Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

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Elftes Kapitel

Mordje Tulpenstiel, Spezialist in andalusischen Früchten, und sein Großmagazin für alle Delikatessen der Neuzeit. Rinse van Bommel in einem amtlichen Schreiben an Mordje. Sein Wunsch nach ›aphrosinischen‹ Äpfeln. Von katholischen und protestantischen Glocken, und wie der ›Choral von Leuthen‹ im Kirchlein von Aldekerk zwei liebende Herzen vereinigt. Nun danket alle Gott durch die Gnade des Herrn.

Mordje Tulpenstiel streckte die Beine.

Er saß am Fenster seines khakifarbigen Häuschens in Geldern und beobachtete, wie der junge Morgen sich gemächlich aus der grauen Dämmerung herauskernte.

Von seinem Sitz aus konnte er das erwachende Leben in der kleinen Provinzstadt mit allem Gusto beobachten: das Aufmachen der Läden, die bläulichen Krüsel, die sich aus den Schornsteinen drehten, das geschäftige Treiben der Spatzen bei einer Roßäpfelpyramide, ein Vermächtnis der steifbeinigen Postklepper, die mit dem frühesten nach Kleve getrappelt waren, und so manches noch, was in einem niederrheinischen Städtchen die Gemüter bewegte.

Mordje Tulpenstiel hatte als Junggeselle Zeit die Hülle und Fülle.

Gestern hatte er Schabbes gefeiert, da durfte er seines Glaubens wegen keine Geschäfte entrieren; heute begingen sie christkatholischen Jontef, da war ihm verboten, solche zu machen, und so saß er denn am Fenster seines bescheidenen Häuschens, streckte die Beine und verfolgte das Wachsen des Lichtes, das immer freundlicher jenseits der alten Dächer herausstieg.

Sein Besitz bewegte sich in gemessenen Grenzen, genügte eben, ihn über Wasser zu halten, aber er hatte den heroischen Mut, seiner emsigen Tätigkeit und seinem Handel einen pompösen Namen zu geben, denn über der schmalen Eingangstür des äußerst bescheidenen Ladens stand auf einem schwarzgestrichenen Brett in mächtigen Buchstaben angekündigt: »Großmagazin für alle Delikatessen der Neuzeit von Mordje Tulpenstiel, Spezialist in andalusischen Früchten,« dabei hatte aber der Malermeister das ›z‹ in Großmagazin mit einem ›s‹ das ›ü‹ in Früchten mit einem herzhaften ›i‹ niedergepinselt.

Das tat dem Firmenschild jedoch keinerlei Abbruch, zumal da der angenehme Duft, der dem Inneren der Offizin entströmte, bis weit in die benachbarten Straßen eine gewisse Reklame ausübte, denn da präsentierten sich in der Auslage: Zitronen und Mandeln, in Seidenpapier gewickelte Apfelsinen, Süßholz, Johannisbrot, schmalzige Feigen in Bastkörben, Schleckerbonbons in hohen Stengelgläsern, verschrumpfelte Birnen und sonstige Leckereien, die den Gaumen anregten und den Hausfrauen lieblich erschienen, wie: Hutzelpflaumen, Apfelmus, eingestampftes Sauerkraut und die so köstlichen niederrheinischen Erdeicheln, Gebilde wie graue Zwitschermäuschen, die, gesotten und in einer weißen Serviette dargereicht, von den Honoratioren des Städtchens, unter Zutat einer gehörigen Portion Butter, willig und gerne verspeist wurden.

Derlei Art waren die Artikel, die das Großmagazin führte, und wenn man noch das Ameublement, den Gebetriemen, den Hundestall, das Anlieferungskärrchen und die beiden Kläffer mit dem wüsten Stammbaum hinzutat, so hatte man den totalen Besitz auf einem einzigen Haufen zusammen, von dem der Inhaber zu sagen pflegte: »Er ist klein, aber mein. Mehr begehre ich nicht, un sollte ich auch werden Kommerzialrat in Preußen. Aber was brauche ich zu werden Kommerzialrat in Preußen? Denn würde ich werden Kommerzialrat in Preußen un käme in Pleite, was bliebe da übrig? Nur der Kommerzialrat ganz soloalleine . . . na, un so'n Kommerzialrat ganz soloalleine . . .? Ich gebe kein Dittchen dafor un keinen lumpigen Pfennig. Amen, Sela,« und er legte freundlich lächelnd die Hände zusammen, glücklich darüber, keine höheren Ambitionen zu haben und nicht den törichten Wahn zu besitzen, Dingen nachzujagen, die für ihn nun einmal im Reich des Utopischen lagen.

