Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Zehntes Kapitel

Ein schwankender Heimgang unter lichtem Sternfeuer. Wie der Romanée-Conti die Dinge verkehrt. Schwerwiegende Auseinandersetzungen unter der großen Eiche. Das geheimnisvolle Gespenstern und Flinzeln. Ein hohes Bild in einem einfachen Rahmen. Du bist lieblich wie Jerusalem, schrecklich wie Lanzenspitzen. Erleuchtung und Einkehr.

Sillery mousseux und Romanée-Conti!

»Reverende, drehe ich mich aus den Angeln, aus allen Fugen und Verdiebelungen, oder tut es das Weltall?!«

Schwankend bewegte sich Kosman Theophil Banning an der Seite des Kandidaten über den Schloßhof.

Hinter ihnen blühten noch immer die Fenster, über ihnen hingen die Sterne in greifbarer Klarheit. Die ihres Blätterschmuckes beraubten Bäume hoben sich scharf und wie silhouettiert von dem blauen Kattun des Himmelreichs. Man konnte die einzelnen Zweiglein deutlich erkennen. Ein filigranartiges Netzwerk wirrte sich aus; dazwischen das Gespenstern und Flinzeln einer fröstelnden Herbstnacht. Hin und wieder glitt ein zuckendes Licht durch den endlosen Weltenraum.

Gleich mächtigen Lampen in der Kirche des Heiligen Grabes leuchtete es von dem hohen Gewölbe herunter.

Der Magister streckte den Bakel.

»Hängt da drüben nicht der Sirius zwischen den Bäumen?«

»Wo denn?«

»Dort hinten.«

»Nein, der Sirius ist bereits untergegangen.«

»Was, untergegangen? Wie kommen Sie darauf? Ich bin bewandert in der Astronomie wie ein halbwüchsiger Knabe in der Fibel, und da sollte ich den Sirius nicht kennen?«

»Es ist die Venus, Gestrenger.«

»Was Venus?! Machen Sie keine tollen Geschichten. Im Schlosse war sie bereits, und nun soll sie sich auch am Himmel bewegen? Das verstehe ich nicht. Meine Sinne versagen. Ich bin doch nicht von heute und gestern, und nun soll mir dieses Frauenzimmer überall entgegentreten? Ich liebe die Schaumgeborene nicht, denn wo sie erscheint, kleben Tränen an ihren Fußsohlen, stiftet sie Unheil. Pfui über diese! Aber gehen wir weiter.«

Sie waren bis zur großen Eiche gekommen, die vieles gesehen und belauscht hatte: heiße Seufzer, Beteuerungen und heimliche Küsse bei verschwiegenem Mondlicht – unter deren Schirm und Schutz die jungen Paare ihr Genüge darin fanden, sich zu schnäbeln, um in aller dörflichen Unschuld die Mysterien der ersten Liebe zu ergründen.

Instinktiv hielten beide den Schritt an.

Das überständige Laub raschelte zu ihren Füßen.

Die geheimnisvollen Stimmen der Nacht wurden lebendig.

Von irgendwoher ließ sich der Ruf eines Kauzes vernehmen.

Auf lautlosen Flügeln kam es gewuchtelt – ein Schatten, der gleich darauf verschwand, wie er gekommen war.

Ein Sternchen fiel talwärts, ein zweites, ein drittes.

»Reverende,« knarzte der Alte, »mir ist alles so seltsam, so mit Latwergen versetzt, so mit den wirren Gestalten und Einflüsterungen überirdischen Daseins durchstöbert. Sollten da die beschworenen Geister aus der Dämonologia, diesem Traktätlein des Paracelsus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, meine sonst so einwandfreien und gesunden Sinne umnebeln?«

Er fuhr sich schwer über die Stirne.

»Sie irren, Magister.«

»Nein, Herr ordinierter Adjunktus, ich irre mich niemals. Haben Sie denn kein Gefühl für die nächste Umgebung? Für das komische Treiben, das uns äffte und hänselte, seitdem wir ins Freie gelangten? Hab' ich doch niemals gehört, daß man im neunzehnten Jahrhundert und ausgerechnet in den dreißiger Jahren gezwungen sein sollte, zweifach und dreifach zu sehen. Sie zum Beispiel sind doppelt beköpft, und wenn ich nicht fehlgehe, tragen Sie ein drittes Haupt unter der Achsel. Auch glaubte ich vorhin, sorglos dahinzuschreiten, und mußte leider erfahren: nicht ich, sondern die Bäume zogen stumm ihres Weges.«

Er lallte: »O diese Verkehrung der natürlichen Vorgänge!«

Benjamin schmunzelte.

