Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Christoph Martin Wieland regiert. Der ›Verklagte Amor‹ und ›Kombabus‹. Bald nachher: auf Aldekerk begehen sie das Bohnenfest am Tag der heiligen drei Könige. Rinse van Bommel und seine Bedenken. Der verlorene Sohn in der Nähe. Die Hunde über ihn! Après nous le déluge. Von Silleryperlen und anderen Dingen. »Herr Kandidat, le silence des peuples est la leçon des rois!« und Benjamin redet. Nelly als Fee Kristalline, und die Schaufaren hoch von Sion herunter.

Wieland regierte . . .

Aber wie verstand es auch Benjamin Seraphikus Rückert zu lesen, zu interpretieren! Der schlichte, zurückhaltende, ängstliche protestantische Kleriker setzte alle kleinlichen Bedenken hintan, trat frei in den Kreis seiner Aufgabe, lebte mit Wieland, plauderte mit ihm, holte die empfindsamsten Strophen aus der dichterischen Truhe dieses Einzigen und wußte sie so amüsant zwischen seinen Fingerspitzen zu drehen, daß sie in allen Farben des Regenbogens brillierten.

Wer genauer zuhörte, vernahm bei diesen poetischen Darbietungen das Klingen von silbernen Triangeln und lydischen Flöten, das sehnsüchtige Rufen von verstörten Nachtigallen. Die Töne nahmen an Innigkeit zu, bewegten sich gegeneinander, trennten sich wieder, um sich schließlich wie die seltenen Perlen der Königin von Paphos auf ein und denselben Seidenfaden zu reihen, so dünn und undurchsichtig, als hätte ihn Arachne von Kolophon selber gesponnen. Dazwischen anakreontische Spielereien, das Taumeln von niedlichen Amoretten und Korybanten, das Fallen von zerpflückten Kränzen, das Duften der blutroten Rosen von Amathunt, der schneeigen Lilien und tiefblauen Hyazinthen, wie sie nur am See von Genezareth blühen.

Verse der Liebe und Klänge der Sehnsucht!

Unerhört und nie dagewesen auf dieser stumpfen, schwerfälligen und arbeitsamen niederrheinischen Erde!

Bei diesen rhythmischen Darbietungen tickte das Alabasterührchen melodischer, knisterten die Geisterlein emsiger im Kamin, drangen aus den gewebten Tapeten kurzweilige Plaudereien und die Rufe eines verliebten Kuckucks aus dem sommerschweren Laub eines Eichenbestandes.

Wieland regierte . . .

In Benjamin Seraphikus Rückert hatte er seinen besten Anwalt und höchsten Preiser gefunden. Öfters stehend, das markante Haupt erhoben, die dunklen Augen häufig in die eigene Tiefe gerichtet, war er selbst zu einem Dichter geworden. Nicht zu einem Tyrtäus, der durch seine ›Embateria‹ die spartanische Jugend zum Kampfe aufrief, aber zu einem Singer und Sager, der mit tönendem Haberrohr eleusinische Gefilde durchstreifte und sich wohl fühlte unter dem Geflüster von scheuen Dryaden und neckischen Sylphiden.

Damals und heute!

Damals im einfachen, weißgetünchten Kirchlein: der ›Choral von Leuthen‹, Schellenbaum und Musici – und jetzt, in dieser strahlenden Aufmachung: das Verweilen bei hochgeschürzten Grazien, das Tändeln am Ranft einer plaudernden Quelle im tiefen Waldesschatten, leicht durchsetzt von den Reflexen eines prickelnden Sonnenlichtes.

Der Baron war entzückt, Nelly turtelte fortwährend wie ein Täubchen hinter dem Fächer, während Madam sich des öfteren genötigt sah, ein verwarnendes »Silence, silence!« in die launigen Verse zu werfen, dabei aber Ohren machte wie ein aufmerksames Spitzmäuschen.

Am ersten Abend wurde der ›Verklagte Amor‹ gelesen, am zweiten ›Kombabus‹, und als der Kandidat mit rieselnder Stimme und halbniedergeschlagenen Augen den Schluß der Dichtung brachte und sagte:

»Und kurz, der würdige Kombab
Nimmt, zum Vergnügen aller Leute,
Den alten Platz an seines Königs Seite.
Auch bei Astarten geht er kühnlich aus und ein
Und darf bei Tag und Nacht, bei Mond- und Kerzenschein,
Mit fremden Zeugen und allein,
Im Garten selbst ihr Zeitvertreiber sein . . .«

da tippte der Jonkheer seine wohlgepflegten Daumennägel so elegant gegeneinander, daß sie anmutig und zugleich diskret Beifall zollten, öffnete die Tabatiere und tauchte seine Fingerspitzen hinein: »Bravo, scharmant, mein lieber Adjunktus! Geklöppelte Verse! Flandrisches Spitzenwerk aus der Hand eines deutschen Schriftstellers! Hier und da zu viel Spaniol, zuviel des Ungewöhnlichen in silbernen Schalen, aber was sollte diesen feinfühligen Dichter hindern, die kuriosen Einfälle nicht mit ihrem richtigen Namen anzusprechen. Ein Teufelchen mit Kantharidenflügeln fächelte ihm dabei die nötige Luft zu. Im übrigen ein Produkt von etlichen genialen Stunden, ein jeu d'esprit aus der Feder eines Übermütigen. Wir sind zufrieden, Herr Kandidat, und sehen einer weiteren Symmachie mit Spannung entgegen.«

Der Solitär blitzte.

Die Prise wurde gehoben.

Madam winkte ab.

