Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Sechstes Kapitel

Die Welt noch immer in Gold. Karl von Egmond und seine Devise. Ein Schneckengang durch schimmernde Blätter. Nöll Knipping, genannt Jean Pierre Knipping, und die Schnupftabaksdose des Herrn von Klabasterboompjes. Die Präsentation nimmt Form und Gestalt an und rückt wesentlich näher. Betrachtungen über die weibliche Psyche. Mit einer dargereichten Prise und dem anheimelnden Klingeln der Alabasterpendüle nimmt dieses Kapitel ein erfreuliches Ende.

Die Welt stand noch immer in Gold. Eine weithin leuchtende Folie schob sich zwischen Himmel und Erde, und in diese Folie hinein ragten die Türme von Aldekerk und die der benachbarten Kreisstadt. Immer noch das artige und wechselreiche Spiel von fallenden Blättern. Gleich trunkenen Zitronenfaltern glitten sie von den Bäumen herunter: Zitronenfalter in den Lüften, in den säuselnden Zweigen, Zitronenfalter auf Wiesen und Anger, Zitronenfalter, die in langsamen Wenden und Drehungen die Herzen der Menschen umgaukelten! und dabei dieser kräftige Erdgeruch der weiten Niederung, dieses Kantige und Eckige in der herbstlichen Grafschaft, einst beherrscht von dem wilden Karl von Egmond, am Hofe des französischen Königs Messire de Ghelres le Dyable geheißen, immer das Schwert in der Faust und die Devise auf der Zunge:

»Hoog van moed.
Klein van goed,
Een zwaard in de hant,
Is't wapen van Gelderland.«

Das war Karl Egmond, noch blutsverwandt mit den Herren van Klabasterboompjes, vor Zeiten eben so trotzig wie jener, um im Laufe der Jahre immer tiefer in den Sumpf des Genusses, der Verweichlichung und eines untätigen Lebens zu gleiten.

Sic transit gloria mundi!

Auf Aldekerk war ein heimliches Tuscheln, in der Küche, auf den Fluren, bis in die höchsten Mägdekammern hinein. Auch die Pächter, Heideläufer und Kottenbesitzer der nächsten Umgebung steckten die Köpfe zusammen, und wo zwei Drescher gemeinsam ihre Flegel handhabten, wurden die Pausen dazu benutzt, sich ihre Brotschnitten wechselseitig mit diesem und jenem zu schmalzen. Die Kornelhölzer hörten es und tackten es weiter, immer weiter und weiter, bis sie schließlich zu Glocken wurden und mit ihrem hölzernen Geläut die ganze Gegend erfüllten.

Es ging alles auf natürlichem Wege zu. Das Juckergespann des Barons trabte fast täglich der schnurgeraden Chaussee nach, um stundenlang vor der Amtstür des instrumentierenden Notars Franz Friedrich Robbers in Geldern zu halten.

Das mußte auffallen. Mordje Tulpenstiel sah es, und wenn Mordje Tulpenstiel etwas wahrnahm, besamte sich das Land mit tausend und abertausend Kettenblumen, die überall hin ihre fliegenden Keime versandten. Er und seine Klientel folgerten richtig: für Dirk Negels den Zweiten zog sich ein böses Wetter zusammen. Schnappsack und Bettelstock lagen dicht nebeneinander. Das Tränenkrüglein des Alten war übergelaufen, vollständig übergelaufen. Ein zweites zu füllen, schien nicht in der Absicht des Herrn van Klabasterboompjes zu liegen. Dazu reichte seine Kraft nicht mehr aus. Nur eines beschäftigte ihn: das Erbe zu sichern, seinen Lebensabend friedlich zu genießen, ihn so bequem wie nur möglich einzurichten.

So Mordje und alle, die sich mit seinen Kombinationen einverstanden erklärten.

Selbstverständlich: Rinse van Bommel hatte geschwiegen. Keine Sterbenssilbe war über seine schmalen Lippen gekommen. Aber die Angestellten des Rentamtes?! Schreiberseelen, infame! Nichtstuer vom lautersten Wasser, nur darauf bedacht, den lieben Gott und den Tag zu bestehlen und in andermanns Zeug wie die Kleidermotten einzufallen. Ihre Gewissen taugten nicht viel; ihre Verschwiegenheit ähnelte einem vielfach durchlöcherten Schaumlöffel in einer schmutzigen Garküche.

