Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Drittes Kapitel

»Tink, tink, tink!« Rinse van Bommel, der Rentmeister, bei Dirk Negels Baron van Klabasterboompjes auf Aldekerk, und was sie zu verhandeln haben. Auch hier die Gräfin von Kolbe. Dem braven Amtskandidaten klingen die Ohren. Dirk Negels der Zweite. Seine Amouren in Rozendaal-Arnheim und Haarlem bis ins Rosenrote hinein. Über Buitenzorg gehen die Sterne auf und versinken in einem Meer von Schönheit und Liebe. Von seltsamen Büchern. Nelly! und der alte Baron küßt in effigie die Lippen des verlockenden Weibes.

Tink, tink, tink!«

Die preziöse Alabasterpendüle klingelte eigenwillig von der hohen Marmorkonsole herunter. Ihr Stimmchen verfing sich in den schweren Fenstergardinen, den reichen Stoffen der Möbel und den traulichen Ecken und Nischen des hohen Gemaches, um bei den cytherischen Landschaften, die die Webekunst eines Jean Gobelin mit Watteauschen Gestalten belebt hatte, sanft zu ersterben.

Es war drei Tage später.

Dirk Negels Baron van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, saß an diesem Nachmittage in seinem Arbeitskabinett vor einem knisternden Feuer.

Das Wetter war noch trüber und regnerischer geworden. In langen Tränen rieselte die aufdringliche Feuchte an den Scheiben nieder. Grau in grau zogen die vergrämelten Stunden stumm ihres Weges. Überständige Blätter schaukelten sich von den müden Bäumen herunter, wirbelten auf, um buntfarbig an den tiefen Fensternischen vorüber zu treiben. Memento mori! O diese Mahnung! Und es war so, als sehnten sich die nackten Marmorgebilde, die bleich und kalt die einsamen Parkgänge durchschimmerten, nach warmer Bekleidung, der wohltuenden Lichtquelle einer arkadischen Sonne. Sie fröstelten sichtlich, sie fröstelten, wie Dirk Negels Baron van Klabasterboompjes auf Aldekerk fröstelte, der trotz des hellen Kaminfeuers die fahrigen Geisterlein seines senilen Blutes nicht mehr zu erwärmen vermochte.

Nur zu natürlich! denn viele Jahre hindurch war er Resident auf Java gewesen, in dem traumhaften Verschwimmen von Himmel, Erde und Wasser, hatte seinem König ehrlich gedient, aber unsäglich gelitten unter dem unbarmherzigen und mörderischen Klima von Buitenzorg, den Solfateren, Salsen und Mofetten des Landes, und was diese nicht taten, besorgten die heißen Nächte unter dem südlichen Kreuz, die er in Gemeinschaft üppiger und schmiegsamer Javanerinnen bei perlendem Champagner verlebte. Noch heute sah er sie, noch heute versetzte er sich in die verwunschenen Gärten von traumhafter Schönheit. O diese Blumen, o diese Kelche, angefüllt mit den Narden und Aromen eines rätselhaften Genießens! O diese opalenen Fernen, die verschwiegenen Nächte mit einem Planetenfeuer, wie es nur unter diesem Himmel erstrahlte! Und doch dieser Gifthauch, dieses Insichverzehren und dieses Gleiten und Züngeln in glänzenden Schalen, umkrustet mit Perlen und seltenen Steinen, würdig und wert, in den rosigen Ohrläppchen einer Märchenprinzessin zu glitzern. Ein Blühen unter steter Verwesung! – Heimgesucht an Körper und Seele kehrte er zurück in das Land seiner Jugend, wo die kanadischen Pappeln müde an den tiefen Grachten flüstern und die holländischen Mynheers, ein Priemchen hinter den glattrasierten Backen, in das stickige Wasser hineinspucken, heiratete bei seinen fünfzig Jahren und mehr eine Komtesse van Donselaar-Klaartje auf Amerongen, erzeugte mit ihr Dirk Negels den Zweiten, um bald darauf Holland den Rücken zu kehren und seinen reichen Besitz im preußischen Landkreise Geldern für immer aufzusuchen – hier in der stillen Umgebung, bei ruhigen und seßhaften niederrheinischen Menschen, einen genügsamen und friedlichen Lebensabend erwartend.

