Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Achtes Kapitel

Das Wunder in englischen Stoffen, und wie sich Benjamin Seraphikus Rückert außerstande sieht, die Größe des Dargebrachten richtig zu bewerten. Von feurigen Juckern, von Nelly und einem Machiavell in Unterröcken. Thesen und Antithesen. Jean Pierre Knipping als Führer und Mentor. Maximinian Lerche von Kalander und seine Kreuzfahrt zum Heiligen Grabe. Gegensätzliche Meinungen und Ansichten über dieses verfängliche Thema. Ankunft in Aldekerk.

Acht Tage gingen ihres Weges dahin.

Auf Schloß Aldekerk war rege Bewegung. Vom Hauptturm bammelte die große Fahne in den Farben derer van Klabasterboompjes herunter: gelb und rot und mit einem blauen Stern in der Ecke. Die Dienerschaft hatte vollauf zu tun. Unter Anleitung des unnahbaren Jean Pierre Knipping wurden Tafel und Stühle gerichtet, die köstlichen Kristall- und Silberschätze aus den alten Truhen gehoben. Die Gärtnerburschen liefen ab und zu, eifrigst dabei, die seltensten Raritäten der Treibhäuser in die Gemächer und Vestibüle des Herrenhauses zu verpflanzen: Azaleen, Farne, Eriken, Kamelien und die fremdartigen Gardenien –Gewächse in allen Gestalten und Sippschaften, Blüten von den zartesten Farbenmischungen bis zu den bizarrsten Lichtern herunter. Ein Reich von betäubenden Aromen wölkte sich durch Flure und Gänge, durch trauliche Räume, die von längst dahingegangenen Tagen und Begebenheiten erzählten.

Hätte der Kandidat solches gesehen, hätte er all dieses Blühen und Duften, dieses Scheinen und Schillern, dieses Räuchern und Schleiern in sich aufnehmen können, er wäre wie der Prinz Biribinker durch den paradiesischen Lustgarten der Fee Kristalline getaumelt, wenn auch nur aus dem einzigen Grunde, in diesem levantischen Träumen, in diesen würzigen Lauben und Winkeln Cytherens den Spuren der ambrosischen Galactine, ihres aus einem einzigen Rubin verfertigten Melkeimers und denen ihrer himmelblauen Ziegen zu folgen.

Leider, leider war es ihm bis jetzt nicht vergönnt, diesen Blüten- und Farbenrausch auf sich wirken zu lassen. Nur als ein Gaukelspiel seiner erregten Sinne, von einem fernen Hörensagen her, kam ihm ein gelindes Ahnen davon, ein kaum wahrnehmbares Aufhellen und Dämmern. Wie ein Almosen erschien ihm das alles. Er vernahm das Kichern der Staubfäden, das einschmeichelnde Singen von kristallenen Kelchen, das weltfremde Rucksen von sich schnäbelnden Turteltauben.

Nein, Benjamin Seraphikus Rückert hatte noch keinen wirklichen Anteil daran, das sollte erst kommen, und so saß er denn in seinem bescheidenen Arbeitszimmer, zwischen den wurmstichigen und kränklichen Möbeln, die ihm das Wohlwollen des seligen Herrn eingebracht hatte, nichts vor Augen als minderwertige Schildereien aus der Legende und graue, abgeblichene Tapeten, hinter denen er die Zwitschermäuschen rascheln hörte, mit Stimmchen so fein, als wären sie mit einem Rasiermesser zugespitzt worden . . . und doch war es ihm so, als wüchse aus dieser dürftigen und habelosen Umgebung ein glückverheißendes Feuerlein, als sonderten sich von ihm einzelne Strahlengarben ab, die sich mit innigem Behagen um einen tipp-topp gekleideten Herrn legten und ihn mit einem sonnigen Glanz verklärten.

Benjamin erhob sich.