Das war es . . . und im übrigen Nelly! Aber um Himmels willen! wie war dieser preziöse Name zuerst in den Mund der Umwelt gekommen? Und die Antwort darauf: c'est le lapin, qui a commencé. Den Kammerdiener des Herrn hatte man zweifelsohne bei dieser Kalkulation in Rechnung zu stellen, wenn auch mit Vorbehalt, nur unter einer gewissen Reserve. Sein Wandel war rein. Seine Reputation ohne jeden Flecken und Tadel. Nöll Knipping, der äußeren Aufmachung wegen nur Jean Pierre Knipping gerufen, ging immer auf Lastingschuhen, und seine Lebensart erinnerte an den weichen Gang dieser Schuhe. Von ihm schienen die Worte herzurühren: »Es ist Nacht um mich. Nur ein mattes Lämpchen ist bei mir. In unmittelbarer Nähe liegt fremdes, greifbares Gut . . . und ich bin allein in der Stube. Niemand sieht mich, vor keinem habe ich irgendetwas zu fürchten, und doch ist das fremde Gut so gesichert, als würde es von einem Engel behütet.« So Jean Pierre Knipping, der seit seiner fünfundzwanzigjährigen Kammerdienerschaft keinen roten Heller veruntreute, in zweifelhaften Fällen kein Kastemännchen auf seine Seite zu bringen versuchte. Er konnte auch lächeln. Aber nur selten. Er war ein Mann wie aus der Handpostille genommen, sehr schweigsam, sehr ruhig, wenn auch würdig und stilvoll und von einer Respektabilität, die ihresgleichen suchte unter seinen Artgenossen und Freunden. Der Präsident eines Finanzministeriums konnte sich nicht zurückhaltender und getragener geben . . . wenn auch zuweilen, aber nur äußerst zuweilen . . . dann blitzte es unter seinen brauenlosen Augen auf wie die scharfgeschliffenen Messerchen, die man zum Rasieren gebraucht. Im übrigen war sein Gesicht wie das eines Dulders, von gütigen Hasenpfötchen eingerahmt und von einer ehrerbietigen Gönnerschaft beseelt, die für ihn einnehmen mußte . . . und nun sollte dieser Mann, im Hinblick auf Nelly, identisch sein mit einem Karnickel? Nein, nein und abermals nein! Wenigstens nicht aus einer hinterhältigen Absicht heraus. Höchstens: er hatte den Namen von seinem Herrn gehört, selbigen im Traum weitergestammelt, ihn ganz unbewußt unter die Leute getragen. Da mußten noch andere Quellen vorhanden sein. Und richtig, so war es. Schon vor längerer Zeit hatten die in- und ausländischen Gazetten des längeren von einer Künstlerin Nelly Kalander gesprochen. Das stand zweifellos fest. Sie hatte in Köln, in der bergischen Hauptstadt und in Arnheim gesungen, bei welcher Gelegenheit diverse Champagnerpfropfen, unter Assistenz des alten Herrn van Klabasterboompjes, sich verlauten ließen; nur aus Kunstinteresse. Aber wie die Menschen so sind . . . es wurde gemunkelt. Die Gerüchte verdichteten sich, und aus dem kreisenden Nebel schälte sich schließlich ein Kern, dessen Realität man nicht mehr abweisen konnte. Nelly Kalander schien berufen zu sein, sich über kurz oder lang in die Prunkgemächer des Schlosses von Aldekerk als Herrin hineinzusingen. Warum auch nicht? In den obwaltenden Verhältnissen lag der Schrei nach einem rechtlichen Erben begründet. Der reiche Besitz durfte unter keiner Bedingung der Krone verfallen, zumal da Dirk Negels der Zweite sich verurteilt sah, die Rolle des verlorenen Sohnes zu spielen. Selbst bei gänzlicher Umkehr und bei völliger Reumütigkeit: ihm wurde im elterlichen Hause kein Kalb mehr geschlachtet. Die Zeiten waren dahin, die Stunden verpaßt. Das graue Gewand der Habelosigkeit hatte er hinzunehmen als eine nun einmal beschlossene Sache.

