Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Neuntes Kapitel

Jean Pierre Knipping und seine Betrachtungen. Ein tête à tête zwischen seriösen Personen, und warum Nelly es nicht vermochte als Jungfrau zu sterben. Ein improvisiertes Abendessen auf Aldekerk. Von Lachsforellen, Rebhühnern und Romanée-Conti. Benjamin Seraphikus Rückert und seine biblische Rede. Ruth-Nelly und Boas-Klabasterboompjes. Würdiges Ausklingen, und wie dabei Christoph Martin Wieland beginnt, seine Schwingen zu regen.

Zwei Tage später bewegte sich Jean Pierre gemessenen Schrittes dem Rentamt zu.

Er war mißlaunig, äußerst mißlaunig und sein verkniffenes Gesicht dazu angetan, diese mißliche Laune auch öffentlich zu bekunden.

Sein Äußeres blieb dabei korrekt, die Schläfenhaare in Form einer Sechs lagen tadellos hingeschmalzt bis zu den Augenwinkeln, die Halsbinde blühte wie immer im lautersten Weiß; aber zwischen den glatten Hasenpfötchen muffelten Nase und Mund wie die eines giftigen Sandkaninchens.

Was er nur haben mochte?

Im Rentamt empfing er einzelne Briefe, die er in der nächsten Umgebung zu befördern hatte.

Mit spitzen Fingern nahm er die Schreiben entgegen.

Er kannte den Inhalt. Er war an solche gerichtet, mit denen er sich in seiner gehobenen Stellung nicht zu befreunden vermochte.

Kurzum, der Auftrag behagte ihm nicht. Obgleich niederen Kreisen entstammt, war er Royalist, Aristokrat, feudal bis in den letzten perlmutternen Gamaschenknopf hinein. Republikanische Gesinnungen lagen ihm fern. Mit Herrschaften – ja, aber mit kleineren Leuten mochte er sich nicht gerne befassen. Plebs, ausschließlich Plebs! und diesen haßte er wie die Wanzen im Kleiderspind aus seinen früheren Tagen. Was verstanden denn solche Proletarier auch von Gueridons mit brennenden Wachslichtern, von getrüffelten Rebhühnern und sprudelfrischen Lachsforellen?

Es war ja zum Lachen.

Und sonst dieser Esprit bei dem gnädigen Herrn!

Nicht zu verstehen.

Er zuckte die Achseln und waltete verärgert des ihm überkommenen Amtes.

So ging er denn hin und beehrte mit gemischten Gefühlen die verstreuten Häuser. Der Auftrag war dringlich und sofortige Antwort geboten.

Nach stündiger Abwesenheit trat er wieder in den Bereich seines eigentlichen Schaffens, atmete auf und besprühte seinen äußeren Menschen mit kölnischem Wasser.

Damit war die Sache erledigt.

Der Baron hatte zu einem einfachen Abendessen geladen.

Ohne Weiterungen.

Ganz schlicht und solide.

Auf Wunsch der Damen hatte man die Grenzen so eng wie nur möglich gezogen. Jegliche Etikette sollte vermieden werden. Nelly wollte keine blendende Aufmachung. Sie war eben gesund und genügsam bis in ihr Spitzentüchlein hinein. An der übertünchten Welt hatte sie satt und genug. Nur biedere Menschen wollte sie sehen, nur solche, die ihr das Bild von Land und Leuten vergegenwärtigen konnten . . . nur ein kleines Fest, ein Garnichts, eine ländliche Szene mit schäferlichem Einschlag . . . und so waren denn, neben einigen Pächtern aus dem Gutsbereich, der Magister und Kantor und der ehrenwerte Kandidatus Benjamin Seraphikus Rückert gebeten. Selbstverständlich: Rinse van Bommel durfte nicht fehlen.

Der Baron war ein Mann von Geist. Dieserhalb hatte er auch von dem Ewigweiblichen aus der nächsten Umgebung Abstand genommen. Mit den Töchtern und Frauen des Landes wußte er nichts anzufangen. Sie schienen ihm nicht diskret genug, tranken keinen Tropfen Chartreuse, rauchten keine Zigaretten, würden dem Besuch überhaupt nicht gefallen. So war es denn nur bei den simplen Männern geblieben.

Aber diese freuten sich mächtig auf den genußreichen Abend.

Den schon vielfach erörterten Adjunkten kennenzulernen, darauf waren die Damen besonders versessen. Vornehmlich Nelly, denn sie schwärmte für das Anheimelnde einer bukolischen Ruhe, für Hirtenlieder und die Sitten und Gebräuche in einem ländlichen Priesterhause. Von Johann Heinrich Voß hatte sie schon manches gehört; auch einzelne Gesänge aus seiner ›Luise‹ und den ganzen ›Siebenzigsten Geburtstag‹ gelesen: »Auf die Postille gebückt, zu seiten des wärmenden Ofens . . .« Das waren doch Marksteine, kernige Auslassungen eines noch nicht von den Sünden und Anfechtungen dieser Welt durchkränkelten Geistes und somit geeignet, ihre Person von den harmonischen Schwingungen eines solchen Daseins umschmeicheln zu lassen.