Immer reger und lebendiger gestaltete sich das Erdenwallen da draußen. Bäckerjungen trugen die frischen Sonntagswecken zur Kundschaft. Dralle Mädchen holten in blanken Eimern das Wasser von der zunächst gelegenen Pumpe. Die Giebel des Sankt Clemensspitals standen in Glorie, die Dächer der gegenüberliegenden Häuser vergoldeten sich, und ein warmes herbstliches Leuchten zitterte über die Straßen.

Mordje hatte soeben das Dankgebet gesprochen und zwei Verse eines davidischen Psalms gesungen, als die Hausklingel anschlug, hart und schrill, als wäre sie von der Hand eines königlich preußischen Beamten gerührt worden.

Der Spezialist für andalusische Früchte entsetzte sich weidlich, denn er hatte nicht gern etwas mit einem königlich preußischen Beamten zu schaffen.

Als er aber die Tür öffnete, lief ein velourartiger Glanz über seine gütigen Augen.

Jans Ingelaat, der Briefträger, gab sich die Ehre.

»Ah, der Herr Postmeister!«

»Hier zwei Briefe für Ihnen.«

»Meinen gehorsamsten Ausdruck.«

Den einen steckte er zu sich. Von keiner Bedeutung. Nur eine Offerte der bekannten Hundefutter-Gesellschaft in Krefeld. Leeres Gewäsch, bloß darauf bedacht, einen ehrlichen Tierfreund dämlich zu machen und irrezuführen. Aber der andre! und das velourartige Glänzen verstärkte sich in dreifacher Skala.

Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete Anschrift und Siegel: gekreuzte Balken und den blauen Stern in der Ecke.

»Wohl ein Liebesbrief, Mordje?«

»Was soll ich mit 'ner Liebesbekanntschaft? In Kommischon kann ich keine beziehen, un sie per Kasse zu nehmen, erlaubt mein Kredit nicht.«

»Aber man sollte doch meinen . . . Sie als kleiner Schwerenöter . . . Ihre große Verehrung . . .«

»Nu, wen denn, Herr Postmeister? Die Perlchen Josephi mit die verschmachteten Löckchen? Lieblich ist sie un voller Ausdruckvölligkeit, aber sie hat keine christlichen Linsen. Dem Herrn Beschneider Süßkind die seine – das Jettchen? Gott ja, sie ist mit die Propheten behaftet, verfügt aber über 'nen Verdruß auf dem hintern Rücken. Schön! un wenn ich sie nähme . . . ich kann mich nicht mit die Kinder befassen. Sind's Söhne, bringen sie mir 'ne schlechte Zensur zu's heilige Christfest: sind's Töchter, wollen sie in 'ne feine Benehme, un wenn sie ihre jungfräulichen Äpfel empfangen, kommen die Glaubensgenossen un kassieren sie sie mit meine Luggerdohrs ein, un ich habe das Nachsehn, 'ne Schabbesgoi ist besser. Die tut's auch for den Notfall. Nein,« sagte er glücklich und machte dazu ein Gesicht, wie Moses es machte, als er die Schafe seines Schwähers hütete und der Herr aus dem brennenden Dornbusch zu ihm redete: Ich werde sein, der ich sein werde. Damit gehe zum Pharao hin . . . »nein, was der Brief ist – er ist vom Herrn Baron un seinem Schattoschloß.«

»Donnerwetter, was haben Sie für 'ne noble Bekanntschaft.«

»Hab' ich, Herr Postmeister, hab' ich immer besessen, denn ich bewege mich nur in 'ner noblen Bekanntschaft,« und das warf er so leichtlebig hin, als stünde er mit dem Jonkheer auf du und du, als hätte ihm dieser vergönnt, mit ihm von ein und derselben Tafel zu speisen. »O, dieser Plie un diese Bekömmnis! Gerade so wie unsereiner, Herr Postmeister. Immer frei weg mit die Plüschmöbels un die hohen Gefühle. Der Mann ist gewaltig.«

»Schön, und was will denn der Alte?«

»Was soll er wollen, Herr Postmeister? 'ne geschäftliche Niederkunft oder was weiß ich . . .«

»Und darf man vielleicht . . .