»Mein Gott!« sagte er ganz durcheinander und wie von einem seligen Schauer gerüttelt, denn Herr Kordelmann aus Geldern stand vor ihm, lächelte, wie nur die Herrenschneider zu lächeln vermögen, und präsentierte ihm das funkelnagelneue Habit aus englischen Tuchen, primissima Qualität, Stoff Nummer sieben, Rock, Hose und Weste, wert und würdig, von einem Metropolitan getragen zu werden.

Das Wunder inkarnierte sich.

Aber war es auch wirklich ein Wunder und nicht die Darbietung eines dämonischen Geistes? Denn siehe: hernach führte ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt, ihre Pracht und Glorie und sprach zu ihm: »Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest« und wenn es auch nur Rock, Hose und Weste aus fremdländischen Tuchen waren, ganz winzige Dinge im Hinblick auf die Herrlichkeiten, Zepter und Kleinodien dieser sündigen Erde: immerhin blieben es Gebilde aus der Hand eines Herrenschneiders, Erzeugnisse einer gefeierten Nadel, deren Kunstfertigkeit er nicht zu bezahlen vermochte, und das gab zu denken.

Aber dann wieder . . . in Kraft seines priesterlichen Patriziats verwies er den unlauteren Geist aus dem Kreis seiner Erwägungen und Bedenken, bannte ihn endgültig in das unermeßliche Nichts hinein, gab sich mit dem Wunder zufrieden und sagte still vor sich hin: »Jesaia, Kapitel 43, Vers 1: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset: ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein, ja – du bist mein!« und als dann der süperbe Herrenschneidermeister noch stärker mit seiner Stangenpomade und seinem Eau d'Espagne weihräucherte, da breitete Benjamin im Überschwang seiner Gefühle die Arme und sagte: »Nenne mir, Muse, den Mann . . . O mein Geliebter, wie soll ich Sie ansprechen? Wohltäter, Beglücker? O nein, diese Worte wollen gar nichts besagen, Amicus humani generis? Auch das nicht. Philanthrop oder Immanuel? Schön und erhaben! Aber es gibt den Kern der eigentlichen Sache nicht wieder. Nur im blühenden Morgenland erwächst mir das Heil, nur ihm schreibe ich es zu, wenn mir die richtige Bezeichnung von den Lippen träufelt. Ich denke an die Dschinni, an die dritte Klasse der erschaffenen Wesen neben Menschen und Engeln, denn ihre Art zu schenken ist die, daß sie einen Vater und Mutter vergessen lassen. Ja, sie gehören zum Geschlecht der Dschinni, Herr Kordelmann,« und er dankte bewegt und mit Tränen in den Augen, wobei er sanft und mit glücklichen Fingern über das feinwollige Tuch glitt, er dankte dem Schneidermeister Pittje Kordelmann aus Geldern, dem Jonkheern Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherrn auf Aldekerk, nahm mit genußfrohen Händen den Anzug in Empfang, streichelte ihn nochmals und legte ihn unter Benedeiung seines Herrn und Erlösers in die weitbauchige Kirschholzkommode.

Just um dieselbe Stunde trabte ein feuriges Juckergespann auf der breiten Heerstraße, die vom Rhein her und über die benachbarte Kreisstadt fort nach Dorf und Schloß Aldekerk führte.

Es hatte schon viele Meilen unter die Hufe genommen, war bereits mit dem frühesten aus der bergischen Hauptstadt getrappelt, um jetzt in einer kleinen halben Stunde das ersehnte Ziel zu erreichen.

Das silberplattierte Geschirr klirrte in den warmen, sonnigen Herbsttag hinein, in die Welt, die sich noch immer nicht dazu bequemen wollte, an vergrämelte Tage und kalte, unwirtliche Winternebel zu denken.

Die Luft mutete an wie gesponnenes Glas, die Niederung wie aus Musselin und Gaze gewebt.