Die alleinseligmachenden Herren, also die, die den Standpunkt der römisch-katholischen Kirche verfochten, liebte sie weniger. Das Gelübde der ewigen Keuschheit konnte sie bei diesen gesunden Zölibatären nicht fassen. Sie verstand ihre Ehelosigkeit nicht, nicht ihre Sucht, sich auf Schritt und Tritt in Staatssachen und andermanns Angelegenheiten zu mischen. Sie waren ihr zu wenig gepflegt, zu unduldsam, zu abweisend, die reinsten Kampfhähne auf dem größten Misthaufen, sei es in der Stadt, sei es im Dorfe – und Kampfhähne und Misthaufen hatte sie von jeher als unwirtliche Gäste angesehen.

Diesen Standpunkt vertrat auch die ältere Dame.

Bereits am ersten Tage nach ihrer Ankunft war ihnen der junge Kleriker auf einem Spaziergang begegnet, wenn auch nur vorübergehenderweise, aber siehe: Madam hatte bei seinem Anblick sofort den richtigen Faden auf die Spule genommen. Diese kindliche Einfalt und doch diese Urkraft bei ihm, diese männliche Selbstherrlichkeit bei insichgekehrtem und schüchternem Wesen – das alles gefiel ihr, machte sie verbindlich und wohlwollend gegen den Träger des anheimelnden und würdigen Kleides. Nur noch ein wenig äußere Politur, etwas Brillantine und kölnisches Wasser – und der Heros war fertig. Solche Männer können Berge versetzen, ohne dabei den warmen Hauch von schönen Frauenlippen abzuweisen.

Diesen jungen Mann mußte man im Auge behalten; er verdiente es, erhöht und erhoben zu werden, im Kreise edler Menschen den angenehmen Plauderer abzugeben.

So dachte die Alte und war dann mit Nelly unter dem letzten goldgelben und purpurroten Laubfall weitergegangen.

Anderen Tages, und so um die siebente Abendstunde herum, hellten in den Empfangsräumen des Schlosses von Aldekerk die Fenster auf.

Noch fehlten die Gäste. Auch Nelly befand sich noch in ihrem Ankleidezimmer, vor dem großen Spiegel, der ihre ganze üppige Schönheit enthüllte, und strählte ihr stolzes, lohfarbiges Haar, während die Mutter und der Baron sich bereits seit einer kleinen halben Stunde im Arbeitskabinett aufhielten, erfüllt von der Mission, den letzten Schnörkel unter den Pakt ihrer feinfühligen Unterredung zu setzen.

Madam Kalander war äußerst angeregt. Der umfangreiche Pompadour knisterte unter ihren zierlichen Fingern. Ihre silbernen Löckchen, die sich nervös auf und nieder bewegten, schienen gleichsam zu klingeln.

Nelly hatte ihr oft von einer blühenden Hasel gesprochen, wenn sie Hochzeit macht, ihre roten Züngelchen vorstreckt, um sich von den Staubbeutelchen der emsigen Kätzchen überpudern zu lassen; so etwas wie Danae und der goldene Regen.

Dieses Gleichnis gab ihr zu denken. Sie stellte Vergleiche an, und diese Vergleiche paßten so recht nicht in den Kreis ihrer Erwägungen.

Der Baron mit seinen vierundsiebzig Jahren, obgleich er nur sechzig zugeben wollte, saß ihr schräg gegenüber, in aristokratischem Gleichmut, mit übergeschlagenen Beinen und die plattierte Dose spielerisch um ihre Achse drehend.

Seine wohlgepflegten Hände fielen auf. Mit ihnen machte er eine einschmeichelnde Bewegung, würdig und wert im Beisein des galantesten Königs von Frankreich gesehen zu werden.

»Meine Gnädigste,« sagte er mit belegter Stimme, »die sittliche Reife werden Sie mir nicht absprechen können, wenn es auch seltsam erscheint, meine Jahre mit denen Nellys verknüpfen zu wollen. Aber prüfen wir uns. Was wollen wir denn? Nichts weiter, als eine Gemeinschaft des Daseins unter den günstigsten Voraussetzungen. Dabei werden allerdings keine besonders ausgereiften Liebesäpfel gebrochen. Ist auch weiter nicht erforderlich, denn Hauptsache bleibt, in moderner Ehe zu leben und ihre Zukunft sicherzustellen.«

Die silbernen Hängelöckchen spendeten Beifall.

»Also Verpflichtung auf Gegenseitigkeit?«

»So ungefähr, und ich bin gerne erbötig, meine mündlichen Darlegungen auch schriftlich festzulegen.«

»Nicht nötig, Baron. Ihre Worte genügen. Nur möchte ich dabei das Tüpfelchen auf den I-Punkt setzen. Sie wissen: ich habe mich niemals um juristische oder ähnliche Angelegenheiten bekümmert. Weshalb auch? Sie zählen nicht zu dem festen Bestand einer Frauenseele. Höchstens, daß ich mich in einem Whist- oder Pikettpartiechen ergehe. Hier aber,« und sie gefiel sich darin, ihre Worte scharf pointiert nebeneinander zu stellen, »hier aber gebietet das Geschick meines Kindes, die kleinsten Einzelheiten sprechen zu lassen, und ich wäre Ihnen von ganzem Herzen verbunden, wenn Sie noch einmal . . .«

Der Solitär erhob sich wie ein blitzendes Auge.