»Aber warum nicht,« und Mordje legte sich so stramm in die Weste, als stellte sich ein Gänseei pielgerade aufrecht, erbrach das Siegel und las dann:

»An den Herrn Grossisten Mordje Tulpenstiel,
      wohnhaft in Geldern.

Mein gnädiger Herr und Gönner, der hochwohledle und hochwohlgeborene Baron Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, benötigen noch etliche Kisten der bereits übermittelten Ware. Äußerste Eile geboten. Ich ersuche Sie daher, bis Mitte der kommenden Woche liefern zu wollen. Weiteren Bestellungen können Sie Ende des Jahres entgegensehen. Nur prima Qualität ist erwünscht. Der andalusischen wird der Vorzug gegeben. Bezahlung durch mich, weshalb Sie sich auf dem Rentamt zu melden haben.

Im Auftrag:        
Rinse van Bommel,

Rentmeister auf Aldekerk, Ritter des Ordens vom niederländischen Löwen am blauen Bande mit der Devise: Je maintiendrai

Jans Ingelaat schlug sich erregt auf den ledernen Bauchtornister.

»Gott verdorie, was hat der Mensch für 'nen Titel!«

»Hat er, Herr Postmeister, un der gnädige Herr erst . . .! Ich sage Ihnen, er ist ein wohltätiger un eminenter Günstling un besitzt Titels von oben bis unten. For seinetwegen könnt er mich per sofort machen zum Kommerzialrat in Preußen. Aber ich will nicht. Was tu' ich mit 'nem Kommerzialrat in Preußen? Es würde geben 'ne Rebellionierung in Geldern.«

»Glaube ich auch. Aber jetzt sagen Sie mal, was begehrt der Baron für 'ne Ware?«

»Nu, was soll's sein for 'ne Ware? Natürlich die meine. Andalusische Perdukte, von Afrika her un die Vereinigten Staaten: ›aphrosinische‹ Äpfel, die wir for gewöhnlich Appelsinen benennen.«

»Na, so was! Und die verzehrt er tagtäglich?«

»Tagtäglich, Herr Postmeister.«

»Aber warum denn?«

»Um sich aufzumunterieren, um sich in 'nen überirdischen Zustand zu heben, denn die ›aphrosinischen‹ Äpfel haben 'ne magnesianische Wirkung . . . un morgen mach' ich nach Holland, um das Geschäft in Balancierung zu bringen. Ich habe die Ehre, Herr Postmeister.«

»Adjüs denn.«

»Habe die Ehre,« und Mordje Tulpenstiel verschwand in seinem Großmagazin, in seinem Bazar für alle Delikatessen der Neuzeit, während Jans Ingelaat von Türe zu Türe klingelte, um seine Post zu bestellen.

Gedenket des Herrn, denn heute war Sonntag!

Von der Hospitalkapelle begann es zu läuten. Dann aber setzten die Glocken der beiden Pfarrkirchen ein. Es waren fette, wohlgenährte, katholische Glocken, die zur heiligen Messe luden. Heroldsrufe aus Zeit und Ewigkeit. Ihre mächtigen Reifröcke bewegten sich durch Dämmer und Düster, hoben sich, senkten sich, schwankten und wankten und ließen Gebälk und Wände erzittern. Und dieses Dröhnen aus ihnen heraus, dieses Klingen und Jubeln! Mit gewaltigen Tönen marschierte es über die Grafschaft, über die langsam dahinschleichende Niers, über Pachthöfe und Katen, über Brachen und Heerstraßen. Die benachbarten Ortschaften nahmen es auf, trugen es weiter, immer weiter und weiter, bis dorthin, wo die armseligen Heideläufer zwischen den Ginsterbüschen saßen und an den Fingern saugten. O diese Glocken! wohlgenährte, christkatholische Glocken, begleitet von dem inbrünstigen Gesang in den Kirchen:

»Wir sind im wahren Christentum,
O Gott, wir danken dir!
Dein Wort, dein Evangelium,
An dieses glauben wir.
Die Kirche, deren Haupt du bist,
Lehrt einig, heilig, wahr.
Für diese Wahrheit gibt der Christ
Sein Blut und Leben dar.«

Und während sie riefen: »Ohne uns gelangt ihr nicht in das ewige Leben, ohne uns sterbt ihr nicht eines seligen Todes, ohne uns seid ihr keinem Fürsten und König Gehorsam schuldig und zinspflichtig . . . just um dieselbe Stunde wurde da drüben in Aldekerk ein mageres, engbrüstiges protestantisches Glöcklein gebimmelt, mit einem spitzigen, kränklichen, schwindsüchtigen Stimmchen. Es war zum Weinen; aber die Gläubigen, die dieses Stimmchen durch ein anderes langatmigeres und gesunderes hätten ersetzen können, gehörten zu denen, die jedes abgewetzte Kastemännchen für einen veritablen preußischen Kronentaler ansprachen. Auch der Patronatsherr war leider zufrieden damit, und so irrte es denn verwahrlost, ein fröstelndes Armseelchen, über die Gegend, die kleine Gemeinde zur Predigt und zum Tische des Herrn bittend.

Es verstummte, um eine Viertelstunde später den zweiten Anruf zu wimmern . . . und dennoch, welche Andacht, welcher Zuspruch, welch schüchternes Erinnern in diesem scheinlosen Metall, in diesem Körperchen mit der ängstlichen Seele! »Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!« und sie kamen aus der weitverzweigten Enklave, von den einzelnen Gehöften her, die in der Niederung lagen, von diesseits des Reiherbusches, aus den sandigen Heidestrecken, die um die Pfingstzeit in dem schwefelgelben Blütenmeer der Ginsterbüsche erstickten – vielfach noch Nachfahren der Pfälzer Emigranten, die die Gnade des großen Königs hier ansässig werden ließ: Männer und Frauen, in schwarzer Kleidung, die seidenen Schirmmützen übergezogen, die blonden Haare unter feinspitzigen Hollen verborgen, derbe, grobknochige Menschen, wie sie nur für diese Gegend paßten, blauäugig, in sich gefestet, aber oft hart wie die Kiesel, die vielfach ihre Äcker bedeckten.

In der Sakristei beschäftigte sich Benjamin noch mit dem Text der heutigen Predigt. Es machte ihm Schwierigkeit, die Disposition klar zu erfassen und die einzelnen Teile sorglich aneinanderzureihen . . . und wie festgegliedert, wie deutlich und scharf umrissen war sie ihm noch vor wenigen Tagen erschienen! Die Offenbarungen der verflossenen Nacht zitterten störend durch den Kreis seiner Ideen, seiner Schlüsse und Betrachtungen, und doch waren sie so rein gewesen wie die Wässerchen in einem Forellenbächlein, frei von allen Nebengedanken, unbefleckt von Irrungen und Wirrungen eines unkeuschen Geistes.

Johanna in ihrer harmlosen Unschuld, bei der liebevollen Pflege ihres kraftvollen und doch geschmeidigen Körpers – eine Unberührte war sie ihm, ein Wesen, vor dem sein Inneres erschauern mußte . . . und wenn sie auch seine Sinne verstörte: Johanna blieb, was sie war: eine Zugetane, eine Begehrenswerte und eine Tochter des Lichtes, des ewigen Lichtes, das just in diesem Augenblick die bleigefaßten Scheiben des schmalen Raumes durchflutete.

Von drüben tönten die ersten Orgelklänge herüber; Frauen- und Männerstimmen begleiteten sie, auch Kinderstimmen waren dazwischen:

»Wie schön leucht't uns der Morgenstern,
Voll Gnad' und Wahrheit vor dem Herrn,
Aus Inda aufgegangen.
Du Davidssohn aus Jakobs Stamm,
Mein König und mein Bräutigam,
Du hast mein Herz umfangen.
Lieblich, freundlich, schön und prächtig,
Groß und mächtig,
Reich an Gaben,
Über alles hoch erhaben.«

Da riß Benjamin sich ernsthaft zusammen, nahm die Bibel und trat durch das niedrige Türlein unter seine Gemeinde, jetzt ein anderer als noch vor wenigen Herzschlägen.

