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8

»Könige seid ihr, und einer von euch kann sich 'ne Königin holen ...«

Noch lange zitterten diese Worte in ihren Herzen nach, gaben zu denken und brachten eine gehobene, wenn auch empfindsame Unruhe in die Schwaterskat, auf die Emmericher Helling und weiter ins Land hinein, wo der Klever Reichswald den Horizont mit seinen blauen Konturen umsäumte.

Nur Jüllecke Nakatenus hatte zuversichtlichen Boden unter den Füßen. Allerdings, der Stein ihrer sehnlichsten Wünsche war ins Rollen gekommen und trudelte nun von einer sanften Berglehne ganz gemächlich talwärts, um sich da drunten irgendwo zwischen duftigen Wiesenblumen zu betten. Ach, wie das wohl tat! wie das die erwartungsvolle Seele erfreute! wie ihr das bekam, gleich 'nein staatsen Weck, met Rosinne drin, sonder Stengels en Pöntjes – und so triumphierte sie denn von einem Sonntag in den anderen hinein, obgleich die meisten Werkeltage waren, reich an Arbeit, reich an kleinen Wirrnissen und Verdrießlichkeiten, die sich nun einmal mit dem Erdenwallen verknüpfen. Allein, das berührte sie nicht. In ihrem Herzen war Kirmes. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein hörte sie nur Budentrubel und Karussellmusik. Um sie her duftete es nach Spekulatius und Nymwegener Moppen, nach Janhagel und Pfefferkuchen ... und drüben, in einer großartigen Tente, stand da nicht Jan-Ohme, in Gala, und forderte er sie nicht auf, mit ihm einen getragenen Walzer zu schleifen?! Ja, er legte ihr den Arm um die Taille. Dann ging's los: dreimal rechts herum, dreimal links herum und dann hinaus, aber ganz heimlich und still, in die Nacht voller Sterne. Überhaupt Jan- Ohme! Er war ihr Held und ihr Erlöser geworden. Er kam ihr vor wie der heilige Luthardus, der neben dem Hauptaltar in der Stiftskirche zu Wissel aufragt, mit bärbeißigem Gesicht, aber mit Augen, so einen ewigen Gottesglanz aufwiesen, der sich allbarmherzig über Gerechte und Ungerechte verteilte. Christus! und wenn sie seiner Worte gedachte. Schönere hatte der Herr Dechant selbst nicht am Ostermorgen gepredigt. Sie verliehen ihr Schwungkraft und Flügel. Mit ihnen wiegte sie sich als Ringeltaube zwischen den Katen und wurde nicht müde, die kleinen Wirrnisse und Verdrießlichkeiten des Daseins hinwegzuturteln und die Stunden der Arbeit zu Stunden der Weihe und des Behagens zu machen.

So Jüllecke. Nicht so ihre Getreuen.

Wo waren sie nur? Wo blieben sie nur? Hingen ihnen die Tage nicht voller Sonnenfeuer, die Nächte nicht voller glitzernder, verheißungsvoller Planeten? Mußten sie nicht hingehen und sagen: »Nun endlich leuchtet uns das Licht, der Pharus des Lebens, denn wir haben den Heiland gefunden?«

Ja, so hätten sie sagen müssen, wenn sie der Verheißung gedachten: »Könige seid ihr, und einer von euch kann sich 'ne Königin holen ...« allein diese Worte machten sie nur noch abgekehrter als früher, genau so wie der gottselige Thomas a Kempis sich immer tiefer in Zweifeln und Anfechtungen verlor, bevor es ihm gelang, die ›Nachfolge Christi‹ in ihrer ganzen Fülle und Unermeßlichkeit niederzuschreiben. Gewiß, sie hatten die Botschaft vernommen, allein ihnen fehlte der Glaube, die Zuversicht, das tollkühne Wagen, sie auszumünzen und sich ganz zu eigen zu machen ... und hätte einer von ihnen die Arme gestreckt, um der gleißenden Krone teilhaftig zu werden, verlähmt wären sie ihm am Leibe heruntergesunken, aus Scham, die heiligsten Gefühle seiner Brüder bis ins Mark zu treffen. So harrten sie denn in schweigender Abwehr, litten und duldeten, gingen eigenbrödelnd ihren Berufen nach, und wenn sie sich trafen, auf der Emmericher Helling, im Reichswald oder sonstwo, sie vermieden es ängstlich, den Namen Anna Donsbrügge auf die Lippen zu nehmen, um nur nicht die wechselseitige Eintracht, die hohe Gemeinschaft ihrer Lebensauffassung ins Kentern zu bringen und ziellos treiben zu lassen. So blieb ihnen das herüber winkende Licht nur ein spielerisches Leuchten, ohne Wärme zu spenden, ohne ihren Wünschen Erfüllung und Segen zu bringen.