»Das macht der Romanée-Conti, wenn nicht der perlende Wein aus Frankreich.«

»Wie, was, mein Verehrter?! Da geht mir ein Licht auf, ein schönes und feierliches Licht, als hätte Prometheus es in dieses Dunkel getragen. Ex oriente lux! Schon denkbar. Mensch und Gottesgelehrter« – und Kosman Theophil Banning sah erstarrt und offenen Mundes in das Gesicht seines jüngeren Freundes – »Sie sind eine Leuchte, eine Ampel im Tempel der Aufklärung. Recht werden Sie haben, und wenn ich des heutigen Abends gedenke, wenn ich jede Einzelheit noch einmal überschlage, so haben Sie die große Nummer gezogen. Diese Rede . . . dieser Stil in Worten und Bildern . . . diese Verquickung von Bibel und Jetztzeit. Boas-Klabasterboompjes ist gut, ja äußerst süperb. Das kann kein Superintendent gediegener hinstellen. Und erst dieses Fest nicht . . . dieses Gelöbnis von seiten des Barons . . . dieser exquisite Romanée-Conti . . . und Nelly . . .

Er schnalzte.

»Welches Ideal von einem Weibe, wenn auch etwas leidenschaftlich und allzu terrestrisch veranlagt: mit meiner Johanna nicht in einem Atem zu nennen; aber dennoch beachtenswert. Nur eines sind mir spanische Dörfer geblieben, Schlösser, die im Monde liegen, Rätsel über Rätsel; denn wie soll es die Möglichkeit sein, wie soll dereinstens aus den Lenden unseres gnädigen Herrn . . .«

Er wollte sich schütteln vor eitel Lustigkeit.

»Ich bitte Sie nur; wie könnte sich da nach menschlichem Ermessen und menschlicher Einsicht der ägyptische Vogel bemüßigt sehen, ihm pflichtig zu werden? Selbst Origines aus Alexandrien hätte größere Aussicht gehabt, wäre er nur nicht ein Eheloser und Kirchenlehrer gewesen.«

Er schwenkte den Eschenen.

»Nein, er wird sich bedanken, der ägyptische Vogel, und ein ›Prosit die Mahlzeit‹ daherklappern. In dieser Hinsicht hat sich Ihre sonst so glückliche Rede in Hyperbeln verloren. Aber was ist das? Bin ich denn ganz und gar des Satans geworden?! Reverende, nun weiß ich nicht mehr: befinden wir uns bei der großen Eiche oder in der Nähe der verkrüppelten Kiefer, wo der sandige Weg nach Kevelaer abzweigt?«

»Bei der großen Eiche, Magister.«

»So – also doch. Ein merkwürdiger Baum – diese Eiche! Hören Sie nur, welche Sprache er führt! Er warnt vor den heutigen Zeiten, vor diesen umstürzlerischen Ideen. Hie David Strauß, hie Schleiermacher! Die angemaßte Souveränität der reinen Vernunft im Kampf gegen den tiefgründigen Glauben. Ferner: hie Klerus, hie Staatsgewalt! Und dann noch dieser Herr Knörke, dieser junge, neumodische Lehrer! Wagte es, diese Zaun- und Ackerrübe, mir einen Geschichtsvortrag anzubieten, der die Haare ins Sträuben brachte. Revoluzer und beamteter Schulmeister in einer Person! Wie reimt sich das zusammen? Tut so, als hätte er Zeit seines Lebens ›Schafskopf‹ mit Danton und Robespierre gekartet. Will das Vaterland retten. Solches ist schlimmer als Kartoffelfusel. Narrheit aber kein Rittertum. Ein Pereat diesen kleinköpfigen Geistern und Toren! Die dreißiger Jahre sind voll Niedrigkeit und Unflat. Kloaken und Gärkübel. Wenn die jetzigen Ideen irreführend sind, und sie sind irreführend, so hat man sie niederzutrotzen. Fahnen und Trommeln heraus, Bajonette heraus! Eine frohe evangelische Kirche und ein preußischer König, das ist es. Darin liegt die Zukunft begründet. Aber zum Kuckuck . . .«

Er sah sich um und stützte sich dabei auf seinen mächtigen Bakel.

