Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Erstes Kapitel

O du mein Niederrhein! Die Menschen dicht an der holländischen Grenze machen lange Gesichter. Auch das Wetter ist mürrisch. Warum der Predigtamtskandidat Benjamin Seraphikus Rückert die Hände gegeneinander schurfelt und in die vergrämelte Gegend hinaussieht. Was sich weiter begibt, und warum er nicht hört, daß angeklopft wird.

Die Gnade des Herrn sei mit diesem Büchlein. Er beschütze und benediciere es, er gebe ihm freies Geleit und die Wohltat eines anständigen Viatikums, soll es doch anmuten wie ein Märlein aus den Erzählungen der tausend Nächte und der einen Nacht. Möge es die Herzen erfreuen, sie aneinander schmiegen und ihnen wohltuen, »bis zu ihnen kommt der Vernichter der Wonnen und der Trenner aller Gemeinschaft, der Entvölkerer der Städte und der Sammler für die Totenäcker, und sie entrückt in das Erbarmen des ewigen Gottes.«

Anno Domini achtzehnhundert und Ende der dreißiger Jahre.

Bedrohliche Zeichen standen zwischen Himmel und Erde, ließen sich nieder, rüttelten an Türen und Toren und sahen grinsend in die Häuser friedfertiger Menschen.

Die glorreichen Errungenschaften der französischen Revolution begannen auch am Niederrhein ihre Fledermausflügel zu regen. Und weiter . . . Die Juliordonnanzen mit dem gefährlichen Schlagwort: »Der König herrscht nur, aber regiert nicht,« verwirrte die Köpfe. Vom verlotterten Belgien her wurde der Aufstand gemeldet. Die Brabançonne beschmutzte die Grenze, der radikale Poet aus der Bolkerstraße in Düsseldorf prägte die Worte: »Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise – fort ist meine Sehnsucht und Ruhe! Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme« . . . und drüben von Köln aus rief der neue Erzbischof Droste zum Konflikt mit der preußischen Krone. Ganz befangen in kirchlichen Vorstellungen, war ihm die Staatsgewalt des protestantischen Königs ein Dorn im Auge und ein Greuel vor dem Herrn. Belgische Emissäre, nichtsnutzige Gesellen, schürten das Feuer, bis alles in Brunst und Brand aufloderte. Dort hinein paffte noch der starrköpfige Prälat seinen giftigen Pfeifenschwaden.

Da war es.

In Dingsda, in Aldekerk, dicht an der holländischen Grenze, machten die Menschen lange Gesichter.

Auch das Wetter war mürrisch.

Regenschwer zogen sich die dunklen Wälder bis in die Betuwe hinein. Auf den abgeernteten Feldern gluckerten die Wässerchen. In Dunst und Nebel schwelten die Kartoffelfeuerchen, flackerten auf, um wieder müde in sich zusammenzuknistern und bläuliche Fäden über Wiesen und Triften zu zwirnen.

Dorf und Schloß Aldekerk standen in triefenden Ölröcken.

Im Predigergarten, dicht neben dem verwahrlosten protestantischen Kirchlein, saß ein Rotkehlchen im Spillbaum und dämmerte seine anspruchslose Strophe in das graue Land meiner Jugend hinein.

O du meine Heimat! Die Liebe zu ihr wertet immer und ewig, läßt sich nicht abweisen, nimmt den Weg selbst über steinichte Pfade. Ach, und die Sehnsucht! Sie ist wie eine selige Schwalbe.

So auch meine Liebe und Sehnsucht.

Drum hört jetzt . . .

* * *

Der Predigtamtskandidat Benjamin Seraphikus Rückert rieb sich die schweren Hände so kräftig und nachhaltig, daß sie wie trockene Waschhölzer gegeneinander schurfelten, trat ans Fenster und sah durch die angelaufenen Scheiben in die Gegend hinaus.

