Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Dreizehntes Kapitel

Was trägst du zwischen den Brüsten, Maria im weiten Feld? Weihnachten auf Aldekerk, Geschenke über Geschenke, und dennoch: Madam Kalander kann dieses Festes nicht froh werden. Warum dem wackeren Benjamin bei der Gratulationscour Harfen und Flöten zutönen. Publius Virgilius Maro auf dem Klingsteinfelsen am Bodensee. Christoph Martin Wieland fordert eine ähnliche Gunst. Scharfes Begegnen zwischen dem Magister und dem ordinierten Adjunkten. Rinse-Frundsberg als Warner und Mahner am hohen Portal. Trotzdem: Benjamin tritt in das Haus der Verstörung.

Ehre sei Gott . . .!

Wer Augen hatte zu sehen, der sah, und wer Ohren hatte zu hören, der hörte. Lichte Engelchen purzelten aus dem neuen Jerusalem und trugen einen ungewohnten Glanz auf die Erde. In den überständigen Riedgräsern wisperte es, in den Ginsterbüschen klingelte es, in den Heidebirken glöckelte es mit tausend und abertausend Kristallen und Eiszäpfchen. Glitzern und Scheinen, Singen und Sagen! Gerötete Nasenspitzen und warme, durchleuchtete Menschenherzen! In den verschneiten Ackerfurchen der Niederung spitzten die alten Mümmelmänner die Löffel, am Hang der niedrigen Fichtenschonung äugte ein Reh über die erfrorenen Schilfkaupen. Ein Falke stand regungslos, kaum rüttelnd, hoch in den stahlblanken Lüften. Das niederrheinische Land mit seinen erstarrten Woijen und Altwassern hielt den Atem an, denn irgendwo tönte es in Worten und Weisen, in Farben, wie sie nur Stephan Lochner meisterte, wenn er die unbegreiflichen Wunder mit seinem Pinsel erzählte. Es drang von den Heiden her, von jenseits des Waldes, aus den Häusern der Menschen, es war überall und doch nirgendwo, es erinnerte an die Stimme einer hohen Lichtgestalt, die goldene Schuhe trug und silberne Flügel:

»Was trägst du zwischen den Brüstchen,
Maria im weiten Feld?
Ein Bündlein Rosen und Nelken,
Die nimmer und niemals verwelken.
Weil Gott, der Herr, sie erhält.

Wer ist denn der Liebste deine,
Maria im weiten Feld?
Ein schlohweißes Turteltäubchen,
Das mir sich im Rosenläubchen
Beschattend in Liebe gesellt.

Wo wohnt denn das schlohweiße Täubchen,
Maria im weiten Feld?
Dort oben im blauen Himmel,
Wo Gott beim Sterngewimmel
Die ewige Leuchte hält.

Was trägst du denn unter dem Herzen,
Maria im weiten Feld?
Ein Knäblein, ein süßes und kleines,
Ein herzallerliebstes und feines,
Berufen als König und Held.

So bist du die Magd des Herren,
Maria im weiten Feld!
Und durch den Abend zog leise
Dahin eine selige Weise
Bis an das Ende der Welt.«

Die schöne Weihnachtslegende schlug unter einem mit Rauschgold und Silbersplitterchen austapezierten Himmelreich die unergründlichen Märchenaugen auf . . . und das Kindeslächeln ringsum, das Raunen und Beten, die ewigjunge Botschaft: Als ich bei meinen Schafen wacht' . . . und das Fest wurde gefeiert bei groß und klein, beim geringsten Pächter sowohl, wie in den taghell strahlenden Räumen des Schlosses von Aldekerk.

Nur Madam war verstimmt. Sie konnte sich so recht nicht der geweihten Stunden erfreuen. Trotz aller Geschenke und Liebenswürdigkeiten des Schloßherrn, immer war sie damit beschäftigt, in den müden, gelangweilten und doch verlangenden Augen ihrer Tochter zu lesen.