»Mein Freund, um nach Hause zu kommen – habe ich mich da nach rechts oder nach der entgegengesetzten Richtung zu wenden?«

»Ich werde Sie führen!«

»Große Seele!« tönte der Magister wie eine Domorgel. »Optime! Ja, führen Sie mich wie 'nen Tanzbären mit 'nem Ring durch die Nase, damit ich nicht aus dem tektonischen Gleichgewicht gerate; seien Sie mir ein Samaritan, ein Pharus des Lebens. Und wenn es erlaubt ist, zu reden: Sie werden es nicht bereuen, mich liebevoll betreut zu haben. Denn abgesehen davon, daß Sie einen mit süßem Wein, Lachsforellen und Trüffelpastete befrachteten Menschen die Pfade ebneten, haben Sie noch die besondere Gnade zu erwarten, für einen Augenblick an der Schwelle zu weilen . . . ja, wie schön sagt der Dichter:

Sieht ein Schiff an Joppes Strande,
Das die Segel bläht,
Schiffet heim zum teuren Lande,
Wo ihr Atem weht.

Das wird Sie erquicken. Drum kommen Sie, kommen Sie. Sie werden mir Dank wissen,« und selbander zogen die beiden unter dem Sternenfeuer dahin, fein und bedachtsam, der Magister vielfach strauchelnd, aber beglückt in der Tiefe seines Gemütes, Benjamin wie ein Gefesteter in Israel. Also ging es weiter, bis sie die Stätte erreichten, wo das gesuchte Anwesen unter einem gescheuerten Mond lag, blank geputzt wie eine kupferne Waffelpfanne in einem wohlgeordneten Haushalt.

»Herr ordinierter Adjunktus, fühlen Sie nichts, brodelt Ihnen aus meinem Hause nicht ein wohltuender Duft an?«

Er reckte sich auf.

»Die Rosen von Amathunt, von denen im Seminar so viel Aufhebens gemacht wurde, können keinen subtileren Balsam verstreuen. Suchen Sie dieses Duftes teilhaftig zu werden, falls Sie nicht wollen, zeit Ihres Lebens einen armseligen Krammetsvogelfänger zwischen herbstlichen Lohhecken-Schneisen abzugeben, oder sich gar in den eigenen Dohnenstiegen zu fangen. Leben Sie wohl . . . gedenken Sie meiner . . . Johanna wird sich in Ihren Träumen angenehm bewegen. Sie ist eine Wunderbringerin.«

Damit hatte er den Schlüssel ergriffen.

Nach langem Bemühen gelang es ihm, ihn richtig anzusetzen und die Türe zu öffnen.

»Also bis morgen!«

Der Ehrenwerte verschwand im dunklen Schatten seiner Penaten.

Benjamin Seraphikus Rückert befand sich allein unter dem Monde.

Was wollte er noch vor dem verriegelten Anwesen? Weiter hier schildern oder sich in philosophischen Problemen ergehen?

Eine unbekannte Gewalt hielt ihn fest.

Er vermochte es nicht, sich von der Stelle zu rühren.

Eine Flut von Ideen zermarterte ihn.

Er gedachte der Worte des Alten, die sich, wenn auch in krausen Winkelzügen, mit den umstürzlerischen Bestrebungen der letzten Jahre befaßt hatten. Sie regten ihn an und zwangen ihn, Schweres und Herbes zu denken.

»Der Mann hat recht,« sagte er bedrückt vor sich hin. »Wenn die gesetzlichen Pfeiler stürzen, wird es furchtbar auf Erden. Schleiermacher und David Strauß, welche Gegenpole! Dieser Kampf zwischen den religiösen Anschauungen! Diese Gottesverleugnung! Noch bis in unsere Tage hinein schlagen die schmutzigen Blutwasser der französischen Revolution. Und was soll weiter noch werden? Die hosenlose Volkstyrannei, falls sie ihren Narrenthron bestiege, wäre die Vernichtung des Christentums und allen sozialen Bestehens. Hohes und Heiliges würde zerbrechen: Himmel und Erde, Thron und Altar – und damit auch Gott. Welche Aussichten! Welch grausiges Dasein, in solcher Unvernunft, in solchem Kehricht atmen zu müssen. Schlafet nicht, ihr Wächter auf Sion! Haltet die Wacht und lasset die Stimme ertönen, damit alle es hören, alle, die gen Osten und Westen wohnen, gen Norden und Süden. Schlafe auch du nicht. Nein, ich werde nicht schlafen, ich darf nicht und weise es ab, denn morgen ist der Tag des Herrn.«

Seine Unruhe ebbte langsam zurück.