»Ich für meine Person,« sagte sie etwas spitzig, »kann mich zwar mit dem Gang der Erzählung befreunden, aber nicht mit dem asketischen Tun und Lassen dieses sonderbaren Heiligen.«

»Ich auch nicht,« warf Nelly dazwischen. »Die Selbstkasteiung in Ehren, nur – sie muß ihre Grenzen behaupten, nichts Unmögliches wollen,« und ihre Blicke auf den Interpreten gerichtet, fragte sie heimlich: »Ich bitte Sie um alles in der Welt, woher ist dieser Stoff genommen? Man möchte doch wissen . . .«

»Aus Lucians ›Nachrichten von der syrischen Göttin‹«, versetzte Benjamin mit erhobener Stimme. »Selbiger, zu Samosata am Euphrat geboren, in Ionien vorgebildet, versuchte sich mit Glück in philosophischen, rhetorischen und satirischen Schriftsätzen, in denen er mit Witz und Laune die Gebresten und Verkehrtheiten seiner Zeit zu geißeln verstand. Nähere Auskunft hierüber gibt das ›Lexicon Lucianeum‹. Die Legende selber will er aus dem Munde der Priester in Hierapolis vernommen haben, als er auf seinen weiten Reisen deren Tempel aufsuchte. Wieland gab ihr ein neues Gewand. Fast gleichzeitig ein französischer Poet, ohne dabei unseren Dichter auch nur im Traum zu erreichen.«

»Sehr interessant,« erwiderte Nelly. »Aber dieses blutleere Empfinden! Wieland hätte sich eines anderen Themas bemächtigen sollen. Diese Spitzfindigkeiten in Sachen der Abtötung lassen sich hinnehmen aus dem Munde eines Moralisten und schwermütigen Silbenstechers, aber niemals aus der Feder dieses Auserwählten. Nein und abermals nein! Ich als Astarte würde mich vielmals bedankt haben, bei diesem Platoniker solche abgeschmackten und wesenlosen Schäferstündchen zu suchen.«

»Ich auch,« sagte Madam und bewegte energisch ihre gepuderten Löckchen.

Dirk Negels van Klabasterboompjes riffelte die schmalen Lippen zusammen.

»Nur immer Geduld, meine Damen. Der Herr Kandidat wird uns gewißlich noch mit amüsanteren Geschenken erfreuen. L'appetit vient en mangeant. Man kann über dieses Werkchen denken, was man will: es bleibt bei seiner heroischen Einfalt, wenn auch nicht vorbildlich, so doch bewunderungswürdig. Jedenfalls, das ›Lexicon Lucianeum‹ möchte ich haben. Vielleicht wissen Sie Mittel und Wege . . .«

»Zu dienen,« entgegnete Benjamin in tiefer Ergebenheit, gab hierüber noch vielerlei Andeutungen und Ratschläge, fragliches Buch zu beschaffen, und begann am dritten Tage die ›Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva‹ zu lesen, mit Auswahl, fuhr am vierten und fünften damit fort, um am Abend der heiligen drei Könige auf die wundersame Geschichte des Prinzen Biribinker und der schönen Galactine zu kommen.

Mit diesem Abend wurde auf Aldekerk nach holländischer Sitte und alter Gewohnheit das Bohnenfest verknüpft, die eigenartige Feier, bei der, unter Assistenz eines gewaltigen Kuchens, der Bohnenkönig regiert und alle Anwesenden sich dem zu fügen haben, was sein übermütiges Zepter gebietet . . . ein Bild wie von der Staffelei eines Jan Steen oder eines Jakob Jordaens gepurzelt, kirmesgemäß, puppenlustig und fiedelnd, unter Spatzengeschilp und dem aufdringlichen Krähen einer Kindertrompete.

Es lebe der Bohnenkönig mitsamt seiner Bohnenkönigin!

Bevor Benjamin sich in voller Herrlichkeit aufs Schloß begab, machte er noch einmal den ernstlichen Versuch, Johanna unter vier Augen zu sprechen.

Der Geist trieb ihn dazu, das heiße Gewissen, der warnende Ruf seiner Liebe.

Auch heute wieder: der Magister empfing ihn wie ein Cerberus an der Haustür und hinderte ihn, allein ins Zimmer zu treten.

Die Pfeife dampfte, die Holzschuhe klapperten herausfordernd.

Ein Quartier- und Proviantmeister unter der verheerenden Armee der Sansculotten konnte sich nicht anmaßender geben. Er war abweisender und zugeknöpfter denn je, erlaubte sich allerlei anzügliche Bemerkungen über den liederlichen Versemacher, diesen Erotiker in Pantoffeln und Schlafrock, über die Symposien bei brennenden, verführerischen Kerzen und hätte fast wieder auf dem ›andalusischen Steinesel‹ herumexerziert, wäre ihm Benjamin nicht energisch in die Parade gefahren.

»Herr Magister,« hub er mit bebenden Lippen an, »das Tränenkrüglein der Witwe von Sarepta ist am Überlaufen. Mehr an Tränen, an Sorgen und Kränkungen kann es nicht fassen. Bei Ihren Argumenten ermüdet selbst die Geduld eines Hiob, und ich ersuche Sie dringlichst, mir gegenüber eine andere Note zu finden.«

»Was Note? Schon Paracelsus beweist es in seinen verschiedenen Schriften . . . und wenn es erlaubt ist, zu reden . . .«

»Bleiben Sie mir mit Ihrem Paracelsus vom Leibe! Ich verbitte mir diesen Schwarbelkopf in optima forma. Ich habe satt und genug davon.«

»Herr Kandidat, in seiner Dämonologia . . .«

»Der Satan hole diesen gepfefferten Unsinn! Dieser Wunderkram hat mit mir und Johanna gar nichts zu schaffen. Ich verlange nur Billiges, nur das Recht eines Verlobten, mich mit ihr in schicklicher und christlicher Weise ergehen zu dürfen.«