Leider! – Dirk Negels der Zweite machte ihm bei diesen ehrlichen Kalkulationen einen dicken und bösen Strich durch die Rechnung, nachdem die weltfremde, insichgekehrte Gattin und Mutter eines unerwarteten Todes verblichen. Er tat es nicht durch ehrlose Streiche, die mit dem richterlichen Strafgesetz kollidierten, aber durch solche, die mehr oder weniger auf die des verlorenen Sohnes in der biblischen Legende verwiesen . . . und alles hatte sich doch angelassen wie eine große Offenbarung und eine Verheißung des Herrn, wenn der Abend über den Wäldern heraufzieht, die Sterne sich aus dem blauen Himmelstuch schälen und ferne Glocken die weite Gegend umschmeicheln.

O, es schien alles eitel und nichtig! Rings dieser Wohlstand, dieses sinnlichweiche Behagen in den üppigen Räumen, diese verschwenderische Pracht, die ihresgleichen nicht hatte, und doch dieses traurige Denken, diese Miseren und Ängste!

Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, ein Mann in den siebziger Jahren, obgleich er nur sechzig zugeben wollte, Grandseigneur bis in die Zehenspitzen hinein, der das Deutsche wie seine Muttersprache beherrschte, Voltairianer und Schöngeist und doch beklagenswert bis in die innersten Nieren, machte sich mit einer goldenen Schnupftabaksdose zu schaffen, deren Deckel mit einem obszönen Bildnis aus der Göttersage geschmückt war.

Fingerfertig kreiste er sie um ihre eigene Achse.

Er war nicht allein in seinem Privatkabinett.

Gelassen hob er die müden Lider, fuhr sich mit der schmalen Hand, an deren Goldfinger ein wasserheller Solitär glänzte, über die zermarterten Schläfen und sah einen kleinen, vermickerten, salbungsvollen, aber in sich gefestigten Mann, seinen Rentmeister, an, der dicht neben ihm an einem geschweiften Tischchen hantierte und umständlich in einem voluminösen Aktenbündel herumblätterte.

»Nun, Rinse, was gibt es?«

»Diverses, Mynheer.«

»Erfreuliches oder wieder die infame Epistel?«

»Ich muß leider bemerken . . .« und der Getreueste aller Getreuen, für seinen Herrn der Geist mit dem Groschengewissen, der mit Apothekergewichten wog, mit jedem Pfennig sparte und geizte, der jedem Pächter, ohne hart zu sein, mit spielender Leichtigkeit den Pachtzins entsteißte und am Getön der Dreschflegel das Ergebnis des Erdrusches zu berechnen vermochte, dieser Mann nun hob betrüblich die Augen, zuckte etliche Male mit den Schultern und sagte: »Herr Baron, ich muß leider bemerken: immer wiederholen sich die alten Anzapfungen eines Gewissen, seine Spekulationen und faulen Wechsel, nur gebieterischer und mit dem Gehaben eines professionellen Libertins und Schuldenmachers, und wenn ich eine dringliche Angelegenheit, die baldiger Entscheidung harrt, in Abrechnung bringe, dürfte der Rest meines Vortrages sich ausschließlich mit den fatalen Angelegenheiten des Herrn Sohnes beschäftigen.«

Der Baron machte eine unwirsche Geste. Das obszöne Bild auf der Schnupftabaksdose kreiste mit der Eilfertigkeit eines schnurrenden Rädchens.