»Noch keine Aussprache, Nelly?«

»Ich bedarf ihrer nicht. Ich möchte mir den heutigen Abend nicht stören lassen.«

»Na, so was!« blinzelte Madam zurück, vibrierte unwillig mit ihren Puderlöckchen und sah vorwurfsvoll ihren Schwiegersohn an, der zwar alles aufgeboten hatte, Nellys Schönheit durch ein rares Geschmeide noch mehr zu heben, im übrigen eifrigst vermied, den geheimen Wünschen Madams in jetziger Stunde Rechnung zu tragen. Um so emsiger beschäftigte er sich in diesem Lichtglanz mit anderen Dingen, gab Order an Jean Pierre, abgebrannte Kerzen durch neue zu ersetzen, spielte alsdann lange Minuten hindurch mit seiner kostbaren Dose, um schließlich mit unnachahmlicher Grazie kaum wahrnehmbare Tabakspartikelchen von seiner blütenweißen Weste zu knipsen.

Diese Indolenz ärgerte sie.

Kurz, Madam konnte die richtige Stimmung nicht finden.

Auch an den folgenden Tagen nicht, und als sie eines Abends, kurz vor Neujahr, da Dirk Negels van Klabasterboompjes bereits sein Ankleidekabinett aufgesucht hatte, mit Nelly noch ein kleines Plauderstündchen zu verleben gedachte, drückte sie plötzlich ihr Spitzentüchlein gegen die Augen.

»Aber Mamachen!«

»Ich kann mir nicht helfen: aber ich bemitleide dich; denn wenn ich so der Zukunft gedenke, des Ungewissen unserer jetzigen Lage . . .«

»Das solltest du nicht. Freue dich vielmehr unseres sorglosen Daseins. Keine umständlichen Reisen mehr, kein Schaukeln mehr von einem Hotel in das andre. Und dann noch die verkniffelten Fälle, die einem früher auf Schritt und Tritt begegneten. Heute dieses, morgen jenes. Aber immer Unannehmlichkeiten. Dieses Knebeln unter dem Vorwand, der hohen Kunst ein Opfer zu bringen: die schmutzigen Agenten, die Impressarios mit den Lammsgesichtern und den verrotteten Seelen, deren Verträge und Anerbieten man nur mit der Feuerzange entgegennehmen konnte. Domestikennaturen! und dann dieser Haß, dieser Neid, diese Anfeindungen unter den Kolleginnen . . . während hier . . . Nein, nein – wir wollen gerecht sein und das Kind nicht mit dem Bade verschütten. Er hat die Ehre, mein Beschützer zu sein, unser Los freundlicher gestaltet zu haben. Denke daran, und nun, um mit deinen Worten zu sprechen . . .«

»Ja, ja, man muß Kontenance bewahren. Tu' ich auch, Nelly. Aber du, meine Tochter . . .! Dieses ewige Hinzögern . . . dieses weder Fisch noch Fleisch sein . . . diese Ratlosigkeit, die ihn hindert, energische Entschlüsse zu fassen . . . ich meine . . .«

Madam hielt plötzlich inne.

Draußen huschten leise Schritte vorüber.

Sie kannte die Schritte.

Es waren die des Kammerkätzchens.

Dann wurde eine Türe geöffnet und wieder geschlossen.

Nelly horchte auf.

Sie wußte, was das zu bedeuten hatte.

»Il faut finir, ma chere amie,« sagte sie heiter. »Erst die Nachttoilette . . . dann noch ein Plauderstündchen mit ihm . . . eine leichte Lektüre: Crébillon und ähnliche Sachen. Die beste Methode, auch diesen Tag zu beschließen. Du siehst, die Bürden und Würden einer jungen Baronin werden von mir spielend ertragen.«

Ihre schmalen Lippen kerbten sich ein.

»Gute Nacht, Mamachen! Durch Crébillon werden mir die Eleusinischen Gefilde schon werden.«

»Aber Nelly, da kannst du noch scherzen?«

»Warum nicht?«

»O mon dieu! Ich glaube, du hättest noch zu scherzen beliebt, wenn es dir vergönnt worden wäre, unter den Opfern des 9. Thermidors zu stehen . . . auch dann noch, wenn das ›rote Ding‹ auf dem Grève-Platz dir zugewinkt hätte . . . auch dann noch, wenn der fürchterliche Samson . . .«

Nelly empfahl sich.

Madam sah ihr mit wehen Augen nach. Diese Eintönigkeit war nicht zu ertragen. Aber sie hoffte . . . sie hoffte auf ein Zeichen vom Himmel, sie hoffte auf Wieland, auf diesen verwöhnten Liebling der Grazien. Sie hoffte auf ihn, wie die Mekkapilger das erquickende Gluckern einer kühlen Quelle in einer glutheißen, sengenden und steinichten Wüste erhoffen. Immer nur Wieland, immer dieses Sehnen nach ihm, nach ihm und seinen ›Abenteuern des Don Sylvio von Rosalva‹.