»Können Sie haben in meiner Präsentschaft.«

»Ich danke dafür. Das Wort ist kränkend für mich, beleidigt in mir das Kleid eines geistlichen Mannes. Mein Amt verpflichtet. Unter seinem Schutz und Schirm ist jede Tugend gesichert, als wenn sie im Schoße Abrahams läge, und da wollen Sie kommen . . . Nein, Herr Magister, ich habe mich nicht an Ihren Tisch gedrängt. Vielmehr – Sie haben mich zu Ihrer Tafel entboten, leider mit der Einschränkung: nur das darfst du speisen, nur jenes . . . und sollten Sie diese Ihre Maßnahme weiter verfechten, dann bin ich zum letzten Male über diese Schwelle getreten.«

»Gut, wie Sie wollen,« muffelte der Alte. »Dann müssen Sie eben draußen bleiben und sich damit begnügen, wie ein Spatz am Giebelfenster zu frieren. Aber ich sehe: bei Ihnen pulst noch immer das Blut der Gräfin Katharina von Kolbe.«

»Herr, diese Anzüglichkeit! Sie sollten sich schämen.«

»Ich – niemals.«

»Aber Sie werden es noch. Sie werden, Sie werden, wenn es zu spät ist, wenn Sie in Buße und Reue sitzen. Für mich aber wird die Glocke der Rechtfertigung tönen, wie von der Hand eines Gottes geschlagen. Leben Sie wohl, Herr Magister.«

»Gleichfalls, und träumen Sie so angenehm, wie die heiligen Siebenschläfer von Ephesus träumen. Oder noch besser: steigen Sie heil aus der Suppe.«

»Infam!« klang es von blutleeren Lippen.

Flackerndes Rot zwischen den Schläfen, ging der Gekränkte dem Schloß zu.

Dieses Mal stand Rinse-Frundsberg nicht an der Pforte, hatte vielmehr Audienz bei seinem Herrn, der wie ein gekäfigtes Tier das Zimmer durchmaß, dieses und jenes verrückte, Unverständliches zwischen den Plomben zerbröckelte, um plötzlich vor seinem Rentmeister stehen zu bleiben.

Die Schnupftabaksdose zitterte ihm zwischen den Fingern.

»Rinse, Sie können sich auf Ihre Augen verlassen?«

»Vollkommen. Sie haben mich niemals betrogen.«

»Und wann wollen Sie Ihre erste Wahrnehmung gemacht haben?«

»Herr Baron, am heiligen Abend.«

»Und weshalb keine Meldung?«

»Ich konnte derzeit das Ohr des gnädigen Herrn nicht finden. Später war ich geschäftlich in Holland.«

»Allerdings! und Ihre zweite Begegnung?«

Rinse strählte seine Sardellen zurecht, langsam und mit einem respektablen Aufwand von Fürsorge.

»Gestern, präzise um fünfe, als ich vom Holzschlag zurückkam, nicht weit von den Pappeln. Bei meinem Kommen wurde er flüchtig und verschwand in der nahegelegenen Schonung.«

»Wie sah er denn aus?«

»So viel ich beobachten konnte, nicht gerade berückend.«

»Sein letztes und einziges ist ihm doch zugestellt worden?«

»Promptest, auf Heller und Pfennig. Kein Dobbeltje fehlt dran.«

»Und Ihre Vermutung . . .

Rinse machte ein kritisches Gesicht erster Ordnung.

»Herr Baron, ich möchte nicht gerne. Es ist mir schwer, mich zwischen den jungen Mann und den eigenen Herrn zu stellen, gewissermaßen mit persönlicher Verantwortlichkeit.«

»Rinse, ich will es.«

»Wenn es denn sein muß, er wird Einlaß begehren, um die letzte Verfügung hinfällig zu machen.«

»Der . . .?!« und der Grandseigneur versuchte eine Prise zu nehmen, die ihm aber zwischen den Fingern zerkrümelte.

»Herr Baron, nur meine submisseste Ansicht.«

»Rinse, kein Wort mehr.«

Mit einem häßlichen Katzenschrei hatte sich der Alte gewandt und eine Klingel gezogen. Sie gellte durch die weiten Räume und Gänge, als stände Aldekerk unter dem Einfluß eines vielfachen Widerhalles.

Gleich darauf trat der würdige, glattrasierte und selbstgefällige Herr ein, auch heute in erlesenen Eskarpins und schwarzseidenen Strümpfen. Wiederum war er die ausgesuchte und verkörperte Ruhe. Die regungslosen Züge atmeten Ergebung und Wohlwollen.

»Jean Pierre!«

»Herr Baron!«

»Falls es meinem gewesenen Sohn beikommen sollte, das Schloß zu betreten . . . Sie wissen . . .«

Keine Antwort erfolgte. Dafür ließ der Getreueste aller Getreuen mit der Resignation eines Wurzel- und Wundermannes aus der Einöde seine Augendeckel herunter.

»Sapristi! und sollte er trotzdem . . . nicht lange gefackelt: die Hunde . . .«

Nur eine leutselige Geschäftsmiene, ein kaum wahrnehmbares Blinzeln unter den Lidern.

Jean Pierre hatte verstanden.

Auf lautlosen Schnallenschuhen verließ er das Zimmer.

Der Rentmeister wollte ihm folgen, froh, die peinliche Szene hinter sich zu haben.