Und Jan-Ohme wartete.

»Kardinal, ich habe das Meine getan ...«

Kreuzkuckuck, wo stand das? Er knabberte an diesem Käse herum, ohne die eigentliche Kruste durchbrechen zu können. Das war ja zum Lachen. Irgendwo hatte er die Sentenz doch aufgetrieben, gelesen. Sie war ja mit Händen zu greifen. Aber wo nur? Bei welcher Gelegenheit? Diese erhabenen Worte! Im Katechismus standen sie nicht und in der Bibel erst recht nicht. Wenn er nur wüßte! und er ging in Gedanken die Bücher seiner Bibliothek durch, als da waren: ›Die vier Haimonskinder‹, ›Jesus, meine Zuversicht‹, ›Die Organisation des Bodenkredits‹, ›Der fröhliche Landmann‹, ›Bosko, oder die Anleitung, interessante Zauberstücke zu machen‹, ›Das ulkige Haus, Geschichten für erwachsene Kinder‹, ›Die tote Braut, oder die Träne in der Hutschachtel‹, ›Die Marpinger Wundererscheinungen vor dem königlichen Zuchtpolizeigericht in Saarbrücken‹, ›Gottes Wille und Wesen in der Natur‹ und anderes mehr. Vielleicht konnten sie aushelfen. Er blätterte darin herum, Tage für Tage, ohne der sachlichen und gediegenen Phrase auf die Sprünge zu kommen.

Das peinigte ihn. Er hatte doch keinen Unsinn geredet oder sich die Geschichte aus den Fingern gemolken?

Der alte Herr wurde unruhig, benebelt, wirbelsinnig.

»Gesagt, ist nun einmal gesagt,« sinnierte er bedrückt vor sich hin, »aber so was Gesagtes kann einem Ehre und Wissen abdisputieren,« und da wähnte er einen delikaten Rheinhecht gefangen zu haben, wenn auch mit Angelgeräten, die nicht zu den fairen und weidgerechten gehörten. Außerdem: sein Zeigefinger steckte zwischen den spitzgrätigen Zähnen ... und das Vieh wollte nicht loslassen. Aber heraus mußte das Ding, heraus aus dem Maulwerk dieses niederträchtigen Korsaren – und da nahm er eines Tages die Gelegenheit wahr, sich von dem Marterzeug befreien zu lassen.

Er pilgerte nach dem benachbarten Wissel.

Zwischen wohlgepflegten Obstbäumen und mustergültigen Tabakpflanzungen lag die Seelsorgerwohnung.

Er klingelte an.

Ja – Hochwürden waren zu sprechen.

Er pochte gegen die erste, links im Flur gelegene Türe.

»Herein!«

Ein hochbetagter Herr mit elfenbeinernem Gesicht, im violetten Kragen der Ehrendomherren, darüber ein schlichtes Kreuzlein, trat ihm freundlich entgegen: Johannes van Holten.

Im Herzen dieses Mannes wohnte nichts Hartes, nichts Gleißnerisches. Alles Parteiwesen lag ihm fern, jeglicher Wunderkram und alles das, was das Menschliche im Menschen verstörte. Er kannte nur Liebe, nur die reine, große, alles umfassende Liebe, die überlieferte Schrift und die heilige Satzung: Du sollst nicht richten, es sei denn, du bist zu diesem Amte berufen.

»Herr Baumann,« sagte er gütig, »das muß ich preisen und loben. Sie sind mir heute in zweierlei Hinsicht willkommen.«

»Hochwürden, das wäre ...?!«

»Vor allen Dingen die Freude, Sie nach längerer Zeit wieder bei mir zu sehen, direkt aus dem Strudelwasser heraus, wenngleich ich auch wahrnehme: zwischen Ihren Brauen liegt etwas Verärgertes.«

»Tut es, Herr Dechant. Das Testament meines Schwagers ...«

»Ich hörte davon. Aber ich denke: Charta non erubescit. Papier ist geduldig. Es wird sich einrenken lassen. Principiis obsta. Mittel und Wege werden sich finden, das Unerfreuliche weniger unerfreulich zu machen. Vorderhand seien Sie mir herzlich willkommen. Das wäre das eine, und dann noch ...«

Der geistliche Herr deutete zum offenen Fenster hinaus.