In den Ebereschenbäumen brannten rote Korallen, das erste Grün des Winterroggens zog sich in feinmaschigen Schleiern über die weiten Felder, und die Goldammer wagten es noch, ihr ›Wie – wie – wie hab' ich dich lieb‹ von den blätterarmen Zweigen herunter zu tirilieren.

Ein unaufdringliches Arom nach Lavendel zog mit den hastigen Juckern.

In der bequemen Karrosserie saßen zwei Damen dicht nebeneinander: eine ältere, angetan mit einer seidenen, etwas abgelebten Fransenmantille, filierte Halbhandschuhe an den nicht unschönen Händen, einen altmodischen Hut auf den weißen Haaren, der seitlich je zwei silberne Bammellöckchen freiließ, dabei auf dem Schoße einen mächtigen Pompadour, brillierend in einem bunten Schmelz von Glasperlen und Stahlsplitterchen, und ein jüngeres Wesen: der verkörperte Frühling, zierlich und dabei von einer üppigen Fülle, elegant, wenn auch schlicht und einfach gekleidet, in bauschiger Krinoline, ausgiebig gesättigt mit einem Strauß von rosigen Spitzen, scheinbar unverdorben und doch nicht stark genug, die heiße, sich tapfer wehrende Jugend bis auf den letzten Rest zu verteidigen.

Ein Kranz von lohfarbigem Haar stahl sich unter ihrem schlichten Hütchen hervor, erhöht in seinem eigenartigen Leuchten durch die Sonnenreflexe, die ihn zitternd umspielten.

Ihr Näschen war köstlich, der sinnliche Schalk um die Mundecken geeignet, den abgefeimtesten Misanthropen in einen Taumelgarten des Entzückens hineinzupeitschen. Ihre weitgeöffneten Augen, die an das tiefe Blau von Veilchen unter Bocksdornhecken oder an solche gemahnten, die an den Uferrändern der Altwasser zu blühen pflegen, liefen erstaunt über die Niederung.

»Über ein kleines werden wir den Grenzstein passieren,« bemerkte eine sonore Stimme vom Bocksitz herunter.

Gleichzeitig drehte Jean Pierre, der neben dem behäbigen Kutscher Platz genommen hatte, seinen wie aus Stein gemeißelten Kopf etwas zur Seite, um dann mit dem Gesicht eines Domschweizers, dem es obliegt, über den Wunderzahn der heiligen Apollonia nähere Auskunft zu geben, weiterzusprechen: »Die drei Pappeln dahinten zählen bereits zu den Besitztiteln meiner gnädigen Herrschaft. Von da ab fettester Weizenboden. Das scheffelt man so. Auch in diesem Jahre waren wir äußerst zufrieden. Selbst die Rübenkampagne, die zuerst keinen Erfolg versprach, können wir mit gut bezeichnen. Weiter dahinter erstrecken sich unermeßliche Wälder. Ebenfalls die Besitztitel meiner gnädigen Herrschaft.«

Der Domschweizer kam wieder zum Vorschein, indem er durch eine getragene Handbewegung die Omnipotenz des Gutsherrn und des ewigen Gottes andeutete.

»Sehr interessant,« bemerkte die jüngere Dame, ohne dem Dargelegten näherzutreten.

Ein nicht ganz zufriedenes Grunzen ertönte vom Bock her.

Jean Pierre brachte seinen Kopf mit einer gewissen Verstimmung in die frühere Lage zurück, während die vorhin näher bezeichneten Pappeln immer stolzer und gigantischer aus der Ebene wuchsen.