»Rinse, Sie bleiben. Ich weiß: Sie fühlen gewiß kein Bedürfnis, der Vorlesung beizuwohnen, und bis zur Tafel hat es immer noch Zeit. Nehmen Sie Platz. Wir haben Mittel und Wege zu finden, allen Machenschaften das Wasser abzugraben. Der Notaris ist zu verständigen, auch mein Anwalt in Utrecht. Das weitere überlasse ich Ihnen. Dieser Flegel, dieser infame . . .! Rinse!«

»Herr Baron!«

»Äh!« stöhnte der Jonkheer.

Mit bitterem Lächeln warf er sich in einen Sessel hinein, betrachtete seine Fingernägel und ließ sein vergangenes, gegenwärtiges und noch kommendes Leben Revue passieren.

Häßliche Flügel wehten ihn an, Fledermausflügel und die von Lemuren.

»Äh!« sagte er nochmals und versank in ein graues Sinnen und Grübeln.

* * *

Nein, Rinse-Frundsberg stand dieses Mal nicht an der Eingangspforte. Keine Feldbinde, weder das Rasseln von schwarzen Eisenkacheln, noch der schwere Druck einer niederrheinischen Hand auf der Schulter . . . und so konnte Benjamin ungewarnt und sonder Bedenken die erhellten Räume betreten.

Nelly war strahlend, fast überstrahlend gekleidet, und was ihr an Hülle mangelte, ersetzte der Reiz ihrer eigenartigen Schönheit. Ihr voller und doch geschmeidiger Körper lag in einer Wolke von koischen Spitzen gebettet. Ihr lohfarbiges Haar brannte in dem diskreten Feuer von Goldpuder. Sie erschien wie ein Fest. Eine unerhörte Freudigkeit büschelte von ihr aus. Mit entblößten Schultern trat sie dem Kandidaten entgegen. Eine zarte Liebkosung, ein verschwenderischer Hauch von Veilchen drang auf ihn ein. Unwillkürlich hob er sich auf den Zehenspitzen, um freier genießen zu können, und gegen Willen und Wollen gewahrte er den zarten Ansatz und die alabasterweiße Rundung des Halses.

Er taumelte in entlegene Fernen.

Sie sah es und drohte leicht mit dem Finger.

»Herr Kandidat, keine verbotenen Wege . . .«

»Aber meine Gnädigste . . .

Das Eintreten Madams ersparte ihm ein tieferes Erröten und weitere Ausflüchte, während Nelly ihm zuraunte: »Der Baron läßt sich bis zur Tafel entschuldigen. Wir können beginnen.«

Sie berührte ihn mit den Fingerspitzen.

»Das Buen Retiro wartet auf uns. Treten wir in die Mysterien ein, in den Tempel aus parischem Marmor.«

Ihre duftige Krinoline wippte und zog neckische Fältchen.

Bald saßen sie unter dem warmen Schein einer Astrallampe.

Er las das erste Kapitel aus der seltsamen Geschichte des Prinzen Biribinker und der Fee Kristalline.

Keine Ermüdung. Unerforschte Quellen erschlossen sich ihm. Das engmaschige Gewebe von Fabeln, Legenden und Träumen legte er so kunstgerecht aus, daß es selbst einem halbgeblendeten Auge noch schmeicheln mußte. Er las mit Ruhe, mit klarem Verständnis, mit einer so innigen und sanft vibrirenden Stimme wie niemals zuvor, als hätte ihm der Geist geboten, alles und jedes in diese Stunde zu legen: bald mit dem fernen Rauschen von Wäldern, bald mit dem Flüstern von siedendem Wasser, das sich allmählich beschwichtigte. Botticelli konnte nicht feinfühliger malen, als Benjamin vortrug, und wäre Christoph Martin Wieland zugegen gewesen, er hätte geschmunzelt wie ein abgeklärter Meister aus der attischen Schule. Selbst die sprödeste Szene mußte sich fügen, mußte es sich gefallen lassen, mit dem korrekten Messerchen eines Anatomen zergliedert zu werden.

Man amüsierte sich über jedes Erwarten.

Benjamin wuchs von Minute zu Minute.

Er überhörte Viertelstunde um Viertelstunde, die sieben einzelnen Schläge, die melodisch durch das Zimmer klingelten.

Nichts beeinflußte ihn mehr: weder die nächste Umgebung, die seidenen Tapeten, die Schildereien der niederländischen Meister, die in ausgesuchten Raritäten von den Wänden grüßten, weder Madam Kalander und ihr beifälliges Nicken, noch das Haus des Magisters, in dem er so viel des Lieben, aber auch so viel des Unmuts durchkostet hatte. Auch Johanna nicht und nicht ihr anmutiges Bündlein zwischen den Brüsten . . . nur Nelly, die junge Baronin, die neben ihm saß, immer näher rückte und ihn von Zeit zu Zeit unversehens mit ihren Armen streifte, nahm ihn völlig in Anspruch.

Sie verwirrte ihn nicht mehr . . . und wenn auch manchmal ein anderes Bild auf dem Hintergrund seiner Erinnerungen auftauchen wollte: ihre einschmeichelnde Nähe war ihm nötig geworden.

Er spürte den rhythmischen Gang seines Blutes, die Empörung in ihm, und je mehr es arbeitete, um so freier und offner las er Zeile bei Zeile, Seite um Seite und erklärte bei einer besonders reichen und empfindsamen Stelle: »Ja, dieser göttliche Alte aus Weimar! trotz Cicero und Erasmus Rotterodamus, er hat ein feineres Deutsch geschrieben, als jene ihr klassisch Latein,« und hub wieder an, aus dem ewigjungen Born dieses Erzählers zu schöpfen . . . bis gegen acht . . . Da hatte er plötzlich die angenehme Empfindung: etwas Zutunliches sucht mit deinem Geist in engere Verwandtschaft zu kommen. Er mochte sich irren; allein der Wirklichkeit entrückt, nahm er diesen federleichten Gruß hin wie eine Fügung der Stunde.

