Meusel geheißen. Ein letztes Begegnen; aber die Präsentation wird perfekt, weshalb Benjamin die Worte prägt: »Nil habeo cum porcis; ich bin ein Geistlicher, Sir . . .« einen Holzstoß errichtet und Wieland dem Feuer überliefert. Frühlingserwachen. Gesühnt und versöhnt . . . und ein glückverheißender Gang zum Haus des Magisters.

Die mandelförmigen Augen voll von Zuversicht und Nächstenliebe, das Nazarenerhaupt duldsam, aber überaus glücklich auf die Seite geneigt, zog Mordje Tulpenstiel mit dem frühesten des anderen Tages wieder landeinwärts.

Hinter ihm ratterte sein Hundegespann, das die Nacht in einem Schuppen des ›Goldenen Ankers‹ verbracht hatte, vor ihm lag die weite Gotteswelt, im Rücken das schlichte evangelische Pastorat, in dem er selber genächtigt und durch die Mildherzigkeit Benjamins drei preußische Speziestaler hatte einheimsen können.

Die Schuld war somit beglichen, bis auf einen einzigen Taler beglichen. Den vierten und letzten aufzubringen, war dem Adjunkten bei seinen äußerst bescheidenen Verhältnissen nicht mehr möglich gewesen.

Wie das Gelobte Land von Milch und Honig, so triefte Mordje Tulpenstiel vor Dankbarkeit, in Erinnerung an den edlen Menschen und die gesegnete Stätte.

Das helle Klimpern in der Hosentasche veranlaßte ihn, stehen zu bleiben, sich zu wenden und die Hand für diesen barmherzigen Samaritan benedizierend gen Himmel zu heben.

Er fühlte sich wie ein Seher und Prophet auf dem Pisgagebirge, umgeben von Cherubim und Seraphim, die ihm Weihrauch aus goldenen Gefäßen darbrachten und ihm die Gabe des Redens verliehen.

So hub er denn auch an, die Gebetschnur um die Rechte gewickelt: »Gott gebe dir vom Tau des Himmels, von der Fettigkeit der Äcker, desgleichen Korn un Wein in Hülle un Fülle. Völker sollen dir dienen, deine Mutter, deine Frauen un Kinder dir zu Füßen fallen. Verflucht sei der, der dir fluchet, gesegnet der, der dich segnet . . .« und in üppigen Bildern verhieß er ihm das Reich mit den silbernen Seen, den Myrrhenhügeln und den fruchtbaren Feldern, auf denen der Flachs blühte wie bei uns die Pfirsichbäume . . . er beschwor Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, und ihre Gespielinnen, auf daß sie ihm folgten mit Pauken am Reigen . . . selbst die Leviten mußten mit ihren lauten Trompeten heran, um dreimal Tusch gen Osten und Westen und dreimal Tusch gen Süden und Norden zu blasen . . . ja, er verstieg sich sogar dazu, die Bataillone des gewaltigen Judas, des Mattathias Sohn, aus den Gräbern zu holen, sie mit ihren Flinten und Säbeln in Reihen zu gliedern, sie auszurichten und Augen rechts nehmen zu lassen, genau so, wie er es auf dem Exerzierplatz in Wesel gesehen hatte.

Alles dem braven Adjunkten und den preußischen Talern zu Ehren.

Dann ein Kommando: »Parademarsch! auf der Stelle getreten . . .« um mit einem hingeschmalzten »Frei weg!« und bei klingendem Spiel die schnurgeraden Kaders vor Benjamin Seraphikus Rückert defilieren zu lassen.

»Immer frei weg! Aber Sie da, machen Sie keine Menkenke! Sie da, auf dem linken Flügel da hinten . . .

Mordje warf die Hand an den Hutrand.

»Ich danke.«

Seiner Kritik nach war der Vorbeimarsch trefflich gelungen.

Beglückt zog er weiter durch die niederrheinische Landschaft . . . während Benjamin ihm nachsah, die heiße Stirn gegen das kalte Fensterglas gepreßt und tief in Gedanken.

»Da geht er nun hin mit seinen Apfelsinen, seinen paar Talern und seinem inneren Erleben, kurz, mit allem, was kein Seminar uns lehrt und kein Studium uns ans Herz legen kann. Auch in östlichen Gesichtern spiegelt sich ein stilles Genügen und die Einfalt der Seele wider. Just wie versonnene Menschen, so steht auch er auf einsamer Höhe, um von hier aus seine eigene Welt zu betrachten. Mit Kleinem beginnen, aber immer wachsen um Heller und Pfennig, das Bündelchen zum Bündel, das Säckchen zum Sack werden zu lassen, das ist sein Höchstes auf Erden, die Freudigkeit seiner arbeitsamen Tage . . . und wenn er auch mit den goldenen Früchten handelt, denen er aus merkantilen Gründen heraus eine Wiederbelebung erstorbener Kräfte beimißt, was soll es? Es macht ihn nicht gerechter und ungerechter als seine Brüder und Schwestern der anderen Bekenntnisse. Laßt ihn gewähren. Er geht seinen besonderen Weg und wird die ewige Heimat schon finden.«