Der Gesang tönte weiter:

»O meine Perle, werte Kron',
Sohn Gottes und Marien Sohn,
Du hochgeborner König . . .«

und beseligte die Umwelt: Prediger und Gläubige, Orgelspiel und die kahlen, nur mit verblichenen Totenkränzen bedeckten Wände des Kirchleins.

Noch einmal befiel ihn ein Bangen und Zagen, ein Zögern und Straucheln im Geiste, denn drüben neben der alten Schaffnerin vom Hülsemer Hof sah er Johanna im dunklen Kleid, die Augen niedergeschlagen und einen goldenen Schein um die schwere Flechtenkrone. Aber wie ein Bettlergelumpe warf er dieses Zögern und Straucheln im Geiste von sich, umgriff die Bibel fester und inniger, und erhobenen Hauptes bestieg er die Kanzel.

Unter der Wucht dieses Starken zitterten die Planken, seufzten die schmalen Treppenstiegen.

Noch immer sang die Gemeinde, brauste die Orgel.

Er hielt die Lider halbwegs geschlossen und sah doch mit wachen, hellsichtigen Augen: unter sich die gläubigen Menschen, die Worte, die sie auf den Lippen hatten, die matten, ängstlichen Kerzenflämmchen weit drüben auf dem Altare mit der weiß überspreiteten Decke. Er sah den hochbetagten Christ van de Linde vom Hinteren Vorwerk im Kirchenstuhl sitzen, neben sich sein junges Weib, das ihm noch Zwillinge geboren hatte, dann den Schmiedemeister Fritz van Dornick, der bis zur heutigen Stunde des festen Glaubens war, ohne sein Zutun wäre die Schlacht bei Waterloo verloren gegangen. Der alte Blücher hätte ihm das selber zugestanden . . . und er sah alle die anderen. Auch hörte er freier und feiner. Jedes Wispern drang ihm zu, als hätte es einen Resonanzboden unter den Füßen. Er vernahm das Blättern in den Gesangbüchern, das Räuspern der greisen Schaffnerin vom Hülsemer Hof, das Rascheln der welken Totenkränze, die ihm so vieles erzählten, so vieles von den Tapferen aus der kleinen Gemeinde, die in Rußland lagen, die in der Völkerschlacht von Leipzig gefallen waren, so vieles von Tränen und Seufzern, von einem harten, unbarmherzigen Sterben, von einer langen und bangen Pilgerschaft auf Erden und einer schließlichen Anschauung des ewigen Lichtes . . . und darüber hin schien eine schleierweiße Taube zu wuchteln . . .

Gesang und Orgel verstummten.

Aller Blicke richteten sich auf die Kanzel.

»Geliebte im Herrn!«

Benjamin hatte die Bibel abgelegt und die Arme gebreitet.

Langsam fielen sie ihm wieder am Leibe herunter.

Noch einmal überflog er seine Predigt in ihrer Gesamtheit. Kein Titelchen fehlte mehr. Sie schien ihm jetzt eine Spiegelscheibe zu sein, der kein Makel anhaftete, kein störendes Fleckchen. Jegliches an ihr gab sich schön und abgerundet, voller Liebe zur Menschheit, angefüllt mit unbezwinglicher und lauterer Wahrheit.

Er hatte den Text gewählt: Gebet Gott, was Gottes, und dem Kaiser, was des Kaisers.