»Dort liegen meine Roggenschläge. Die ganze Parochie hat bereits den Segen Gottes in die Scheunen gebracht, während meine spärliche Halmfrucht noch wehmütig säuselt: Harre meine Seele, harre des Herrn, und Sie waren doch alljährlich so freundlich ...«

»Gotts den Donner noch mal! das ist mir rein durch die Wicken gegangen. Aber morgen direkt. Wieviel Arbeitskräfte haben Sie nötig?«

»Wenn ich denn bitten darf: drei Mäher und zwei Binderinnen. Auch ein Gespann könnte ich brauchen. Damit wäre die Arbeit in einigen Tagen zu leisten.«

»Aber natürlich! Per sofort. Morgen um fünfe wird hinter dem Kirchhof gedengelt. Die Angeforderten schaffen für zehne. Sie sollen sehen: es wird auf die Minute geleistet.

Johannes van Holten gab ihm die Hand.

» Amicus certus in re incerta cernitur,« sagte er mit gewinnender Herzlichkeit.

Jan-Ohme sperrte Nase und Mund auf.

Just wie sein Freund Rennings hatte er das humanistische Feld nur bis Quarta beackert. Das Lateinische lag ihm so recht nicht.

»Herr Dechant, wie soll ich das nehmen?«

»Ich meine, den sicheren Freund erkennt man in schwieriger Lage. Ich danke Ihnen, Herr Baumann.«

»Aber woso denn? Es ist gerne geschehen. Da ist gar nichts zu danken, nur – ich habe auch meinerseits so'ne kleine Bitte, Hochwürden. Zwar nicht der Verhältnisse halber, sondern bloß der näheren Umstände wegen.«

»Ich höre, Herr Baumann.«

»Oh!« sagte dieser, und es war ihm so, als befände sich der Zeigefinger schon halb aus den grätigen Zähnen. »Die Sache ist folgende: ich habe nämlich die Gewohnheit in mir, meine innersten Gefühle und Anschauungen durch 'nen kräftigen Satz zu animieren, damit sie in Schwung und Belebung geraten, und da möchte ich fragen: Existiert es irgendwo in der Welt, in 'nem Legendenbuch oder irgend auch sonst wo ... Wie soll ich das sagen? Ja so, ich meine, Hochwürden, existiert der Satz: Kardinal, ich habe das Meinige getan. Tut Ihr jetzt das Eure?«

Johannes van Holten verzog unmerklich die schmalen Lippen: »Herr Baumann, wie kommen Sie gerade auf diese Sentenz?«

»Weil ich sie für passend erachte, denn, was ich zu sagen hatte, mußte daumsdicke Nägel unter den Sohlen besitzen, und da möchte ich fragen: Lebt es in Wirklichkeit, oder habe ich etwas Dummes geredet?«

»Nein, mein Lieber, Sie irrten keineswegs. Das angezogene Wort besteht, nur in einer etwas anderen Fassung.«

»Da dürfte ich bitten ...«

»Gewiß,« lächelte der geistliche Herr, begab sich an sein Bücherregal, entnahm ihm ein schlichtes Bändchen und sagte: »Hier steht es geschrieben: Don Karlos, fünfter Aufzug, letzte Szene: Kardinal, ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre.«

»Von wem?«

»Von Friedrich von Schiller.«

»Ah!« sagte Jan - Ohme, und sein Flambeaugesicht strahlte wie das eines kalkuttischen Puters. »Das wollte ich wissen, und wenn es von ihm ist ...«

»Ja, Herr Baumann, von diesem Geistesheroen.«

»Bong! Dann befindet sich unsereins in guter Gesellschaft. Bei solch einer Firma kann man bestehen, selbst den heiligen drei Königen genüber und denen, die gewillt sind, ihnen Molesten zu machen. Ich danke auch vielmals, und wie schon gesagt: morgen um fünfe wird die erste Sense hinter dem Kirchhof gedengelt. Addio, Hochwürden,« und damit nahm er Abschied, begab sich ins Freie und trat zukunftsfreudig auf den Kommunalweg hinaus, der durch üppige Wiesen und an stillen Altwassern vorüber zum Baumannshof führte.