»Sieh' mal,« sagte die Alte nach einiger Weile, hüstelte und tupfte ihr gepudertes Gesicht mit einem Batisttüchlein von erlesener Feinheit, »nun wären wir bald so weit, und du bist wirklich entschlossen, dich für immer und ewig zu binden?«

»Aber natürlich, Mama. Wie kommst du nur auf diese seltsame Unterstellung? Ich bin mein eigener Richter und mein eigener Wohltäter. Bei mir ist kein toter Punkt, und alles vorhanden, einen Menschen glücklich zu machen, ihm das jetzige trostlose Leben zu einem Dasein der Freude und des stillen Genießens auszubauen.«

»Nelly, das meine ich nicht. Ich habe so meine Bedenken und Zweifel.«

»Im Gegenteil, ich müßte sie haben, denn eine aufdringliche Frage: Wird ihm vor allen Dingen meine Herkunft zusagen? läßt mich unsicher und gallig werden.«

»Halt!« fuhr die Mutter dazwischen. »Also etwas wie Bitternis?« und ihre Augen nahmen einen spöttischen und abweisenden Glanz an. »Und von wegen deiner ehrlichen Herkunft? Oh! das beunruhigt mich nicht und braucht dir gleichfalls keine Sorge zu machen. In dieser Beziehung: unnütze Selbstquälereien führen zu nichts, denn wenn ich in der Chronik unserer Familie nachblättere, so hast du keineswegs nötig, deine Abstammung unter die der Herren von Klabasterboompjes zu stellen. Gut – wir sind bürgerlich, geben uns dafür aus, aber nur scheinbar. Den großen Gedanken an unsere Vergangenheit, an das, was wir waren, an das, was wir sein könnten, habe ich als unveräußerliches Gut bis in die heutigen Tage gerettet. Dieser Gedanke adelt mich noch in der jetzigen Stunde. Auch unser Geschlecht hat Zeiten voller Sonntagslaune gesehen. Es waren römische Sommer, schön wie die Antike, wie das Säuseln der Pinien und das Plätschern des Meeres. Schon ein Maximinian Lerche von Kalander hatte das Glück, mit Vasko da Gama nach dem Heiligen Grabe zu klirren, um dem Übermut der Ungläubigen ein herzhaftes Paroli entgegenzusetzen . . .«

»Aber Mama, du wirfst ja alles wie Kraut und Rüben zusammen,« und ein übermütiges Kichern tönte lustig und allbefreiend in den emsigen Schlag der Hufe hinein.

»Du Naseweis, du! Lehre mich die Geschichte unseres Hauses nicht kennen . . . und wenn ich auch dann und wann geringfügige Daten verwechseln sollte, so tut das dem großen und ganzen keinerlei Abbruch. Was ich sagte, steht ausdrücklich verbrieft und geschrieben, und wenn die Urkunde nicht trügt, wurden obenvermeldetem Maximinian Lerche von Kalander von Saladin dem Prächtigen höchsteigen die Augen zugedrückt, als er sich veranlaßt sah, an der ehrenvollen Wunde, die er sich bei den mächtigen Kämpfen um Kreuz und Grab eingeholt hatte, in Joppe zu sterben.«

»Wie furchtbar!«

»Ist es auch im äußersten Maße,« bestätigte die Alte unter wehmütigem Schütteln ihrer gepuderten Löckchen, »aber solches ist noch längst nicht das Schlimmste gewesen. Leider, leider! denn im Laufe der Tage ging es mit dem Geschlecht derer Lerche von Kalander immer tiefer bergabwärts. Diese Leutchen verstanden es eben nicht, Kontenance zu bewahren. Ein unermeßlicher Strom des Genusses trieb sie mit sich fort, ins Leere, ins Uferlose hinein. Spender und Betrogene. Immer diese üppigen Feste, diese kostspieligen Liaisons, diese Gueridons, die stündlich nach neuen Kerzen verlangten! Und so geschah es denn auch: die ›Lerche‹ verflüchtete sich, das ›von‹ bröckelte ab und nur das ganz simple, trostlos bürgerliche ›Kalander‹ ist uns als Erbteil verblieben. Na, und so sind wir denn in eine Lage gekommen, die noch der Großonkel deines seligen Vaters als vollständig sinnlos erklärt haben würde. Und wenn ich dann an Maximinian denke, an diesen Edelmann vom goldenen Sporn – dann will mir das Herz auseinander, und mit einem unabweisbaren schmerzlichen Gefühl muß ich mich seines Grabsteins in Joppe erinnern, fern von hier und nur mit der Seele zu finden.«

Mit krampfhaftem Schluchzen preßte sie ihr Spitzentüchlein gegen die Lippen.