»O, ich hörte davon! und meine Bitte wäre: lehren Sie mich Wieland begreifen.« Diese Worte ihrer Tochter, damals an den Kandidaten gerichtet, gingen ihr nach, ließen nicht ab von ihr und beschäftigten sie, bis die Kammerfrau erschien und die weißen Gardinen ihres Schlafgemaches behutsam auseinander nestelte.

»Bonne nuit, Madam!«

Unter diesen Erwägungen, Grillen und Hoffnungen war der Tag des heiligen Silvester gekommen.

Benjamin Seraphikus Rückert taumelte noch immer im Dunkel seiner sich widersprechenden Gefühle herum, tapsig und ungelenk, nicht wissend, was tun und beginnen. Johanna und den Magister hatte er nicht mehr gesprochen. Er konnte es nicht über sich bringen, nochmals die Schwelle zu betreten, Uber die er so viel des Leides und des Unmutes hatte hinaustragen müssen. Die kränkende Stunde unter dem Dach seines zukünftigen Schwiegervaters, diese Stunde, wenn auch unter dem Einfluß eines Dämmerschoppens heraufbeschworen, zitterte in ihm nach, weh und wund wie die gedämpften Wirbel einer umflorten Trommel bei einem solennen Leichenbegängnis . . . und er hörte sie noch, als die Weihnachtsglocken anhuben zu singen . . . und sie waren immer noch bei ihm, als er von der Kanzel das 2. Kapitel aus dem Evangelium Matthäi erläuterte und sagte: »Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenlande gen Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten.«

Solches verkündete er.

»Aber mein Stern ist untergegangen!« – Diesen Stoßseufzer verknüpfte er traurig den Worten des Evangeliums, zumal da er Johanna dicht unter der Kanzel bemerkte und wahrnahm, daß heiße Tränen in ihr aufgeschlagenes Gesangbüchlein tropften . . . und wenn er so alles überlegte, jede Einzelheit auseinanderfaltete, sich vorstellte, wie sein Leben so ganz anders hätte sein können, dann hielt er nichts in den Händen als nur ein Sträußlein von Immortellen und sonstigen Totenblumen. Hierzu kamen noch die bedenklichen Andeutungen Rinse van Bommels im ›Goldenen Anker‹ und die des Magisters – schmerzliche Aussichten, die ihm wie glühende Medaillen auf dem Herzen brannten. Aber dann wieder: sei stark, meine Seele! Ein echter und lauterer Edelmann konnte und durfte sein gegebenes Wort nicht in die Tiefe versenken. Hemmungen mochten immerhin in die Erscheinung treten. Nur zu natürlich, denn der Herr befleißigt sich allzeit, die Nieren der Menschen zu prüfen, bevor er sie mit der Fülle seiner Geschenke begnadet. Eine Vertagung des Anstellungstermines vielleicht! auch dies ließ sich tragen . . . wären nur nicht die prickelnden, stechenden, bohrenden Geisterlein des Blutes gewesen, die er zur Genüge aus der wundersamen Geschichte des Prinzen Biribinker und der schönen Galactine hatte kennen gelernt. Gott ja! auch er war nicht spurlos an den Reizen des Ewig-Weiblichen vorübergegangen. Er zählte die Tage, die Stunden, wo ihm dieses verstattet gewesen. Wie Kostbarkeiten behütete er diese Tage und Stunden. Sie kamen ihm vor wie Geschenke der Vorsehung. Sie erquickten ihn mit der Süßigkeit eines edlen Weines; denn hatte er nicht die innige Neigung Johannas geschmeckt, nicht manche Zärtlichkeiten in ihren rahmweißen Armen verkostet, nicht das verborgene Fleckchen ihres feinen Halses gefunden, wenn auch nur mimosenhaft, mit zartfühlenden Einschränkungen, gleichsam in den Farben einer regen Phantasie, die sich beim Erwachen in ein ärmliches Nichts verflüchtete? aber es war doch immer eine angenehme Krise gewesen . . . und mußte nun sehen, daß auch diese spärlichen Liebesbrocken ihm durch das unqualifizierbare Benehmen des Alten so gut wie genommen waren.