In dem gewaltigen Körper mit dem Antinouskopf wohnte eine scheue und kindliche Seele, eine scheue und kindliche Seele, die zeitweilig wie ein Falter über Blumen zu schaukeln vermochte, den Honigseim naschte, sich unbekümmert des Daseins erfreute, um gleich darauf unter eben diesen Blumen zu sterben. Wäre der selige Primrose, der Landprediger von Wakefield, wieder lebendig geworden, hätte sich neben unseren Kandidaten gestellt und seine gütigen Augen erhoben, er und Benjamin Seraphikus Rückert wären zum Verwechseln ähnlich gewesen. Kein Falsch in ihm, keine hierarchischen Gelüste. Er gemahnte an einen, wie Oliver Goldsmith behauptet, der bereit ist, zu lehren, und bereit, zu gehorchen, schlicht und einfach im Glück und erhaben im Unglück. Alle seine Abenteuer spielten sich zwischen seinen vier Pfählen ab, und seine Hauptwanderungen erstreckten sich von seiner blaugestrichenen Bettstelle bis zu seiner wurmstichigen Schreibkommode, just so, wie der ehrsame Landprediger von Wakefield seine Tage und Nächte verbrachte.

Sein sorglich gepflegtes Priesterröcklein war abgewetzt, fadenscheinig, mit den untrüglichen Spuren armseliger Zeitläufte behaftet, seine untere Bekleidung zu kurz, an den Knien glänzend, wehmütig lächelnd, gleichsam mit einem Bohner gestriegelt, und dennoch: unter diesem schlichten Gewand plätscherte ein reger Geist, eine gottwohlgefällige Sorglosigkeit, ein kräftiger Glaube und, wie schon eben gesagt, das zutunliche Gemüt eines Kindes.

Nur heute hatte es mit dem vergnüglichen Plätschern seine absonderlichen Nucken und Naupen.

Es wollte so recht nicht.

Krause Bedenken, Zweifel und Nöte hatten sich an ihn geworfen wie lästige Bremsen.

Dazu dieses Schlackerwetter, dieses Triefen und Träufeln! Wasserhütchen hoben und senkten sich aus den Rinnsalen der schmutzigen Dorfstraße. Überall ein Schlürfen und Seufzen, ein Gurgeln und Rieseln. Die Bäume da draußen standen wie Totenbeterinnen nebeneinander, stumm wie die grauen Lemuren, und nur wenn der nasse Wind ihnen die falben Röcke aufstöberte, begannen sie in wehen Lauten zu stammeln und traurig ihre düsteren Beguinenhollen zu fälteln.

Und so geschah es denn auch: Benjamin Seraphikus Rückert fröstelte an Leib und Seele, denn die Stätte, auf der er fußte, war unsicher geworden, glitschig und unzuverläßlich wie das Parkett am kleinen Fürstenhofe zu Nirgendwo und Nirgendheim. Ach, und seine sorglich aufgepäppelte Hoffnung! Sie ähnelte einem aufgebäumten Vogel, der jeden Augenblick auf Nimmerwiedersehen abfliegen wollte.

O diese Zeitläufte!

Aldekerk war eine protestantische Enklave inmitten einer stockkatholischen Gegend. Fette Kleriker der alleinseligmachenden Fakultät umzingelten sie, herausfordernde Glocken in weitbauchigen Krinolinen umläuteten sie, wohlgenährte, stiernackige Niederungsbauern nahmen ihr Luft und Atem und die Bequemlichkeit, sich das Leben auszubauen und ersprießlich zu machen. Von ihr galt nicht das geflügelte Wort: Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet. Ein unzureichendes Lämpchen, vermickert und schwelend, fristete sie ihr kärgliches Dasein, sich sehnend nach frischem Docht und der Spende wohltuenden Öles.

So standen die Dinge.