Gott sei gedankt! er hatte nicht mit unfairen Fischgeräten geangelt. Der delikate Rheinhecht war ihm rechtlich geworden. So durfte er denn getrosten Mutes das Weitere abwarten und das ausgeworfene Korn sich selbst überlassen. Ihm blieb nichts mehr zu tun übrig. Nun lag es seinen Schutzbefohlenen ob, sich ihrerseits zu betätigen. Sie brauchten nur zuzugreifen. Alle waren auserwählt und hatten das große Los zwischen den Fingern. Selbstverständlich konnte nur einer von ihnen den goldenen Faden spinnen, ihn drillen; nur einer von ihnen, obgleich jeder berechtigt schien, dieses Glückes teilhaftig zu werden. Also los denn dafür! Jeder von ihnen verdiente das Heil, und beneidenswert der, dem es gelang, es sich gefügig zu machen. »Also heran, ihr heiligen drei! Die Arbeit verlohnt sich!«

So Jan-Ohme, und er sah in den Abend hinaus, in den wohligen, niederrheinischen Abend, dessen Dämmerlicht ihm leuchtete, als ginge es in einem Brokatmantel und auf goldenen Pantöffelchen.

Übermütig wirbelte er seinen Stock gegen das letzte Glühen des sterbenden Tages, gegen die Schattenrisse der Katen, die ihn ernst und schweigsam zur Linken begrüßten: »Holla, ihr drei da! Es sind Rosinne drin, sonder Stengels en Pöntjes, Mynheers! und wenn es dem hinterhältigen Cornelis einfallen sollte, auch nur den kleinen Finger zu krümmen – den eigenen Rosenkranz ihm um die lurigen Ohren, auf daß wir sagen können: Das Weib ist gesegnet und Gottes Hand bereit, die Liebe und Barmherzigkeit des Herrn auf dem Erbe ruhen zu lassen. Weiter habe ich nichts mehr zu sagen. Punktum! Ich kann warten und warte.«

Und so hoffte und wartete er, indessen die Tage weiter marschierten, die Tage und Wochen, das Licht immer mehr einschrumpfelte, die Nächte sich längten und in Schlappschuhen den Morgen erwarteten, als wäre schon jetzt alle Freude und Zuversicht, alles Behagen und Schmunzeln von dieser Erde genommen.

Trotzdem hielt er an seiner Zuversicht fest, an seinen Plänen und Neuerungen, wenngleich er sich hätte sagen müssen: »Denke an Phöns met de Fleut! Du hast seine fatalen Andeutungen zu niedrig veranschlagt und eingeschätzt. Auf dem Emmericher Eiland sitzt einer, ein in der Wolle Gefärbter, der mit der einen Hand Mäuse totschlägt, um mit der andern Ratten zu züchten.«

Allein er dachte nicht daran. Er war zu gut für die Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen ... und da eines Tages ...

 

Die zierlichen Marienfäden hatten ihr Fliegen eingestellt. Vergrämelt hingen sie zwischen den Rheinweiden und tropften vor Feuchte.

Es ging stark in den Oktober hinein.

Seit langem blies ein laulicher Wind von Westen her und scheuchte dunstige Wolken über die kahle Niederung, die aussah, als hätte ein grapsiger Heideläufer ihr alles und jedes genommen. Nur noch strunkige Hackfrüchte zeigten sich hier und da zwischen den abgeernteten Liegenschaften. Die Runkelrüben waren eingebracht, die letzten Kartoffeln eingeheimst worden.

Keine fröhliche Schau mehr! Das weite Land lag grau in grau, war mißfarbig, mit unansehnlichen Fetzen umkleidet. Strichweise Regenböen schraffierten die Gegend, bald stärker, bald schwächer, um dann wieder mit erneuter Heftigkeit rheinabwärts zu fegen. Die Fernen verloren sich. In den halbüberschwemmten Koppeln standen die Bäume in abgetragenen Ölröcken, überdrüssig des ewigen Triefens und Tropfens und willens, sich langsam auf die Seite zu legen, um so den Tod zu erwarten.