Die Sense des Todes schmerzte weniger als diese Brüskierung. Sein Geist arbeitete, drängte ihn in schiefe Vorstellungen hinein, machte ihn abweisend gegen bessere Einsicht und ließ ihn sogar ungerecht gegen die Schuldlose werden. Die ihm vom Magister geschlagene Wunde quälte und peinigte ihn, zeigte ihm das Bild des geliebten Weibes nicht mehr in der geruhsamen und schönen Beleuchtung. Ein stumpfes Abendgrau hüllte sie ein. Mann und Weib rückten immer mehr auseinander. Ein dunkler Eisfalter schien plötzlich über das einst so liebliche Gefilde ihrer jungen Liebe dahinzuschweben, alles umschattend, alles mit einem fröstelnden Rauhreif bedeckend. Er dachte kaum noch an das aromatische Bündlein zwischen ihren Brüsten, kaum noch an die selig-verschwiegenen Augenblicke, die sie ihm ohne Wissen und Wollen des Vaters in ihren Armen verstattet hatte.

Er fand eine selbstquälerische Lust darin, sich nicht mehr daran erinnern zu wollen, eine diabolische Freude, seinen eigenen harten Kopf gegen den des Magisters auszuspielen, selbst auf die Gefahr hin, den kürzesten Halm zu ziehen und auf der Strecke liegen zu bleiben . . . und bevor es sich die Liebenden noch versahen, zog sich ein nichtsnutziger Stacheldraht zwischen Benjamins karger Behausung und der des emeritierten Lehrers und Klopffechters.

So war denn auch für ihn der Tag des heiligen Silvester und der des neuen Jahres erschienen.

Zwischen Madam und Nelly hatte sich nicht vieles geändert. Es war ein wechselseitiges Erdulden zwischen ihnen, ein Gewähren und Hinnehmen. Mit der Hand einer Sphinx streichelte es über sie fort. Vornehmlich über Madam. Was sollte erst werden, wenn der Baron unerwartet das Zeitliche segnen würde? Nichts Sicheres zwischen den Händen; höchstens den Skarabäus, den Verkünder des Unheils. Die Folgen waren nicht auszudenken. – In dem ewiggleichen und nutzlosen Dasein aus Aldekerk, den lautlosen Schritten Jean Pierres und dem monotonen Ticken und Klingeln der Alabasterpendüle war selbst das anheimelnde Anprosten der Silvestergläser spurlos an ihnen vorübergegangen, hatten die Glocken der umliegenden Ortschaften für sie mit lahmen Zungen gerufen, und erst als Benjamin vorsprach, angetan mit dem Gewand, das der Herrenschneidermeister Pittje Kordelmann aus Geldern ihm zugemessen hatte, um Glück zum neuen Jahre zu wünschen, lief ein rasches Aufheitern über ihre müden Gesichter.

Madam erinnerte an ein überständiges Perlhuhn, das das Erwachen des jungen Tages mit einem feinen Blinzeln begrüßte, Nelly an eine erblühende Kamelie im Treibhaus.

Diese empfing ihn so gütig, wie ihn die Fee Kristalline in ihrem Reich voller Märchen und Seltsamkeiten willkommen hieß.

Auch der gnädige Herr ermangelte nicht, ihm seine Gunst zu bezeigen. Steif wie ein Grande am Hofe des spanischen Königs, das rosige Kindergesicht mit senilen Fältchen durchzogen, die Blicke gewetzt und den weißen Adlerflaum über seinen Ohrmuscheln mit schmalen Fingern betupfend, trat er wohlwollend auf Benjamin zu, räusperte sich und sagte mit einer fast erloschenen Stimme, wobei sich die fadendünnen Lippen kaum merklich bewegten: »Nur nicht den Mut verloren, mein lieber Adjunktus. Ich bin mit Ihnen zufrieden, äußerst zufrieden. Ihre Predigt, von der ich vernahm, wird die Zeit überdauern. Das war keine Nachtarbeit, entstanden bei einem verrußten Lampendocht, sondern Tagesarbeit, bestimmt für die Sonne, für das Volksgewissen, für Erhaltung von Gesetz und Ordnung. Und die haben wir nötig. Diese Predigt – man wird sie sich merken müssen, mein Bester. Das Verständnis hierfür werden Sie mir nicht absprechen können. Ihr Weg ist gemacht. Ich denke daran. Nur noch einige Tage, es können auch mehr sein – und das Erforderliche wird sich einrenken lassen. Also gedulden Sie sich. Ein wenig Entsagung und Selbstverleugnung – und Ihre Ambitionen dürften sich der Erfüllung nähern. Halten Sie sich bereit. Warten Sie ab, warten Sie ab. Hören Sie auf mich. Ein schweres Erringen gewiß – aber dafür eine um so schönere Krone.«

So Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, ganz schlicht und einfach, genau so wie man eine philosophische Frage behandelt, ohne dabei den Standesunterschied in die Erscheinung treten zu lassen.