Er beneidete ihn, er beneidete Mordje Tulpenstiel bei seinem Handel und Wandel, in der Einfalt seiner Gedanken, jetzt bar aller Anfechtungen und Verdrießlichkeiten, nicht angekränkelt durch Leid und Lust und das heiße Begehren nach Weib und Liebe, während er selber die Stunde erwartete und nicht abwägen konnte, was sie ihm bringen würde. Immer tiefer fühlte er sich durch eine tückische und arglistige Trift in Not und Ängste gezogen, immer weiter vom Ufer gestoßen, haltlos ringend mit der Kraft eines Verzweifelten. Johanna so fern und ihre Stimme dahin wie der einsame Schrei eines Vogels, den ein Nebel über dem grauen Meer für immer verschluckte . . . und er mitten in Sünde und Leid . . . und nun war das noch gekommen: das Ungeheuerliche im ›Goldenen Anker‹, die Maßregelung von seiten des Alten, die er nicht einmal abweisen konnte . . . alles so traurig, so welk, so mit Floren umdüstert. Er dachte an die verflossene Weihnacht, an die gnadenbringende Zeit. War sie für ihn gnadenbringend gewesen? Sein Herz winkte ab. Hatte ihn Silvester befriedigt, war ihm das Dreikönigenfest zum Heile ausgeschlagen? Er fand keine Antwort, nur Anklagen, die sich mit wehem Stöhnen in irgendeiner Ecke verbargen. Dafür polterte das Kanonenöfchen doppelt und dreifach. Glühende Partikelchen, die sich mit blutunterlaufenen Äugelchen aus dem Aschenkasten erhoben, prätzelten gegen ihn vor, vereinigten sich, nahmen Gestalt an und standen schließlich mit feurigen Häuptern vor seiner geängstigten Seele.

Das Schloß sah er wenig. Fast kaum noch. Auf seinen Spaziergängen vermied er es geflissentlich, in seine Nähe zu kommen, aus Furcht, die entlaubten Bäume des Parkes würden ihn an seinen durchlebten Traum gemahnen, ihm aufs neue die sündige Neigung in die Brust hineinharfen.

Mit aller Gewalt zwang er das stürmische Aufbegehren zurück. Aber er wurde die aufdringlichen Bilder nicht los: nicht die halberloschenen Kerzen, die sehnenden Arme, nicht den geöffneten Schrein von Schnüren und Spitzen, aus denen es mit der Weiße von lebendigem Marmor herauswuchs, nicht das allmähliche Eindunkeln der schäferlich-erotischen Szene . . . und dann dieser Kuß von trunkenen und verführerischen Lippen, der ihn alles vergessen ließ, was ihm teuer und heilig gewesen, unantastbar wie der Kelch auf dem Tisch des Erlösers.

Die Stunden vergingen, die Tage, die Wochen. Der Schnee versickerte. Die Kälte ließ nach. Laue Winde wehten herüber. Die Wässerchen begannen schon freudig zu gluckern. Gegen alle Satzung in der Natur schmückten sich bereits Ende Februar die kahlen Wipfel mit einem zierlichen Goldpuder. Im Holz erhob sich ein warmer Brodem. Die starren Puppen an den Buchenhecken überzogen sich mit einem braunroten Firnis. Die Finkenmännchen schlugen schon bei diesem vorzeitigen Frühlingserwachen. Auch in der Brust Benjamins sangen wieder die Geisterlein, die dem Fleische qualvolle Stunden bereiteten.

Um sie zu bannen, zog er sein theologisches Rüstzeug zu Rate, wappnete sich und sagte ihnen Fehde an. Zu diesem Behufe studierte er des Agricola Schriften, den, ob seines tapferen Durstes willen, Luther nur den Eislebener Biertheologen zu nennen geruhte. Aber sein Wort war gewaltig, seine Prosa wie Salz und Pfefferkörner. Auch den Andreas Musculus, eigentlich Meusel geheißen, den bibelfesten, streitgefertigten Recken im Heerbann der neuen Lehre, Prediger und Professor zu Frankfurt an der Oder, letzten Endes Generalsuperintendent der Mark Brandenburg, frequentierte er eifrigst. War das ein Mann, dieser Musculus! – treuherzig, unbesonnen und heftig, einer, der sich zeitweilig bei seiner ungebändigten Phantasie bis zu turbulenten Visionen erhitzte. So eines Tages, als er unter freiem Himmel vor Sankt Gertraudis in obiger Stadt zu predigen anhub. Die Luft war voller Frühlingsmusik und der gewaltige Platz voll zugeströmten Volkes aus der weiten Flußniederung. Da in seinem herrlichsten Zuge, in seiner höchsten Rhetorik erschienen drei Geister: Asmodi, der Kurze, Pampholini, der Hagere, und Grimaldi, der Fette, gesonnen, die steinerne Kanzel einzureißen und ihm das Wort Gottes von der Zunge zu schwefeln. Da aber Andreas Musculus! In seiner ganzen Gottesgelahrtheit ergriff er den Weißdorn, den er immer mit sich führte, um nötigenfalls die Heilswahrheiten in die widerspenstigen Bauernschädel zu trommeln, jetzt aber so mannhaft gegen die unlauteren Geister gebrauchte, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als einen entsetzlichen Gestank von sich zu geben, Reißaus zu nehmen und als drei winzige, aschgraue Mäuslein unter die Röcke von etlichen Dirnen zu schwänzeln.