Ja, Wieland regierte, und er hätte auch noch weiter seines hohen Amtes gewaltet, wäre nicht nach wiederholtem Anklopfen die Türe gegangen.

Zwei kalte Fischaugen perlmutterten in den warmen Glanz der Astrallampe hinein.

Dann eine stumme Verbeugung.

»Ah!« machte Nelly, »so früh schon! und ich hatte mich schon so innig mit dem Prinzen Biribinker befreundet. Gut denn, hören wir auf.«

Jean Pierre legte die schwere Portiere mit schmalem Gesicht auseinander.

Nelly erhob sich.

»Ich bitte, Herr Kandidat . . .«

Der Arm der jungen Frau schob sich sacht in den seinen.

Benjamin glaubte zu träumen.

Eine fleischgewordene Blume, schritt sie neben ihm her, so innig fühlte er sich von Düften umhaucht, so von frühlingsfreudigen Blütensporen umgeben.

Er wandelte durch einen klingenden, singenden Garten.

Der Baron und Rinse van Bommel warteten bereits, beide aufgeräumter als noch vor wenigen Stunden. Der Jonkheer bemühte sich sogar, einen heiteren Ton anzuschlagen, auf die Sitten und Gebräuche beim Bohnenfest hinzuweisen und den kleinen Schwerenöter zu spielen.

Benjamin zollte ihm die nötige Achtung.

An der Tafel herrschte dieselbe Aufmachung wie damals, als er so innig von Ruth-Nelly, der Moabiterin, und Boas-Klabasterboompjes gesprochen hatte. Nur die Gerichte wechselten. Statt der Bachforellen präsentierte sich ein rosiger Salm mit zerlassener Butter. An Stelle von fetten Rebhühnern erschienen böhmische Fasanen in einem Kranze von Edelpilzen. Die Weine blieben dieselben: Rüdesheimer Ausbruch, Großherzogliche Domäne und Romanée-Conti.

»Auf Wieland!« meinte der Jonkheer, und als die Stimmung launiger wurde, der angefrorene Herr in Eskarpins und seidenen Strümpfen am Eingang des Saales zeitweilig aufzutauen geruhte, als die Türe sich sperrangelweit öffnete, um ein seltsames Backwerk, den Dreikönigenkuchen, passieren zu lassen, und die ersten Perlen des jovialen Gewächses von Sillery über die Kristallschalen pritzelten, fühlte Benjamin Seraphikus Rückert, der während der Tafel viel des Anregenden über seine Blutsverwandte, die Gräfin Kolbe-Wartenberg, Favoritin en titre, dargelegt hatte, ja, da fühlte er wiederum die erfreuliche Annäherung eines allerliebsten und drängenden Grußes.

Wenn es auch in seinem Willen gelegen hätte, er konnte sich diesem nicht mehr entziehen.

Der Königskuchen!

Der Rentmeister, schon mehr oder weniger angemuntert und zwischen den dargereichten Genüssen wie Buridans Esel schwankend, machte ein Zeichen. Der Herr am Eingang des Saales nahm es auf und führte es weiter.

Nur ein einfaches, müdes, gelangweiltes Schnipsen mit Daumen und Mittelfinger – aber es wirkte.

Draußen erhob sich eine mörderische Lustigkeit. Mit Kirmesmusik, Babel und Bibel zog es vorüber. Eine Kasserolle wurde geschlagen, ein Triangel malträtiert, eine Kindertrompete bis zum Bersten getutet.

»Hei, Bohnenfest! Hei, Dreikönigenfest!«

Blexem und Donder! Koch und Köchin, Kammerkätzchen und Kammerzofe, Hausknecht und Kutscher – allinsgesamt bemühten sie sich, die verliebten Orgien einer Katzengesellschaft nach bewährtem niederländischem Rezept bestens in die Erscheinung treten zu lassen.

Madam wurde es siedendheiß unter den Spitzen.

Nelly hingegen schlug einen silbernen Jubel an. Ihre rosigen Mäuseöhrchen genossen diesen wirren Spektakel mit heiliger Inbrunst.

»Hei, Bohnenfest und Dreikönigenkuchen!«

»Sonder Komplimente – Oranje boven!«

Beim höchsten Tumult erhob sich Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk.

Rinse van Bommel gab wieder ein Zeichen. Der Herr am Eingang des Saales nahm es auf und führte es weiter.

Nur ein einfaches, müdes, gelangweiltes Schnipsen mit Daumen- und Mittelfinger – aber es wirkte.

Die Beliasmusik, wie von einem Höllen-Breughel in die Ohren gepinselt, verstummte.

Der Baron, vom Rüdesheimer Ausbruch angefeuert, streckte sich langsam. Ein falscher Junitrieb vergoldete ihn, und hätte er Sporen getragen, der Vergleich mit einem abgelebten Hahn wäre billig gewesen.

Die Augen kniffen sich ein.