»Sapristi, ich verstehe. Also: faites votre jeu

Das Fuchsgesicht des Rentmeisters glitt über den Aktenfaszikel. Er hatte nicht lange zu suchen. Mit der Gewissenhaftigkeit eines soliden Beamten falzte er die betreffenden Seiten aus und erklärte: »Zuvörderst: ein Gesuch des Amtskandidaten Benjamin Seraphikus Rückert, derzeitigen Hilfspredigers des verstorbenen Herrn. Selbiger bewirbt sich um die Präsentation im hiesigen Kirchspiel.«

Der Baron winkte ab. Die lange Nase in dem bleichen, glattrasierten Gesicht wirkte gespenstisch.

»Hat Zeit,« näselte er nach einiger Weile, indem er den Solitär glitzern ließ und ihn wieder bedeckte. »Il est grand dans son genre, mais son genre est petit

»Herr Baron, ich möchte submissest vorstellig werden: Petent stammt aus hiesiger Gegend, ist dem nunmehr Verblichenen Trost und Labsal gewesen, gewissermaßen das Öl auf der kärglichen Lampe. Ohne dieses wäre sie schon eher verloschen. Außerdem: die Eingabe ruht schon Tage und Wochen, seine Konduite empfiehlt ihn, sein Äußeres ist mit gut zu bezeichnen, die Gemeinde verehrt ihn, und was die Hauptsache ist: er wandelt im Schatten einer kleinen Titanin.«

»Wieso das?«

»Im Schatten der höchstseligen Gräfin von Kolbe, um es submissest zu sagen.«

Der Solitär blitzte aufs neue.

»Kolbe, Kolbe . . .?! Ist es mir doch, als begännen gefallsüchtige Klarinetten zu tönen. Warten Sie mal. Legte diese Kolbe-Wartenberg, dieses prickelnde Wesen aus hiesiger Gegend, nicht einen gordischen Knoten um den Premier des ersten Königs von Preußen? Kein Zweifel,« und der Chevalier lächelte mit unnachahmlicher Feinheit. »Titanin, Titanin! Allerdings, das ändert die Sache, gibt ihr eine gewisse Nuance, zumal da man annehmen muß, ein Tröpflein dieser galanten Komtesse ist auch bei unserm Petenten haften geblieben. Nehmen wir an, nehmen wir an, denn diese Gräfin war köstlich, ein Mittelding zwischen Jeanne Antoinette Poisson und der schönen Dubarry,« und seine Stimme streichelte über den Namen ›Dubarry‹ hin, wie eine linde Hand über das weiche Fell einer Angorakatze.

Die schweren Augenlider sanken ihm langsam herunter.

Seine Phantasie schweifte in alle Fernen hinein, führte ihn wieder nach Buitenzorg und in das geheimnisvolle Zusammenschwimmen von Erde, Himmel und Wasser. Ein Düften umfing ihn. Kaum wahrnehmbare Rufe wurden geflüstert. Leichte Füße trippelten über den Teppich. Die Lampe verstreute einen Schein, der die Sinne umnebelte. Ein Gong wurde geschlagen. Heiße Küsse und umstrickende Arme! Schwellende Formen und das Aneinanderschmiegen von seligen Leibern! O diese Blumen, o diese Kelche, angefüllt mit den Narden und Aromen eines rätselhaften Genießens! O diese opalenen Fernen, diese verschwiegenen Nächte mit einem Planetenfeuer, wie es nur unter diesem Himmel erstrahlte!

Er hob wieder die Lider.

Die Rechte mit der Schnupftabaksdose hing ihm schlaff am Leibe herunter.

»Rinse!«

»Herr Baron!«

»Ja, Rinse, das ändert die Sache. Cherchez la femme! Registrieren Sie: Petent hat sich persönlich zu melden. In acht Tagen vielleicht. Möglich, er wird in Gnade genommen. Prediger mit reifem Geblüt vertrocknen auch nicht in ihren homiletischen Darbietungen. Warten wir ab. Und nun: ohne zu räsonieren: drup, drup! Mit die größte Pläsier von der Welt – toujours en avant, ich erwarte die böseren Dinge.«

Er lächelte grimmig und beschäftigte sich abermals mit Zeus und Europa auf der Schnupftabaksdose.