Er fühlte sich freier.

Eine seltsam-feierliche Musik war zwischen Himmel und Erde.

Aber nur Sonntagskinder konnten sie hören.

Und Benjamin hörte sie deutlich.

In diese Musik hinein tönten die Uhren aus den benachbarten Ortschaften.

Zwölf einzelne Schläge.

Also schon Mitternacht.

Silentium sanctissimum! und wieder diese atemlose Stille, dieser Friede in einem Kränzlein von Sternblumen.

Er dachte nicht weiter an Schleiermacher und David Strauß, nicht mehr an die schmutzigen Blutwasser, die an den starren Dämmen und Deichen eines geordneten Staatswesens nagten.

Keine Karfreitagsbilder mehr. Neue zogen herauf, daseinsfreudige, daseinsbejahende Bilder.

Über ihm glitzerten feurige Bienen, zu Schwärmen vereinigt, in langen Perlenschnüren auseinander gezogen. Dazwischen wandelten vereinzelte Zeidlermeister mit ruhigem Glorienschein. Alle bewegten sich, alle kreisten mit dem ewigen Himmelreich, in stetigem Gleichmaß, ohne Anfang und Ende.

Er sah es und stand in Andacht versunken.

Trotz der empfindlichen Kühle, die von der Niederung herwehte und mit unwirschem Atem das kleine Gärtchen des Magisters belästigte – ihn fröstelte nicht; er hatte vielmehr das warme Wohlbehagen von einer zärtlichen Frauenhand, die ihm Stirne und Schläfen liebkoste.

Er wollte sie von sich tun, sich dieser liebevollen Frauenhand entziehen.

Aber sie ließ sich nicht scheuchen.

Bald winkte es ihm drüben vom Schlosse zu, bald aus den leeren Fenstern ihm gegenüber. Orchideen aus fremden Ländern und heimische Rosen wechselten sich ab, ihm ihr Grüßen darzubringen.

Offenbar umkreisten ihn die magischen Kräfte des seligen Wieland.

Purpurnes Weinlaub und dunkle Zypressen entstiegen plötzlich seiner regen Phantasie. Nelly-Kristalline und Johanna mit ihren himmelblauen Ziegen verkörperten sich ihm zu einem einzigen Wesen, buhlten um seine Gunst, um den Traum seiner Nächte. Er hörte sie sprechen mit dem Wohllaut des gefeierten Meisters: »Und was sagen Sie zu diesem Weine?« Also redeten sie, indem sie ihm eine volle Trinkschale darboten. »Er wird aus den Trauben gepreßt, die in den Gärten der Sylphen wachsen, und seinem Gebrauche haben diese schönen Geister die unsterbliche Jugend zu danken, die in ihren Adern wallt.«

Und Christoph Martin Wieland flüsterte weiter, wobei er Johanna-Galactine in den Vordergrund rückte: »Prinz Biribinker jedoch . . . je mehr er davon trank, je reizender fand er seine Gesellschafterin. Beim ersten Zuge bemerkte er, daß sie sehr schönes blondes Haar hatte; beim andern wurde er von der Zierlichkeit ihrer Arme gerührt; beim dritten entdeckte er ein Grübchen in ihrer linken Wange; beim vierten entzückten ihn andere Reizungen, die unter dem Nebel eines dünnen Flors seinen Augen nachstellten . . . und Biribinker schien die günstige Meinung, die sie beim ersten Anblick von ihm gefaßt hatte, so gut zu rechtfertigen, daß sie sich, mit Hilfe einer ebenso guten Meinung von sich selbst, Hoffnung machen konnte, alle ihre Leiden durch ihn geendigt zu sehen. Und was dann noch übrig blieb . . .«

»Lassen wir das, lassen wir das!«

Benjamin sah erregt nach dem todstillen Hause, das sich unter dem Mondlicht mit Myriaden von silbernen Splitterchen und Perlen bestickte.