Mit spitzen Fingern deutete er auf den mächtigen Kuchen und krähte mit gehobener Stimme, während Nelly ihre dunklen Wimpern herunterließ und nur mit einem fadendünnen Spalt ihrer Blicke in das warme Kerzenlicht träumte: »Schon an der javanischen See, unter dem südlichen Kreuz, konnte ich dieses Backwerk mit der zauberischen Bohne nicht missen. Alte Zeiten, alte Erinnerungen! zu schön, um ihrer nicht zu gedenken,« und der stöckelbeinige Herr mit dem weißen Adlerflaum an den Schläfen machte ein Gesicht wie das einer grindigen Krähe, die an diesen Erinnerungen herumpickte. »Beschwören wir sie, diese Spiegelbilder aus frühester Jugend! Auch in jetziger Stunde haben sie Geltung. Nach holländischer Gewohnheit und Sitte: der heutige Tag und die heutige Stunde verlangen gebieterisch einen König und eine Königin. Oranje boven! Die Majestäten liegen in diesem Kuchen verborgen. Wer die Bohne erwischt, wird ihrer Würden teilhaftig. Ein Unsinn – gewiß, aber immer verzeihlich. Noch im verflossenen Jahre . . . am Hofe des Königs . . . ich konnte mich preisen, die Bohne zu finden. He, holla, Jan Steen und flandrische Kirmes – seid mir willkommen! Jugend, o Jugend! Heute jedoch wäre ich beglückt, sie in anderen Händen zu wissen. Nelly, ich bitte,« und der Jonkheer ließ sich nieder wie einer, der am Palmsonntag den größten Palm in die Kirche getragen hatte.

Madam fand die Rede geschraubt und wenig geistreich.

Auch Nelly. Ein Madrigal von Orlandus Lassus, dem gefeierten Ritter vom Goldenen Sporn, wäre ihr lieber gewesen, aber sie tat ganze Arbeit und verteilte mit größter Umsicht die einzelnen Stücke.

»Bonne chance!« rief der Jonkheer, als Benjamin das seine zerlegte. Er dachte an das Märchen von Jugend und Alter.

Mit unsicheren Blicken verfolgte er die etwas ungelenke Bewegung, lehnte sich müde im Sessel zurück, bald das umschleierte Auge auf Madam, bald auf den Kandidaten gerichtet, der plötzlich durch einen diesigen Nebel zu taumeln schien.

Die Kerzen standen darin, als wären sie mit Gazehauben verdunkelt.

Benjamin zuckte auf.

Dann warf er den Kopf in den Nacken und legte das Messer beiseite.

»Die Bohne!« fiel es ihm schwer von den Lippen.

»Vive le roi!« lachte der Alte, erhob sich, als hätte ihn eine Spirale aufwärts getragen.

Seine Sektschale stand hoch über der Tafel.

Die Teufelsmusik ertönte aufs neue: zog lärmend vorüber . . . verhallte.

Alles Gebundene löste sich auf.

»Vive le roi!« echote Madam, wisperte Nelly, und sie machte eine so rasche Bewegung, daß sie den Kandidaten leicht mit ihrer Schulter berührte.

Von welken Fingern umgriffen, grüßte die Schale noch immer.

»Après nous le déluge! Heda, Jean Pierre!« und unversehens sah sich Benjamin mit der Glitzerkrone geschmückt, die der einsilbige Herr am Eingang des Saales seiner Herrin zugebracht hatte.

Der Gefeierte strudelte hoch in seiner Königswürde.

Mit hellem Geläut fanden sich die Kristalle zusammen. Sie wurden aufs neue gefüllt, und aufs neue pritzelten die übermütigen Geisterlein über den Kelchrand.

Ein atemloses Schweigen folgte.

Der Jonkheer durchbrach es: »Herr Kandidat, le silence des peuples est la leçon des rois

»Herr Baron, ich verstehe,« hielt ihm Benjamin flammenden Auges entgegen, um beredten Mundes dem Symbol des heutigen Abends näher zu treten.

Ein fiebriges Feuer machte ihn tollkühn. Das Blut schoß ihm zu Kopf. Er hörte den Frühling singen, wie er die Rinnsale aus ihrer Starre befreite, den Schnee zu Paaren trieb und die schlagenden Finken in die knospenden Bäume hineinwarf. Keine Schüchternheit mehr. Nur Lebenskraft und volle Gesundung. Wie lag alles so weit hinter ihm: des Magisters tolles Benehmen, seine Widersinnigkeit, des alltäglichen Lebens Einfalt und Leere. Süße, weiße Hände griffen über ihn fort, zeigten ihm das Reich, wo die Ewigen wohnen. Gekrönten Hauptes begann er: »Phaseolus nana – die Bohne! In tausend Formen und Gestalten tritt sie uns Menschen entgegen: tief am Boden, schaukelnd in den Lüften, an stillen Lauben, die sie mit ihren Ranken umschließt, mit ihren roten Schmetterlingen übersprenkelt. Durch sie verstehen es die Niederländer schon, ihre saftigen Feste zu feiern, unter Ferkelgrunzen die großartigsten Derbheiten an den Mann zu bringen: fliegende Röcke, blanke Weiberschenkel, Triangeln und Becken . . . Saturnalien im gesegneten Holland . . . die fröhlichen Nachwehen aus dem Bereich des Kapitolinischen Hügels.«

Er hatte ein rotes Fanal vor Augen.

Das winkte ihm zu.

»Und was bedeutet die Bohne, diese Phaseolus nana? Was lehrt sie uns, was predigt sie uns in ihrem schlichten Kleid? O diese Bohne! In die fruchtbare Erde versenkt, sorglich angehäufelt, vom Regen benetzt, vom Sonnenlicht warm umschienen – unter der Hand der allgütigen Göttin, der bona dea, wurde sie das Sinnbild der treibenden Kraft, die Bringerin des Genusses, des Sichfindens und des selig-unseligen, stillen Empfangens. Keine Askese! Sie will keine sandigen Wüsten, keine sternlosen Nächte, die bei einem müden Öllämpchen hinsterben: weder platonische Gastmahle, noch die Entsagung nach erbittertem Kampfe. Sie verkörpert vielmehr die Sehnsucht nach Liebe, nach überirdischen Stunden. Nichts Unreines, nichts Profanes! Nur den lockenden Ruf der Frutilla – den will sie. Frutilla, Frutilla! Möge auch sie in diesem Hause ihre Stimme vernehmen lassen . . . und daher: lasset die Toren nur schelten! Im Schellenklingeln der Narrenkappe, im Dreikönigenfest liegt doch eine tiefe Wahrheit geborgen. Unser Werk sei die Liebe! denn sie ist das Hehrste und das Heiligste auf dieser Erde. Nichts ist schöner als das Weib. In ihm schlummern Tod und Verwesung, aber auch Leben und Auferstehung. Ich bete das Weib an . . .!« und unter dem Druck seiner Hand zerteilte sich die kleine Frucht in zwei gleichmäßige Stücke.