»Zum Henker, Asmodi!«

Und fort war er.

»Stirb, Phampholini!«

Und dahin war der zweite.

»Verrecke, Grimaldi!«

Und der Unzüchtige hatte sich gleichfalls empfohlen.

Der harte, knorrige Weißdorn polterte hinter ihm her.

Nur noch drei winzige, aschgraue Mäuschen, Weibergekreisch und ein Verschwinden unter raschelndem Beiderwandzeug – das war der nichtswürdigen Geister Ende, denn Andreas Musculus behauptete das Feld, umgriff die Brüstung der steinernen Kanzel und predigte weiter.

Solches imponierte mehr denn alle Bibelsprüche, mehr denn alle Weisheit zwischen Himmel und Erde, so daß selbst der ordinierte Adjunktus vor eitel Bewunderung niederkniete und inbrünstiglich betete.

Andreas Musculus, eigentlich Meusel geheißen, letzten Endes omnipotenter Generalsuperintendent der Mark Brandenburg, hatte ihm Stab und Muschelhut überreicht, ihm die Pfade der Erkenntnis gewiesen.

»Zum Henker, Asmodi!«

Ha, welche Worte!

»Stirb, Phampholini!«

Diese Rhetorik!

»Verrecke, Grimaldi!«

Welch eine Beschwörungsgewalt in der Brust eines einzelnen Menschen!

Getrösteten Sinnes erhob er sich von den Dielen . . . gefestet in Gott . . . dankbar gegen Andreas Musculus aus Frankfurt an der Oder.

Alles vortrefflich! wäre nur nicht dieser lockende, vorzeitige Frühlingsodem, dieses Schwellen und Treiben in Hecken und Hägen gewesen! Und dann noch: anderen Tages wurde er wieder zum Schlosse entboten.

»Wieland . . .?!«

Das packte ihn bis in die Fingerspitzen hinein, stieß ihn aufs neue in das Blinkfeuer der Versuchung und Schwäche. Aber der Geist redete heftig: »Gedenke des Mannes mit dem knorrigen Weißdorn, auf der steinernen Kanzel unter freiem Himmel, vor der Kirche Sankt Gertraudis in Frankfurt. Greife den lüsternen Gaukelnarren beim Schopf, brich ihm das Genick, wirf ihn zu Boden, oder wenn nicht anders, transferiere ihn in ein schwänzelndes Mäuslein.«

Das tat er denn auch herzhaft aus dem tiefsten Kämmerlein seines reinen Gemütes: im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, wenngleich er auch von einem zierlichen, aschgrauen Mäuslein nicht das geringste bemerkte.

Jean Pierre Knipping empfing ihn wie immer, das glattrasierte Gesicht gleichsam mit dem Siegel des Hermes Trismegistus verschlossen.

Keine Silbe kam von den gekniffenen Lippen, kein warmes Leuchten aus den grauen Augen, die an das Grau eines letzten Novembertages erinnerten.

Nur ein Heben der Hand, wie es der Leichenbitter hat, wenn er das Sterben ansagt; nur ein schweigsames Deuten auf die zweite Tür zur Linken.

Benjamin wußte Bescheid.

Er fand Nelly in einer rosigen Wolke von Düften und Spitzen. Voll und süß, wie der Hauch einer Rose in schwüler Juninacht, drang ihm dieses Atmen entgegen.

Viele Menschen befleißigen sich, die Maske zu tragen, selbst über den Aschermittwoch hinaus. Nicht so die junge Frau. Sie hatte die ihre von sich geworfen. Ein Sichbesinnen auf ein liebes Geheimnis war bei ihr. Um die Mundecken zitterte ein Lächeln zwischen Wohlgefallen und Mitleid. Das Rätsel ihrer eigenartigen Schönheit hatte sich noch tiefer und mysteriöser gestaltet. Ihr Antlitz war wie das einer Medaille, ihr verbindliches Grüßen aus der veilchenblauen Versunkenheit wie das einer Gesegneten. Von ihrem Liebeshunger jedoch war nur ein mageres Aschenhäuflein übriggeblieben – so schien es, obgleich ihre Blicke sich freundlich in die seinen verloren.

Sie erhob sich aus ihrer rosigen Wolke von Düften und Spitzen.

Ein zartes Erbleichen legte sich über ihre Wangen.

»Sie kommen, mein Freund . . .

Benjamin rührte sich nicht, wagte es aber, seine Hand vertraulich auf die ihre zu legen.

Sie entzog sie ihm wieder.