Er glaubte das melodische Meckern der himmelblauen Ziegen, das Strullen der Milch in dem rubinenen Melkeimer zu hören.

Das Klingen einer goldenen Spindel ertönte, die schmelzenden Akkorde überirdischer Harfen.

Das Weben und Schweben der Fee Kristalline ließ sich deutlich vernehmen.

»Mein Gott, dieser Wieland, dieser Romanée-Conti . . .

Er wollte nichts mehr wissen und sehen.

Er hatte Bedenken, unheilvolle Anfechtungen.

Nur fort aus dem Geisterbereich dieses selig-unseligen Mannes.

»Ich will nicht schwach sein, nicht meine Seele bedrängen. Ich will mich sichern und umgürten mit den Starken aus Israel: dreitausend zur Rechten, dreitausend zur Linken . . . und alle sollen gewappnet sein mit Schwertern und Lanzenspitzen. Haltet Wacht, ihr Wächter aus Sion, haltet Wacht, haltet Wacht!«

Nur kein Zögern mehr. Allerschnellstens mußte er heimwärts, an den Birken vorbei, über den Stoppelacker, um von dort aus den nächsten Weg zu erreichen.

Als er das Anwesen des Magisters umkreiste, sah er, daß das Haus noch immer unter einem stillen und verschwiegenen Mond lag.

Das Meckern der himmelblauen Ziegen ließ nach, auch das Strullen der Milch in dem rubinenen Melkeimer.

Er torkelte über abgeerntete Rabatten, über einen Rest von weißem Kappes und Kohlstrünken.

Wie von einem Spuk in die Irre geführt, verfolgte er unmögliche Wege und Stege, passierte er eingemietete Bohnenstangen und entblätterte Stachelbeersträucher. Das purpurne Weinlaub schrumpfelte ein, die dunklen Zypressen wurden zu ganz gewöhnlichen Obstbäumen.

Stille ringsum! Nur die Niederung atmete hörbar, die Wiesen und Hutungen, die sich jenseits der alten Scheune erstreckten.

Sein langer Schatten flüchtete vor ihm her, machte ihn kopfscheu und wirbelsinnig.

Als er die äußerste Ecke des Gärtchens erreichte, bemerkte er einen hellen Lichtschein, der aus einem zur ebenen Erde gelegenen Zimmer drang und die nicht weit davon sich hinziehende Ligusterhecke mit einem goldenen Schein übermalte.

Nur ein feines, durchsichtiges Gardinchen bedeckte die Scheiben.

Benjamin verhielt sich, wie sich die Diebe verhalten, wenn sie irgendwoher etwas Verdächtiges zu sehen oder zu hören vermeinen.

»Haltet Wacht, ihr Wächter aus Sion, haltet Wacht, haltet Wacht!«

Er erbebte bis in die innersten Fasern.

»Mein Gott und mein Heiland!«

Er drückte die Augen ein und sah mit dem tiefen Schauen von Blinden. Aber nicht lange. Ein Lichtstreifen drängte sich über sie hin, ein heller und gebieterischer. Das zwang ihn, sie wieder zu öffnen. Wie ein Büßender, dem sich plötzlich das Himmelreich mit all seinen Reizen und Wundern erschließt, stierte er in die erleuchtete Kammer.

O dieses Bild in diesem einfachen Rahmen?

Nur weißgekalkte Wände, zwei brennende Kerzen aus blanken Messingleuchtern, eine breite Kommode mit einem kleinen Spiegel darüber – das war alles, was er wahrnehmen konnte, aber vor diesem Spiegel, vor diesem unscheinbaren Ding mit der abgeblaßten Vergoldung stand eine, die mit einer Königin Ähnlichkeit hatte: Johanna.

Sie pflegte sich noch in aller Einfalt und Sorglosigkeit für den morgigen Sonntag.

Ihre Augen leuchteten seltsam von einem inneren Schein, der sich zusehends vergrößerte. Aber alles in ihr blieb rein und wahrhaftig.

Wem lächelte sie zu? Woran sie wohl dachte?