»Vive la reine!« und unter allgemeinem Beifall reichte er die Hälfte seiner Nachbarin hin.

Nelly empfing sie.

Abermals läuteten die Gläser.

Wie gesponnenes Blut legte es sich um ihr bleiches Gesicht, denn siehe: Madam drückte behutsam die ihr zugereichte burgundische Haube, dreifach mit einem Kronenreifen umspannt, auf das lohfarbige Haar ihrer Tochter.

Nelly! im wehenden Schleier, im Glänzen der vergoldeten Reisen war sie die Königin des Festes geworden.

»Superbe!« rief der Alte.

Mit heroischem Märtyrertum überwand er seine Bedenken und die Gebresten des Leibes.

»Es lebe die Königin!«

Benjamin stierte durch diese bizarren Erscheinungen hindurch, als sei ihm geboten worden, in die Morgenseligkeit des Unbegreiflichen zu treten.

Eine weiche Hand legte sich still auf die seine.

Darüber glitt der warme Goldglanz der Kerzen.

Er sah nichts mehr . . . nur war es ihm so, als wenn Jean Pierre zu seinem Herrn träte und ihm etwas zuflüsterte.

Der Baron fuhr zusammen.

»Also abgewiesen?«

Jean Pierre nickte.

»Ja, allerdings.«

»Durch wen?«

»Durch die Hunde.«

Der Jonkheer atmete auf: »Kommen Sie, Rinse. Die Geschäfte warten auf uns. Sofort einen Boten an meinen Anwalt in Utrecht. Und nochmals: après nous le déluge. Bis später.«

Sie gingen. Auch der seriöse Herr am Eingang des Saales. Die Tür schloß sich hinter ihm zu.

Der Kandidat sah verstört auf Nelly.

Diese erhob sich.

Auch Madam.

»Hörst du? Sie klinken ihn aus. Endlich ein energischer Entschluß des Saumseligen.«

Die erregte Frau zuckte die Schultern: »Schmerzlich, aber nicht mehr zu ändern,« um dann mit verhaltener Stimme zu sprechen: »Unser Werk sei die Liebe! Nichts ist schöner als das Weib. In ihm schlummern Tod und Verwesung, aber auch Leben und Auferstehung. Benjamin, wenn ich mich recht erinnere, Sie sprachen doch eben davon?«

»Ich tat es.«

»So bin ich beruhigt.«

Sie schob den Arm in den seinen.

»Kommen Sie jetzt. Das zweite und letzte Kapitel. Gedenken wir Biribinkers und der Fee Kristalline. Wir haben Pflichten. Fürsten lassen nicht auf sich warten, geschweige denn Könige,« und von Madam gefolgt, traten die beiden Gekrönten in das Kabinett nebenan, wo die Astrallampe noch immer ihr mildes Scheinen verschwendete.

Der erste Auftakt!

Wiederum verstreuten die Grazien ihre Narden und erlesenen Düfte. Von den Blumenbeeten wehte der Hauch zierlicher Tazetten und Osterblumen. Irgendwoher ertönte das silberne Steigen und Fallen einer Fontäne. Eine Nachtigall schluchzte dazwischen. Dann eine Geige. Herzbetörende Kantilenen und sonstige Wunderlichkeiten. Eine weite Schau tat sich aus, ewig, unermeßlich. Nur ein träumerisches Plätschern gegen sanfte Gestade. Ein Singschwan flog über das sommerstille, geruhsame Meer. Man hörte das Wuchteln seiner weißen Flügel, sein Singen in hinsterbenden Liedern . . . und dann wieder das Schwirren und Tönen jubelnder Geigen.

»Il y a des choses importantes!« wisperte Nelly.

Die Flämmchen in der Astrallampe leuchteten milder, gedämpfter, die Tapeten dunkelten ein, die Stimmen im Kamin plauderten kaum noch – so fügte sich jedes einzelne in den Rahmen der Erzählung und den des Dreikönigenabends.

Benjamin wurde zu einem Traumdeuter, zu einem Nekromanten.

Wie aus prallen Weinbeeren tropfte es von feinen heißen Lippen.

Er war ganz Andacht und Hingebung.

Sein Lesen berauschte. Jemand trat hinter ihn.

Ein burgundischer Schleier hüllte ihn ein. Er vernahm das Knistern der Reifen, die die Haube umspannten, das weiche Rascheln eines Frauengewandes. Er fühlte es deutlich: eine kühle Hand legte sich unauffällig in die seine hinein.

»Willkommen, mein Prinz,« las er weiter, »und lassen Sie sich's nicht verdrießen, einer jungen Fee einen Dienst getan zu haben, die ein barbarischer Eifersüchtiger über zwei Jahrhunderte lang zu einem Werkzeuge der niedrigsten Bedürfnisse gemißbraucht hat. Reden Sie aufrichtig, Prinz! und finden Sie nicht, daß die Natur mich zu einem edleren Gebrauche bestimmt hat?«

»Gewiß!« seufzte Madam. »Wer könnte dran zweifeln . . . und des zum Zeichen: neue Schalen! Das Dreikönigenfest will fröhliche Herzen.«

»Unterbrich nicht, Mama. Störe ihn nicht. Ich glaube, der Herr Kandidat hat schon zuviel des süßen Weines genossen, zumal da eine unsichtbare Hand sich noch immer bemüßigt sieht, ihm ein besonderes Glas zu kredenzen . . .« und abermals glitt es über ihn fort wie eine lauliche Brise.