Benjamin fühlte sich äußerst verpflichtet bei diesem abermaligen Gnadenbeweis, vor diesen ausgeklügelten und doch so befreienden Eröffnungen, nach denen er gedürstet und gehungert hatte . . . und als Nelly ihn ansah, unbefangen, verwundert, mit den Augen einer Mildtätigen, da wähnte er zwischen Szylla und Charybdis zu strudeln, zwischen einem tobenden Chassé-croisé seiner Gefühle und Stimmungen.

Gleich darauf umfing ihn die Schöpferstille eines ernsten Genießens. Er hätte die Arme breiten mögen, um seinem Heiland zu danken, seine Stimme erheben mögen zum Preise der Vorsehung. Sein Mund öffnete sich. Mit Andacht lauschte er auf ferne Klänge. Er war ganz strahlendes Horchen, ganz Ruhe und Andacht.

Die Präsentation wisperte ihm zu.

Er hörte es deutlich.

Eigenartige Saiten wurden in seinem Inneren angeschlagen, und diese Saiten begannen zu prickeln und sein verliebtes Blut in helle Wallung zu setzen.

Er lauschte.

Aus alten Zeiten klingt es oftmals herüber mit dem wundersamen Tönen von Harfen, mit dem melancholischen Rufen von Flöten . . . und diese Harfen und Flöten singen von einer hohen Frau, die Sehnsucht trug nach dem Geiste klassischer Heiden, dem erlesenen Geiste jener Auserwählten, der das Leben feiert, die Schönheit verkündet und mit Rosen im Haare zur Bahre schreitet . . . und was die Harfen und Flöten erzählten, ging weit in die Lande. Ein junger Mönch mit Schwärmeraugen hörte davon, als er im Klostergärtlein am Bodensee seinen Gedanken nachhing und zusah, wie das Abendlicht über den Wassern langsam verebbte. Da sagte er mit Anakreon: »Meine Saiten tönen nur Liebe . . .« und verpflanzte den ehrenwerten Publius Virgilius Maro auf den ragenden Klingstein, um ihn der gebietenden Herzogin, der hochgemuten Hadwigis, näherzubringen, und was dieser junge Mönch aus dem Kloster des heiligen Gallus vermochte, warum sollte es für den Predigtamtskandidaten in dem Bereich des Unmöglichen liegen, auch seinerseits seinen Lieblingspoeten, geboren zu Oberholzheim bei Biberach, feingebunden in Halbfranz und gedruckt mit Schwabacher Lettern, auf die Gemüter in Schloß Aldekerk zu pfropfen und dort heimisch zu machen?

Dirk Negels van Klabasterboompjes hatte ihn dieserhalb angesprochen, weil Madam Kalander und Nelly es wünschten, und Benjamin Seraphikus Rückert hatte nichts Eiligeres zu tun, als diesem verlockenden Ansinnen Rechnung zu tragen. So kam denn dieser neuzeitliche Klassiker auf Schloß Aldekerk, wie Publius Virgilius Maro auf den Klingsteinfelsen gelangte, installierte sich dort und wurde gleich anfangs mit seinen kleineren Erzählungen und den ›Abenteuern des Don Sylvio von Rosalva‹ so heimisch, daß trotz aller Keckheiten und leichter Erotik ein nicht endenwollendes Kichern und Geckern die seriösen Räume erfüllte – das nicht endenwollende Kichern und Geckern der Fee Kristalline und der geschmeidigen Nelly. Auch Madam hörte mit Interesse zu, obgleich sie sich des öfteren genötigt sah, die aufsteigende Röte in ihrem gepuderten Antlitz mit dem zarten Gespinst ihres mit Brabanter Spitzen verzierten Fächers zu decken, den Kopf zu schütteln und vielsagend in das warme Leuchten der Gueridons zu blinzeln.

Benjamin rüstete sich.

Gewissenhaft traf er seine Vorkehrungen.