»Geliebte im Herrn! Ich beschwöre den gewaltigen Paulus und seinen im neutestamentlichen Kanon enthaltenen Brief an die Römer. Welche Kraft in diesem Schüler Gamaliels, in diesem Grobweber und Teppichmacher aus Tarsus in Cilicien. Sein kantiges Antlitz mit dem schwarzgekrausten Bart erinnerte an das eines Giganten, sein Schritt an den eines Legionärs, der für seinen Cäsar marschiert und für seinen Cäsar verblutet, das Wort auf den Lippen: Ave, Caesar, morituri te salutant! Jüdischen Eltern entstammt, aufgezogen in der starren Satzung der Väter. haßte er anfangs die Messiasgemeinde, hob er den Stein auf wider Stephanus, bis der Glanz ihn erfüllte, der Glanz auf dem Weg nach Damaskus!« und Benjamin schlug in rascher Handfertigkeit die Ärmel des weiten Obergewandes zurück und predigte weiter: »O dieses Wunder des Himmels und das der Bekehrung! Aus ihr wurden die Paulinischen Briefe geboren, vornehmlich die an die Galater, die Korinther und die großmächtigen Römer. Aber der letzte bleibt der Stern unter den Sternen . . . und daher: kommt alle und folgt mir bis an die Stätte, wo die Einsicht ihm wurde. Sein Weg führte ihn auf der Brücke der ›Töchter Jakobs‹ über den Jordan, von hier nach Peraea, durch Sand und steinige Wüste, bis dorthin, wo das schneedurchfurchte Haupt des Hermons die weite Gegend absuchte. Löset die Riemen, löset die Schuhe! Hier verloren sich alle Beschwerden der Reise. Wohlige Pfade taten sich aus. Er wandelte unter Oliven, unter Nuß- und Pflaumenbäumen, alle verbunden durch köstliche Reben. Tazetten und Lilien winkten ihm zu, Myrrhenbüschel grüßten von den Hügellehnen herunter . . . bis plötzlich! Am Hermongebirge zuckte es auf, flammte es, blitzte es, donnerte es. Das kochte wie aus einem Vulkan heraus, aus einem feurigen Tobel. Vom Antilibanon kam das Getöse zurück . . . und dann eine Stimme: Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?! Die Stimme des Herrn! – und dieser Stimme verdanken wir die Bekehrung des Mannes aus Tarsus, dieses Steinigers des heiligen Stephan, verdanken wir seine Einkehr zu Gott und seine brieflichen Großtaten. Höret die Worte in der ersten Epistel! Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott. Wer sich nun wider sie setzet, der widerstrebt seiner Ordnung. Die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfahen. – In diesen Worten – meine Seele ist stille im Herrn, und sie redet zu allen . . .« und wie bei einer großen Heerschau zog es an der gläubigen Menge vorüber.

Er geleitete sie in das Getriebe eines christlichen Hausstandes, in das eines Landkreises, in das eines Staates. Er verwarf die Hetzer und Schwärmer, die Leisetreter und Schreier, die böswilligen Säemänner, die nächtlicherweise andermanns Acker mit giftigem Unkraut besamten. Er ließ Jesum Christum in den Familienkreis treten, in den einer größeren Gemeinschaft, in den eines Volkes. Gesetz und Pflichten legte er mit reinen Händen auseinander. Er zeigte ihnen, wie unter Gesetz und Pflicht die Scholle grünte, in Halm und Ähren trat und dreißigfältige Ernte zeitigte, das Herdfeuer friedlich aufgeisterte und Wohlstand das ganze Wesen des Staates regierte.

»Aber wehe denen,« und seine Stimme brannte auf wie eine Petarde, »die das Wort des heiligen Paulus nicht achten, die Gott nicht geben, was Gottes, dem Kaiser nicht das, was des Kaisers, die Jesum Christum peitschen von Schule und Haus, aus Hof und Garten und dem Tempel einer überkommenen und gerechten Verfassung. Wehe denen, die Arges legen an das Gemüt eines Kindes, ihm sagen: Reich' mir die Hand, wir gehen jetzt auf der blumigen Wiese der Rebellion und des Umsturzes spazieren. Und diese Wiese ist blutig. Aber sie leuchtet so prächtig und verheißt uns eine Zukunft des Wohllebens und Nichtstuns . . .«

Er warf plötzlich den Kopf über die Schulter.

»Wer räuspert sich da?!« und er mußte sehn, wie sich der junge Lehrer und Kantor in den Schatten eines Pfeilers hineindrehte, um dort sein bleiches Gesicht zu verbergen.

»O diese Toren und Mietlinge, diese Hämlinge, verschnitten an Können und Wissen, diese Prahler und Pocher! Wie Anno dazumalen . . . um den Freiheitsbaum wollen sie tanzen, das nackte Weib der Vernunft wollen sie anbeten, neue Lichter wollen sie aufstecken. Aber ich sage ihnen: die alten Kerzenstöcke sind besser. Es gibt keine Freiheit, es sei denn unter dem Zepter eines von Gott Berufenen. Sonst reißt jeder das Maul auf und findet in sich seinen eigenen Fürsten. Fort mit diesen Freiheitsbäumen, mit diesem Beliasweib, mit diesen neumodischen Lichtstöcken. Alle Gewalt kommt von oben, aber diese nimmer und niemals . . .« und er beugte sich rücklings, die Kanzelborte mit beiden Händen umgreifend: »Lobet den Herrn und ehret den Kaiser! Sonst rast ein Sturmwind ohnegleichen daher, und in diesem Sturmwind tafeln die Maden und mit ihnen die Umstürzler. Und was bringen sie euch? Was bringen euch diese Jünger des Unglaubens und der Königsverfolger?«

Er streckte die Hand aus.