»Warten Sie, Prinz.« Mit diesen Worten schlug sie dreimal auf den Tisch, und in drei Augenblicken sah Biribinker, daß er sich mit den niedlichsten Speisen besetzte und die Flaschen sich von selbst mit Wein füllten.«

»Ich sagte es ja,« klang es ihm zu.

»Oh!« fuhr Benjamin fort, »dieses genügte, seine Sinne in ein süßes Vergessen aller Milchmädchen der ganzen Welt einzuwiegen. Was sollen wir sagen? Der Prinz war zu höflich, eine so schöne Fee ungalanterweise zu vernachlässigen, die Fee zu dankbar, ihm im Hause, wo vierzigtausend Geister spukten, ihre Gesellschaft abzuschlagen. Kurz, die Höflichkeit wurde auf der einen und die Dankbarkeit auf der anderen Seite so weit als möglich getrieben . . .«

Ein verhaltener Aufschrei.

»Mein Gott!« klang es plötzlich.

»Nelly, was ist dir?«

»Mir wird so dunkel, Mama . . .«

»Du bist blaß in der Tat . . .«

Nellys Augen verlängerten sich.

Ihre bleiche Schönheit verwirrte.

Hilfesuchend verschwammen ihre feuchten Blicke zwischen den Wimpern.

Schon halbersterbend suchten sie noch in die seinen zu tauchen.

Sie wankte.

Benjamin sprang zu, ergriff sie . . . hielt sie in gewaltigen Armen.

»Dort hinein!« ächzte Madam, und noch die Krone um die Antinousschläfen, das dunkle, schwere Rauschen des eigenen Blutes im Ohr, hob er sie leicht und trug sie durch eine Tapetentür in ein Nebengemach, das von einer milchweißen Ampel nur matt erleuchtet war.

Dort ließ er sie nieder.

Verstört blieb er stehen.

Madam war geschäftig. In fliegender Eile nestelte sie ihr das Schnürmieder auf, zog das sonnenfeine Gespinst von den weißen Schultern herunter . . .

»Bleiben Sie, bleiben Sie . . . ich komme gleich wieder . . .«

»Aber Madam . . .

»Bleiben Sie. Sie sind Kavalier. Ich ersuche Sie dringend. Vielleicht hat sie geistlichen Beistand vonnöten . . .« und fort war sie, als hätte sie irgendein willfähriger Geist von hinnen getragen.

Mit heimlichem Offenbaren seufzte die Tür zu.

Allein! und das alte Wunder der tausend Nächte und der einen Nacht begann auch hier im Abendland, in der Dreikönigennacht am Niederrhein, seine unergründlichen, mysteriösen Augen aufzuschlagen.

Benjamin, geh' deines Weges! Die Grenadiere des Königs, der ›Choral von Leuthen‹, Schellenbaum und Musici stehen dir besser an . . . aber diese trunkene Schau . . .!

Aus dem geöffneten Schrein von Schnüren und Spitzen, aus diesem niedergerieselten brabantischen Klöppelwerk wuchs es heraus wie mit parischem Marmor . . .

»Du bist schön, meine Freundin, lieblich wie Thyrza, schrecklich wie Lanzenspitzen. Deine Lippen sind eine rosinfarbene Schnur, und deine Rede ist lieblich.«

Mit einer religiösen Scheu, im Fieber, mit klopfendem Herzen betrachtete er die Verklärung des Weibes.

Nun hatte er sein großes Ereignis.

»Du!« sagte sie plötzlich und streckte die Arme.

Ihre Augen schienen maßlos zu wachsen. In ihrem dunklen Veilchenblau, das einem Abgrund ähnelt, leuchtet es auf mit goldenen Pünktchen.

Ihre Lippen, prall wie Rosenknospen, erschließen sich ihm, ganz Verheißung und Hingebung.

»Deine Seele will ich . . . ganz . . . ohne Verschweigen . . .

In jäher Bewegung hebt sie sich halb in den Kissen, schlingt ihm den Arm um den Nacken, zieht ihn tiefer und tiefer, bis ihre Lippen sich finden.

»O du . . . du!«

Ein fast lautloser Schrei.

Im Kuß bohrt sie ihren Kopf in das Pfühl . . . und dieser Kuß flackert wie die gierige Flamme . . . will kein Ende haben . . . kein Ende . . .

»Nelly . . .

Als er aus seinem Taumel erwachte, ging sein Schritt über kaltes, blendendes Linnen, in dem die Lichter des Himmels sich widerspiegelten. Langsam durchmaß er das Schneefeld.

Er hatte Gesichte.

Über ihn hin setzten gespenstige Reiter, entsetzliche Reiter, wie aus der Apokalypse genommen. Fahle, schnaubende Pferde. Gewieher und Stampfen! Die Wage stand hoch in den Lüften . . . die Sense blitzte . . . der Pfeil irrte von der straffen Sehne . . . Und drüben stand eine und verhüllte ihr Antlitz.

»Verdammt und gerichtet!«

Dann klang es metallisch ihm zu.

Hoch aus der Höhe, von einem Berge des Schreckens.

»Mein Gott! wieder die drohenden Schaufaren von Sion herunter!«

Die Stimme Jehovas.

»Die Sünde . . .

Er fröstelte und öffnete die Tür seines Hauses.


 << zurück weiter >>