Er wählte mit Andacht, mit der eines Gymnosophisten, mit dem subtilen Gehaben eines vorsichtigen und geläuterten Mannes.

Mit liebevoller Hand erkor er die einzelnen Bücher, überlegte und sichtete, bis er sich sagen konnte: »Es ist nichts mehr zu ändern.«

Benjamin war mit seinen Dispositionen fertig geworden.

Andern Tages nun, so um die Vesperzeit herum, nahm er seinen Wieland unter den Arm – nur etliche Bändchen: den ›Don Sylvia von Rosalva‹ und die galanten und ersprießlichen Epen: ›Kombabus‹, den ›Verklagten Amor‹ und ›Idris und Zenide‹, machte sich alsdann auf den Weg, um dem Rufe des Barons und dem der schönen Nelly zu folgen.

So ausgerüstet, fühlte er sein Blut freier kreisen und pulsen. Eine gewisse Schwungkraft beseligte ihn. Er fand sich gehoben, nicht mehr von kleinlichen Bedenken durchzettelt.

Ein anregendes Lüftchen wehte von den nahegelegenen Äckern und Wiesen. Das tat ihm wohl. So nahm er denn einen festeren Schritt an, atmete tief und straffte den Nacken, wobei ihm allerdings eine mahnende Stimme zuflüsterte: »Benjamin, lasse allen Hader beiseite. Versuche ein Letztes. Lasse die Sonne nicht über deinem Zorn untergehn. Rufe zuerst bei Johanna an, um deinen Frieden zu machen. Vielleicht läßt sich noch der nichtsnutzige Stachelzaun beseitigen, bevor es zu spät ist.«

Das tat er denn auch, wenngleich das eigenwillige Verhalten des Magisters noch immer in seinem Inneren bohrte und riffelte. Trotzdem nahm er den bekannten Pfad unter die Sohlen: erst am ›Goldenen Anker‹ vorbei, dann die große Allee nach, von hier in einer kleinen Schleife dem Kommunalweg zu, auf dem er die so oft gesuchte Stätte seiner Angebeteten in wenigen Minuten erreichen konnte.

Bald darauf sah er die weißgekalkten Wände in der Dämmerung aufleuchten.

Ein blaues Rauchwölkchen kräuselte sich aus dem mittleren Schornstein.

Alles atmete Ruhe und Frieden.

Dort angekommen, sah er den Alten vor der Haustüre stehen, im flohbraunen Rock mit silbernen Knöpfen, an den Füßen warme Holzschuhe, die er in winterlichen Zeiten zu tragen pflegte, und die lange Pfefferrohrpfeife zwischen den Zähnen.

Wie ein derbgespornter Gockelhahn stand er fest und tapfer auf den Beinen.

Als er des Besuches ansichtig wurde, legte sich ein zufriedenes Schmunzeln um die Mundecken.

»Ha!« rief er ihn an, »haben wir auch mal wieder die Ehre? Seit Olimszeiten sind Sie rar unter meinem Dache geworden, was uns höchlichst befremdete. Den seligen Herrn von Kotzebue habe ich zwar niemals goutiert, aber desungeachtet muß ich mich seiner Worte bedienen: Es kann ja nicht alles so bleiben hier unter dem wechselnden Mond. Eine gute Sentenz, ein brave Sentenz, der ich hinzufügen möchte: Gut Ding, was sich eines Besseren besinnt.«

Er lachte. Dabei streckte er ihm die Rechte entgegen.

Benjamin, unter der Assistenz seines gefeierten Poeten stehend, übersah es geflissentlich. Er war kein Bittender mehr: hatte nicht die geringste Veranlassung, sich aufzudrängen. Vielmehr lag es bei ihm, seine Stellung zu wahren, nicht der Hörige dieses Mannes zu werden. So fragte er denn auch mit einem berechtigten Stolz unter der Weste: »Ist Johanna zu sprechen?«

»In meiner Gegenwart immer, Herr ordinierter Adjunktus.«

Benjamin fühlte sich über diese Antwort sichtlich betroffen. Wie mit einem Eimer eiskalten Wassers schüttete es über ihn hin.