»Gerne,« unterbrach sie der Jonkheer, »denn auch das Geringfügigste, das hier in Frage steht, ist so preziös zu behandeln wie die Körperchen von Netzflüglern, Rädertierchen oder zarten Molusken. Irgendetwas will sich gegen uns auftürmen. Aber auch hier ist die Barriere zu nehmen. Ich bin kein Neuling, Madam. Ähnliches hatte das niederländische Königshaus zu verzeichnen, und mir wurde die persönliche Ehre, die unangenehme, fast peinliche Situation mehr oder weniger leidlich zu ordnen.«

Die Glasperlen und Stahlsplitterchen am Pompadour klingelten heftig.

»Ah! ich verstehe.«

»So hören Sie denn. Katharina von Medici hatte den Grundsatz: Odiate e aspettate. Hasse und warte. Ich vertrete nicht dieselbe Devise. Hassen – ja, aber nicht warten . . . und so sah sich denn mein mißliebiger Sohn für immer aus diesem Hause verwiesen. Seine letzten Manöver ließen mein Herz bis in die innerste Kammer verstummen, und das, was er mütterlicherseits noch zu beanspruchen hatte, wurde ihm, laut Protokoll, niedergelegt beim Notaris Robbers in Geldern, bereits eingehändigt, kaum noch so viel, Madam Bottertje, Roozendaal-Arnheim, mit einer neuen Abendtoilette zu überraschen. Und er selber, Madam . . .«

Wieder machte er die seltsame und unnachahmliche Bewegung von eben.

»Treibholz!« sagte er mit weher Betonung. »Ihm ist nicht mehr zu helfen. Er ist, um mit Balzac zu sprechen, wie Berthier, der bei der großen Niederlage in Rußland, bei diesem Debakel, dem selbst die ausgehungerten Füchse Tränen nachweinten, den traurigen Mut hatte, den kaiserlichen Bataillonen, die nicht mehr existierten, seine Befehle zu geben und sie noch auf den untergegangenen Stern des großen Korsen schwören zu lassen. Armer Berthier!« und Dirk Negels van Klabasterboompjes bröckelte nachdenklich vor sich hin: »Äh! und kein seliges Ende! In den Wüsteneien und Schneefeldern an der Beresina verklang seine Stimme . . . ersterbend . . . tonlos . . . von keinem vernommen. Höchstens, daß die Aasgeier und Luderkrähen sich über diesen Befehl amüsierten . . . Gekrächze!«

Er lächelte häßlich.

»C'est le cri de la fin. Ich für meine Person fühle mich identisch mit den Wüsteneien und Schneefeldern an der Beresina. Aasgeier und Luderkrähen! Also dies wäre geregelt. Und nun zu Ihrer Tochter, Madam. Die Welt, in der wir leben, ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Aber ich kenne die Welt und mache mich anheischig, ihr in dieser Beziehung ein leuchtendes Vorbild zu setzen. Ich glaube an Nelly, und falls sie gesonnen ist, die Würde und Bürde einer Frau Baronin van Klabasterboompjes zu übernehmen . . .«

»O, Herr Baron . . .

»In diesem Falle, Madam: nach meinem Ableben hätte sie sich als Universalerbin, als Herrin über meinen ganzen Besitzstand, über Pachthöfe, Ländereien, Waldwuchs und Wiesen . . .«

»Hätte sie, hätte sie!« warf die Alte vielsagend ein. »Aber wer garantiert uns das alles? Das Papier ist geduldig, und so meine ich denn: unter gewissen Umständen könnte uns manches zwischen den Händen zerscherbeln. Ich denke dabei an den preußischen und niederländischen Fiskus. Sie würden vorstellig werden, uns mit dem hinterhältigsten Gesetz von der Welt . . .«

»Aber glauben Sie denn, die Klabasterboompjes lassen sich darauf ein, einfach Farben und Wappen zu streichen, sich in die Mühle tragen zu lassen, um dort zerschrotet zu werden? Nein, Madam, wir sind keine Troddel. Blühen wollen wir noch bis in die spätesten Zeiten. Sans peur et sans reproche . . . und nicht nur Sie allein, meine Gnädigste, auch ich habe das vitalste Interesse daran, dem Fiskus auf die gierigen Finger zu klopfen und ihm die nicht zuständige Raufe höher zu hängen.«

»Natürlich, natürlich!« und die silbernen Hängelöckchen verstäubten ein Fülle köstlichen Puders. »Ich verstehe Sie zur Genüge. Kein Zweifel: Ihre Worte sind einwandfrei, bleiben aber ohne weitere Sicherheiten hypothetische Werte. Das vitalste Interesse tut es allein nicht, Wunsch und Wille reichen vielfach nicht aus . . .«

Unter den sondierenden Blicken des Barons verstummte sie plötzlich.

»Madam, Sie sind tapfer.«

»Und Sie mutig, Baron.«

»Warum auch nicht, meine Gnädigste?«

Mit spöttischer Galanterie ließ er seine schweren Augendeckel herunter. Langsam zog er die Luft durch die Goldplomben.