»Nein, dieses Elend, in dem wir uns nunmehr befinden!«

»Aber Mama, du scheinst völlig vergessen zu haben, daß ich mich durch eigene Kräfte . . .«

»Selbstverständlich, mein Kind, wir haben zu leben. Deine Kunst in Ehren. Sie hat uns vor dem Ärgsten behütet. Deine Stimme entzückte und tut es noch heute. Sie ist wie eine Stradivari-Geige im Konzertsaal, deren Ton sich aufschwingt in reiner Schönheit, um beim Sichniederlassen Gold an den Schwingen zu haben. Das alles gebe ich zu. Aber der Glanz des Geschlechtes steht höher, und ich werde noch Gelegenheit nehmen, dir später, vielleicht schon in nächster Zeit, einige Details mitzuteilen, die etwas Erschütterndes in sich tragen: denn streng genommen bist du aus einem noch stolzeren Hause . . . und hätte ich damals mit mehr Klugheit gehandelt . . . Doch genug davon. Ich muß mich zu beherrschen suchen. Unsere jetzige Lage fordert Entschlüsse, die sich nicht abweisen lassen. Alles Leben will eben durchlebt sein. Wir haben noch Ernsteres vor, und eben in diesem unerbittlichen Ernst liegt für mich eine tiefeinschneidende Besorgnis.«

»Wie meinst du, Mama?«

»Stille, mein Kind: nicht zu laut. Man könnte uns hören,« und sie deutete auf den sanften, imponierenden Mann, der regungslos neben dem Kutscher aufragte, aber mit Ohren, die sich scheinbar zu Schalltrichtern erweiterten.

»Pst!« machte die Alte und drängte sich näher heran, »ich denke an ihn . . . an deinen Zukünftigen . . . an seine nicht mehr allzu erfreulichen Jahre . . . an das, was einer jungen Frau dient, sich gänzlich unabhängig zu fühlen. Und wenn er mir auch schriftlich darlegte: das Testament wurde getätigt, die Enterbung seines ungeratenen Sohnes in die Wege geleitet, deine soziale Stellung für immer gesichert, so ist das ja mit Freuden zu begrüßen. Aber man will doch höher hinaus, sich nicht mit einer, wenn auch noch so beträchtlichen Summe abfinden lassen. Die Baronie steht bei ihm unter Vorbehalt. Bei einem plötzlichen Abscheiden seinerseits wäre vieles gefährdet. Die preußische Krone könnte Ansprüche machen, desgleichen der Fiskus in Holland. Dem hat man klar und unumwunden ins Auge zu schauen. Alles Deuteln und Hinziehen bringt uns nicht weiter, dürfte vielmehr sehr unliebsame Überraschungen zeitigen. Ich lege daher einen ganz besonderen Wert auf restlosen Anspruch. Verstanden? Dafür hat er sich einzusetzen, unter jeder Bedingung, sonst nehme ich Anstand, den Ehevertrag zu bestätigen und meinen Konsens zu geben.«

Ein helles Kichern.

»Aber Mamachen!«

»Was hast du?«

»Ich habe gelernt, zu entbehren.«

»Du?« fragte die Alte.

»Ja ich,« und Nelly machte Augen wie die eines verwöhnten, aber schuldlosen Kindes . . . und war bereits fünfundzwanzig Jahre und doch erst fünfundzwanzig . . . und ein verschmitztes Lächeln irrte um ihre zierlichen Mundecken.