»Falsche Lehren über ein neues Jerusalem, Tollkirschbeeren über Tollkirschbeeren! Die schütten sie wie Spülichtwasser in eure Seelen hinein, um euch dabei noch den brutalen Nagelschuh in den Nacken zu stoßen. Verblendete Menschheit! Wendet eure Blicke zurück und lernet aus den vergangenen Tagen. Aus tiefster Not rüttle ich eure Herzen zusammen. Meine Stimme schreit wie die eines Hirsches nach dem Born der Genesung, nach der Quelle der ewigen Leuchte. Ich sehe und fühle: eure Lippen beben; auf ihnen steht die bange Frage geschrieben: was tut not in diesen Zeiten, wo Satanas umgeht, die Falschmünzer schon die Prägstöcke richten, um mit ihnen das Volk zu betören, wo die Axt seit langem bereit liegt, die Fürsteneichen zu fällen?! Da tut es not, dreimal und viermal, der Forken und Dreschflegel zu denken, falls die Schermäuse zu wühlen beginnen . . . Da tut ein Sanssouci not . . . ein Fridericus rex . . . ein ›Choral von Leuthen‹ . . . und Schellenbaum und Musici: Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen . . . Ha! und da standen alle in Reih und Glied, Gewehr im Arm: die alten Schnauzbärte . . . Blut auf den Lippen . . . Blut auf der blauen Montur . . . zerfetzt und zerfledert . . . aber zu Gott, für ihren Herrn und König, stieg es auf wie eine eiserne Lerche . . . Und just wie damals« – und sein Wort klirrte gleichfalls wie eine eiserne Lerche über die Köpfe der kleinen Gemeinde dahin – »und just wie damals, so auch heute: dreimal und viermal tut es bitterlich not: Lobet Gott und ehret den König, denn ihrer ist die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit, von jetzt an bis in Ewigkeit, Amen!« und wie auf ein einzig Geheiß: der ›Choral von Leuthen‹ brauste auf Sturmgefieder durch das protestantische Kirchlein . . . rüttelte sich, schüttelte sich . . . stieß durch die Fenster . . . und drang zu Gott empor in seine goldene Wohnung.

Benjamin hörte nicht mehr und sah nicht mehr. Mit halbgeschlossenen Augen verließ er die Kanzel. Aber sein Geist war lebendig, und während er der Sakristei zuschritt, wähnte er Gesichte zu haben: ein Schatten wandelte hoch durch die Wolken . . . wesenlos, blutlos . . . verkörperte sich . . . wurde zu einem Mächtigen in schwarzem Eisen . . . die ragende Lanze übergenommen . . . unter dem Helmsturz stahlblaue Augen . . . ein Warner und Mahner . . . umleuchtet von des Ewigen Strahlen.

»Königstreue!« sagte er erregt vor sich hin und trat über die Schwelle.

Hier fühlte er eine kalte Hand in der seinen.

»Reverende, und könnt Ihr vergeben?«

»Ihr habt mich niemals gekränkt.«

»Aber Gott und den König und Kinderherzen.«

Die Stimme war trocken und heiß.

Benjamin zuckte zusammen.

Mit herzzerreißendem Lächeln sah er in das bleiche Gesicht des jungen Lehrers und Kantors.

»Ihr hörtet mich sprechen?« fragte er gütig.

»Silbe um Silbe.«

»Und Ihr wäret einverstanden damit?«

»Herr, wie könnt Ihr noch fragen!«

»Und nun . . .

»Ihr lehrtet mich beten, und wer beten gelernt hat . . .«

Seine Stimme brach ab, wie mit einem Messer durchschnitten.

Da legte ihm Benjamin die Hand auf die Schulter.

Sein Antlitz war das eines Mannes, der des Abendmahls teilhaftig geworden.