O dieser traurige Wandel und Wechsel! – Und bei diesem Kriseln und Wispern schaukelten sich die fallenden Blätter wie goldgelbe Falter. –

So war der 28. dieses Monats gekommen.

Die Hähne krähten ihn an, und aus dem Filigrannetz eines sonnigen Oktobermorgens wurde er weitergetragen.

Schon eine halbe Stunde vor zwölfe drehte sich der ordinierte Adjunktus aus der Tür der mageren Predigerwohnung. Der schwerste Gang seines Lebens stand ihm bevor.

Schritt für Schritt, jeden Strauch und jeden Kiesel, der ihm begegnete, der Beachtung wert findend, mit der zögernden Langsamkeit eines Bittstellers nahm er den Weg auf, der nach Schloß Aldekerk führte.

Er zählte jeden Fußstapfen, den er hinter sich ließ, jede einzelne Sekunde, jede Minute. Das strähnige Garn eines faden Duftes zog hinter ihm her. Dabei kam er sich vor wie ein armseliger Sünder, dem das letzte Glöckchen geläutet wurde . . . und doch welche Enaksfigur, welcher Antinouskopf auf den mächtigen Schultern, welche Kraft in den ebenmäßigen Gliedern!

Trotz seines schäbigen Röckchens, seiner abgewetzten Sonntagshose, die er zu weit über die Beine gestreift – hätte dieser Amtskandidat das Glück verkostet, zur Zeit des großen preußischen Soldatenkönigs zu leben und wäre er dann diesem eisernen, ehrenhaften Monarchen auf der Promenade in Potsdam begegnet, zweifelsohne: mit dem frühesten des anderen Tages wäre er als Feldprediger in Seiner Majestät erstem Bataillon Garde mit vollem Salär und der Marschmusik des alten Dessauers in den Ohren angestellt worden. So aber . . . er atmete unter dem Zepter des Barons Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherrn aus Aldekerk, und hatte sich dessen Weitläufigkeiten und Kurialien, dessen Schrullen und Launen zu fügen.

Jeder Schritt wurde ein Seufzer, mit allen Miseren und Unzuträglichkeiten des Leidens Christi behaftet.

»Herr Jesus, meine Zuversicht!« und wieder ein Schritt und wieder ein Seufzer, der alles in sich trug, was eine heimgesuchte Menschenbrust nur zu bergen vermochte: »Befiehl du deine Wege, und was dein Herz auch kränkt . . .« und mutete an wie ein Immortellenkränzlein am Tage Allerseelen.

An der großen Eiche angekommen, die mit ihrem krausen Sparrwerk den Eingang des Parkes und die weite Gegend beherrschte, ließ er den dreihundertfünfzigsten Seufzer streichen: »O Haupt voll Blut und Wunden . . .« um bei dem fünfhundertunddreiundachtzigsten ganz verwirrt und verbaselt vor dem Portal des Schlosses zu stehen.

Neben dem Eingang ragte es auf: eine hohe Gestalt, die ihn freundlich, aber in aller Reserve begrüßte.

Es war Jean Pierre Knipping, der mit der ganzen Respektabilität des Unnahbaren zwei rokuzende Kröpfer auf dem Hofe beobachtete, die schleifend und wetzend ein scheues Pfauentäubchen bedrängten.

Vor der Hoheit dieses Mannes glaubte Benjamin ersterben zu müssen, duckte er sich wie eine fromme Henne auf einer beschmutzten Hühnerleiter . . . ach, Gott! und was sollte noch werden, wenn er erst dem Herrn dieses kühlen Stoikers aufzuwarten hatte.

Bedrückt trat er näher, den Hut in der Hand, die Blicke in Devotion auf den imponierendsten aller imponierenden Kammerdiener gerichtet.

»Ich möchte gehorsamst fragen, ob es wohl Zeit ist . . .

