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21

Und über eine Stunde ...

»Erhebt Euch und geht getröstet nach Hause! Eine geruhsame Nacht wird Euch werden.«

Und die Nacht war ruhig geworden.

Die Niederung lag in bleischwerem Schlummer.

Nur die Furchen und Rinnsale gluckerten und schluckten die warme Feuchte ein, die überreichlich vom Himmel gekommen war, und tief über den Rhein hin, jenseits von Grietherorth, grummelten und murrten noch verlorene Stimmen, die sich immer weiter entfernten.

Von Zeit zu Zeit zuckte es auf, ein müdes Feuer, ein halberloschenes Auge, um plötzlich hell und leuchtend zu werden. Weiße, züngelnde Schlängelchen glitten über die Erde. Sie schwanden aber dahin, als hätte sie ein brutaler Fuß in den Boden getreten.

Dann nichts mehr.

Strückerjans stakelte über die aufgeweichten Kommunalwege dem Hof zu. Jetzt strack und rank und keine Spur mehr von einem gebrochenen Menschen in ihm.

»Herr, deine Wunder und Werke! In Anbetung bin ich versunken.«

Sein Schritt ging lang und gestreckt durch die Nacht voller Geheimnisse. Unter seinen Schuhen klatschten die Wässerchen.

»Herr, deine Güte währt ewig.«

Er fühlte sich frei; die stumpfe Last war ihm von den Schultern gefallen.

Seine ausgebleichten Pupillen leuchteten phosphorisch über den Weg, wie die seiner Schafe im Pferch, wenn keine Sonne mehr schien und die Dämmerung von hinnen genommen war.

»Ich danke dir, Johannes van Holten. Du bist wie eine Munstranz, die uns das Brot des Lebens spendet. Ich kann die vom Knollenkamp und mich selber wieder als voll estimieren, ihr zusprechen und sagen: Mein Turnister ist leer; nehmt Euch meiner wieder in Gnaden an. Den richtigen Griff wolltet Ihr machen. Versucht es aufs neue, und hoch und hehr wird der Hof in seinem Regententum stehen.«

Die abgekühlte Luft tat ihm wohl.

Sie verfing sich in seinem Leinwandkittel, in seinen strähnigen Haaren. Sie streichelte ihm sacht und kühl über die Stirne.

»Gott wartet nicht lange. Er straft mit reißender Eile. Die Reue pressiert, und wer in der Bußfertigkeit ist, dem wird alle Sünde vergeben. Es kann mir nicht mangeln. Der Herr wird mich führen und leiten und mir das verkehrte Maulwerk wieder ehrlich gestalten. Wie konnte ich nur ... wie konnte ich nur so vor allen Menschen mein Elend bekennen, so laut am Kalvarienberg ihrer Verfehlung gedenken, wo doch eine Verfehlung nicht bei ihr war?! Auch in lauterster Liebe kann man ein Menschentum verlästern und abtun. Ich Narre! Das ist widersinnig gewesen.«

Er sah: tief am Horizont glitt ein letztes Züngeln stumm über den Boden. In Büscheln verschwand es.

Er streckte die Hand aus.

»Nun ist sie dahingegangen, die Sünde, wie das da.«

Fern, jenseits des Dorfes blieb er stehen.

Seine Brust weitete sich.

Hoch und feierlich stand die Nacht über der Erde.

Im Pastorat brannten noch die Kerzen.

Er warf einen innigen Blick auf die erleuchteten Fenster.

Mit langen, durstigen Zügen sog er die Luft ein.

»Ich danke dir, Johannes van Holten.«

Nein, diese Erlösung!

Ein anderer Mensch, nahm er freier den Weg auf. Tropfende Schmehlengräser streiften sein Kleid.

Hinter ihm dunkelte das friedliche Haus ein.

Der Dechant hatte seine Arbeit getan; er war schlafen gegangen.

Auch die übrigen Häuser zogen die Nachtmützen über.

Allüberall erloschen die Lichter.

Nur in einem nicht.

In der Wirtschaft ›Zum blauen Pferdchen‹ in Grieth brannten noch immer die Petroleumlampen. Die große Schankstube und dicht nebenan das Honoratiorenzimmer standen in voller Beleuchtung.

Pitt Lörksen hatte mit seinen Mamsells alle Hände voll zu tun, den Ansprüchen, die an ihn herantraten, gerecht zu werden.

Die abgehaltene Versteigerung brachte das mit sich.

Trotz seiner Fettleibigkeit, hemdärmelig, das gestickte Samtmützchen über die linke Seite gerückt, die muntere Troddel stets vor den Augen, hantierte der Gastwirt im Schweiße seines Angesichtes von einem Tisch zum andern.

Das Geschäft florierte.

Die meisten Gäste hatten sich durch das schwere Wetter abhalten lassen, ihre Tilburys zu schirren und nach Hause zu fahren.

Gegen acht Uhr war die amtliche Handlung zu Ende gewesen, und sie saßen noch immer: die behäbigen Grundbesitzer und Grasbauern aus der ganzen Umgegend ... ihnen ganz wurschtig, was der nächste Tag ihnen brachte. Die vom Niederrhein betreiben alles mit tiefgründiger Einsicht, gleichviel ob es gilt, Kranke zu besuchen, Tote zu begraben, Kirmes zu feiern oder eine wohlabgelaufene Heuauktion mit diversen Bouteillen Champagner oder mit anderen Flüssigkeiten zu begießen.