»So nicht, mein Freund. Wir wollen der Zukunft gedenken und uns erinnern, daß carne-vale Abschied vom Fleisch bedeutet. Seien wir zufrieden mit dem, was uns wurde, auf daß wir nicht irre werden und zu unserem Leidwesen erfahren müssen: Berge und Liebe ergeben sich dem Mutigen. Sie werden mit Freude erstiegen, aber noch häufiger unter Tränen verlassen. Schmetterlingsflügel scheuen sich vor jeder Berührung, aus Furcht, ihren Schmelz zu gefährden. Seien wir weise, und lassen Sie mich dem klugen Beispiel der Marquise von Merteuil folgen. Im richtigen Augenblick verstand sie es, ihre Schäferstunden zu meistern, die köstliche Binde von den Augen zu nehmen. Ein närrischer Einfall, so schön er auch ist, verschmäht es, doppelt oder dreifach in die Erscheinung zu treten. Er würde sich totlaufen und gleichzeitig lächerlich werden. Auch ich habe Pflichten. Das Preziöse, was war, sei in ein Aschenkrüglein verwiesen. Der Efeu des Vergessens mag es umranken, wenn auch umzittert von einem stillen Erinnern. Einmal hat mein Herz stürmisch an dem Ihren gelegen. Es darf es nicht wieder. In grober See geht so manches hoffnungsfreudige Segel verloren. Lassen wir es bei glatter Meeresstille bewenden. Ihrer wartet eine andere Feuerstelle, reiner und schöner. An einer solchen wird für Sie das Fest der Pfingsten gefeiert . . . und solch ein Fest ist das höchste im Jahre und somit auch das höchste des Lebens. Und nun: der Herr wird gleich kommen . . .« und als dieser erschien, im Frack, statt der Gardenie ein Heliotrop im Knopfloch, er selbst einer Gliederpuppe nicht unähnlich, senil, die Tabaksdose zwischen den schmalen Fingerspitzen, mit rosigem, verbindlichem Kindergesichtchen, nur die Augen scharf und geschliffen, wandte sich Nelly, um ihr entfärbtes Gesicht mit einem Spitzentüchlein zu bergen.

»Nun, Herr Adjunktus, ich habe Sie aus einem wichtigen Grunde bitten lassen.«

»Ich weiß, Herr Baron. Das romantische Poem ›Idris und Zenide‹ . . .«

»Nein, es bedarf dessen nicht mehr.«

»Bedarf dessen nicht mehr?«

»Wie ich schon sagte. Was für eine bemessene Zeit bestimmt war, ist nicht immer geeignet, auch sich späteren anzuschmiegen. Unser Dasein ist Wandel und Wechsel,« und der Jonkheer Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr aus Aldekerk, stelzte wie ein steifer Grandseigneur, gleichsam auf Eiern, zum Bücherregal, langte einen Lederband aus einer Serie gesammelter Werke, schlug das Buch auf, blätterte umständlich darin herum, um schließlich auf eine markante Stelle zu deuten: »Friedrich von Schiller, Band zwei. Herr Adjunktus, bitte lesen zu wollen.«

Und Benjamin las.

Der Abend sah mild und groß durch die Scheiben.

Draußen baumte eine Merle auf.

Von einer mächtigen Kiefer, die unmittelbar neben dem Fenster aufragte, flötete sie die erste Strophe eines jungen Frühlingsliedes.

Der Jonkheer zeigte eine bewundernswerte Haltung.

Nelly weinte still vor sich hin.

Aus ihren Tränen wuchs das Geschick und die gesegnete Stunde des Weibes.

Um den Adlerflaum des Barons wob sich ein abendliches Leuchten.

Auf dem langen Korridor, der an dem einsamen Zimmer vorbeiführte, intonierte die Standuhr: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt . . .«

Benjamin legte die Hand über die Augen.

Er hatte gelesen und glaubte, in einen Abgrund zu stürzen.

Aber eine freundliche Stimme war bei ihm, die des Barons, nur leise gestört durch ein verhaltenes Schluchzen, das der Baronin: »Mein lieber Adjunktus, ich wollte nur dartun: mit dem heutigen Tage hat sich manches geändert. Nous avons changé tout cela. Wir befinden uns just in der richtigen Mitte. Weitere Bemühungen Ihrerseits ferner nicht nötig. Seien Sie aber unseres Dankes versichert. Meine Frau ist völlig im Bilde. Ohne Ihre freundliche Hilfe glaubt sie fortan, Wieland selber studieren, ihn interpretieren und sich an seinem Geiste erfreuen zu können. Desungeachtet: wir bleiben die alten, und des zum Zeichen: die Präsentation wurde Ihnen mit der jetzigen Stunde. Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen dieses zu übermitteln. Die Bestallung liegt vor. Außerdem: ein neues Predigerhaus nebst Ausstattung, dazu das erforderliche Kleinland, wie Garten und Hutung, wird Ihnen hiermit zugesprochen. Noch in diesem Frühjahr soll der Neubau beginnen. Die Pläne hierzu wurden bereits eingefordert, das Nähere mit Rinse van Bommel vereinbart. Noblesse oblige. Im übrigen: wenn auch ohne Ihren Poeten – auf Aldekerk immer willkommen. Le couronnement de l'édifice ist hierdurch erledigt, und ich hoffe somit, Ihren Wünschen Rechnung getragen zu haben. Mit Gott denn.«

Er pfiff äußerst sacht durch die Goldplomben.

Benjamin stand wie entgeistert.

Nelly war nähergetreten.