»Hia da hüp!«

Auf dem ausgefahrenen Weg, der sich von Huisberden aus nach Osten erstreckte, rappelte ein leichtes Halbverdeck, in dessen Deichselschere ein derber Oldenburger ging. Gemächlich, mit hängenden Ohren, dann und wann den Kopf schüttelnd, trottete er den lehmigen Pfad unter sich fort.

Eine Peitsche tätschelte ihm über Nacken und Flanken.

Das war just um die Stunde, als Klaas-Welm sein Rheinschiff fertig montiert und sich angeschickt hatte, den wohlgelungenen Bau von der Emmericher Helling ins Wasser zu lassen, stromaufwärts zu führen und ihn seinem Besteller und Bauherrn, dem wackeren Kapitän und Kohlenhändler Rennings in Grieth, zu überantworten.

Immer dasselbe, das ewige Einerlei: Regenschauer, Hufgetrappel und das monotone Seufzen der Räder. Das Gefährt dampfte. Ein mulmiger Geruch nach Schweiß und verregnetem Lederzeug hüllte es ein.

Dem Gaul war's egal.

Sanften Geschnaufes trabte er dem Knollenkamp zu.

»Hia da hüp!«

Nach stündiger Fahrt hielt er am Herrenhaus an.

Ein Knecht sprang zu und fing mit einer gewissen Leichtigkeit die ihm zugeworfene Leine auf.

»Gelobt sei Jesus Christus!« predigte eine ölige, salbungsvolle und lurksende Stimme aus dem Wagen heraus.

»In alle Ewigkeit, Amen!« antwortete der Knecht und half einem priesterlich gekleideten Herrn, der sich umständlich vom Spritzleder löste, vom Trittbrett herunter.

»Ah!« sagte er mit geriffelten Mundecken, »wohl Mynheer Cornelis ten Berg?«

»Bin ich,« versetzte der Ankömmling, machte den Gänsehals lang und suchte mit seinem glattrasierten Entenschnabelgesicht die weite Umgebung ab, gleichsam um sich ein ungefähres Bild über den gegenwärtigen Stand der Dinge zu verschaffen.

Es war ein frommes Gesicht, ein Rosenkranzgesicht, das da lauernd umherschnupperte, und doch ein infames Gesicht, durchtrieben, einem Klingelbeutel vergleichbar, dem das Unglück passiert war, nur falsche Kastemännchen und zinnerne Hosenknöpfe einzuheimsen. Es spürte die Stallgassen ab, die Scheunen und Geschirrkammern, es drang in die Speicher hinein, in die Mägdekammern; es war überall und nirgendwo, um gleich darauf wieder wie das einer abgeschliffenen Medaille zu werden.

»Ist das Fräulein zu sprechen?« fragte der Schwarze, wobei er mit einem gewissen Unbehagen die hohen Fenster des mit Efeu umrankten Giebels betrachtete.

»Nee, aber auf der oberen Wegscheid, Mynheer, wo sie dabei sind, die letzten Kartoffeln in die Miete zu bringen. Ich denke: in 'ner Viertelstunde kann sie zurück gemacht haben.«

»Mit Gott denn! Ich warte indessen. Stellt schon das Halbverdeck unter und striegelt den Gaul.«

»Schön, ich hab's in Bestellung genommen.«

Cornelis winkte ab.

Mit dem wiegenden Gang eines kurdischen Kameltreibers betrat er die Schwelle, wurde hier von einem drallen Mädchen empfangen, das ihn in die blaue Stube komplimentierte und aufforderte, es sich in einem der herumstehenden Korbsessel bequem und gemütlich zu machen.

Na, das geschah auch.

Cornelis ten Berg!

Da saß er, der hagere, breitschulterige Mensch mit den bläulichen Wangen eines Klerikers, etwas vornübergebeugt, die Hände gefaltet, die schmalen Lippen gekniffen und mit frommen, unruhigen Augen die vier Wände musternd.

Von Zeit zu Zeit entnahm er seiner Brusttasche die beglaubigte Abschrift einer notariellen Urkunde, blätterte darin herum, las einzelne Abschnitte mit forcierter Neugierde, machte sich flüchtige Bleistiftnotizen, um gleich darauf die große Flurkarte des Hofes abzustreifen, die reich illuminiert, die eine Schmalseite des Zimmers bedeckte.

Ja, diese Karte!