Und heute hatte sich alles zum besten gewendet, wenn auch nicht wider Erwarten.

Enorme Preise waren erzielt, wie seit Jahren nicht mehr.

Die Säcke strotzten von klingendem Silber.

Zur Erhöhung der Pläsierlichkeit hatte Phöns met de Fleut auf der Musikantentribüne Platz genommen. Von hier aus spielte er seine neuesten Piecen herunter, wie's kam: Walzer, Polka-Mazurkas und Stücke mit patriotischem Einschlag.

Die Uhr ging auf zwölfe.

Auch egal!

Je später die Gäste, um so herzlicher willkommen.

Pitt Lörksen rieb sich die fleischigen Hände wie der Haremswächter des Königs Schahryar aus den Fabeln und Wundern der tausend Nächte und der einen Nacht.

Mochte es so in alle Ewigkeit gehen. Er hatte gar nichts dagegen.

Immer neue Flaschen brachte er herbei, immer munterer ließ er die langhalsigen Stöpsel knallen.

Nur eins schien ihn bitter zu wurmen. Von Zeit zu Zeit warf er einen sauern Blick in das Honoratiorenzimmer nebenan, um dabei kurzatmig über sein dreifältiges Kinn zu knurren: »Sapristi und kein Ende! was die Kerle nur haben?!«

Dann nahmen ihn seine Gäste wieder in Anspruch.

Unter diesen befand sich auch Arnt.

Mit dem Erlös aus den fiskalischen Beständen zufriden, hielt ihn die Stunde. Sonst kein Wirtshausgänger, blieb er heute in der Schankstube kleben, als wäre er mit den Dielen des ›Blauen Pferdchens‹ verwurzelt.

Nicht um Daumenlänge gab er seine Stelle auf, rückte er seitwärts.

Mit dem Kapitän Rennings, dem alten Kistemaker, etlichen Schöffen und benachbarten Grundbesitzern saß er im vorderen Zimmer.

Der Kopf glühte ihm, das Glas brannte ihm zwischen den Fingern.

Was wollte er hier? Warum saß er so lange?

Ganz einfach: die Nacht um die Ohren schlagen – das wollte er ... die Johannisnacht ... die Nacht des heiligen Täufers, in der ihm das Licht strahlen sollte, das Licht, berufen, ihn in die Arme des stolzen Weibes zu führen.

Fort damit!

Er hatte nichts mehr mit diesem Lichte zu schaffen.

Bitter lachte er über sein Glas fort.

Rennings stieß ihn an.

»Deichgräf, was habt Ihr?«

»Gar nichts, Kaptän.«

» All right! dann prost auf das, was wir lieben!«

»Ich habe nichts mehr zu lieben.«

Das Wort ging unter in einem fröhlichen Zuruf, der ihm von einem Nachbartisch wurde.

»Herr Deichhauptmann, die Männer von Hönnepel geben sich die Ehre, auf Euer Wohlergehen zu trinken.«

»Ich danke den Herren!«

»Jawoll!« rief eine mächtige Stimme herüber, »wenn wir den nicht hätten, wir könnten uns einmachen lassen. Daß wir so ruhig hinter unsern Deichen sitzen, so ganz nach unsrer Fassong, ohne alljährlich bei den Hochwasserzeiten Angst in die Hosen zu kriegen, das haben wir nur ihm allein zu verdanken. Fehlte er uns, wir stäken im Wurschtkessel drin, könnten als Schermäuse und Hamster an den Pfoten saugen, und daher: so 'nen Mann muß man feiern.«

»Müssen wir, tun wir!«

»Phöns, allong!«

»Hurra – der Deichhauptmann!« und »Hurra und Vivat« ging das durch das ›Blaue Pferdchen‹, daß davon der Kalk von den Wänden bröckelte.

»Hurra und Vivat!«

Rennings strahlte.

»Blexem! da habt Ihr's.«

Nur im Honoratiorenzimmer hatten die Leute geschwiegen.

Schon während der Ovation war Pitt an die Seite des Insichgekehrten getreten, verstört und benommen, das Troddelmützchen verstellt auf dem Kopfe, die Perlstickerei ›Alles mit Gott‹ nach hinten gerichtet.

»Es ist 'ne Schande, Herr Deichhauptmann,« flüsterte er ihm zu, »daß die da drüben noch sitzen.«

»Wer sind's denn, Herr Lörksen?«

»Krage Honde, um's schlankweg zu sagen. Cornelis ten Berg mit seinen Kumpanen. Alle von Grietherorth und vom Emmericher Eiland.«

»Was betreiben sie denn?«

»Dumm Zeug betreiben die Kerle. Schandalieren auf meinen Burdo und behaupten, ich täte Zuckerrübenwasser mit Heidelbeeren verzapfen. Außerdem haben sie noch andere Spitzfindigkeiten und Stänkereien auf Lager.«

»Dann schmeißt sie 'naus!« donnerte Rennings.

»Mynheer Kaptän, wenn einer so könnte! Ich möchte schon gerne. Sie haben mir schon lang auf der Schwarte gelegen. Aber es ist noch nicht aller Abende Morgen geworden. Ich muß sie erst auf 'nen näheren Umstand erwischen. Das kommt noch. Ihr werdet's erleben,« und in aller Geschäftigkeit begab er sich wieder in die Nähe der Honoratiorenstube.

Rennings lachte hinter ihm her.