»Ich bin völlig im Bilde,« versetzte er nach einigem Schweigen, »De l'abondance du coeur la bouche parle. So auch bei Ihnen. Bleiben wir auf der Höhe der Situation. Seien wir vorsichtig. Der tarpejische Felsen erhebt sich nicht weit vom Kapitol, und auf dem Kapitol schnattern unberufene Gänse. Ein Gebiet, nicht ohne Gefahr zu betreten, denn auch hier muß ich auf bereits früher Gesagtes zurückgreifen. Sie erinnern sich, Madam: die Körperchen von Netzflüglern, Rädertierchen und zarten Mollusken erfordern zu ihrer Behandlung Hände von superfeiner Gaze. Und Ihre Hände, Madam . . . Außerdem: so ganz allerliebste Hintergedanken . . . Ich meinerseits hoffe unter dem wohltuenden Einfluß Ihrer Fräulein Tochter um fünfundzwanzig Jahre jünger zu werden. Ich ersehne dabei nicht einen jauchzenden Frühling, wohl aber einen Sommer in lauterer Vollreife. Allerdings, wie Sie betonen, Wunsch und Wille reichen vielfach nicht aus . . . Unüberwindliche Schwierigkeiten werden sich ihnen entgegenstellen . . . Schon möglich. Aber warum sollte es nicht angängig sein, diese Schwierigkeiten abzutun, indem man ihnen das Schwänzchen kupiert, genau so, wie es der edle Grieche bei seinem Hündchen besorgte? Alle Bedenken, selbst die hoffnungslosesten, lassen sich bei geeigneter Einsicht und bei wechselseitigem Vertrauen mehr oder weniger abstellen. Hier meine Hand. Sie verpflichtet sich, die äußersten Erbschaftsmöglichkeiten Ihrer Fräulein Tochter gegenüber durchzufechten und bis auf den letzten Rest zu erfüllen. Es wird mir dabei eine besondere Ehre sein, dem Fiskus ein Schnippchen zu schlagen. Also Madam . . .« und Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, geruhte wieder, seine müden Augendeckel zu heben. »Sie sehen also, ich weiß Ihren Besorgnissen und Zweifeln Rechnung zu tragen.«

Madam, von dieser Offenherzigkeit und Delikatesse berauscht, suchte verlegen in ihrem Pompadour herum, ohne den Mut zu haben, ihren Dank abzustatten.

Nur einige Worte konnte sie stammeln: »Mon Chevalier, nein – mein lieber Baron . . .«

Der Alte kraute sich den Adlerflaum seitlich der erhitzten Schläfen.

»Also genehmigt?«

»Genehmigt, denn Nelly würde es nicht überwinden, als Jungfrau sterben zu müssen.«

Der Baron atmete auf.

Ein sanftangeschlagenes Klingelzeichen lief durch die weiten Flure und Gänge.

Kaum hörbar klopfte es an.

»Madam, Ihren Arm . . .« und keine Viertelstunde verging, da saßen die Geladenen und Schloßinsassen an sorglich gespreiteter Tafel, unter dem brillanten Glanz eines sonnigen Lüsters. Madam zur Linken des Jonkheern, Nelly zur Rechten, ihnen gegenüber Rinse van Bommel, der Magister und Benjamin Seraphikus Rückert. Einige Pächter von den zunächst gelegenen Höfen, seßhafte Leute mit breiten und kantigen Gesichtern, schlossen sich an, alle steif wie Pagoden und geblendet von der diskreten Aufmachung eines vornehmen Hauses.

Jean Pierre Knipping, goldbetreßt, in Eskarpins und Schnallenschuhen, der ewiggleiche, der selbstgefällige Herr mit den ehernen und doch verbindlichen Zügen, den glattrasierten, bläulichen Wangen und den untergeschlagenen Armen, stand mit kühler und abwägender Ruhe am Eingang des Saales und dirigierte lediglich mit der imperatorischen Kälte seines Gesichtes und dem eisigen Blick seiner Augen Lakaien, Weine und Speisen, nicht ohne dabei geringschätzige Zwinker auf Kosman Theophil Banning und den ehrenwerten Adjunkten zu werfen, der in seiner neuen Gewandung, seinem kindlichen, teutonischen Wesen an einen frischgewaschenen Johannes den Täufer gemahnte, nur, daß dieser eine grobe Kamelschur, jener einen Anzug aus englischem Stoff trug, dieser lediglich wilden Wüstenhonig und Heuschrecken, jener Lachsforelle und Rebhuhn verspeiste.

Der würdige Herr nicht, aber die beiden Damen, Madam Kalander und Nelly, bekundeten eine lebhafte Teilnahme für ihn, wechselten verständnisinnige Blicke und tuschelten heimlich zusammen.

Im übrigen: peinliches Schweigen, nur unterbrochen von den Interjektionen des Barons und den silberigen Kehllauten Nellys, denen alsbald ein allgemeines Auftauen folgte.

Zwischen Lachsforelle und Rebhuhn wagte es der emeritierte Magister schon aus seiner reservierten Haltung zu treten und sich freier zu geben. Mit Rücksicht auf den hohen Besuch, auf seine Kenntnis des evangelischen Kirchengesanges, schlug er einen musikalischen Ton an.

»Wenn es erlaubt ist, zu reden,« sagte er, indem er die Serviette beiseite legte, »möchte ich dem Kompositeur Johannes Sebastian Bach, derzeitigen Direktor und Kantor an der Thomaskirche zu Leipzig, die Krone zusprechen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nelly.

»Als Meister auf der Orgel und dem Klavizimbel, verstieg sich seine Kunst ins Übermenschliche. Seine Geburtstags-, Namenstags- und Trauermusiken, sowie sein ›Wohltemperiertes Klavier‹ haben noch nicht ihresgleichen gefunden. Sie reden mit Engelszungen.«

»Ich kenne sie nicht,« lächelte Nelly.