Sie beschäftigte ihn, sie interessierte ihn höchstlich, sie gab ihm Rätsel auf und harte Nüsse zu knacken. Mit emsigen Blicken verfolgte er die Wege und Stege, die Entwässerungsanlagen, die einzelnen Liegenschaften, wohl darauf bedacht, die äußersten Grenzen seiner Realitäten mit denen des Knollenkamps in eine sachliche und sinnfällige Verschmelzung zu bringen, wobei er gewisse Distrikte in Gedanken umkreiste und sie jetzt schon seinen eigenen Besitztiteln einverleibte.

Diese Gier nach Hufe und Scholle war ihm erst mit den Jahren gekommen. Als zweitgeborener Sohn hatte ihn sein Vater bestimmt, sich zeit seines Lebens mit der Tonsur glücklich zu wissen. Auf der Gaesdonk, einem Alumnat, dicht an der holländischen Grenze beheimatet, lag er mit leidlichem Können seinen humanistischen Studien ob, ohne dabei von dem Wunsche beseelt zu sein, seine überschüssige Kraft als angehender Zölibatär lediglich in den Dienst der alleinseligmachenden Kirche zu stellen. Der unwiderstehliche Drang, sich anderweitig zu betätigen, machte sich geltend. Die Gelegenheit hierzu ließ nicht lange auf sich warten. Eine jugendliche Melkerin, derbwangig, herzhaft und anzusehen wie eine niederrheinische Venus Kallipygos zwischen den väterlichen Stallgassen, verstand es, die stichelhaarige Lust in süßselige Bahnen zu lenken, verpaßte jedoch, den strumpfigen Gängen die erforderlichen Vorsichtsmaßregeln angedeihen zu lassen. Und da geschah es: die heimlichen Niedlichkeiten kamen an die Lärmtrommel, und keine drei Wochen vergingen, da sah sich Cornelis für immer und ewig von der Pflege- und Pflanzstätte illüstrer Geister verwiesen. Die näheren Verwandten schrien Zeter und Mordio, der Vater streckte die Arme gen Himmel, willens, den Abtrünnigen von Haus und Hof zu vertreiben. Er kam nicht dazu. Bei einer Hühnerjagd, als die dritte Kette aufburrte, krachte es plötzlich von links her. Die Schrotkörner kamen in Brusthöhe gepfiffen. Ein naher Erlenbestand riß das Echo zurück. Der Schuß saß. Den Alten hatte er in die Kartoffelstrünke geworfen. Als dann noch über Jahr und Tag der Älteste das graue Haus aufsuchen mußte, wo die ihr Leben beschließen, die in gläserne Kugeln stieren und Zepter und Kronen als ihr tägliches Spielzeug ansehen, war der gemaßregelte Alumne Herr und Verweser des bedeutsamen väterlichen Erbes geworden. Die Jahre nahmen sich bei den Händen, reihten sich aneinander wie rinnende Tropfen ... und er nutzte die Tage. Abgesehen davon, daß er die gefällige Peternell erhob und erhöhte, musterte er sich zu einem gewissenhaften Sparer heraus, der sich eifrigst bemühte, den eigenen Besitz immer umfangreicher und fettleibiger zu machen, obgleich sie es verstand, den Goldfüchsen auf die Sprünge zu helfen. Um so eifriger grapste Cornelis und machte äußerlich in Bußfertigkeit. Alle Mittel hierzu waren ihm recht. Mit Stäwe Donsbrügge, einem Verwandten vierten Grades, hielt er gute Bekanntschaft, pokulierte mit ihm, warf mit ihm seine Kartoffeln zusammen, und als er eines Tages den sturen, widerborstigen Knollenkampbauer durch einen persönlichen Entlastungseid aus einer äußerst heikeln und zweifelhaften Rechtssache heraushauen konnte, fühlte sich dieser der Schwurhand gegenüber mit Haut und Haaren und bis über den Tod hinaus verpflichtet. Und Stäwe hielt fest bei der Stange, selbst auf die Gefahr hin, das Glück und die Herzensneigungen seines einzigen Kindes in Grund und Boden zu stampfen. Und wie es kommen mußte, so kam es. Das Testament wurde getätigt, der Testierer selber zu seinen Vätern versammelt ... und wer hellen Sinnes war und Augen hatte, zu sehen, der sah es: vom Emmericher Eiland kroch eine kalte Hand vor, langsam, dann nachhaltiger, immer zudringlicher. Allein die meisten wollten nicht sehen, wähnten sie doch, daß aus dem einstigen Saulus ein Paulus geworden, eine Säule des Glaubens, ein Leisetreter im Schatten der Kirche und des Weihwasserkessels, wenn auch so ein heimliches Gemunkel ... Aber das tat nichts. Sie erblickten in ihm den stillen Abglanz und die werktätige Liebe eines gütigen Mannes.