»Pitt ist zum Mäusefangen. Da seht nur!« und richtig: da stand er mit ausgebreiteten Löffeln an der halboffenen Tür und lauschte auf das animierte Gespräch in dem gesonderten Zimmer, ähnlich dem Kyslar Agassy an der goldenen Pforte, dem Oberaufseher der Odalisken und Chef der schwarzen Eunuchen, dem es zusteht, eine abwegige Dame abzufangen und ihr die seidene Schnur überreichen zu lassen.

Seine Ohren wurden immer länger und breiter.

Rennings hielt sich den Bauch, wandte sich aber schließlich an Arnt und meinte: »Deichgräf, Ihr müßtet eigentlich so 'ne kleine Gegenrede entrieren.«

»Natürlich, Kaptän.«

Arnt Schwaters erhob sich.

Mit gemeißeltem Gesicht stand er hinter der Tafel.

Alles verstummte.

»Pst! der Herr Deichgräf ...!«

»Meine Herren, als da sind Grundbesitzer und Niederungsbauern – allen meinen Gruß zuvor! Fröhlicher Zuruf wurde mir von den Männern aus Hönnepel, aus Wissel, von jedem, der sich hier im Saale befindet. Daß ich stolz darauf bin, brauche ich keinem zu sagen. Aber diese Ehrung verdiene ich nicht, wenigstens nicht in diesem ausgiebigen Maße. Ich tue und tat nur, was Pflicht ist, nur das, was ich bereits den meisten von euch an dieser Stelle und bei Gelegenheit eines Kreisausschusses in der historischen Kammer zu Kleve gelobte. Ihr und ich, wir alle sind uns wechselseitig verpflichtet. Nur im erbitterten Kampf mit dem Wasser können wir unsere Scholle, unsern Wohlstand behaupten; aber nur mit äußersten Kräften. Deichhauptmann und Deichpflichtige sind eins wie Pflugschar und Erde, wenn auch hier die Weisung gilt: Getrennt marschieren, vereinigt schlagen. So haben's schon unsere Altvorderen gehalten. So ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Hand in Hand und Treue um Treue: das ist Wohlstand und Friede. Sie wohnen hinter den Deichen, schweißen Menschen und Interessen zusammen. Hand in Hand und Treue um Treue. Dieser Treue mein Hoch. Sie lebe!«

»Sie lebe!«

Im ›Blauen Pferdchen‹ klangen die Gläser.

Nur im Honoratiorenzimmer war eisiges Schwaigen.

Dann schallendes Gelächter.

Alle horchten auf.

Pitt Lörksen verzog sein Gesicht, als hätte er auf ein Pfefferkorn gebissen.

Gleich darauf kam er gesegelt.

Alles schwappte an ihm: Bauch und Tröddelchen.

Schon von weitem gestikulierte er mit Armen und Beinen: »Der Stunk schreit gen Himmel. Die Kerle da drinnen verlöffeln 'ne hundsmiserable Sauce.«

Dann ganz in der Nähe: »Sie setzen alles auf ein und dieselbige Karte, die Luders. Sie schimpfieren Ihnen, Herr Deichgraf.«

»Mir gleich,« kam es hart zurück.

»Aber sie sagen dabei, Sie wären nicht der richtige Mann an der richtigen Stelle.«

»Soll mir egal sein.«

Die von den Nachbartischen wurden aufmerksam, rückten näher heran.

»Herr Deichhauptmann, ein Wort nur. Hier diese Fäuste – sie stehen zu Ihren Diensten, Herr Deichgräf!«

Zwanzig reckenhafte Männer umringten ihn, boten ihm Gefolgschaft an bis auf die innersten Knochen.

Er winkte ab.

»Ich danke den Herren. Wenn's schlimmer kommt, ich kann's schon selber besorgen.«

»Schon richtig,« rief Lörksen. »Indessen, Herr Deichgräf, sie fallen auch über die vom Knollenkamp her und machen sich 'n reguläres Amüsement draus, sie splitterfasernackig auf die Assiette zu legen.«

»Was ...?!«

»Um sie gewissermaßen in Umlauf zu setzen.«

»Verdammich!«

»Und dann noch, Herr Deichgräf ... sie sagen: man hätte sie besser wie 'ne Ratze versoffen, damals, als der Kaptän sein ›Doortje‹ aufs Rheinwasser stellte, denn sie wäre so gierig auf Mannsfleisch wie dito die nämliche Ratze auf Käse. Nur zu Ihnen hätte sie prosit die Mahlzeit gelächelt, weil Sie ihr als Mann nicht kumpabel erschienen.«

Arnt umgriff die Tischkante.

Noch war er ruhig, obgleich es in ihm kochte und strudelte.

»Lörksen, wer sagt das?«

Von drüben kam ein neues Gelächter.

Pitt streckte die Hand aus: »Wer denn anders als die da?!«

»Und wer unter ihnen?«

»So viel ich gehört hab': der vom Emmericher Eiland.«

»Lörksen, ich danke.«

Arnt Schwalers erhob sich.

»Phöns,« rief er zur Musikantentribüne, »Achtung, 'nen Walzer! Aber 'nen flotten. Denen da drinnen muß aufgespielt werden.«

Phöns legte los.

Die ›Rosen aus dem Süden‹.

Unter ihren Klingen wurde das ›Blaue Pferdchen‹ rebellisch.

Der gesamte Grundbesitz stellte sich entschlossen auf die Seite des Angerempelten.

Von Rennings und etlichen Starken begleitet, schritt Arnt dem Honoratiorenzimmer zu.

Lärmend drangen sie vor.