Der zweite Aktenfaszikel.

Rinse van Bommel blinzelte über den Tisch fort. Er studierte die Züge des Insichgekehrten. Er studierte sie lange, denn was diesen Rentmeister auszeichnete, war die väterliche und wohlwollende Art, sich in die Seele seines angestammten Herrn zu versetzen. Er kannte seine Grillen und Launen, seine Heimlichkeiten, und wußte die Stunde zu nutzen, die ihm geeignet erschien, etwas anzupräsentieren oder es sachte unter das damastene Tischtuch fallen zu lassen.

In diesem Augenblick sah er sich veranlaßt, das erstere zu wählen, denn die Dinge, wie sie nun einmal lagen, waren nicht zu umschleiern, nicht mehr geeignet, sie in dem sekreten Dunkel der Rentmeisterei verschwinden zu lassen.

Er fing denn auch seinen sondierenden Blick wieder ein, löste das Bündel und glättete die Seiten der einzelnen Blätter.

Langdrähtig kam es ihm von den schmalen Lippen herunter: »Berichte aus Holland . . . diverse Anweisungen . . . utopische Sachen . . . neue Schulden wurden entriert . . . und wenn ich so alles erwäge . . .«

»Was?! Wurden entriert? Wie viel denn und bei wem denn entriert?«

»Um es submissest zu sagen: 2000 Gulden, Madam Bottertje, Roozendaal-Arnheim.«

»Also die vom Leygrafenstapel?«

»Dieselbe.«

»O lala! Beiläufig die, die den jungen Domine um Amt und Reputation brachte und so gütig war, dem frommen Baron Trotsem van Rumpelforde die Rivière seiner noch bigotteren Hausfrau abzuliebeln!«

Rinse senkte zustimmend das Haupt mit den korrekten Sardellen.

»Nicht übel. Der Mensch hat Geschmack; aber mir alles auf mein Konto zu buchen . . . Man weiter.«

»8000 für Bellecke Kermes, Modistin in Haarlem.«

»Blexem und Donnder! Mit der er wie ein durchgebrannter Kassierer zu meinem Anwalt nach Utrecht kutschierte, um dort den letzten Rest seines mütterlichen Erbes zu fordern – nein, zu erpressen?«

»So ist es, um es submissest niederzulegen.«

Ein neues Blatt fuhr herum: »Und nochmals 5000 . . .«

Ein dumpfes, verhaltenes Stöhnen.

Der alte Herr war in die Höhe gefahren, bleich wie die Alabasterpendüle, die sich eben anschickte, die vierte Mittagsstunde zu melden.

»Tink, tink . . .!« Vier nadelfeine, subtile Klimpertönchen tänzelten von der Konsole herunter, mit dem weltfremden Klingeln von chinesischen Glöckchen.

»Und hier,« wimmerte Rinse van Bommel dazwischen, »und hier noch . . .«

»Kein Wort mehr.«

Der Baron schien einem Sterbenden ähnlich. Die Nase verlängerte sich, nahm einen porzellanenen Glanz an. Auf den Backenknochen lagen kreisrunde Flecken, abgezirkelt, scharlachfarben wie ein tiefer Burgunder. Die bleichen Lippen verzogen sich schmerzhaft, die Mundecken kräuselten sich, begannen aufs neue zu lächeln.

Auch der Solitär glänzte wieder.

Die Hand hob sich langsam.

»So eine Rübe bis ins Rosenrote hinein! Bleibe in Haarlem, mein Junge. Dort wohnt einer unter den Boompjes. Ein Seiler. Das Nötige hat er. Dieses nimm und lege den Hals in die Schlinge. Aber mache sie doppelt . . . Rinse . . .