Unter ihren dunklen Wimpern ruhte eine große Verheißung, wie sie die braune Scholle hat, wenn der Frühlingsregen sie netzt und das Saatkorn seine Bestimmung erwartet.

Ihre kühle Hand spielte sich unauffällig in die seine hinein.

»Ich gratuliere, Herr Pfarrer.«

Es klang ihm zu, als hätte jemand aus der Dämmernacht eines sommerlichen Waldes gerufen.

Die ganze Umgebung verflüchtete sich.

Wie er das Freie gewann und wessen Gesichtes sich Jean Pierre befleißigte, als er an ihm vorbei mußte – es war völlig seinen Sinnen entschwunden. Auch hatte er keine Ahnung davon, was sich in der nächsten Stunde begeben. Nur kam es ihm vor: das stille Wasser, so da Schloß Aldekerk in weitem Ringe umspiegelte, blenkerte silbern heraus, die kahlen Baumkronen des Parkes rauschten seltsam aus der Höhe herunter. Auch das noch: strauchelnden Fußes war er bald darauf am Hause des Magisters vorübergetaumelt, nicht wissend, was er hier sollte und wollte, nur vom Schicksal getrieben . . . und hatte ein liebes Gesicht hinter den Scheiben gesehen: Johanna . . .

Aber ein Cherub erhob sich an der Pforte, schwertumgürtet und feurigen Hauptes, gleichsam entboten, ihm den Eingang zu wehren.

Von Gewissensbissen gepeitscht, aber auch getragen von den Schwingen der ihm gewordenen Manifestation, suchte er sein Heim zu gewinnen.

Keiner begegnete ihm, niemand sah es somit, was ihn in dieser Stunde bewegte.

Der letzte Schein im tiefen Westen starb dahin wie ein Totenlämpchen.

Es dunkelte schon, als er sein Haus erreichte.

Aber in seiner Seele war Licht.

Der siebenarmige Leuchter im Tempel Jehovas konnte nicht freundlicher scheinen. Nur der unreine Geist in ihm bedurfte der Läuterung, mußte exstirpiert werden mitsamt seinen Spießgesellen, wollte er des Predigeramtes in Zucht und Ehren nachkommen.

Und diese Gesellschaft war schlimmer als die des Andreas Musculus, als die drei allmiteinander.

Sie mit denselben Waffen niederzuringen, wäre lediglich ein Kampf des Hammers mit den Flöhen gewesen.

Also mußte das Feuer heran, und eigenhändig trug er zu diesem Behufe einen Holzstoß im Hofe des baufälligen Hauses zusammen: Tannen- und Buchenkloben, emsig darauf bedacht, sie aus dem Ölbehälter seiner bescheidenen Arbeitslampe zu tränken.

Als solches geschehen, atmete er schon freieren Sinnes, zündete die Scheiter an, brachte neue Nahrung hinzu und ließ die heißen Zungen in den abendlichen Himmel hineinlecken.

O dieses Glänzen, dieses österliche Aufbegehren!

Er freute sich dessen.

Dann die Treppe hinauf und wieder herunter.

Ein Päcklein Bücher im Arm, das er dem Repositorium seiner Studierstube entnommen hatte, trat er wieder auf die feurige Mahlstatt.

Er sah sich von Brand und Brunst und blutroter Lohe umgeben.

Sein Schatten flog die gegenüberliegende Wand an, hob und senkte sich wie ein gespenstiges Wesen, schrumpfelte zusammen, als hätte ihm der Satan das Geistern verboten, um lendenlahm am Boden herumzukriechen.

Eine kurze Wendung – und er flatterte wiederum stolz in die Höhe, ein Gigant mit Spinnengelenken, eine Ungeheuerlichkeit mit eines Gewaltigen Kinnbacken.

Benjamin erschauerte vor seinem eigenen Schatten.

Das Antlitz wie aus bleichem Kalkstein gehauen, seinen Pack Bücher unter der Achsel, erinnerte er an einen schwärmerischen Mönch aus vergangenen Tagen, der auf sakrosanktes Geheiß Torquemadas einen Andersgläubigen mit Feuer zu benedizieren hatte, oder besser noch an einen Bruder und Sendling des Hainbundes, gesonnen, unter Bundeseiche und Mond, bei ernsten Gesängen und Kuhmilch, Wielands ›Idris‹ verbrennen zu lassen.

Benjamin Seraphikus Rückert, gewesener ordinierter Adjunktus, nunmehr durch Gottes Gnade und Beitun des Herrn van Klabasterboompjes wohlbestallter Prediger in Aldekerk, holte zum Wurf aus.

Er dachte dabei an Heinrich Fielding und dessen komischen Roman ›Joseph Andrews‹.

Mit den Worten des bedeutsamen Klopffechters Abraham Adams, Landvikar in irgendeiner englischen Grafschaft, in Fehde stehend mit seinem fettleibigen Kollegen, dem unverfrorenen Wurzelmann Trulliber, hub er an, sein Herz zu erleichtern: »Nil habeo cum porcis! Ich bin ein Geistlicher, Sir, und kam nicht zu Ihnen, um Schweine zu kaufen.«

Das straffte ihn hoch.