»Ruhe hinter mir! Ich mach's schon alleine.«

Anna Donsbrügge war tot für ihn. Für ihn waren ihr längst die Sterbegebete gesprochen; aber sie von diesen ekelhaften Händen betasten zu lassen ...

Mit einem Fluch stieß er die halbgeöffnete Tür auf.

Hochaufgerichtet stand er im Rahmen, blutleer die Lippen, stahlharte Funken im Blick, das Antlitz wie aus einer Leichenkammer genommen.

Durch den Tabaksqualm, durch das düstere Blaken der Lampe sah er auf halbleere Flaschen, auf glühende Zigarrenstummel, in entstellte Gesichter.

Und eins war darunter ...

Zum Henker noch mal, wie sah dieses Gesicht aus!

»Wer von euch hat mich als den nicht richtigen Mann an der richtigen Stelle bezeichnet?« rief er in die quälende Stille hinein.

Keine Antwort erfolgte.

»Auch gut! denn ich hab's nicht anders erwartet. Ich weiß es zu tragen. Lump bleibt Lump, oder er muß seine Behauptung beweisen. Sonst rieselt sie ab wie schmutzige Tropfen vom Ölrock. Aber wer war's, der von euch seine schmierige Faust an Anna Donsbrügge legte ... so'n Viechskerl ...?!«

»Was Viechskerl ...?!«

Cornelis ten Berg taumelte hoch.

Der reichlich genossene Burgunder hatte den Rosenkranzmenschen überhitzt, ihm einen brutalen Mut unter die Weste gestoßen. Nichts mehr in ihm von einem salbungsvollen Beamten, von einem, der am Leitseil der Melkmamsell herumlief, ihr die besondere Liebschaft mit dem ersten Pflugknecht verstattete.

Den Herrn Jesus Christus warf er beiseite.

Der Gänsehals längte sich.

Mit hochrotem Kopf pulverte er los: »Jawoll, um es kurz zu vermelden. Was ich für alle Ohren bestimmte, war auch an Eure Adresse gerichtet. Ich, der Viechskerl, habe mir die Ehre genommen.«

Herausfordernd trieb er seine Arme in die Höhe.

»Faust weg und die Verleumdung zurück!«

»Mein eigenes Wort sollte ich fressen?!«

Ein schmetterndes Lachen.

»Ich denke nicht dran. Was ich gesagt hab', kann ich beweisen. Nur Säue verschlucken ihren eigenen Auswurf.«

»Das Wort zurück, oder ich schlag's Euch dreifach zwischen die Zähne!«

»Das wollen wir sehen!«

»Cornelis, zum letzten ...?!«

»Daß ich ein Narr wäre! Das Weib bleibt das Weib in seiner gierigen Nacktheit. Das merk' dir, du Hundsfott!«

Er hatte den Hals einer leeren Flasche umgriffen, als der Deichhauptmann zusprang.

»Auch das noch?!«

Mit einem Satz war Arnt jenseits der Tafel ... hatte die Faust um die Gurgel seines Gegners gelegt ... ihn rücklings gedreht und ihm Kopf und Rumpf gegen Wand und Tapete geheftet. Die umgriffene Flasche klirrte zu Boden.

»Was Ihr mir antut, soll mir egal sein. Aber den Hundsfott zurück und dem Weib seine Ehre!«

Alles erbleichte.

»Den Hundsfott – ja!«

»Das langt nicht, das macht dich nicht frei aus dem Schraubstock.«

Die Hand schnürte fester.

»Hasple dein Vaterunser herunter, bekenne: Ich, Cornelis ten Berg, lästerte und verleumdete lediglich aus dem Grunde heraus ...«

Mit blutunterlaufenen Augen quoll es dem Angehefteten über die Zähne: »... lästerte und verleumdete lediglich aus dem Grunde heraus ...«

»Weil ich die Herrin vom Knollenkamp zur Ehe begehrte ...«

»... zur Ehe begehrte ...«

»Sie mir aber Leib und Seele versagte ...«

»... Leib und Seele versagte ...«

»So wahr mir Gott helfe.«

»So wahr mir Gott helfe.«

»Genügt mir.«

Die Faust ließ nach, der Schraubstock öffnete sich.

»Verdammich!«

Noch einmal bäumte sich Cornelis ten Berg auf.

»Kein Wort mehr!« fuhr ihm Arnt in die Parade, »und wenn es Euch ansteht: beim Friedensrichter sehen wir uns wieder. Ich bin immer zu finden. Ob Ihr aber ...«

»Wird sich hüten!« rief einer von Wissel.

»Und ihr da,« und der Deichhauptmann wandte sich an die schlimmen Kumpane, die sich wie verlähmte Hühner in den Ecken herumdrückten und nicht wagten, für ihren Genossen nur einen Finger zu rühren, »nochmal dies Lachen, nochmal dies Gewieher, und ihr sollt wissen, wie sich verprügelte Hunde benehmen. Bahn frei! Hier habt ihr nichts mehr zu suchen.«

Seine Rechte wies auf die Türe.

Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung.

Unter qualvoller Stille ein heimliches Schleichen ... und sie schlichen hinaus: Cornelis, jetzt wieder der Frömmler, der Rosenkranzbeter, der Mensch mit dem Schuh Peternells im Nacken, der Heuchler und die räudige Seele ... und mit ihm die anderen.

Ein befreites Aufatmen.