»Nelly, du scheinst mich nicht verstanden zu haben oder mich nicht verstehen zu wollen,« kam es unwillig zurück. »Du kannst noch fröhlich sein, wo alles in mir weint? Meine Gründe sind logisch, ihre Forderungen unbedingt nötig.«

»Was ist denn nötig?«

»Aber ich bitte dich: der restlose Anspruch, oder willst du nach wie vor wie ein armseliges Hühnchen dahinleben?«

»O du mein Göttchen . . .!« und die Angeheiterte wippte übermütig mit ihren wohlgestalteten Füßchen und sah in die Ferne.

Im gewöhnlichen Leben war sie versonnen und saumselig wie ein spinnendes Kätzchen. Sie liebte Blumen, aber nur solche, die von fremden Händen gepflegt wurden: sie schwärmte für das hingebende Wiegen und Wogen des reifen Kornes, für die Schönheit einer endlosen Heide, überglitzert von dem violetten Blütenschaum des Abends, aber nur dann, wenn sie ein bequemes Vehikel unter sich hatte; sie hörte mit einem ihrer rosigen Öhrchen, um das Gehörte wieder leichthin durch das andere entschlüpfen zu lassen – aber in diesem Augenblick war sie findig wie ein rasches Wiesel geworden.

»Bitte nochmal, liebes Mamachen. Es ist alles so putzig.«

»Putzig?!«

Die würdige Matrone glaubte nicht richtig verstanden zu haben.

Entrüstet legte sie sich in ihre Fransenmantille.

Ihr Pompadour blinzelte.

»Ich ersuche dich ernstlich, Kontenance zu halten. Wir sind keine Kinder. Umsonst nicht fahren wir Aldekerk zu. Der Weg wird mir nicht leicht gemacht, das kann ich dir sagen. Ich habe für das Wohl und Wehe unseres alten Hauses Sorge zu tragen. Für nichts und garnichts ist Maximinian Lerche von Kalander nicht im Heiligen Lande verblichen. Sein Heldentod für Kreuz und Freiheit steht mir tagtäglich vor Augen. Sein goldener Sporn klingt mir zu, und wehe dem, der die glanzvolle Vergangenheit seines Stammes nicht achtet. Diesen abgenutzten Schein wieder aufs neue zu vergolden, ist der Traum meiner Nächte, und du wurdest berufen, ihn der Erfüllung näherzubringen; aber ich bestehe darauf: ohne bestimmte Zusicherungen und Garantien seinerseits kann aus einer Heirat nichts werden, so leid es mir tut, dir dieses Geständnis machen zu müssen. Du bist ein Edelstein, und ein Edelstein will seine Fassung haben. Der Baron wurde dieserhalb brieflich verständigt! du wirst mir es danken. Aber ich werde nochmals Gelegenheit nehmen . . .

Die letzten Worte waren wie säuselnd gesprochen.

»Famos!« lachte Nelly. »Du bist köstlich, Mama. An dir ist ein Heraldiker mitsamt einem Friedensrichter verloren gegangen. Sie können von dir lernen. Nur immer so weiter, und Maximinian Lerche von Kalander wird aus dem Grabe erstehen, seine Sporen klingen lassen und den Kantus anstimmen:

Vom Heil'gen Grabe kommen wir,
Und die Nacht ist schwarz und duster . . .«

und in vollem Übermut, die junge Brust straff in den molligen Pelz schiebend, sang und schmetterte sie frei und frank in den sonnigen Herbsttag hinein: »Hei, Fra Diavolo!« und die anmutige Zerline verkörpernd, perlte es ihr von den leichtgeschwungenen Lippen herunter:

»Für so ein einfach-ländliches Mädchen
Bin ich doch recht zierlich gebaut . . .«

um mit einem hellen Jauchzer, der sich in prickelnden Solfeggien verflüchtigte, ihren Gesang zu beschließen.