Jean Pierre Knipping schmunzelte gönnerhaft, überließ das Pfauentäubchen seinem ferneren Schicksal, entnahm seiner linken Westentasche eine schwervergoldete Uhr mit umfangreichem Gehäuse, drückte den Knopf und ließ das Gangwerk fein repetieren. Dann brachte er die Uhr wieder an Ort und sagte gemessen: »Noch fünf Minuten vor Zwölfe. Wir dürfen noch warten.«

Das ›wir‹ brätelte wohlbehaglich in seiner eigenen Fettschicht, in seiner eigenen Pfanne.

»So! und wäre es unbescheiden, sich nach dem Befinden des Herrn zu erkundigen?«

»Nein,« sagte Jean Pierre und stellte korrekt seine Fingerspitzen gegeneinander, »das dürfen Sie immer. Wir können zufrieden sein, äußerst zufrieden.«

»So! und glauben Sie, ich würde gelegen erscheinen?«

»Wir glauben.«

»So! und Sie sind der Meinung, der Herr Baron geruhen, in bereitwilliger Laune zu sein?«

»Wir nehmen es an.«

»Und meine Aussichten . . .

Unter den brauenlosen Augen blitzte ein Messerchen auf.

»Warum nicht? Wir denken an Nelly.«

»An Nelly . . .

Der Undurchdringliche lächelte still vor sich hin, und dieses Lächeln ließ sich ebenso gut mit einem klaren Wasser wie mit einem stagnierenden Sumpfe vergleichen.

»Ich möchte mich nicht weiter ergehen. Wir sind Diener, mein Herr, und haben zu schweigen,« und wiederum ließ er seine Uhr repetieren. »Ich bitte . . .«

Benjamin schreckte zusammen.

Punkt zwölfe, als die Alabasterpendüle im Arbeitskabinett des Hausherrn ihre Schläge verstreut hatte, sah er sich dem Baron gegenüber, das heißt, er sah es in Wirklichkeit nicht, empfand es nur, empfand es, wie die Weinbergschnecke es mit tastenden Fühlern in sich aufnimmt, wenn sie an regenfeuchten Abenden mühsam des Weges daherschleicht, vielfach zögernd und einen glitzernden Silberstreifen hinter sich herziehend.

Und die verwunschene Pracht ringsumher! Er bemerkte sie nicht, nicht das Brillieren der Kristallüster, die von der kassettierten Decke herabhingen, nicht die Schildereien niederländischer Meister, nicht die bizarren Orchideen aus dem Gewächshaus, die in hohe Stengelgläser verpflanzt, von den Wonnen und verschwiegenen Sünden der javanischen Nächte erzählten. Auch die gebieterische Ruhe und Vornehmheit des Gemaches machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Ein Karussell vielmehr mit Spiegelscheiben und sich jagenden Holzpferdchen kreiste um seine verstörten Sinne, angepeitscht durch eine lärmende Kirmesmusik und die heisere Stimme des Karussellbesitzers: »Uffgesessen! Wer fünfmal drückt, kann einmal fahren!« und dennoch: der Baron, der noch vor wenigen Augenblicken seine senilen Kräfte vermittels einer kurzen Streife durch die Irrungen und Wirrungen einer galanten Lektüre aufgefrischt und angeregt hatte, trat ihm freundlich entgegen.

Durch dieses verbindliche Lächeln wußte er die im langjährigen Minnedienst erworbenen Schäden geschickt zu verdecken.

»Wohl der Herr Kandidat?« fragte er leichthin.

»Alleruntertänigst zu dienen . . . und ich wäre schon früher . . . allein eine Flucht von Ereignissen, Zufälligkeiten, Schicksalsfügungen . . .«

»Schön, sehr schön!« unterbrach ihn der Jonkheer. Mit unnachahmlicher Grazie drehte er seine Schnupftabaksdose zwischen den spitzen Fingern, klappte sie auf und nahm eine Prise. Hierauf warf er einen kurzen Blick auf die Alabasterpendüle, knipste die auf seinem Jabot haftenden Spaniolpartikelchen fort und legte die Dose beiseite.