»Auch seine ›Matthäus-Passion‹ nicht und die gewaltige Baßpartie nicht: ›Gebt mir meinen Jesum wieder‹?«

»Auch das nicht.«

»Was?! Auch nicht sein imponierendes, überwältigendes ›Immanuel, du süßes Wort‹? Auch das kennen Sie nicht?«

»Ich muß leider bedauern.«

»O, Mademoiselle, das bedeutet aber für Ihre Kunst eine bedeutsame Lücke!«

Sie kicherte und lorgnettierte den Offenherzigen von oben bis unten.

Madam räusperte sich: »Geschmäcker, mein Lieber! Mit Johann Sebastian Bach lassen sich heute keine Konzertsäle füllen. Schon eher mit Mozart. Meine Tochter bevorzugt leichte Musik. Auch ein Gespräch über diese liegt ihr näher. Oder glauben Sie, Lachsforellen eigneten sich als Beigabe zu einer schwertönigen Fuge dieses Orgelvirtuosen?«

»Allerdings – nein.«

»Oder ›Immanuel, du süßes Wort‹ paßte zu Rebhühnern?«

»Aber für Kirchen, Madam, für Kirchen und Schulen!«

»Nelly singt aber nicht für Kirchen und Schulen. Ihre Begabung ringt nach Höherem, nach dem Schmelz zarter Kanzonetten und tänzelnder Arien. Jeder in seinem Fach, Herr Schulmeister . . .«

»Ja, so,« sagte Kosman Theophil Banning und sah beschämt auf seinen Teller.

Eine peinliche Stille folgte, die Rinse van Bommel geschickt zu überbrücken versuchte. Er bestrebte sich, den Mittelsmann abzugeben und führte die Damen im Geiste durch den weitverzweigten Besitz und das fruchtbare Labyrinth eines wahrhaft königlichen niederrheinischen Edelsitzes. Er zeigte ihnen die Pachthöfe, die Schleusenwehre und Dämme, die gepflegten Wälder mit ihren Gestellen und Schneisen, die Äcker und Wiesen, die sich bis nach Holland erstreckten, und als nun die Trüffelpastete erschien, der Romanée-Conti gleich böhmischen Granaten in den hohen Kelchen funkelte, glaubte Benjamin, angefeuert durch die gütigen Blicke Nellys, auch seinerseits einige Worte sagen zu müssen, verstummte jedoch, als der eisige Herr am Eingang des Saales ihn mit seinen grauen, undurchdringlichen Lichtern gleichsam wie mit den Augen der fürchterlichen Guillotine berührte.

Das Nahen einer schleichenden Kobra wäre für ihn weniger lähmend gewesen.

Der Jonkheer, der seine Anstalten bemerkt haben mochte, hielt die Pastete zurück, legte Gabel und Messer beiseite und sah erwartungsvoll auf den Candidatus reverendi ministerii.

»Nun, Herr Adjunktus, ich dächte . . .«

Kosman Theophil Banning, der sich inzwischen von seiner Abfuhr erholt hatte, warf sich für seinen Schützling energisch ins Mittel.

»Herr Baron, meine Damen und Herren . . .« und seine Stimme gefiel sich in der Klangfarbe einer siderischen Orgel. Den Kompositeur Johannes Sebastian Bach, den einstigen Direktor und Kantor an der Thomaskirche in Leipzig, ließ er kurzerhand unter den Tisch fallen. Ebenso seine Kunst auf Klavizimbel und Orgel, das überwältigende ›Immanuel, du süßes Wort‹ und die gewaltige Baßarie ›Gebt mir meinen Jesum wieder‹. Auch seinen eigenen Unmut. Lachsforelle, Rebhuhn und Trüffelpastete hatten ihn eingefangen. Außerdem: die Stunde regierte. Eine höhere Pflicht lag ihm ob. Für Benjamin galt es, Zeit zu gewinnen, ihm die Möglichkeit zu geben, seine Gedanken zu ordnen. So sagte er denn: »Herr Baron, meine Damen und Herren! Wenn es erlaubt ist, zu reden . . . Der üppige Glanz blendet die Sinne. Und erst die Genüsse! Ich glaube schwerlich, daß selbst der vielgepriesene Trimalch eine größere Auswahl zu bieten vermochte. Was Feld, Luft und Wasser in sich bergen, ist überreichlich vorhanden. Und erst die Damen, die diese Tafel verschönen! Wir, die schlichten und einfachen Männer aus hiesiger Gegend, müssen uns an diesen Anblick gewöhnen. Entblößte Schultern, umkrustet von Perlen und seltenen Steinen, sind Raritäten, die wir wohl nie oder äußerst selten vor Augen bekommen. Das mag zur Entschuldigung dienen. Ich selber bin berauscht von diesem Sehen, von diesem Schmecken und all dieser Güte, ich, Kosman Theophil Banning, emeritierter Magister und Kantor. Wie sollte da ein ordinierter Adjunktus . . .! und wenn er auch nicht unedlen Herkommens ist und sich rühmen darf, Blut von der Gräfin Katharina Kolbe-Wartenberg, einer geborenen seines eigenen Namens, in den Adern zu haben: Benjamin Seraphikus Rückert gehört zu den Stillen und Auserwählten am Niederrhein. Aber des bin ich sicher: er wird nicht ermangeln, später zu reden. Doch wenn ich nicht irre: der Herr Baron werden zuvor Gelegenheit nehmen, ihm die diesbezüglichen Wege zu zeigen. Wir würden uns freuen, solches aus erlauchtem Munde bestätigt zu finden.«

Er sah scharf über die Tafel.