Zwei Jahre bereits hatte Benjamin dem siechen Prediger Abraham Nacken als Hilfsprediger zur Seite gestanden, gütig und selbstlos, nicht wissend, was die Linke tat und die Rechte ausgab, und von dem festen Glauben beseelt, nach dem Ableben des gebrechlichen Herrn in die verwaiste Stelle zu rücken . . . und als dieser vor Monatsfrist das Zeitliche segnete, wähnte er nach abgetaner Trauer Zimbeln und Harfen zu hören, die da jubelten und sangen: »Weide meine Schafe, weide meine Lämmer, Kraft deines Amtes, von nun an bis zu der Stunde, wo der Herr dir gebietet: Benjamin Seraphikus Rückert, rüste dich zur Pilgerfahrt, sei fröhlich im Geiste, denn du sollst zu mir in das himmlische Jerusalem kommen. Halleluja! Dort ist dir eine Stätte bereitet. Der Gnade bist du teilhaftig, für immer und ewig.«

Kein Zweifel: die Zimbeln und Aeolsharfen klangen ihm zu, er vernahm sie bei Tages- und Nachtzeit, im Wachen und Träumen; auch die Gemeinde wollte ihm wohl, petitionierte bis in die höchsten Instanzen hinein, bis jetzt leider vergeblich, denn der Patronatsherr Dirk Negels Baron und Jonkheer van Klabasterboompjes, Erbherr aus Aldekerk, der das Präsentationsrecht auszuüben hatte, war bisher abweisend, stumm und insichgekehrt wie ein Spiegelkarpfen geblieben.

O dieser Jonkheer! und der hoffnungsselige und doch hoffnungsbange Kandidat stand noch immer am Fenster, rieb sich die Hände und sah in die Gegend hinaus.

Draußen noch immer dasselbe: ein Träufeln und Rieseln, und in diesem Träufeln und Rieseln Schloß Aldekerk, eingebettet in einem kreisrunden Wasser und mürrischen Bäumen, von Krähen bevölkert, die ein ohrenbetäubendes Lärmen vollführten, und hier unter der niedrigen Decke: nur windschiefe, weißgekalkte, leere Wände, einsam, verstockt, und zwischen ihnen nichts zu finden als die karge Bestallung eines abgelederten, genügsamen Kostgängers des Herrn: ein blaugestrichenes Bett, ein Sofa, eine Kommode aus Kirschbaumholz, ein wackeliges Bücherspind, ein Tischlein und diverse Stühle, das Vermächtnis des Heimgegangenen Pastors, denn auch er war habelos wie ein Kirchenmäuserich gewesen, sonder Hausfrau und Kinder, aber zufrieden in Gott, auf den Ewigen bauend und den Menschen ein Trost und ein Wohlgefallen, wie nicht mehr zu finden.

So auch Benjamin Seraphikus Rückert . . . indessen: der selige Herr hatte ein Dach über dem Haupte gehabt und eine Stelle bekleidet, die ihn vor des Lebens Pein und Notdurft behütet, wenn auch nur schwächlich, nur andeutungsweise, während der Amtskandidat . . . ach, du mein Göttchen! da war gar nichts zu haben, nicht das Geringste. Mit äußerst dürftigen Fasern und Fühlerchen wurzelte er an, und wenn der Jonkheer Dirk Negels van Klabasterboompjes sich auch fernerhin in der Rolle eines Spiegelkarpfens gefiel, blieb dem wackeren Benjamin nichts anderes übrig, als sich einen Zölligen aus der nächsten Bocksdornhecke zu schneiden und hungrig weiterzupilgern.

Aequam memento rebus in arduis servare mentem! Gewiß ein Tröstung, ein Büchslein, angefüllt mit Narden und köstlicher Benzoesalbe! Aber diese trüben Aussichten, dieses unsichere Tasten durch diesiges Wetter und Nebelschwaden machten auch das feinste Sprüchlein zunichte.

Elend – dein Name ist Predigtamtskandidat.

Benjamin Seraphikus Rückert lächelte schmerzlich, trat vom Fenster zurück, setzte sich an die asthmatische Studier- und Schreibkommode und stützte den Kopf in die Rechte.

Er hatte für Haus und Herd, pro aris et focis zu kämpfen.

Aber wie sollte er können?!