»Ich sehe, Sie sind pünktlich erschienen. Gefällt mir, und es freut mich daher, Sie hier empfangen zu können. Schon lange hegte ich den innigsten Wunsch, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Leider: meine Studien, dringliche Geschäfte und tutti quanti hinderten mich daran, eine bessere Lösung zu finden. Aber,« setzte er vielsagend hinzu, »nous avons changé tout cela. Mit dem heutigen Tage ändert sich alles.«

Das letzte Krümchen flitzte von der Weste herunter.

Der Petent atmete auf.

»Der Herr Baron sind zu gütig.

Er wagte es, die Blicke zu heben; hatte sogar den herostratischen Mut, den Jonkheern und seine ganze Erscheinung näher ins Auge zu fassen, und mußte nun wahrnehmen, wie dieser geschmeidige, wenn auch etwas degenerierte Kavalier die durchgeistigte Hand streckte, die Hand mit dem blitzenden Solitär und den rosigen Fingerspitzen, ihn aufforderte, Platz zu nehmen, und selber mit einer erstaunlichen Leichtigkeit den müden, ausgemergelten Körper in das dänische Leder eines bequemen Sessels versenkte. Alles war Geist an ihm, sublimes Erfassen, verbunden mit den prickelnden Einfällen eines alten Voltairianers.

Benjamin atmete zum andern auf. Vor diesem Edelmann aus dem verflossenen Regime brauchte sich auch ein bescheidener ordinierter Adjunktus keineswegs zu fürchten, nicht den Standesunterschied zu peinlich mit Skrupelgewichten zu ergründen. Die Hand der Grazien waltete hier offensichtlich zwischen den vier Pfählen, glättete alle Unebenheiten schmerzlos hinweg, um etwaige Mißhelligkeiten mit einem lindernden Lavendelwasser zu kühlen.

Merkwürdig schnell hatte sich der Petent in die heikle Situation gefunden, merkwürdig schnell die ungestüme Wallung seines Blutes beruhigt. Seine verstreuten Seelenkräfte sammelten sich wieder wie die Schafe im Pferch. Sie hörten keine verworrenen Geräusche mehr, keine Töne, die das Gleichgewicht des Fühlens und Denkens aus Blei und Senkel hoben. Der Karusselltrubel verstummte, das Drehen und Kreisen ließ nach, die schreiende Kirmesmusik ebbte zurück. Wie mit dem Licht von Astrallampen fiel es über ihn her. Die Schildereien der niederländischen Kleinmeister interessierten ihn plötzlich. Aus den grotesken Kelchen, Schläuchen und Röhren der Orchideen wähnte er das Flüstern von kleinen, bronzefarbigen Javanerinnen zu hören, das einschmeichelnde Klingen von Saiten . . . und durch dieses Klingen und Wispern hindurch sagte der Jonkheer: »Herr Kandidat, ein Gesuch Ihrerseits wurde registriert. Die Kanzlei gab es weiter, und ich finde es völlig verständlich, daß Sie sich aus christlicher Einsicht und Werktätigkeit heraus um die hiesige Predigerstelle bewerben. Das Wohl und Wehe der protestantischen Gemeinde liegt auch mir am Herzen. Irreligiosität hat ihre bedenklichen Seiten. Sie macht aus einem braven Royalisten den fettesten Republikaner. Darum sah ich mich bewogen, Ihrem Gesuch näherzutreten und Sie heute zu bitten. Sie sind mir kein Unbekannter . . . ich hörte von Ihnen . . . Ihr nunmehr in Gott ruhender Amtsvorgänger war so freundlich, mir einige Winke zu geben . . . und wenn ich ferner erwäge, daß mein Rentmeister Ihre Bewerbung als dringend hinstellte, so bin ich willens, Sie nicht länger warten zu lassen. Ich kenne Ihre Predigten, wenn auch nur vom Hörensagen, als präzise, dazu voll aufrichtiger und echter Gesinnung. Vielleicht ein wenig zu frei, zu drängend und stürmend, mit zu vielen rhetorischen Anhängseln und Blüten ausgestattet. Aber das tut nichts. Das ist lediglich Ihre Affäre. Ein gewisses Komödiantentum gehört nun einmal zum Berufe des geistlichen Standes.«

»Herr Baron, ich möchte ergebenst bemerken: mein priesterlicher Impuls denkt anders darüber, ist vielmehr von der Heiligkeit der Evangelien . . .«

Der Jonkheer winkte ab.