»Herr Baron!«

»Oder noch besser: schicken Sie meinen Pistolenkasten nach Utrecht. Der Anwalt soll ihn weiter spedieren. Das ist der properste Arzt für den Schlingel.«

»Herr Baron . . .

»Blexem! Ich will nichts mehr hören. Kein Iota. Das Bürschchen ist fertig. C'est le commencement de la fin. Oder feiner gesagt: das Ende vom Ende. Es handelt sich hier um die Sitten und die Ehre eines angesehenen Hauses. Dahin paßt keine Madam Bottertje, Roozendaal-Arnheim, geschweige denn eine Bellecke Kermes. Und das mit den Schulden . . . Gut, ich will Anweisung geben, aber damit Schluß der ekelhaften Komödie. Es gibt Stücke, die nicht ausgespielt werden. Ein kurzes Klingelzeichen – und mit dem Vorhang herunter. Wurmstichige Früchte zertritt man, und ich habe zertreten. Die Welt wird zwar ein kleines Geschrei erheben, aber der Erfolg wird mir beipflichten. Rinse, zu Ihrer Belehrung. Mein Rechtsbeistand, der Notaris in Geldern, wurde bereits vor einigen Tagen verständigt und mein Wille unter Brief und Siegel genommen.«

»Herr Baron, Sie werden doch nicht . . .

»Rinse, ich habe bereits; es ist nichts mehr zu ändern,« und der alte, steifbeinige Herr mit der Gardenie im Knopfloch betrachtete seine schmalen, aristokratischen Hände mit einem forcierten Behagen. Dann streiften seine Blicke die Wände entlang, über die čytherischen Landschaften, die frohen Gestalten zwischen Oliven und Zentifolien, um wiederum auf den gepflegten Fingernägeln haften zu bleiben.

»Enterbt und verstoßen,« pfiff er scharf durch die Goldplomben, »und Aldekerk betritt er nicht wieder.«

Seine Stimme nahm einen florigen Ton an: »Rinse, ich habe für einen andern Erben zu sorgen.«

»Ah!« machte van Bommel, »das wäre denn doch!«

Seine Augen flackerten auf, als hätte sie ein Grenadier von der Potsdamer Garde unter Knopfgabel und Bimsstein genommen. »Allerdings muß ich sagen: ich kenne Exempla . . . äußerst süperbe! Noch kürzlich. Drüben im Vorwerk . . . Christ van de Linde . . . hat seine siebenzig Jahre und mehr noch auf den Schultern . . . aber dessen ungeachtet: er freite die Melkmamsell, ein Frauenzimmer von Neu-Luisendorf her, und siehe: prompt kamen Zwillinge an. Kerlchen wie aus der Äpfelkammer gestohlen. Der Mann ist wie im Paradies und rein aus dem Narrenkasten. Durch eigne Meriten: zwei Bengels in ein und derselbigen Viertelstunde! Solches dürfte nicht ohne Vorbedeutung sein. Also warum nicht?« und der Getreuste aller Getreuen bastelte eilfertig seine Akten zusammen. Er suchte nach Atem, während er aufstand. Kaum vermochte er sich auf den Beinen zu halten.

»Herr Baron, und dürfte man fragen . . .? Ich bitte submissest.«

Dirk Negels van Klabasterboomjes lächelte, wie die Glücklichen lächeln, die berufen sind, von den Tischen der Auserwählten zu speisen, wie der König von Byblos, der seine Geliebte erwartete.

Vielsagend legte er dem salbungsvollen Männlein die Fingerspitzen auf die Ärmelfalte.

»Nur ein wenig Geduld. In einigen Wochen vielleicht. Ein junges Reis auf den alten Stamm der Klabasterboompjes gepfropft wird Wunderdinge auf die Beine stellen. Je prends mon bien, où je le trouve. Aber ich bitte . . .«

Diskret führte er die schmale Hand gegen die Lippen.