»Allerdings,« sagte der Jonkheer, erhob sich, und seine Hand legte sich schmeichelnd auf die der gefeierten Nelly, »allerdings, meine Lieben. Sie kennen mein Dasein, meine Bestrebungen und stille Werktätigkeit. Sie wissen, was ich durchlebte, durchleben mußte, was mir die Tage einsam und traurig gestaltete.«

Rinse pflichtete ihm bei und sah mit tellergroßen Augen auf die wunderlichen Blüten, die in den hohen Stengelgläsern vor heimlicher Sehnsucht zu ersterben schienen.

Ja, er kannte die Not seines Herrn.

Auch der undurchdringliche Mann am Eingang des Saales wußte darum. Seine Blicke perlmutterten. Langsam und feierlich stellte er die Fingerspitzen gegeneinander.

Dirk Negels van Klabasterboompjes fuhr fort: »Java und die javanische See sahen mich glücklich. Das Meer rauschte mir zu, und die Sterne jener unvergleichlichen Nächte winkten mir ihre Grüße herunter. Im Dienst meines Königs, im Ringen für das wahrhaft Große und Schöne sah ich mich berechtigt, auf einen angenehmen und erquicklichen Lebensabend zu hoffen. Und jetzt, meine Herren?! Ich sehe umher und finde: es ist einsam um mich geworden. Mein Haus steht verwaist, und in seinen Räumen wohnt das Alleinsein einer müden und zermarterten Seele.«

Er seufzte auf.

Madam Kalander drückte sich ihr Spitzentüchlein gegen die Lippen.

»Seit all diesen Tagen standen meine Farben auf Halbmast. Nur graue Vögel umflatterten mich, Vögel einer tiefen Verstimmung und solche, die mir von einem Nichtswürdigen erzählten. Ich verscheuchte sie, will nichts mehr hören von ihnen. Das Gekrächze war überlaut und fraß mir das letzte Erbarmen aus meinem Herzen. Fort mit ihm. Eine bessere Zeit bricht an. Auch nach meinem Tode soll jeder schlichte Mann allsonntags sein Huhn im Topfe haben. Car tel est notre plaisir. Dies ist mein Wille. Um ihm Rechnung zu tragen: sah ich mich verpflichtet, ein neues Reis auf den alten Stamm meines Geschlechtes zu pfropfen . . . und Sie, meine Herren, sind die ersten, hiervon Kenntnis zu nehmen, denn nur liebe und bedachtsame Menschen können diesen meinen Entschluß vollkommen bemessen, ihm ihr Verständnis entgegenbringen.«

Der Solitär zog einen langen und flirrenden Streifen.

»In Mademoiselle Nelly Kalander sehen Sie Ihre zukünftige Herrin.«

»Ah!« rief Madam, »wenn das noch unser Kreuzfahrer erlebt hätte! Aber ich bitte: Nelly Lerche von Kalander, mein lieber Baron!«

»Gut, also diese!«

Die gesprochenen Worte atmeten Eleganz und Würde.

Kein Auge war trocken geblieben. Erst Schweigen, dann brausender Zuruf. Selbst Jean Pierre Knipping geruhte, zustimmend den Hals aus der blütenweißen Krawatte zu heben und dreimal zu nicken.

Im Romanée-Conti wurde die überraschende Kunde gefeiert. Auch der unnahbare Herr am Eingang des Saales benutzte die Gelegenheit, sich für einen Augenblick zu absentieren und in der Anrichte ein Glas zu erwischen.

Und Nelly . . .?! Ihre Blicke flimmerten, opalisierten wie Mondsteine; ihr Busen, mit dem rosigen Flaum eines Pfirsichs überhaucht, bläulich geädert, in einer Flut von keuschen Spitzen wohlig gebettet, hob und senkte sich mit dem unsagbaren Reiz einer unter einem sanften Passatwind liegenden Dünung: eine sinnfällige Verschmelzung von Abwehr und heißem Begehren . . . und während noch die Kelchgläser ihr artiges Spiel trieben, Rinse sich stolz in die Brust warf und Madam einige anerkennende Worte an den Magister richtete, wandte sich der Baron an den jungen Kleriker, beehrte ihn mit einer zutunlichen Geste und meinte: »Nun, Herr Adjunktus, nicht länger gezögert. Die Stunde ist günstig. Jetzt noch säumig zu sein, hieße sich strafbar machen. Herz und Zunge müssen sich harmonisch finden. Sie haben Zeit und Gelegenheit, sich in die Neigung der Damen einzuschmeicheln. Es wird sich verlohnen. Gedenken Sie des Wortes: Penser, vivre et mourir en roi . . . und was den Königen ziemt, daran darf ein ordinierter Adjunktus nicht Not leiden.«

Er setzte sich wieder.

Alle Blicke waren auf den Angeforderten gerichtet.

»Meine Damen, Herr Baron . . .