»Also noch immer die voreingenommene Meinung, Gestrenger?«

»Voreingenommene Meinungen kenne ich nicht,« kam es abweisend zurück. »Es sind Imponderabilien für mich, haben keine Heimstätte dahier. Nur lapidare Grundsätze bedingen die Art und Weise meines Handelns. Solches, Reverende, müßten Sie sich doch längst vorgelegt und klar gemacht haben. Ich bin immer deutlich gewesen.«

»Und mein geistliches Kleid bietet Ihnen keine Gewähr dafür, auch ohne Ihr Beisein mit Johanna plaudern zu dürfen?«

Der Alte zog mit seinem Pfeifenrohr einen horizontalen Strich durch den Abend.

»Non liquet! Hinsichtlich Ihres Gewandes deckt sich meine Ansicht mit der der lateinischen Richter. Ich mute mir kein Urteil darüber zu und werde mich hüten, mich dieserhalb in die Nesseln zu setzen. Meine Rücksicht Ihnen gegenüber verbietet mir dringlichst, auch nur ein Jota über diesen Punkt verlauten zu lassen. Aber das weiß ich, wenn es erlaubt ist zu sprechen: mit leeren Redensarten werden keine Mäuse gefangen, geht kein Has' in die Schlinge, holt man keinen Sperber aus den blauen Lüften herunter. Versprechungen sind eitel Finten des Satans; nur für solche berechnet, die allzu willig auf seinen Leimruten tanzen. Stellen wir daher die Antwort auf die richtigen Beine, sehen wir dem Kasus frisch in die Augen, so ist uns beiden geholfen: erst die Vokation, wie ich des öfteren sagte. Eher denke ich nicht dran, Asmodeum oder den hinkenden Teufel aus der verstöpselten Phiole zu lassen. Ist aber diese gesichert und können Sie allstündlich in die noch immer offenstehende Predigerstelle einrücken, dann, Carissime, mögen Sie auch ohne meine Gegenwart ihre Brautschaft, selbst im Schummern und auf dem Sofa, verkosten. Bis dahin, so lautet mein Rat, ist heißes Geblüt lediglich per aquam frigidam in Zaum und Zügel zu halten.«

Benjamin dampfte ob dieser Halsstarrigkeit.

»So!« und dieses ›So‹ wurde ihm lang zwischen den Zähnen.

Allein dieser Zustand währte nicht lange.

Christoph Martin Wieland, den er in verschiedenen Bändchen unter der linken Achsel trug, feuerte ihn an, machte ihn blitzig, zu einem Topf mit Sprudelwasser, hämmerte ihm Mut und Entschlossenheit zwischen die Schläfen.

Am liebsten wäre er diesem Eigenbrödler und Bücherwurm an die Kehle gefahren.

Aber er hielt sich, er hielt sich unter Aufbietung seines ganzen insichgefesteten Menschen.

Nur seine Stimme zitterte.

»Herr Magister, und sonst unter keiner Bedingung?«

»Nein, unter keiner Bedingung.«

»Und Sie bleiben auf dieser Ihrer versäuerten Ansicht bestehen bis zur letzten erbärmlichen Faser?«

Kosman Theophil Banning verzog keine Miene.

Stur und grobkantig sah er in die verschneite Gegend hinaus, wo die Gegenstände verschwammen, als wären sie mit einem dunklen Lappen fortgewischt worden.

»Roma locuta, causa finita,« sagte er endlich.

Das schlug dem Faß die letzten Reifen herunter.

Unter fünfundzwanzig Grad Unmut und Krakeel stülpte sich der Entrüstete den Hut in den Nacken.

Er trat dicht vor den Alten.

»Und das nennen Sie Freiheit, brüderliches Einvernehmen und Achtung vor einem geistlichen Kleide? Ich heiße es peremptorische Überhebung und Dickfelligkeit. Herr Magister, ich danke.«

Eine bedenkliche Rauchwolke qualmte ihm zu.

Dann wurde ein Knopf von der Spitze gebissen und verächtlich zur Seite gespien. Dazu schnippte es mit Daumen und Mittelfinger.

»Sie scheinen auch heute zu glauben, ich sei im ›Goldenen Anker‹ gewesen? Eine faule Unterstellung, mein Bester. Ich bin so nüchtern wie ein Spatz auf dem Dachsparren. Genau so wie damals. Ich befinde mich allzeit in der Sphäre des heiligen Geistes. Mein Herz bleibt gefestet. Jedenfalls wird mir der Himmel hierzu seinen Beistand nicht vorenthalten.«

»Herr Magister . . .«

»Reverende, kein Wort mehr. Hier ist mein Haus und meine Bundeslade. Der Tempel der Vesta ist nicht sakrosankter für mich. Hier habe nur ich zu befehlen. Kein andrer. Das väterliche Recht auf meine Tochter kann mir niemand abdisputieren. Keine Halbheiten. Ich bestehe auf meinem Schein . . . fundatim, fundatim! und wenn Sie Zerwürfnisse suchen – Herr ordinierter Adjunktus, Sie können Sie haben.«

»Merci!«

Benjamin wandte sich jählings.