»Nur unter uns.«

»Herr Baron, ich ersterbe.«

»Also silence: die Quintessenz allen Bestehens, das Stimulans, seine Diener zu fördern. Seien wir vorsichtig. Im übrigen in acht Tagen: ich lasse den Kandidaten ersuchen.«

»Bereits vermerkt, Herr Baron,« und rückwärtsschreitend, seine Papiere im Arm, ein großes Mysterium zwischen den Rippen, verließ Rinse van Bommel das Gemach seines Brotherrn, nicht ohne dabei seine Sardellen sorglich eine neben die andere zu pflastern.

Leise seufzte die Tür hinter ihm ein.

»Tink!« sagte die Alabasterpendüle, und dann eine Stimme: »Nelly!«

Wer hatte gerufen?

Niemand, keine menschliche Seele – und dennoch: Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr aus Aldekerk, hatte gerufen. Gerufen?! Nein, nur gesäuselt, gedämmert, ähnlich dem verlorenen Ton eines Nachtschwirls unter dem sternbesäten Himmelreich eines knospenden Frühlings – und stöckelbeinig, den Duft der Gardenie in unmittelbarer Nähe, stelzte er auf seine Bücherei zu, suchte und forschte, entnahm ihr etliche Bände, deren köstliche Schließen und Lederrücken er streichelte, sie gierig betastete, setzte sich mit ihnen ans Fenster und versenkte seinen erregten Geist in die schlüpfrigen Mirakel welscher Autoren und Dunkelmänner.

Welche Fülle von Gedanken und Bildern, welches Übermaß an kühnen Laszivitäten, wie sie nur das Quattrocento hervorbrachte, die amoureusen Zeiten, während welcher ein Ludwig der Vielgeliebte regierte!

Es war stille ringsum.

Nur dann und wann knisterte ein überständiges Blättchen an den angelaufenen Scheiben vorüber, drängte sich der Ruf eines Krähenvogels ins Zimmer, schwaderten Schilf und Geröhr aus dem mit grünen Linsen bestandenen Wasser, das Schloß Aldekerk nach Süden hin, nach Osten und Westen in einem geräumigen Bogen umgurgelte. Dazwischen tupfte es mit Regenfingern, einlullend, anheimelnd, mit dem ewigen Einerlei von gleichmäßig fallenden Tropfen.

Der Alte ließ sich nicht stören. Er war vollauf beschäftigt.

Buch um Buch wanderte er durch. Erledigte Seite um Seite.

Mit einem flüchtigen Schatten von Melancholie in den Augen, ließ er die wechselreichen Bilder, Darlegungen und Szenen einer bis in die innersten Masern und Fasern verrotteten Phantasie auf sich wirken. Seine schwächlichen Pulse fieberten auf. Die Linien verschiedener Zeichnungen verfolgte er mit zitterigem Finger. Seinen mißratenen Sohn, Dirk Negels den Zweiten, vergaß er. Er vergaß Bellecke Kermes und die üppige Madam Bottertje, Roozendaal -Arnheim. Ein Totenvogel quälte und litaneite seine Umwelt zu Grabe. Seine Blicke schienen in einem opalisierenden Öl zu verschmelzen. Erregten Sinnes betrat er die verwirrenden Gärten von Hierapolis, die Tempel einer Derketo zu Askalon, einer Venus zu Paphos. Er sah Weiber unter einer glühenden Sonne, in langen Reihen nebeneinander, nur mit dem Mantel ihrer leuchtenden Haare bekleidet, Nächte, die Mühe hatten, verschwiegene Greuel in ein barmherziges Dunkel zu hüllen.

»Nelly . . .