Er fühlte sich stärker als Andreas Musculus, im gewöhnlichen Leben schlichtweg Meusel geheißen; denn dieser hatte bloß mit minderwertigen Geistern, mit den Kakodämonen Asmodi, Pampholini und Grimaldi zu ringen, während sein Kampf sich auf die leichtfertigen Lebewesen mit Schönheitspflästerchen und Krinolinen erstreckte, dreimal gefährlicher als die wüstesten Kobolde.

Ja, er dünkte sich höher als Doktor Martinus, denn dieser hatte nur vor den Elstertoren der Stadt Wittenberg die Bannbulle des Papstes dem Holzstoß mit den Worten überantwortet: »Weil du den Heiligen des Herrn betrübt hast, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer!« aber es war lediglich die Bulle eines Papstes gewesen, nur Wortgezänke, überhebliche Maßnahmen gegen einen Besserer und Vermehrer der Kirche, hier jedoch waren Schriften zu tilgen, die den Menschen selbst im Traume verfolgten, ihm Frau Venus zuführten, splitterfasernackicht und mit gierigen Augen, lüsterne Geschichten und Sagen, nur erdacht und ersonnen, Pan zu wecken und das Weib zu veranlassen, ihren Gürtel im Namen Istars, der Beherrscherin Himmels und der Erde, zu lösen.

Somit Kampf auf der ganzen Linie.

»Nil habeo cum porcis! Ich bin ein Geistlicher, Sir . . .«

Benjamin holte zum Wurfe aus und donnerte durch den friedlichen Abend: »Mord wird mit dem Schwerte bestraft, Felonie durch Hanfstrick und Galgen; geile Buchstaben jedoch sind anders zu richten. Sie sind übler denn Geißböcke, schlimmer denn verbuhlte Turteltauben. Ins Feuer mit ihnen!« und Wielands ›Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva‹ flogen mitsamt dem Prinzen Biribinker und der schönen Fee Kristalline in die glühheißen Kloben.

Funken spritzten auf, verkohlte Blätter strudelten einen schwärzlichen Flaum in die Höhe. Mit goldenen Bienenschwärmen sirrte und summelte es über den Hof hin, über den eingedunkelten Garten, bis weit in die Wiesen hinein, die ob dieser seltsamen Erscheinung glaubten, es seien bereits die Zeiten der Johanniswürmchen gekommen.

»Nil habeo cum porcis! Ich bin ein Geistlicher, Sir, und nicht mehr berufen, Wielandsche Ferkelchen mit atlasfarbigen Schleifen und Bändern zu hüten. Drum ins Feuer mit dir, du Sittenverderber, du Crébillon, du Voltaire, du poetischer Wüstling! Ersticke in deiner reichen Phantasie, wenn auch mit Flügeln, die notdürftig geflickt sind: pennis undique collatis. Die Gesellschaft kracht in allen ihren Fugen und Gelenken, alles verfault und verrottet, wo deine Verse gesprochen werden. Wo du gebietest, reiht sich Orgie an Orgie, läßt der Gekreuzigte auf dem Kalvarienberg sein Blut reichlicher fließen. In den Armen deiner Schäferinnen und Undinen verhauchen Sitte und Anstand. Deine silbernen Quellen lispeln die Unzucht. Deine weißwolligen Lämmchen entweihen die keuschen Gottesgefilde. Verdammt sollst du sein, du Antichrist, du Preiser des Heidentums!«

Gleichzeitig wimmerte das Abendglöckchen der protestantischen Gemeinde herüber, verhallten die ersterbenden Stimmchen des Prinzen Biribinker und der Fee Kristalline.

Die ›Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva‹ lösten sich auf, verkohlten, zergingen.

Der junge Prediger übertönte das Klagen und Seufzen.

Er wollte nichts hören.

»Nil habeo cum porcis! Ich bin ein Geistlicher, Sir . . .«

Ein neuer Band wurde geschleudert.

Prasselnd stolperte er auf den unersättlichen Moloch.

»›Kombabus‹, ins Feuer mit dir, du scheußlicher Hämling, du krankes Produkt eines kranken, verschlagenen Geistes! Entmannt hast du dich, wie sich die Deutschen mit eigenen Händen entmannten, indem sie den höchsten Schmuck, die stolzeste Kraft eines Volkes, die Waffen, preisgaben, um sie mit Katzebuckeln in die warme Hut ihrer erbittertsten Feinde zu spielen.«

Wiederum pfiff es durch die brodelnden Lüfte.

»Ins Feuer ›Klärchen und Sixt‹, ins Feuer den ›Verklagten Amor‹, ›Schach Lolo‹, die ›Wasserkufe‹, ›Pervonte‹ – ins Feuer, ins Feuer . . .

Der Moloch fraß und verzehrte.

Benjamin sah mit grimmigem Behagen in den leckermäuligen Rachen.