Nur einen Augenblick begab sie sich aus seinem Gesichtsfeld, um gleich darauf wieder vor die Kommode zu treten.

Sie schnuppte die Kerzen. Unauffällig wiegte sie sich dabei in den gerundeten Hüften. Das Ebenmaß ihrer Bewegungen löste sich auf.

Ein neuer Glanz belebte die Kammer. Alles und jedes war so deutlich wie am Tage geworden. Nur die leichte Gardine spreitete ein keusches Musselinnetz darüber her.

Ihm war das Herz zum Zerspringen. Er glaubte ein Recht auf sie zu haben, ein ureigenes Recht, und dennoch: »Haltet Wacht, ihr Wächter aus Sion, haltet Wacht, haltet Wacht!«

Sie hatte das derbe Linnen von den weißen Schultern gestreift und die Arme erhoben, gleichsam um die schwere Flechtenkrone auseinander zu breiten.

Kamm und Nadeln legte sie ab. In schweren Wellen glitt das üppige Haar über Nacken und Schultern und schmeichelte sich fast bis zu den Knien herunter.

Wie schön sie war, so schön wie keine mehr unter den Menschenkindern!

Stark und ohne Fehle anzusehen, stand sie vor der blanken Scheibe.

Den Kopf hintübergeneigt, zerteilte sie die mächtigen Strähnen. Funken knisterten auf.

Es rüttelte ihn wie der Sturm auf den Deichen, wenn das Land in Not war und das Stauwasser sich anschickte, Schleusenwehre und Dämme zu brechen, um unaufhaltsam in die Tiefe zu poltern.

»Ihr Wächter auf Sion . . .

Und er betrachtete sie, wie man etwas Hohes und Reines betrachtet, wie ein kostbares Kleinod in einem Reliquienschrein, das die weiße Hand eines Priesters gesegnet hatte.

Nichts Arges in ihm, keine unlauteren Begierden! Die Nacktheit ihres Frauentums war heilig für ihn. Nur das, was er sehen mußte und durfte, das sah er: nur das Weib in ihr und die stillen Regungen einer opferfreudigen Unschuld . . . nur das Weib in ihr, das die Stimme des Königs suchte an den Ufern des Jordans, zwischen blühendem Flachs und Tamarisken, zwischen Hyazinthen und Lilien, die die Farbe des Schnees hatten, der vom fernen Hermon herüber glitzerte. »Ja, du bist schön, meine Freundin,« so betete er. »Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen. Deine Liebe ist stark und eine Flamme des Herrn. Ja, du bist schön, meine Freundin, wie Thyrza, lieblich wie Jerusalem, schrecklich wie Lanzenspitzen . . .«

Er betete mit erhobener Stimme: »Stehe auf, Nordwind, und komme Südwind . . .«

Da verlosch das Licht in der Kammer . . . aber er hatte das Wunder gesehen, das Wunder der Wunder, und in diesem Wunder und Gnadengeschenk war ihm die Erinnerung an Nelly-Kristalline wie ein bleicher Schemen zergangen.

»Herr,« stammelte er, »der du die Jahre führest, du führest auch mich. Der du aus dem Wetter sprichst, du sprichst auch zu mir. Der du die Blöße bedeckst, du bedeckst auch mich. Das dumpfe Werk der Verblendung nahmst du von mir und zeigtest mir den Weg der Erkenntnis. Du hast mich bei meinem Namen gerufen, und ich folgte dir nach deinem Geheiß und deinem ewigen Willen. Geläutert für immer! und gesegnet die Stunde, in der ich das Weib in seiner königlichen Einfalt und Würde erkannte. Herzeleide warst du mir, nun bist du meines Herzens Freude und Heiterkeit. Gläubig, gläubig! Wer da wandelt durch Licht, der wandelt in Gottesbereitschaft. Ihr Wächter auf Sion, ich schäme mich nicht, ich trage keine Sorge um mich, denn ich hielt die Wacht wie der Besten einer von euch in der Sternennacht.«

Dann ging er.

Über ihm brannten die Feuer der Ewigkeit. Um ihn lagen das Schweigen und der Friede der Heimat, und er schritt dahin wie ein Mann, der wähnte, für ihn würden die glückverheißenden Lichter niemals verlöschen, würden ihm scheinen bis an das Ende der Tage und seines Bestehens.

Und morgen war Sonntag.


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