Und dieser gütige Mann saß jetzt in der blauen Stube, schob den notariellen Akt in die Brusttasche zurück und ließ seine Kaumuskeln spielen.

Sie blieb lange, die er aufsuchen wollte.

Die Zeit wurde ihm stieselig.

So erhob er sich denn und rückte der Flurkarte näher.

Allerhand Achtung! da war doch manches abzuschätzen. Gleich hier die großen Triften an der Hochfuhr. Lehm mit Humus gemischt. Primissima Boden, geeignet für Klee- und Weizenbestellung. Und dicht nebenan: ausgiebige Strecken, mit Mergel und Ton durchsetzt. Bei sachlicher Stalldüngung mußte hier ein Doppelgespann in dem Grasmeer ersaufen.

»Sapperlot! die fehlen mir gerade,« und der Herr in Schwarz stellte seine fünf trockenen Finger der rechten Hand auf die mit gelber Farbe umrissenen Grundstücke. Mit der Schwerfälligkeit eines fünfbeinigen Skorpions krochen sie weiter.

»Kommt mir zu ... alles, alles ...!«

Seine trockenen Finger lösten sich plötzlich von der Flurkarte.

Er dachte an Anna Donsbrügge, vergegenwärtigte sich ihr Bild, ihre körperlichen Vorzüge, ihr üppiges Haar, das wie eine dunkelrote Flamme aufleuchten konnte.

Gleich nach dem Ableben Stäwes hatte er die rahmweiße Peternell bis auf weiteres auf ein Vorwerk verpflanzt, wo sie bei reichlicher Ausstattung ihre Tage verbrachte, den Wolken nachschaute und zukunftfroh ihre abermalige Stunde erwartete.

Langsam ließ er die schweren Augendeckel herunter.

Der heilige Mann machte höhere Ansprüche.

Er war wählerischer geworden. Sein frommer Geist streifte in libidinöse Gefilde. Die nach innen gekehrten Blicke sahen Wunder bei Wunder. Wie schön sie war, wie sie seine Sinne erregte! Seine Gedanken entkleideten sie, bewunderten sie, und er wäre in dem Irrgarten einer kranken Phantasie noch weiter herumgetaumelt, hätten sich im Flur nicht Schritte erhoben, wäre die Tür nicht in ihren Angeln gegangen.

Die er suchte, stand vor ihm, aufgeschürzt, im knappen Gewand, noch den Kleiboden an den hohen Schnürschuhen und lichte Regentropfen in der Flechtenkrone.

Sie atmete ruhig.

»So spät, Herr Cornelis, obgleich Ihr Gelegenheit hattet, schon früher hier anzurufen?«

Er unterbrach sie mit wehem Seufzen.

»Das heißt also: Ihr seid nicht zum Begräbnis erschienen.«

»So ist es, denn es befremdet an Euch, dem nicht die letzte Ehre erwiesen zu haben, der Euch im Leben so nahe gestanden.«

Cornelis zuckte die Achseln.

»Befremdlich? gewiß, aber nur scheinbar befremdlich. Am nämlichen Tage wurde mein Statthalter, Vater von fünf unmündigen Kindern, bestattet. Ich durfte nicht fehlen, im Sinne des Evangeliums nicht und nicht im Sinne meiner mir obliegenden Pflichten. Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. So heißt es. Ich glaube daher, der heiligen Vorschrift gemäß verfahren zu haben.«

»So?! und Ihr wäret auch dann nicht vom Gefolge gewesen, wenn Ihr schon damals gewußt hättet, was Euch heute bekannt ist?«

»Erspart mir die Antwort. Sie ist heikler Natur und könnte zu Mißhelligkeiten führen.«

»Genügt mir. Ich bin völlig im Bilde. Auch im Schweigen liegt Antwort. Also – Ihr kennt die Testierung?«

Der schwarzgekleidete Herr rieb die Hände übereinander, räusperte sich, versenkte die Rechte bedachtsam in die linke Brusttasche und sagte: »Ich kann es nicht leugnen ... schon vor längerer Zeit ... so ganz aus heiterem Himmel herunter ... allerdings – ja: ich habe die Testierung amtlich und in beglaubigter Abschrift empfangen. Äußerst bedauerlich, und ich muß offen gestehen ...«

Unwillig verzog sie den Mund.