»Wer wieder beten gelernt hat,« versetzte er allverzeihend und herzlich, »ist treu seinem Herrn geblieben. Und Gottestreue ist Königstreue. Ziehet in Frieden.«

Er vernahm noch ein tiefes Aufatmen, ein langsames Gehen; dann grünte sein Herz auf wie unter Rosen und Nelken: »Und wäre es nur der einzige unter den vielen gewesen: welch ein Jubel im Himmelreich! denn dieser einzige unter den vielen ist Gott nähergekommen als wir anderen alle,« und er streifte sein Predigergewand von sich, sprach noch ein kurzes Gebet und trat in das Kirchlein zurück, um von hier aus sein Heim zu gewinnen.

Eine große Stille empfing ihn. Die Bänke standen verwaist, keines Menschen Spur, kein Hauch mehr war unter dem niedrigen Tonnengewölbe. Nur die welken Totenkränze raschelten noch heimlich an den nackten Wänden herunter, und ihm war so, als begänne plötzlich in dieses Sterbegeflüster das Leben zu sprechen, als klänge von ferne, von Lissa her, über das Schweidnitzer Wasser, preußische Feldmusik, Schellenbaum und Musici, erst kaum zu vernehmen, dann immer voller und stärker . . . ja, ihm war so, als befände er sich auf einem unendlichen Schneefeld, über sich das Himmelreich voller Bilder und Sterne, als höben die abstrapazierten Grenadiere noch einmal an, den ›Choral von Leuthen‹ zu singen, den Sieg in ihren glorreichen Fahnen, die Treue für ihren angestammten Herrn und König zwischen den Rippen . . . und aus der Feldmusik der Tambours, Hornisten und Pfeifer redete eine innige Stimme, ein hohes Weib, eben erst aus dem Schatten der Kanzel getreten: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen . . .« und war alles wie von dem Odem des ewigen Schöpfers gekommen . . . ein schlichtes Weib nur, im dunklen Kleid, das seidene Tüchlein um ihre Schultern geschlungen und doch diese Hoheit!

»Johanna . . .

Das Wort wurde ihm von den Lippen gerissen.

»Ich bin es,« sagte sie ohne jede Erregung. »Das Herz gebot mir, auf dieser Stätte zu bleiben, um das, was ich hörte, noch einmal zu hören und still verklingen zu lassen.«

Und ihre Seele flatterte auf.

»Reverende, wie kann ich Euch danken?«

»Du?!« schrie es aus ihm heraus, mit dem Schrei eines Falken, der hoch im Blauen steht und die Gefährtin erwartet. »Durch deine Liebe, Johanna!«

Mit herrischer Gewalt riß er sie an sich, preßte er seinen Mund auf den ihren.

»O du, du . . .!« stöhnte sie auf und schlang ihre Arme um einen glücklichen Nacken.

»Johanna, Johanna . . .

»Ja – du, meine Liebe, die hast du.«

»Für immer und ewig?«

An seine Schulter gelehnt, Brust an Brust und gesenkten Hauptes sagte sie schluchzend: »Ja – du, für immer und ewig. Welch ein Sonntag . . .

»Und welch ein Märchen an diesem sonnigen Sonntag!« und zwei sich suchende Menschenkinder hatten sich für immer gefunden.

So standen sie lange, wortlos, allem entrückt, nur damit beschäftigt, auf den wechselseitigen Schlag ihrer Herzen zu hören.

Welche Weihe und Andacht!

Das ärmliche Kirchlein von Aldekerk hatte schon vieles erlauscht und erspäht, viel des Traurigen und Freudigen: Tränen und Sterbekränze, bräutliche Schleier und das Wechseln von Ringen. Aber eine solche stille und gottwohlgefällige Feier noch niemals.

»Du stießest mir den Himmel auf; laß uns hineingehn, Johanna.«

»O du . . .!« und innig umschlungen schritten sie dem schlichten Altar zu.

Hier knieten sie nieder, und während ihre Lippen sich fanden, warf der Herr eine Garbe seiner köstlichsten Strahlen um sie her und segnete sie mit der Fülle seiner unendlichen Gnade.

Der ›Choral von Leuthen‹ aber rauschte weiter durch das fröhliche Kirchlein.


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