»Hei, Fra Diavolo!«

Die Alte erstarrte darob.

»Nelly, benehmige dich. Keine Ekstase. Das tägliche Leben verwirft sie. Als zukünftige Herrin auf Aldekerk ist dir Haltung geboten. Konzertsaal und Schloßgemächer sind nicht in einem Atem zu nennen. Ohne Turnüre und Selbstverleugnung wird aus dem Parkett keine Seide gesponnen. Das merke dir.«

»Ach was!« lachte Nelly. »Ich kann dir nicht folgen, Mamachen. Man lebt nur einmal im Leben. Laß mir das bißchen Freude. Ich befinde mich just in der richtigen Laune, die ganze Welt zu umarmen, vom stolzen Adler bis zum geringsten Sperling herunter, jung oder alt, tonsuriert oder nicht tonsuriert, und müßte darüber der Geist des seligen Maximinian Lerche von Kalander irrsinnig werden. Meine Sehnsucht läßt sich nun mal nicht niederzwingen. Sie will ihre Freiheit. – Aber das dauert ja ewig und ewig! He, Sie da, wie lange fahren wir noch?«

Dem Anruf folgte ein gemächliches Räuspern.

Der breitrückige Kutscher wandte sich halb auf die Seite, ebenso der gestrenge Herr mit den untergeschlagenen Armen und dem ewiggleichen Gesicht, als wäre es aus dem Reliquienschrein eines Pharaonen genommen.

Dieser sagte denn auch: »Gnädiges Fräulein, wir werden gleich da sein.«

Das ›wir‹ unterstrich er mit einem salbungsvollen Niederschlagen der undurchdringlichen Augen.

»Da drüben,« und er deutete mit seiner langsamen Rechten über dunkelblaue Wälder hin, »unmittelbar neben der schweren Baumgruppe wehen bereits die Farben meiner gnädigen Herrschaft. In einer guten Viertelstunde können wir einfahren.«

»Merci.«

»Ich bitte gehorsamst,« und das Juckergespann legte sich wieder in Riemen und Stränge und pfiff über die Heerstraße.

Hastige Chausseebäumchen machten lange Beine auf der schnurgeraden Strecke.

Die Gäule preschten, warfen fliegenden Schaum von den Stangen.

Die Kiesel spritzten. Nur mit knapper Not konnten die Räder Grund und Boden unter den Eisen halten.

»Das nenne ich fahren!« jubelte Nelly.

In ihren Ohren sang der lauliche Westwind des Niederrheins.

Ihr Reiherfederchen flockte dahin. Mit Wohlbehagen sog sie die kräftige Luft ein.

»Das kostet uns Arme und Beine!« seufzte die Alte und drückte sich ängstlich in die Polster zurück.

»Aber Mamachen! und du willst dem edlen Geschlecht derer von Kalander angehören? Maximinian würde sich in seinem heiligen Grabe umdrehen, wenn er dich sähe, vielleicht dir ob Höchstdero Ängstlichkeit noch seine Gnade entziehen.«

»Nelly, laß das, ich bin deine Mutter.«

»Gott ja, Mamachen, ich bin heute so lustig.«

Immer weiter und weiter.

Krähengeschwader, die ihren grindigen Schnabel in das fruchtbare Erdreich stießen, um nach Engerlingen zu suchen, stöberten auf. Rechts und links huschten vereinzelte Kotten vorüber, Birkenwäldchen und umbrochene Flurparzellen.

Ringsum ein Kreisen und Drehen.

Nur der breitrückige Kutscher und Jean Pierre Knipping waren die einzigen ruhigen Punkte in dieser raschen Bewegung.

Die Pachthöfe des begüterten Junkers kamen in Sicht, breit hingelagert und massig, die Läden gelb und rot gestrichen, einen blauen Stern in der Ecke . . . üppige Wiesen, kreisrunde Woijen und alle Geheimnisse und Wunder des niederrheinischen Landes.