»Keine Sentiments, mein Verehrter. Jeden Vorwurf weise ich ab. Ich wollte keineswegs sagen: Gratez le Russe et vous trouverez le Tartare. Nur noch ein bißchen die Hörner herunter, weniger jugendliches Draufgängertum, und es muß eine Freude sein, von Ihnen den Katechismus zu lernen, das Wort Gottes, lauter und rein gelehrt, aus Ihrem Munde zu hören. Nein, nein, Sie gefallen mir sehr, mein verehrter Adjunktus, und ich bin gern erbötig, Ihnen die Wege zu ebnen. Noblesse oblige,« und Dirk Negels van Klabasterboompjes langte nach seiner plattierten Schnupftabaksdose, griff mit spitzen Fingern hinein und nahm eine Prise.

Dann schloß er den Deckel. Mit dem Geräusch eines Eulenschnabels knappte sie zu.

Das Bild interessierte ihn wieder. Jede Einzelheit: der Stier mit den blutunterlaufenen Lichtern und den fliegenden Nüstern, daneben die betörte Jungfrau am Gestade des Meeres. Er sah es deutlich: die Haut des Tieres fältelte sich, nahm einen seltsamen Glanz an. Der silberne Leib Europens preßte sich schmerzlich gegen die rahmweißen Flanken des verwandelten Gottes. Sie umkränzte ihn mit Asphodill und Rosen, mit goldenem Zaumzeug, sie die Tochter Agenors, des Königs von Phönizien, und ihre Augen schweiften nach dem fernen Kreta hinüber.

»Äh!« sagte der Jonkheer.

Mit übergeschlagenen Beinen, die Dose noch immer zwischen den Fingern, meinte er gütig: »Also – Sie reflektieren auf die hiesige Stelle sonder Vorbehalt und ohne anderweitige Extraordinarien in petto zu haben?«

Benjamin nickte.

»Ich würde mich glücklich rühmen, falls Dero Gnaden mir das hiesige Amt anvertrauen wollten. Im Hinblick auf Gott und Dero Geneigtheit würde ich es mit Treue und Eifer verwalten.«

»Dann zuvor einige Fragen.«

»Ich bitte gehorsamst.«

»Herr Kandidat, Sie werden verstehen: bevor einer schwere und tiefeingreifende Entschlüsse faßt, hat er sich auch in großen Zügen über den Bildungsgang des Bewerbers zu vergewissern, damit es später nicht heißt: laissez faire, laissez passer.«

»Herr Baron, ich studierte aus den Universitäten Marburg und Gießen.«

»Nicht übel – Marburg und Gießen! Und unter welchen Rektoren, wenn Sie gestatten?«

»Den Professoren Klabunke und Rathjen.«

»So, so! Klabunke und Rathjen. Illüstre Männer! Und Sie hörten speziell Ihre theologischen Fächer?«

»Biblica beim Doktor Tersteegen und Morale beim Doktor Buddäo.«

»Blexem! ich weiß davon. Mir befreundete Theologen in Utrecht wußten den Tersteegen und den Buddäum zu schätzen. Schön! und Ihre katechetischen und homiletischen Kenntnisse . . .

»Herr Baron, ich verstehe. Meine Studien auf diversen Seminarien . . . zum Beispiel . . .«

»Also diverse? Genügt mir, genügt mir vollkommen! Und nur noch ein Letztes . . . ich meine: haben Sie sich stets eines gesitteten Wandels, eines einwandfreien Lebens befleißigt? Diese Frage ist der Erwägung bedürftig, denn nur in einem gesunden Körper kann sich die ganze Schönheit einer abgeklärten Seele dartun.«

»Herr Baron, ich hielt allzeit meinen Heiland, den schlichten Zimmermannssohn aus Nazareth, vor Augen.«