»Fenster auf und frische Luft in die Bude!« rief Lörksen, »und Hurra der Deichgräf!«

»Blexem und Donnder!«

Alle umdrängten ihn, feste, ehrliche Hände wollten in die seinen hinein.

»Brav so, Herr Deichgräf!«

»Bist unser Mann!« kam es von anderer Stelle daher, »und so möge es allen geschehen, die den niederrheinischen Namen beschimpfen.«

»Herr Deichgräf, es gilt!«

Arnt hatte sich auf einen Sessel geworfen.

Sein Blut rauschte.

»Es tut mir leid um den Mann, aber es war nicht anders zu machen.«

»Bei Gott nicht!« warf Rennings dazwischen, »und wäre er mir in die Tatzen gefallen – ich stehe dafür: nicht lebendig wäre er aus dem ›Blauen Pferdchen‹ getorkelt. Was Lörksen?!«

»Nee!« lärmte dieser. »So! und jetzt Platz genommen ... frische Bouteillen ... natürlich: alles auf mein eigenes Konto! Holla, Bedienung!«

Und sie setzten sich wieder und trennten sich erst, als es zu grauen begann und ein kühles Windchen mit spitzem Mund durch die geöffneten Fenster hereinhüstelte.

Die überständigen Lampen verlöschten.

»Gott befohlen, Herr Deichgräf!«

»Gott befohlen, die Herren!«

Arnt, das Spinnwebmännchen und Rennings gingen gemeinsam.

An der Rheingasse trennten sie sich.

»Das vergißt Euch keiner im Leben,« sagte der Kapitän. »Das war freiwillige Tat, und dazu gab der Himmel sein Amen. Brav so.«

»Wollen's hoffen,« nickte Arnt, verabschiedete sich und ging landeinwärts.

Der Himmel war blank, die Erde tau- und regenübergossen.

Ein glasiger, fröstelnder Sommermorgen stierte ihn an.

Die bleichen, kalten Dinge um ihn röteten sich.

Ihm war, als hingen noch verlorene Klänge in der Luft: Klänge des Durchlebten ... aus der verflossenen Nacht ... häßliche und solche, mit denen er nichts anzufangen wußte.

Auch ein Schrei war dazwischen, der bange Ruf eines Weibes.

Er wiederholte sich zu verschiedenen Malen.

Er hatte ihn schon gestern abend gehört ... gegen zehn ... dann später ... aber immer wurde er übertönt von dem Klingen der Gläser, den langgezogenen Harmonikatönen, dem Rollen des Wetters und dem seines eigenen Blutes.

Er konnte diesen wehen Schrei nicht vergessen.

Wurde ihn nicht los.

Er hatte nach ihm gerufen ... um sein Kommen gebettelt ...

Hinter diesem Schrei streckten sich sehnende Arme, und er hatte diese Arme von sich gewiesen.

Rechts von ihm lag der Knollenkamp in der grauen Ebene.

Er warf einen Blick auf den verlassenen, öden Hof, drüben, zwischen den noch traumschweren Bäumen.

Das Herz krampfte sich ein.

Und nochmals wähnte er den Schrei zu vernehmen.

Er lam vom Knollenkamp her. Wie die Pranke einer Pantherkatze schlug er ihm in die zerquälte Seele.

Nichts mehr, nichts mehr!

Anna Donsbrügge war ihm für immer verloren.

Hinter ihm erhob sich das Licht des jungen Morgens.

 

Lauda Sion Salvatorum ...! Am nämlichen Tage noch, einige Stunden vor dem Mittagläuten, machte sich der ehrwürdige Dechant Johannes van Holten, Pfarrer in Wissel und Ehrendomherr der hohen Kathedralkirche zu Münster, auf den Weg, den ihm die Beichte und die Selbstvorwürfe des alten Schäfers vorgezeichnet hatten.

Sein Ziel war der Knollenkamp.

Er war frohen Gemütes und zuversichtlichen Herzens, denn er kannte jeden einzelnen aus seiner weitverzweigten Gemeinde und alle kannten ihn und verehrten in ihm ihren Leiter und getreuen Seelsorger. Was er anordnete, war wohlgetan, und was er ihnen in Güte und Strenge anempfahl, fiel bei ihnen auf fruchtbares Erdreich.

Er dachte an Anna Donsbrügge und dabei an die Schwestern im Häuschen von Bethanien.

»Sie ist wie Martha,« sagte er mit leichtem Hinsinnen, »gut und gerecht, nur zu sehr mit irdischen Dingen beschäftigt. Scholle und Besitz, heißes Verlangen und allzu große Werktätigkeit! Martha, Martha,« fuhr er eifriger fort, » solicita es et satagis de multis; atqui uno opus est: Maria vero bonam partem elegit, quae non auferetur ab ea. Werde wie sie, und du hast die Palme errungen.«

Straffen Ganges folgte er den blumigen Pfaden.

Er kannte keine Müdigkeit.

Achtundsiebenzig Jahre trug er auf seinen noch immer rüstigen Schultern.

Noch immer sah und suchte er mit offenen und glücklichen Augen.

Ein frisches Sommerlüftchen wehte ihn an.

Das seines Dunstes benommene weite Land lag strahlend um ihn gebreitet. Von allen Rispen und Gräsern tropfte der Tau, spiegelte sich die liebe Welt in den Farben des Regenbogens. In Andacht versunken, erinnerte er sich der hohen asklepiadeischen Strophe, die da lautet:

»Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh' Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt«,

und frohen Gemütes und zuversichtlichen Herzens trat er alsbald in den stattlichen Hof ein.