Da stand nun Benjamin Seraphikus Rückert vor seinem Glase mit Romanée-Conti, nicht mehr der Mann verschüchterten und befangenen Geistes; nein, angefeuert durch die belebenden Worte des Jonkheern, hingerissen von dem jungen Weib, das ihn mit ihren irreführenden Blicken versengte, streifte er sein einfaches Priestergewand ab, umkleidete sich mit dem Purpur eines Großen, eines Berufenen in Sion, willens, das ›Penser, vivre et mourir en roi‹ bis zur letzten Hefe auszukosten. Den Antinouskopf zuversichtlich gehoben, die Hände vor sich gestemmt, den starken, geschmeidigen Körper mit der Kraft eines Musketiers der Nobelgarde dehnend und streckend, sah er in einen ungewissen Feuerschein.

Zuerst blendeten ihn die zuckenden Flämmchen in Nähe und Ferne, der Prunk der Umgebung, die weißen Schultern Nellys, zu denen er zeitweilig hinschweifen mußte, die verdrießlichen Blicke des kalten und nüchternen Herrn am Eingang des Saales, die ihm trotz ihrer Starrheit das häßliche Bild einer näher züngelnden Kobra vergegenwärtigten. Auch seine Gedanken wollten sich anfangs seinem Willen nicht anpassen. Immer wieder flatterten sie gleich aufgestöberten Vögeln an das Gitterwerk ihres vergoldeten Käfigs, zerstießen sich ihr Gefieder und taumelten abwärts. Dann aber zerbrach er das enge Gefängnis, diese Begräbnisstätte hoher Eingebungen, breitete die Arme und wurde Herr der gefährlichen Krise. Freiheit, Freiheit! und seine Worte kreisten gleich langsam dahinschwimmenden Falken unter einem azurenen Himmelreich.

»Herr Baron, meine Damen!« also begann er. »Ich bin mit dem ehrwürdigen Prediger von Wakefield immer der Meinung gewesen, daß der rechtschaffene Mann, der ein Weib genommen und mit ihm Kinder erzeugte, mehr Gutes gestiftet hat, als der Hagestolz, der von Bevölkerung nur redet. Ähnlich deute ich auch die kurz zuvor gesprochenen Darlegungen unseres gnädigen Suzeräns und Grundherrn. Wie jener, so wählte auch er eine Lebensgefährtin, aber klüglicher und weiser denn jener, sintemalen er nicht nur auf dauernde innere Vorzüge sah, sondern diese inneren Vorzüge auch mit blendender Schönheit verknüpfte.«

Madam nickte befriedigt.

Benjamin sah es, und sein Geist arbeitete stärker.

Mit herrischer Gewalt schlug er die ehernen Tore der heiligen Schrift auf. Nicht die der Evangelien, sondern die des Alten Testamentes und trat in den Tempel, wo die Cherubim mit den rauschenden Flügeln vor der Bundeslade schilderten . . . und der Glanz des siebenarmigen Leuchters fiel über ihn her wie mit den Strahlen des Goldes von Ophir.

Er sah den Brandaltar rauchen, er fühlte sich als hoher Levit im weißen Gewand mit läutenden Glöckchen. Ein feierlicher Ton klang ihm zu wie das Fallen von Metalltropfen in eine Bronzeschale. Er hörte die Palmen rauschen, die Palmen in der Ebene von Ephraim und Juda. Mais- und Weizenfelder taten sich vor ihm aus, und schwül dufteten die Rosen aus den Gärten von Saron.

»Ich führe Sie alle in biblische Zeiten,« fuhr er getragener fort, »in die Zeiten des Heils, als die Richter das Zepter hielten und noch schlichte Sitten die Herzen der Menschen nicht irreleiteten. Lasset uns dieser Zeiten gedenken, denn siehe: es kam eine, namens Naemi gegangen« – und er blickte sorglich auf Madam mit den gepuderten Löckchen – »und sie kam still ihres Weges, um nach manchen Gefährden und Bitternissen wiederum das Land ihrer Sehnsucht aufzusuchen. So pilgerte sie denn nach Bethlehem-Juda und führte ihre Schnur, die Moabiterin, an ihrer Rechten, auf daß es ihr wohlerginge im Reiche der Väter. Die Schnur aber nannte sich Ruth. Hört die Bedeutung, versenkt euch in das herzerquickende Gleichnis! Ruth-Nelly, o  dieser Name! wie einfach er klingt und doch wie allversöhnend und köstlich? Und finden wir Schöneres als die Worte aus dem Munde dieses einfachen Weibes?« und seine Augen umfaßten die Sängerin in ihrer ganzen Unschuld und Reinheit: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott der meine. O wie schlicht sind diese Worte und doch wie allversöhnend und köstlich! Und da geschah es, daß Ruth-Nelly den mächtigen Boas-Klabasterboompjes auf seinen Feldern gewahrte, als sie auf Naemis Geheiß die Ähren sammelte, die übriggeblieben waren von dem reichen Ertrage des Ackers. Und Boas-Klabasterboompjes – o wie stark ist sein Name und wie allversöhnend und köstlich! – redete sie an: Lange her deinen Mantel und halte ihn zu. Und sie tat, wie er sagte. Er jedoch maß sechs Maß Gerste hinein und legte es auf sie. O meine Lieben! wem ist da nicht zumute wie bei einem warmen Herdfeuer, wie beim Lesen einer Handpostille an traulichen Winterabenden? Wer muß da nicht an Schloß Aldekerk denken, an seine Fluren und Äcker, an seine laubschweren Wälder mit ihrer ewigen Orgelmusik und den Mysterien ihrer träumerischen Schatten?! O Ruth, in diesen Schatten ist wohl sein! – Und Boas-KIabasterboompjes nahm sie zum Weibe und machte sie fruchtbar . . . und Naemi, die gute« – und abermals fiel ein inniger Blick auf Madam, die, eine glückliche Schwiegermutter, versonnen in den Kerzenglanz blinzelte – »und Naemi, die gute, machte ein stilles Gesicht, denn die Weiber kamen und brachten Leinwand und Arnikatinktur und sagten: Ein Kind ist geboren . . . und sie hießen es Obed. Und Boas-Klabasterboompjes zeugete Obed, und Obed zeugete Isai, und Isai zeugete David. O wie einfach sind diese Worte und doch wie erhaben! In diesem Gleichnis erkennet die Zeit, die jetzige Stunde. Auch hier wird ein Erbe erstehen, auch hier werden die Weiber erscheinen, Leinwand und Arnikatinktur zutragen und jubeln: Ein Kind ist geboren . . . ein Erbe . . . ein Gottsucher und Finder! Und dieser Erbe – er lebe!«