Neue Schriften und Offenbarungen! Pantagruelische Dinge aus Frankreich: die ›Liaisons dangereuses‹, die ›Decouverture du style impudique‹, histoire de Dom Bougre, portier de Chartreuse, ou mémoires de Saturnin, écrits par lui-même, Gesänge und Hymnen, dem Gott Lampsakos geweiht, in der lichtklaren Elzevirschrift des achtzehnten Jahrhunderts wiedergegeben, Träume und Wahrnehmungen eines von Satyriasis gequälten Klerikers, Verse, Gedanken, Aphorismen, im Namen Melittas geschrieben, unkeusch bis in die Zehenspitzen hinein, mit Kupfern von einer seltenen Grazie und Frechheit geschmückt, mit Vignetten ausgestattet, die die Sinne in einen blutigroten Nebel versetzten.

O diese Dinge! und der alte Baron stammelte: »Nelly!«

Die kreisrunden Flecken auf seinen Backenknochen erweiterten sich, berührten den Adlerflaum, der sich an seinen Schläfen hinzog.

Mit weißen, blutleeren Händen, die an die aufdringliche Farbe von Totenlaken erinnerten, riffelte er über die kostbaren Bände, über die einzelnen Seiten. Die Finger krampften sich ein, schabten und kratzten, wurden zu Geierkrallen, zu Werkzeugen irgendeines gierigen Raubtieres. Ha, und die Augen! Sie umschleierten sich, ähnelten matten Lampen und Lichtern, wie sie brennen in einer Sterbekapelle. Lüstern traten sie vor, stielten sich aus und wurden zu Teleskopen, die mit grauenvollem Behagen das betäubende Gift einsogen. Sie sahen nur Frauenkörper, phallische Darstellungen, Raritäten, phantastische Blößen, Ungeheuerlichkeiten, den Dunkelkammern eines Rétif de la Bretonne, eines Crébillon, eines Marquis de Sade entsprungen. Sie sahen die purpurblauen Nächte von Java, die weichen Javanerinnen, unbekleidet, mit dem Hautschmelz von reifen Pfirsichen, das Gleiten und Züngeln in glänzenden Schalen . . . und über Buitenzorg standen das südliche Kreuz und die übrigen Sterne in einer unendlichen Klarheit.

Endlich! die Erregung ließ nach.

Kein Röcheln mehr, kein Stöhnen und Ächzen.

Der Abend nahm ihm das Licht von den Büchern.

Graue Tücher zogen an den eingedunkelten Fensternischen vorüber.

»Nur Ruhe, immer nur Ruhe . . . ad pedes . . . ad manes . . . ad aures . . . mein Gott, ich ersticke!«

Die seltsamen Werke brachte er wieder an Ort und verschloß sie.

Der sonst so kühle Voltairianer, der sich eine kleine Stunde hindurch in den Schmutz seiner Leidenschaften hineingewühlt hatte, gelangte wieder in den Besitz seiner geistigen Kräfte.

Er atmete auf, und einem Geheimfach entnahm er ein Bild, ein Medaillon auf Elfenbein gemalt und in zierlichem Rahmen gefaßt. Er sah lange darauf: ein klares, ovales Gesicht, wie von einem Ghirlandajo geschaffen . . . lohfarbiges Haar, zu einem mächtigen Knoten verschlungen . . . Augen mit dem wechselnden Glanz von Florentiner Steinen und Parmaveilchen . . . das Lächeln der Mona Lisa um die verschwiegenen Mundecken . . . eine Frau, trunken zu machen und sich von ihr auf den weichen Akkorden diskreter Liebschaften wiegen zu lassen . . .

Der Baron beugte sich vor.

»Nelly!« und sein welker Hauch küßte die Lippen des verlockenden Weibes.

Dann nahm er die Gardenie.

Zerpflückte sie.

Verstreute die einzelnen Blättchen, die Staubfäden.

»Ich opfere sie im Namen der Schönheit.«

Dann trat er ans Fenster.

Über den Wäldern von Aldekerk ruhte das Dunkel des werdenden Abends.


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