Als er ihr Zimmer aufsuchte, fand er sie in der Nähe des Fensters sitzen, übernächtigt, ein verstörtes Erstaunen auf dem Gesicht, als wenn sie sagen wollte: »Weshalb kommst du? Das Unabänderliche ist nicht mehr zu ändern.«

Sie erhob sich.

»Hochwürden,« sagte sie leise.

Er trat näher heran, und ihm war, als läge um sie etwas Schlummerndes, Ungelöstes, das nicht geweckt werden durfte ... ein Verfall, eine trostlose Leere ... ein unterdrücktes Wimmern und Weinen.

Sie bat ihn, Platz zu nehmen.

Bald darauf saß sie ihm dicht gegenüber, regungslos, mit halbgeschlossenen Lidern, noch immer nicht fassend, was sich begeben, mit kaum verhehlter Ungeduld und mit Händen, die etwas zu zerpflücken schienen.

»Was Sie herführte,« sagte sie nach längerem Schweigen, »ich weiß es, obgleich ich fremd wurde in meinen Gedanken, in meinen eigenen Wänden. Strückerjans brachte Sie her. Sie hörten seine Stimme und kamen.«

»Anna Donsbrügge, Schatten sind Schatten. Wir wollen keine Schatten beschwören. Wir stehen mitten im Leben ... und schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht ... Lassen wir ihn. Seine Wege sind kraus, wenn sie auch in das Himmelreich führen. Er zählt zu den Bravsten unter den Braven, unter den Auserwählten, allein – und das bedarf der Erwägung – in seinem Gebetbuch für christkatholische Menschen stehen neben Blüten von rührender Einfalt auch solche, die wie bizarre anmuten und mit ihren Staubfäden klingeln wie mit den Schellen der Toren und Unbesonnenen. Lassen wir ihn! Narren in Gott wollen das Beste, gehen für die, die sie lieben, durch Feuer und Wasser, streuen gutes Korn neben gutes, ohne zu wissen, daß sie dabei auch unnützes und wirres bestellen. Sie ähneln dem eifernden Simeon Stylites, der aus Liebe zum Herrn, als Büßer für die Sünden der Menschen dreißig Tage hindurch eine hohe Säule bewohnte und von ihr aus die Erde unter sich gleich einem Reiher beschmutzte. Und der Alte treibt es in seinem Eifer noch ärger als dieser. Seine wohlgemeinte Saat zeitigte Unkraut. Er hat bereut und gebüßt,« und dann begann er abzuschweifen, sprach über das Gedeihen des Hofes, über das Wachsen ringsum, über die zu erwartende Ernte, wie alles in Hülle und Fülle stünde, mannshoch die Halme, die Ährenköpfe gesenkt, mit prallen Körnern gefüllt, kein böses Kraut im Getreide, nicht Disteln und Hederich, sondern alles blank und schön wie in einem weiten Gottesgarten ... um dann wieder in weiser Umsicht auf den Zweck seines Besuches überzuleiten.

Sie hörte ihm zu unter schwerem Leid, mit wehen Blicken und hub unauffällig an, ihm mit zitternden Fingern die geheimsten Falten ihres Herzens auseinander zu nesteln, ihre Anfechtungen und Zweifel und alles das, was die Seele eines Weibes bedrängt, um schließlich zu stammeln: »Verachtet, abgewiesen und scheinbar durch Sünde gegangen. Wer will mich da richten, Hochwürden?«

»Ich nicht,« versetzte der geistliche Herr und nahm ihre Hände, »und was ich jetzt sage, ist bereits von mir in der verflossenen Nacht überdacht und in der Frühe niedergelegt worden. Es lautet: Meine Augen sehen und meine Ohren hören, und was sie sehen und hören, ist nicht in die Luft gezeichnet oder ein Klingen, das zwischen Erde und Himmel hängt und gar nichts bedeutet. In dir sind zwei Naturen verkörpert. Du – du hast das Gemüt eines Kindes und den stolzen Sinn einer schönen Pantherkatze. Die Lust nach dem Manne beherrscht dich. Aber du bist fern davon, eine törichte Jungfrau zu heißen. Deine Lampe verlöscht nicht. Sie hat des Öles genug und wird ewiglich brennen.«

»Hochwürden ...!«

»Lasse mich sprechen. Eine Anna Donsbrügge, die ich von ihrer Jugend an kenne: mit vollen Händen spendet sie und hat sie gespendet, ohne daß die Linke weiß, was die Rechte verausgabt, aber sie wird auch ihr Erbe verteidigen mit der Entschlossenheit eines Fahnenträgers, der sein seidenes Tuch zu beschützen hat, selbst auf verlorener Walstatt ...« und seine Worte begannen zu leuchten: »Anna Donsbrügge, eine Kampfnatur bist du, just wie dein Vater. Drum trage ich Sorge ... und doch keine Sorge: denn es ist ein Erbteil aller, die am Niederrhein wohnen. Und das übrige ... durch die Lust nach dem Manne, durch den Schrei nach dem Kinde bist du irre geworden und doch nicht in die Irre gegangen. Der Schein ist wider dich, und dein Tun und Lassen weicht von dem ab, was wir das Hergebrachte und das Gewöhnliche heißen. Und dennoch: ich hebe die Hand nicht auf, um dich sündig zu sprechen. Jedem von uns ist sein Kreuz gegeben. Auch du trägst das deine, aber ich sehe: du trägst es mit Würde, wenn auch zerquält und zermartert, und solche Menschen überwinden die beschwerlichen Wege des Lebens bis zum Ende, wo die Tränen versiegen und die Freuden beginnen, durch sich und die Gnade des Herrn.«

Sie richtete sich auf.