Unsicher liefen seine Blicke die kahlen Wände entlang, krochen in den Ecken herum, als wenn sie dort etwas zu suchen hätten, um schließlich an dem kränklichen Bücherrepositorium haften zu bleiben.

Hier standen seine Freunde und guten Berater auf Reihe, die alleinigen Besitztitel, die er sein eigen nannte, als da waren: Christian Fürchtegott Gellerts Fabeln und geistliche Lieder, des wackeren Seume ›Spaziergang nach Syrakus‹, Goethes Schriften und die von Klopstock und Herder, dann Gleim und weidlich zur Hand die gesammelten Dichtungen des göttlichen Wieland. Letztere in der seltenen Ausgabe in Großquart und in Halbfranz gebunden.

Er streckte die Hand danach aus.

Matt fiel sie ihm wieder am Leibe herunter.

Seine Schläfen fieberten. Vieles ging ihm durch den Sinn. Seine zerquälte Seele dürstete nach den kleinen, subtilen Sächelchen des irdischen Lebens, nach Amt und Würden, nach den süßen Würz- und Weingärten des gelobten Landes, von denen das Hohe Lied Salomonis so wunderseltsam berichtet, und doch war er durchdrungen von den asketischen Heilswahrheiten seines schlichten Berufes, den Mysterien des Kalvarienberges . . . und wenn auch die silbernen Schellchen des Wielandschen Geistes ihn öfters umklingelten, gar lieblich um seine Sinne hofierten – seine homiletischen und katechetischen Studien vertrugen sich wohl mit den Abenteuern des Prinzen Biribinker und denen der schönen Fee Kristalline . . . und der heimliche Schrei nach dem Weibe tönte ihm zu, klang ihm entgegen wie ein wehes und doch inniges Rufen von jenseits eines fernen und verdämmerten Waldes.

Es lag ihm im Blute, denn siehe: seine Abstammung verband ihn mit einer hochgemuten Kirke, verwies ihn auf Katharina Kolbe-Wartenberg, die einstmals hochbusige und gefeierte Gräfin, eine geborene Rückert, die schlichte Tochter des Weinschenken Pitt Rückert aus dem benachbarten Emmerich . . . und durchdrungen von ihrer seltsamen Mission, hatte er sich in seinen Mußestunden unterfangen, ihr und ihrem Leben ein Memoirenbüchlein zu schreiben, sie zu feiern und ihr ein Ehrenkränzlein zu flechten, ein Ehrenkränzlein aus Männertreu, glutroten Rosen, Tausendgüldenkraut und Nachtviolen . . . und saß nun und nahm die Gänsefeder, um in diesem Sinne den goldenen Faden weiterzuspinnen.

Mein Gott und mein Heiland!

Eine gewaltige Stimme war bei ihm, eine Stimme, wie dem Donnerlaut einer Schaufare entnommen, die vor Olimstagen geblasen wurde auf Sion, am Brandaltare des Herrn, und diese Stimme dröhnte ihm zu: »Benjamin, Benjamin! und weißt du nicht, daß diese Katharina Kolbe-Wartenberg, diese gefeierte Gräfin, eine Madam en titre, eine Buhlerin war, die unsägliches Leid beschwor, im bengalischen Feuer ihre Reize bewundern ließ und elendiglich ihre letzten Tage verbrachte?«

Nein, Benjamin wußte es nicht, schätzte sie anders ein, oder aber er legte über den schönen sündigen Leib den Schleier der Versöhnung, des tiefen Verzeihens, um selber nicht wissend zu werden . . . und so schrieb er denn eifrigst, fügte Zeile an Zeile und vergaß seine mißliche Stellung über dem geschäftigen Tun, vergaß seine Armut, dazu den Jonkheern Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherrn auf Aldekerk, der das Präsentationsrecht auszuüben hatte, aber bis dato stumm wie ein Fisch war . . . und er hörte es nicht, wie scheu und beklommen einmal, zweimal, dreimal bei ihm angeklopft wurde.


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