Es war eine Pracht, durch diesen Zaubergarten dahinzustürmen.

Immer neue Bilder taten sich auf.

»Alles sein!« schmunzelte Nelly.

»Alles sein!« echote der Machiavell in Unterröcken und überblinzelte weniger ängstlich das weite Gebiet mit halbgekniffenen Lidern.

Das reiche Schauen machte auch sie trunken.

Sie grübelte nach. Trotz der wahnwitzigen Fahrt hatte sie wieder Oberwasser gewonnen. Sie wußte, was not tat. Nur das Endziel nicht aus den Augen verlieren! Wer ernten will, hat die Hand an die Sichel zu legen. So und nicht anders. Es galt, sich über vieles hinwegzusetzen. Da waren die preußische Krone, der niederländische Fiskus, die verzwickten rechtlichen Spitzfindigkeiten und mehr noch. Alles dieses hatte man in Rechnung zu stellen, um dem noch in weiter Ferne liegenden Erfolg eine breite Gasse zu bahnen: aber dann dachte sie wieder: im Strahlenbereiche Nellys wird sich schon alles wie in einem schönen, sonnigen Frühlingsmärchen entfalten.

»Komm', mein Kind, und laß dich umarmen. Mehr Licht, mehr Licht!« und sie klebte ihr einen saftigen Kuß auf die Wange.

Um Nellys Mundecken schlängelte es sich mit dem artigen Spiel eines Eidechsenschwänzleins. Ihre Augen, die bald wie Florentiner Steine, bald wie das tiefe Blau von Veilchen erschienen, warfen ein strahlendes Feuer.

Jetzt sah sie: die massigen Türme von Aldekerk schälten sich langsam aus den Kronen uralter Bäume. Etliche Tannen ragten daneben auf wie Leviten in dunklen Gewändern.

Fünf Minuten später donnerte das Juckergespann in den Hof ein.

Portal und Eingang waren mit frischem Grün über und über bekränzt. Es duftete nach Harzen und Fichtennadeln.

Lakaien und Diener sprangen zu, rissen den Schlag auf . . .

Auch Rinse van Bommel erschien.

Als Rentmeister auf Aldekerk und Ritter des Ordens vom niederländischen Löwen am blauen Bande mit der Devise: Je maintiendrai, sprach er einige passende Worte der Begrüßung, um dann einem Höheren Platz zu machen.

Ein galanter Arm streckte sich aus, das verbindlichste Näseln eines ›bel homme‹ mit dem rosigen Gesicht eines Kindes und den stöckeligen Beinen eines verlebten Greises brachte den Willkomm . . . eine zierliche Hand häkelte ein, während Rinse die ältere Dame bekomplimentierte und sich als Ritter des Ordens vom niederländischen Löwen vorstellte.

»Ninon de Lenclos,« dachte Dirk Negels van Klabasterboompjes und ließ seine Gardenie im Knopfloch üppiger duften.

»Beaucoup d'agréments

Mit dem gemessenen Anstand eines Kavaliers aus der alten Schule führte er die zarteste Hand an die trockenen Lippen.

»Mademoiselle, entrez, s'il vous plaît,« und die Szene verflüchtigte sich in dem magischen Halbdunkel des Schlosses von Aldekerk.

Nur einer blieb übrig.

Jean Pierre Knipping.

In tadelloser Haltung stellte er seine Fingerspitzen sacht gegeneinander.

Über seinen Brauen, die nicht vorhanden waren, riffelten sich kapriziöse Fältchen.

Er war trefflich gelaunt.

»Die hätten wir nun,« sagte er mit freundlichem Grinsen. »Eine köstliche Frucht in silberner Schale. Das Töpfchen ist da, nur das Deckelchen fehlt noch.«

Nachdenklich sah er zur Fahne auf, die hoch vom mittleren Turm aus herniederplauderte.


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