»Ich bin ein Geistlicher, Sir . . .« und die letzten Bücher überschlugen sich, verfielen der Gier des entsetzlichen Untiers . . . ein Gemisch von qualmenden Blättern und stinkendem Leder. O diese einst so köstlichen Bände! Nichts rettete diese gedichteten Blößen, diese phallischen Darstellungen, niedergelegt in Schwabacher Lettern. Sie schrien und ächzten, versuchten es, sich wie rote, halbtote Ratten aus den Flammen zu wälzen, krochen hierhin und dorthin, quieksten und winselten, wurden zu Asche, verkohlten, während glühende Splitterchen gen Himmel stiebten und die Sterne berührten.

»Ich bin ein Geistlicher, Sir . . .«

Der letzte Band wurde geworfen.

Damit hatte der Reuige seinen gesamten Wieland verloren, aber auch seine Ruhe gefunden.

»Herr, erbarme dich meiner! denn auf dich trauet meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis daß das Unglück vorübergehe . . .« und das Unglück war vorübergegangen.

Er lag auf den Knien, die Hände gefaltet, die Blicke auf die Scheiter gerichtet, die immer mehr zusammenfielen und sich in sich selbst aushungerten.

Als hätte die verzehrende Hand des Teufels in den Schriften herumgeblättert, so waren die klassischen Werke dem Nichts verfallen. Nur noch ein leichtes Fabeln- und Legendengeschwätz zwischen den flaumigen Aschenpartikelchen, ein Kichern, als hätte Nelly gekichert . . . dann alles dahin wie eitel Spreuicht vor dem Winde.

Benjamin hörte nichts mehr.

»Ich entsagte und sühnte,« sprach er aus der Feuerbestattung seiner Bücher heraus, erhob sich, und so erlöst und entsühnt, frei von allem Blendwerk und Gelüsten der Sinne und des Fleisches, trat er den Gang an, den er gehen mußte, gestärkt im Herrn, der Würde teilhaftig, die ihm endlich geworden, als Prediger der hiesigen protestantischen Kirchengemeinde und eine frohe, alles umfassende, österliche Liebe im Herzen, die nicht mehr rückwärts schaute, sondern nur vorwärts, die da geben wollte mit vollen Händen, die da segnen wollte im Namen Gottes, seines Schöpfers und Erlösers, bis in alle Ewigkeit, Amen.

Welch laulicher Frühlingsodem ringsum, welch Säuseln und vorzeitiges Sprießen in der Dunkelheit, die doch so voller Sterne war und so voller Geheimnisse! Trotz der frühen Jahreszeit, man hätte fast annehmen können, Palmarum-tralarum sei gekommen, so ein feines Pfuitzen hing in der Luft, so ein emsiges Meckern, als schaukelten bereits die Vögel mit den langen Gesichtern über die Wipfel dahin, durch Schneisen und Gestelle, den Stecher gesenkt, die Schwingen hoch, um irgendwo bei einem silberigblitzenden Graben niederzufallen.

Bald mußten die Himmelschlüsselchen blühen, die Anemonen, die Leberblümchen.

In der Seele Benjamins blühten sie schon, diese lieblichen Kinder, diese Verkünder und Ansager des Lebens und der Auferstehung.

»Befreit von Not und Todesbanden!« rief es ihm zu, flüsterte es aus allen Zweiglein, hauchte es aus dem Schoße der Mutter Erde.

Schweigend ging er am ›Goldenen Anker‹ vorüber.

Zur Linken wuchsen die Schattenrisse des Schlosses Aldekerk in den Abend hinein.

Als er das Haus des Magisters erreichte . . . leuchtete da nicht wieder der Cherub neben der erhellten Schwelle, stand er nicht in blankem Eisen, gleich einem Starken vor dem Paradiese, im Zorn, mit dem Purpur eines strafenden Richters umkleidet?

Nein, er irrte sich diesmal.

Kein Wächter in Purpur behütete die Pforte, sondern ein anderer empfing ihn, einer, der nicht mit ganz einwandfreiem Gewissen die jetzige Stunde erharrte.

Kosman Theophil Banning, im Sonntagsrock, den Hut zwischen den kräftigen Händen, demütig, voller Respekt und in tiefster Ergebung, trat ihm etliche Schritte entgegen, räusperte sich und sagte befangen: »Euer Gnaden zu dienen . . .«

Benjamin stutzte.

»Herr Magister, was bedeutet dieser Gruß?«

»Was billig und rechtlich.«

»Aber diese feierliche Anrede . . .

»Sie kommt Ihnen zu, denn es ist eine Trennung gesetzt zwischen Menschen und Menschen. Eine Differenzierung muß sein. So will es die Vorsehung und die göttliche Ordnung. Euer Gnaden zu dienen . . . noch vor wenigen Stunden waren Sie als ordinierter Adjunktus und ich als emeritierter Magister und Kantor in ähnlicher sozialer Stellung. Die Zünglein der Wagen prävalierten nur um ein geringes. Jetzt aber, wo Sie sich in einer gehobenen, ich möchte fast sagen in einer geheiligten Kaste befinden, hieße es, den Himmel versuchen, Ihnen nicht das zu geben, was Sie als nunmehriger Prediger, gesetzt über die Seelen hiesiger Kirchengemeinde, vor Gott und den Menschen beanspruchen dürfen.«