»Ich danke, Hochwürden. Aber ich will keine Milde, und wenn da Schuld ist,« fügte sie schmerzlich hinzu, »so sagt es den Leuten und predigt es von der Kanzel herunter, auf daß mir werde, was ich verdiene.«

Johannes van Holten machte eine stille Bewegung.

»Die Menschen kennen mich, und ich kenne die Menschen. Allen, die den Mund wider dich auftun und willens sind, dein Kleid zu besudeln – die Wahrheit wird ihnen den Mund verschließen, sie zwingen, dem Kleid seine frühere Reinheit zu lassen. Bedenke: Leben heißt Kämpfen, und im Kämpfen liegt der Wille zum Siege.«

Er nickte.

Frohen Gemütes und zuversichtlichen Herzens, so wie er gekommen, verließ er auch wieder den Hof, dem er Trost und Hoffnung gespendet.

Anna Donsbrügge blickte ihm nach, sterbensmüde, aber gefaßt, wenn auch um die Mundecken eine unnachsichtige Härte.

Sie galt nicht dem Seelsorger.

Der geistliche Herr wollte in seiner allesumfassenden Liebe das Beste.

Aber sonst? Weshalb war er erschienen? Weshalb diese Fülle an gütigen Worten? Ihr Geist arbeitete. Gewiß, sie hatten vieles hinweggenommen, aber das Schlimmste doch nicht behoben. Das Bitterste und Grausamste blieb ihr, denn das Unabänderliche läßt sich nicht ändern. Sie war kein Tal mehr, das der Siloah befruchtete, keine Ebene von Jesreel mehr, in der die Rosen zu tausenden und abertausenden blühten. Ihr Geschick mußte sich eben erfüllen, der Kelch bis zur schalen Hefe geleert werden, und in dieser Erkenntnis befreundete sie sich mit dem, was der Herr ihr auferlegt hatte.

Am folgenden Sonntag ging sie ins Hochamt, und allen fiel es auf, daß der Dechant sie bereits an der Kirchenschwelle begrüßte, ihr liebevoll zusprach und sie bis zu ihrem Betpult geleitete. Auch seine Predigt war seltsam. Sie säuselte dahin mit dem Fächeln einer Sommerbrise, gleich einem plätschernden Wiesenborn, um dann zu einem rauschenden Strom, zu der tosenden Stimme eines Orkans zu werden. Johannes van Holten gab mit milden und duldsamen Händen, um mit rauhen Fäusten zu geißeln. »Wahret die Ohren und hütet die Zungen! Ein liebendes Weib trägt den Heiland im Herzen. Lästert ihn nicht!« und er sprach von dem Mühlstein und von der Tiefe des Meeres ... und flocht ein Kränzlein aus weißen Rosen ... und ließ es dahinschweben ... und das Kränzlein senkte sich auf Anna Donsbrügge nieder.

Als sie die Kirche verließ, standen die Frauen verstört umher, wagten es nicht die Blicke zu heben, während die Männer sich freier und unbefangener gaben und, von der hohen Frau gebannt, die Mützen herunter zogen.

Die vom Knollenkamp hatte noch nichts von ihrem stolzen Ansehen verloren.

Von Jüllecke Nakatenus hörte sie kaum noch, auch von Jan-Ohme nicht. Der Herr vom Baumannshof schien bei einem Tarnkappenmeister in die Lehre gegangen zu sein, bei einem Adepten des Unsichtbarmachens als Geselle zu dienen. Den Hof seines verstorbenen Schwagers vermied er. Dafür regierte er um so emsiger auf seiner eigenen Hufe und ließ dabei die Peitsche knattern, daß man es knallen hörte vom Entenbusch bis in die Gegend von Grieth hin, natürlich, alles bloß dusemang und fortepiano. Des öfteren jedoch sprach Doortje Rennings vor und trug viel dazu bei, die ernsten und traurigen Falten von der Stirne der Ärmsten zu wischen.

Auf dem Knollenkamp nahm das Schaffen und Werken seinen geregelten Fortgang.

Die Herrin war mehr als sonst auf den Feldern. Die nahende Reife des wiegenden Kornes beruhigte sie. Die weiten Getreideflächen gleißten und leuchteten um sie. Mit liebevoller Hand glitt sie über die fruchtschweren Ähren. Es tat ihr wohl, die Halme zu streicheln, ihren Duft zu atmen, ihre Blicke über das immense Wallen und Wogen, über die traumhafte Dünung zu schicken. Bald konnten die Sensen mit ihrer Arbeit beginnen, viel früher als sonst, viel eher als in den verflossenen Jahren. Ihre Brust hob und senkte sich. Das Härteste lag hinter ihr. Sie hatte sich damit abgefunden, so gut es ging. Ernste Pflichten traten an sie heran. Wie lange noch – und die Ernte mußte eingeholt werden. Aber was dann? Nur zweimal noch durfte sie auf ihrem eigenen Grund und Boden den Acker brechen, ihn bestellen, die gezeitigte Frucht heimsen und bergen ... aber was sollte dann weiter geschehen? Die kalten Buchstaben der letzten Verfügung ihres Vaters reihten sich halsstarrig nebeneinander. Sie sagten: »Als präsumtive Haupterbin, die gehalten ist, die oben angeführten Legate nach bestem Willen und Wollen und auf Heller und Pfennig in die zuständigen Hände zu legen, wird meine ehelich erzeugte Tochter, überhaupt mein einziges Kind, in aller Feier und Form und von Rechtens bestellt, auf daß es ihr wohl ergehe und sie noch lange lebe auf Erden. Doch mit dem Vorbehalt, daß sie ihr Magdtum höchstens auf drei Jahre befristet und sich binnen dieser Zeit nach einem Hochzeiter umsieht.«

»Auf drei Jahre befristet.«

Sie sprach die Worte in wachsender Erregung.