»Ich sehe, ich sehe! Das Gewand etwas mitgenommen und nicht ganz auf der Höhe. Nur eine äußere Stilwidrigkeit. Dem kann abgeholfen werden. Im übrigen« und er begann in sich hinein zu kichern und leise zu näseln, »rien n'est beau que le vrai, und ich sage immer die Wahrheit: Sie haben wohl daran getan, sich allen Nichtswürdigkeiten fern zu halten. Man sieht's Ihnen an: keine desolate Verfassung, keine verjubelte und angekränkelte Jugend. Alles noch wie am ersten Tage; denn es kann immer passieren, daß zwingende Gründe es erforderlich machen, diese ungeschwächte Jugend in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich: solches nur in Parenthese gesprochen. Sie gefallen mir immer besser, Herr ordinierter Adjunktus. Soyons amis! und falls Sie sich noch damit beschäftigen könnten, die Regungen empfindsamer Weiberherzen zu studieren, ihren Launen und Empfindsamkeiten zu begegnen, so würde das wesentlich dazu beitragen, Ihnen die gewünschte Stelle zuzusprechen.«

»Ich werde mir Mühe geben, und was in meinen Kräften steht . . .«

»Lassen wir das. Keine Weitschweifigkeiten. Mir ist so, als wären Sie noch zu Hohem berufen. Ich brauche nicht deutlicher zu werden. Gewisse Dinge sind wie das Kribbeln von Ameisen. Man muß es sich selbst überlassen. Unbeachtet geht es leicht seines Weges und damit vorüber. Nur noch einige Winke! In den Schnürleibchen, Unterröcken und Krinolinen, den Pudermänteln und Cachenez liegt manches verborgen: Edles und Keusches, Beflecktes und Entwürdigendes. Was sie in sich schließen, entscheidet vielfach über Schicksale, Glücksmöglichkeiten und Gnadenbeweise. Das Frou-Frou knisternder Röcke ist wie ein Flügelschlagen von seltsamen Vögeln. Was ihm innewohnt, verlohnt sich, gewürdigt zu werden, denn es trägt viel dazu bei, das Wohl und Wehe ganzer Geschlechter zum Guten oder zum Bösen überzuleiten. Dies zu ergründen, ist die Pflicht eines kundigen Seelsorgers.«

Er streckte die Beine, betupfte seinen Adlerflaum.

Nachdenklich betrachtete er das kaum wahrnehmbare Zittern seiner Stiefelspitzen.

»Herr Kandidat,« sagte er nach einem quälenden Schweigen, »Sie kennen vielleicht das Prekäre meines Familienlebens. Meine Ehe ist nicht glücklich gewesen, und was ihr entsprossen . . .«

»Oh!« seufzte Benjamin und streckte die Hand aus.

Er vergaß seine gegenwärtige Lage, die Umwelt, seine bescheidene Obliegenheit als Bittsteller. Die Größe und Würde seines Standes kam über ihn wie mit feurigen Zungen. Er wähnte auf der Kanzel des protestantischen Kirchleins zu stehen. Dämmerung umgab ihn. Nur vereinzelte Kerzen und der beinerne Kruzifixus leuchteten aus der Tiefe herüber. Ganz Prediger und Bibelmann, wühlte sich seine Stimme in ein heiliges Pathos hinein und ertönte über Gebühr wie eine Synodalposaune.

»Oh!« rief er abermals aus, »ich weiß es, ich weiß es! In den fallenden Blättern ist ein Rascheln davon, desgleichen in dem Seufzen des Windes. Es geht durch diese Räume mit dem Klageton eines grauen Weibes. Die Wände vernehmen es mit tiefem Entsetzen. Nein und abermals nein: mir ist nichts verborgen geblieben. Die Nacht sieht mich wie ein Götzenbild an. Sie erklärt mir manches. Mir ist Schweres geschehen. Der Herr hat mich also zugerichtet, daß ich nicht aufkommen kann. Er hat seinen Bogen gespannt, die Richtschnur über meine Wohnung gezogen und also gedonnert: Ich bin gesonnen, den Menschen zu erregen wider den Vater, die Tochter wider die Mutter, die Schnur wider die Schwieger, und des Menschen Feinde werden seine eigenen sein.«

»So ist es.«

Der Baron hob sich mühsam aus dem Leder.