»Woher ist Ihnen diese Nachricht geworden?«

»Rinse war bei mir.«

»Desungeachtet – wollen wir es nicht beim alten belassen?«

»Euer Gnaden zu dienen . . . später vielleicht, wenn ich mir sagen kann: Du bist dessen wert und würdig geworden. Bis dahin jedoch möge es bei dieser Anrede bleiben.«

»Herr Magister, Ihre Respektabilität mir gegenüber übersteigt alle Grenzen, zumal da ich hinsichtlich meiner irdischen Besitztitel, abgesehen von einigen leiblichen Bekleidungsstücken, nur über eine Sammlung von zweiundfünfzig Predigten für das laufende Jahr verfüge. Leider im großen und ganzen meine einzige Habe, und wenn ich bedenke, daß Fräulein Johanna . . .«

»Sie ist wieder gekommen.«

»Ich weiß es.«

»Oh!« sagte der Alte, »bevor ich diese Saite berühre . . . bevor ich so weit gefestigt bin, darüber zu sprechen . . . Oh, Euer Gnaden!« – und seine Stimme gefiel sich darin, in einer dumpfen Zerknirschung zu wühlen, »der Mensch strauchelt vielfach durch Finsternis und eitel Bemühen. In Selbstüberhebung dünkt er sich weiser als seine Mitbrüder, ißt mit silbernen Löffeln, wo andere sich mit solchen aus Zinn zufrieden geben. Er klopft mißtrauisch auf den Busch, woselbst er Buhlschaft und Unrat vermutet, und muß schließlich zu seiner eigenen Beschämung die Wahrnehmung machen: es ist ein frevelhaftes und törichtes Beginnen gewesen.«

»Ich bitte Sie, wollen wir nicht ruhen lassen, was der Ruhe bedürftig ist, mein lieber Magister?«

»Ruhen lassen? Unmöglich! und wenn es erlaubt ist, zu reden . . . mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa! Nemo ante mortem beatus. Auch ich nicht, wenn ich auch anstrebe, diesem allzeit Ersehnten wenigstens bestmöglich entgegen zu kommen. Um dies zu erreichen, ist Selbsterkenntnis das einzige und probateste Mittel, und ich halte es für meine heiligste Pflicht, diesem Rechnung zu tragen, selbst auf die Gefahr hin, mich bloßzustellen und meine eigene Person mehr oder weniger dabei zu gefährden.«

Benjamin wehrte ab.

Der Alte ließ es nicht gelten.

»Nein, ich muß ernstlich drum bitten . . .«

Er trat näher heran, Daumen und Zeigefinger am Kinn, den Hut wie eine Opferschale vor sich her tragend.

»Euer Gnaden, ich habe ein Bekenntnis zu machen.«

»Um Gott nicht, Magister . . .

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich! Erst muß meine Verfehlung herunter, muß ich aufatmen können, und wenn Sie auch meinen: Manum de tabula, Hand von dem Bilde! so sehe ich mich dennoch veranlaßt, hier feierlichst zu erklären: der damalige Tag im ›Goldenen Anker‹ ist für mich ein dies ater gewesen. Gleichsam in des Teufels Schäschen fuhr ich hinein . . . ich kapitaler . . . aber was wollte ich sagen? Ja so: wenn die Kinder nichts zu tun haben, so machen sie Unfug, und dieserhalb: die unglückselige Unterredung allda, mein ungestümes Verhalten, die Sittlichkeitsschnüffelei in Gegenwart Rinse van Bommels, alles das möchte ich unter allen Umständen als nicht geschehen betrachten, möchte hier niederlegen, wie leid es mir tut und ich Ihnen gegenüber keinen Besenstiel werte, aber dennoch erhoffe, Sie werden mir Ihre Lossprechung nicht vorenthalten, kurz, wenn es erlaubt ist, zu reden . . .«

»Es bedarf dessen nicht . . .«

»Nicht?!« und die Stimme des Alten tönte wie eine siderische Orgel, »dann bitte angtree! Dann segne der Herr Ihren Eintritt, auf daß mein Haus zum Tempel der Freude werde. Die Dämonologia des Herrn Paracelsus schüttle ich von mir . . . fundatim, fundatim! und falls Sie noch immer gewillt sind, Ihr Ringlein zu tragen und meine Unbedachtsamkeit im ›Goldenen Anker‹ keine Zerwürfnisse zeitigte . . .«

Benjamin lächelte mild und gütig.

»Dann, mein Lieber . . . hosianna, hosianna! Johanna wartet hier neben . . . unter vier Augen: die kleinen Liebessächelchen des Lebens sind Ihnen verstattet, denn es wäre ein Arges, Ihnen jetzt das zu verweigern, was der Herr im Wirkungskreis der Natur seinen Geschöpfen zubilligt. Ich bitte, Herr Paster.«

Hand in Hand, zwei Männer, nun für immer verschweißt, gebunden durch die göttliche Vorsehung, betraten sie gemeinsam den hellerleuchteten Hausflur, um sich dann vor einer niedrigen Türe für eine kleine Stunde zu trennen.

»Also Gott segne den Eintritt.«

Benjamin Seraphikus Rückert hob zitternd die Hand auf und sagte: »Und helfe mir zu einem glücklichen Ende.«


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