»Er lebe, er lebe!« und um Benjamin drängten sich liebe Menschen, drängten sich Madam und der Jonkheer, drängten sich die Pächter, Rinse van Bommel und Kosman Theophil Banning . . . und Nelly erschien, berührte ihn unauffällig mit dem köstlichen Rund ihres Armes, wie eine Verschämte.

Auch Jean Pierre Knipping hatte sich gewandelt und einen andern Adam übergezogen. Seine Mundecken verzogen sich zu einem wenigstens nicht abweisenden Grinsen. Benjamin war offensichtlich in seiner Achtung gestiegen.

Nun konnte die Trüffelpastete erscheinen, und sie erschien bei perlendem Sekt in hohen Gläsern.

Die Stimmung wurde immer freier und gehobener.

Der Magister trudelte aus einem Himmel in den anderen hinein.

Der Gastgeber machte schon Gebrauch von seinem Herrenrecht, ließ die Schnupftabaksdose zirkulieren und erklärte langatmig die etwas delikate Geschichte von Zeus und Europa. Dabei nahm er die Gelegenheit wahr, seiner nunmehrigen Braut mit zitterigen Fingern über den weißen Nacken zu liebeln.

»Du,« meinte Nelly, »wenn es eben angeht, so muß er unser Prediger werden.«

»Nach dieser Rede – gewißlich. Ich bin selbst aufs höchste überrascht. Aber warten wir ab. Zeit bringt Rosen, Geliebte. Mein Rentmeister weiß davon. Die Präsentation dürfte um die Wende des Jahres . . .«

»Muß sie, muß sie,« fiel Madam eifrig dazwischen. »Selten ist mir ein solcher Kanzelredner begegnet. Alles an ihm ist sprudelfrisches Empfangen und Weitergeben. Dazu diese Männlichkeit, diese seltsame Einwirkung auf Frauenherzen. Ich kann es nicht sagen, was ich empfinde. Aber ich habe das Unterbewußtsein: manches Schäflein würde sich wohl in seiner Hürde befinden, manche schlummernde Knospe durch ihn ins Dasein gerufen werden. Nur noch etwas Pflege und kölnisches Wasser, wie ich Nelly schon sagte, und wir dürfen bei einiger Kontenance das weitere dem lieben Gott und der Vorsehung überlassen.«

So Madam, und sie trank Benjamin zu.

»Herr Kandidat . . .

»Ich ersterbe, Madam . . .« und als nach aufgehobener Tafel Nelly sich wieder an Benjamin wandte, ihn in ein längeres Gespräch zog und die große Fülle seines tiefen Wissens erkannte, wagte er es, ihr die Fingerspitzen zu küssen und die Worte zu stammeln: »O Kristalline!«

Sie sah ihn betroffen an.

»Woher dieser Name?«

»Aus den ›Abenteuern des Don Sylvia von Rosalva‹, meine Gnädigste.«

»Vom wem geschrieben?«

»Vom göttlichen Wieland.«

»Herr Kandidat, ich hörte davon, und meine Bitte wäre: lehren Sie mich Wieland verstehen, ihn und seine Werke.«

Sie warf sich herum.

»Nicht wahr, Dirkchen, der Herr Adjunktus wird die Freundlichkeit haben, mich in das Klassische einzuführen. Es liegt mir so unendlich fern. Ich möchte dieses Manko beheben. Vornehmlich mit Rücksicht auf Wieland.«

»Er wird es, sobald Schloß Aldekerk die Genugtuung hat, dich als Herrin zu sehen.«

Madam, die mit dem größten Interesse der kurzen Unterredung gefolgt war, nickte Beifall.

»Ein Segen für die verwaiste Gemeinde!«

Erst spät trennte man sich . . . und den Kopf angefüllt mit Schwarmgeistern und das Geblüt voller Romanée-Conti, trat Benjamin in Begleitung des Magisters in die Herbstnacht hinaus, die ihnen zuflüsterte: »Nie war eine Nacht so schön und trunken, wie ich bin, nie wird eine schönere und trunkenere kommen, selbst dann nicht, wenn die Zentifolien ihre purpurroten Kelche entfalten.«


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