Als er den Bannkreis des Hauses verließ, hörte er das leise Klagen, das wehe Schluchzen einer weiblichen Stimme hinter den Fenstern. Ein Herzkrampf befiel ihn.

Desungeachtet schritt er strack seines Weges.

Bei der großen Eiche angekommen, von der die breite Straße nach dem Schlosse abzweigte, stutzte er sichtlich.

Ein scharfer Windzug rüttelte die Zweige und stiebte ihm eisigkalte Schneekristalle entgegen.

Eine ähnliche Anwandlung kam über ihn, als er das Portal des stolzen Besitzes erreichte.

Nicht, daß ihn die erleuchteten Fenster bedrängten, oder ihn das sonst übliche Hundegebelfer außer Fassung brachte. Es war vielmehr eine lähmende Stille ausgetan, die den Winterabend mit den Fingern des Todes berührte. Ruhig wie Lava stand das angeschmiedete Wasser unter den Brückenpfeilern, schwarz wie die Samtdecke auf einem Katafalk, in der sich die Lampen dieser großen Einsamkeit widerspiegelten. Schatten fielen über sie hin, blendeten sie und ließen sie matt und traurig erscheinen. Auf der düsteren Fläche ruhte es für ihn mit dem Kirchhofsgepränge am Abend des Tages von Allerseelen. Es fehlte nur das Gemurmel von betenden Frauen, um dieses Bild zu vervollständigen, nur das dumpfe Rufen von Sterbeglocken, die fern über dem Walde herausläuten mußten . . . und es war ihm, als läge Johanna unter diesem erstarrten Spiegel gebettet, ohne Wiederkehr, für immer und ewig.

»Hier ist mein Haus und meine Bundeslade, und wenn Sie Zerwürfnisse suchen – Sie können sie haben.«

Nicht er, sondern der Alte hatte seine Liebe unter das eisige Bahrtuch gestoßen, hatte ihn hineingedrängt in eine Welt voller Zweifel und Anfechtungen.

Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und es rauschte noch stärker, als er beim Weiterschreiten einen ernsten Mann an der Pforte gewahrte. Im fahlen Licht der Laterne glaubte er in ihm einen alten Landsknechtführer zu sehen, ernst, feierlich, geharnischt, im Eisenhut, die Feldbinde über Krebs und Kacheln gelegt, und mit bekümmertem Antlitz.

Was wollte der hier?

Was war das nur? . . .dieses Gesicht, dieses Gespenst, dieser Unerbittliche . . .! und wenn er auch bald Rinse van Bommel, den gewissenhaften Rentmeister darin erkannte, den kleinen vermickerten Mann im grauen Flausrock, die Sardellen sorgfältig unter der groben Bibermütze gescheitelt, und wenn auch Eisenhut, Feldbinde, Krebs und Kacheln wie Zunder ihm vom Leibe fielen, Benjamin blieb bei seiner Voreingenommenheit, seiner schweren Vermutung, denn Rinse-Frundsberg tat einen tiefen Atemzug, legte ihm die niederrheinische Hand auf die Schulter und sagte, was der kerndeutsche und ehrenfeste Feldgewaltige vor Olimszeiten auf dem Reichstag zu Worms gesagt haben sollte, da er Luthern ansprach: »Mönchlein, Mönchlein, du tust einen schweren Gang, den ich selbst in meiner blutigsten Kampagne niemals gegangen.«

Die Hand sank herunter . . . und Rinse van Bommel zog kopfschüttelnd, ohne sich noch einmal umzusehen, durch den weichen Schnee dahin, der unter dem Flinzeln der Laterne wie kleine Sprühteufelchen aufgeisterte, während Benjamin Seraphikus Rückert ihm nachschaute, als habe er eine Erscheinung gesehen.

Dann aber, unter dem abermaligen Beistand seines Lieblingspoeten, sagte er stürmisch: »Vorwärts!« ließ das Portal und die schwarze Eisdecke hinter sich und trat in das Haus der Verstörung.


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