Ihre Blicke überflogen die Gegend bis zum Emmericher Eiland.

Dann hafteten ihre Blicke wieder am Boden und umgriffen die Ackerkrumen.

Das alte Grauen kehrte zurück.

Mit diesem Grauen im Herzen schritt sie dem Hof zu. –

Acht Tage später erschienen die Holländerfahrer, traten Mäher und Binderinnen ihre Tätigkeit an.

Und abermals kam eine Nacht voller Feuer und Wetterleuchten. Der Regen goß in Strömen vom Himmelreich. Bis zum frühen Morgen währte das Rauschen. Dann tropfte es nieder mit dem seinen Wispern von unzähligen Stimmchen.

Gegen elf ließ Doortje Rennings sich melden.

»Nein, dieser Jan-Ohme! Mit Rennings hat er gestern wieder seit langer Zeit im ›Blauen Pferdchen‹ gesessen, bis gegen zwölfe. Ach Gott, dieser Aufstand! Wie 'n Wilder hat er gelärmt und die Gläser zertöppert, nur weil Pitt es wagte, 'ne wohlmeinende Lippe über Euch zu riskieren. Der Mann war nicht wieder zu kennen. Alles Feuer und Mordio. Mag sie in ihrem Magdtum ersticken, das Weibsbild! hat er getobt, und weiter geschrien: Und dem da zwischen den Katen soll man bei lebendigem Leibe ... Hurra! und dann ist 'ne volle Champagnerbouteille in Pitt Lörksen seinen besten Spiegel geflogen.«

Anna Donsbrügge hörte scheinbar über sie fort. Sie lauschte nur auf das Tropfen und Gurgeln da draußen und lauschte noch immer darauf, als Doortje sich längst verabschiedet hatte.

Ein weher Schrei brach ihr plötzlich vom Munde.

Die alten Wunden begannen aufs neue zu fließen.

Die verhaltene Sehnsucht kehrte zurück.

Es hielt sie nicht mehr.

Wie die Stunden langsam dahingingen, wie sie ihr Denken mit trostlosen Fingern berührten!

Und der da drüben ... wie hatte er sie in seinen Armen getragen, durch Tod und Not und Sturmflut, Brust an Brust, die klopfenden Herzen hart gegeneinander! um jetzt so von ihm mißachtet und verleugnet zu werden!

Von ihm ...!

»Bin ich ihm denn nicht wert und würdig genug?! Bin ich ein Nichts, eine fahrende Dirne?!«

Alles in ihr bäumte sich auf. Ach, und da draußen, wie das tropfte und wisperte! Wie die Erde unter dem Rieseln sich dehnte ... ein braunes, hingestrecktes Weib ... längst die Begnadete ... die Geburt der Ernte ersehnend ... bereits in Mutterwehen begriffen

...! Wohin sie lauschte: rings ein Seufzen und Ächzen, ein Schlürfen und Schlucken, ein wohliges Sichdehnen und Umarmen.

»Mutter Erde! Mutter Erde!«

Und sie ... und sie ... und sie ...?!

Stunden hindurch erwog sie das bittere Weh, die herben Gedanken. Sie war nicht mehr Herr ihrer Sinne. Eine dumpfe, religiöse Verzückung ergriff sie ... und noch immer da draußen: das Sickern und Wispern ... das braune, hingestreckte Weib ... die Erde mit ihrem ewigen Verlangen ... ihrem Empfangen und Gebären ...

Und sie?! War sie denn ausgeschlossen aus der Reihe der Hoffenden, der Liebesuchenden? War sie denn ein trostloses Steinfeld, ein wüster, ein unergiebiger Acker? War ihr Leib denn geschändet? War sie denn nicht berufen, zu lieben, sich an Manneslust und -leid zu erfreuen, fruchtbar zu sein und dem Hof einen Erben zu geben?

»Nein!« schrie es ihr zu, »ein verschmähtes Weib hat seine höchsten Rechte verwirkt.«

Ihr Blut lärmte.

»Du,« stöhnte sie auf, »du fandest den Weg nicht zu mir, aber zu dir: ich werde ihn finden ... und Stirn gegen Stirn – ich werde dir sagen: Wage es, mir ins Auge zu sehn! Der Triumph muß mir werden. Dann mag alles hinter mir erstarren und tot sein. Ich will ...!« und sie warf sich ein Tuch um die Schultern und ging in den werdenden Abend hinaus, in den laulichen Abend, der seine Tränen verloren hatte, aber in tausend und abertausend besprühten Gräsern glitzerte und funkelte.

Strückerjans verfolgte sie mit lederhartem Gesicht.

»Die tanzt nicht den Tanz des jüdischen Weibes,« sagte er glücklich, »und tut nicht ihre Kleider herunter, um ihre jungen Brüste zu zeigen. Aber sie hat einen schweren Gang zu machen, einen gerechten und hohen. Gott mit ihr!«


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