»Mein entarteter Sohn . . .« zwirnte er verloren vor sich hin, »meine Verpflichtung dem Staat gegenüber . . . das Fehlen eines rechtlichen Erben . . . O Sie!« und er hatte die Hand des Kandidaten ergriffen, »vielleicht wird mir noch ein sonniger Abend. Jupiter und Alkmene leben noch heute.«

Benjamin stutzte.

Sein Predigerkleid schrumpfelte ein, wurde dünn und fadenscheinig. Die feurigen Zungen, mit denen er noch kurz zuvor aufwarten konnte, verkohlten in sich.

»Wie, was, wo?!« stammelte er mit verbleichenden Lippen. »Herr Baron, Sie sprechen in Rätseln. Ihre Rede ist süße; aber ich verstehe so recht nicht.«

»Herr Kandidat, machen Sie sich keine weiteren Gedanken. Keine Überempfindlichkeit. Vielmehr bitte ich darum, das zu beherzigen, was ich Ihnen noch vor wenigen Augenblicken des längeren dartat. Sie erinnern sich: das Geräusch knisternder Röcke ist wie ein Flügelschlagen von seltsamen Vögeln. Dies zu ergründen, ist die Pflicht eines kundigen Seelsorgers. Das wäre wohl alles. Und nun zum vorläufigen Abschluß: ich werde noch Gelegenheit finden, mich mit Ihnen und Ihrer Zukunft eingehender zu beschäftigen . . . und wohlgemerkt: dieses einzig und allein unter der Assistenz feinfühliger weiblicher Augen. Sie entscheiden vielfach, wie bereits oben vermeldet, über Schicksale, Glücksmöglichkeiten und Gnadenbeweise. Und wenn Sie einwenden sollten: das Weib ist aus minderwertigem Stoff und das Gefäß jeglichen Übels, so sage ich Ihnen,« und um die Mundecken des alten Roués kicherte ein impertinentes Teufelchen, »der Hahn adelt die Hennen, der Mann die Männin. Cherchez la femme, und Sie haben den Schlüssel für jede Geheimschrift. Tout comprendre c'est tout pardonner. Leben Sie wohl. Meine Präsentation ist Ihnen so gut wie gesichert. Daran ist kaum noch zu rütteln. Nur ersuche ich noch um einigen Ausstand. Ich denke, um die Wende des Jahres werden Sie sich Ihrer Gemeinde als wohlordinierter Prediger vorstellen können. Und nun: eine Prise gefällig?«

Die prächtige Dose rückte in greifbare Nähe.

Dazu tinkte und klingelte die Alabasterpendüle wie eine verliebte Sirene, und unter diesem Tinken und Klingeln sah sich Benjamin in eine Welt voller Hoffnungen, Pläne, Zukunftsmöglichkeiten und Überraschungen gedrängelt. Das Firmament mit Geigen verhangen, die Präsentation in der Tasche, er selber berufen, dem erlauchten Hause näherzutreten, aus feinfühligen weiblichen Augen sein späteres Dasein wie aus einem Zauberspiegel zu lesen – alles das machte ihn wirbelsinnig und doch über alle Maßen beseligt, ähnelte einem Himmelschlüsselchen unter einer wohlmeinenden Frühlingssonne, wenn der Schnee sich anschickt zu zerrinnen und stille Tränen zu weinen. Und über diesem Himmelschlüsselchen stand eine jubelnde Lerche.

Benjamin faßte sein Glück nicht; langte aber zu und nieste . . . und niesend verließ er das Kabinett seines Gönners, taumelte niesend über die Schwelle, an dem ehrwürdigen Jean Pierre Knipping vorüber, durch die prächtige Halle . . . trat in den Hof und den Schloßpark hinaus . . . und nieste noch immer . . . und niesend gewahrte er: tausend und abertausend goldgelbe Blätter drehten sich von der hohen, sparrigen Eiche herunter, bedeckten ihn, hüllten ihn ein, umgaben ihn mit einem Dogenmantel von Brokat, machten ihm Himmel und Erde, Mond, Sterne und Meere tributpflichtig.

Und dann eine Stimme . . .


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