»Offen gestehen?! Was begreift Ihr darunter?«

»Da muß ich doch bitten ...« und er hob den Schriftsatz sacht in die Höhe, um ihn ebenso sacht wieder niedergleiten zu lassen. »Darauf eine präzise Antwort zu geben, dürfte nicht im Bereich des Möglichen liegen. Wir haben es hier mit Imponderabilien zu tun, die sich kaum mit Skrupelgewichten feststellen lassen, so feinfühlig sind sie, so über alle Maßen empfindlich, daß ich nicht wage, sie auch nur mit dem geringsten Hauch zu berühren, denn es ist mehr als bedenklich, sich in die Seele eines eigenbrödelnden Mannes zu versetzen, dabei die Gründe festzulegen, die ihn veranlaßten, diesen ungewöhnlichen Weg zu betreten.«

»Ungewöhnlich?! Warum das? Die Worte sind dunkel. Wen wollt Ihr damit näher bezeichnen?«

»Ich denke dabei an den seligen Herrn.«

»Zugegeben. Daher nehme ich an: Ihr könnt Euch so recht nicht mit seiner Handlungsweise befreunden.«

»Offen gestanden: sie gibt mir zu denken.«

»Und dürfte ich wissen ...?«

»Hand aufs Herz: ich mußte zu meinem Leidwesen erfahren, daß der nunmehr Verblichene wider Erwarten zu meinen Gunsten testierte.«

»Also – wider alles Erwarten.«

»Allerdings, ganz wider Erwarten.«

»Und das zu Eurem Leidwesen, wie Ihr behauptet?«

»Auch dieses.«

Er schabte nachdenklich das bläuliche Kinn.

»Ja,« sagte er mit der Milde eines gebrochenen Mannes, »Menschen, wie wir sind ... religiös veranlagt ... rechtschaffen ... responsabel bis in die Zehenspitzen hinein ... und nun mit einem Male diese einschneidenden Überraschungen und Maßnahmen von Todeswegen ...! So etwas kann den stärksten Mann aus der Balance setzen, ihn seelisch herabdrücken, ihn mit dem Dornenkrönlein des Schmerzes umkleiden.«

»Seltsam!« hielt sie ihm lächelnd entgegen. »Ich bin anderer Meinung, denn man sollte doch annehmen, es wäre ein Annehmbares und Fröhliches, sich so unversehens als Inhaber eines nicht unbeträchtlichen Gutes zu wissen. Ungezählte Morgen niederrheinischen Bodens werden einem nicht alle Tage geboten, wenn auch gewisse Einschränkungen in dem letzten Willen des Verstorbenen dafür Sorge tragen, die Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.«

Er merkte auf. Was war das? Das soeben Gehörte berührte ihn geschmackswidrig, verletzend.

Er begann wieder das Kinn zu schaben.

»Hohn oder nicht Hohn?« fragte er lauernd.

»Nehmt es hin, wie Ihr wollt. Die Beurteilung muß ich Euch schon selbst überlassen.«

»Auch eine Replik,« versetzte er kurz.

In den bleiernen Augen standen häßliche Fünkchen.

»Nur,« fuhr er fort, »sie klingt wenig erbaulich. Sie gibt zu Reibungen Anlaß, zu unliebsamen Erörterungen, obgleich ich für meine Person mit bestem Willen und dem heiligsten Vorsatz erschien, das Erforderliche in sachliche Bahnen zu lenken.«

Sie unterbrach ihn.

»Warum seid Ihr nicht früher gekommen, die dringliche Sache zu regeln, gewisse Zweifel zu heben und aus der Welt zu schaffen?«

»Oh!« rief Cornelis. Er fühlte sich sicherer und mochte sich getäuscht haben. Beschwörend hielt er ihr die nackten Handflächen und zehn gespreizte Finger entgegen.

»Unmöglich!« sagte er demütig. »Gewisse Bedenken ... subtile Erwägungen ... christliche Rücksichtnahmen auf Euch und meine Wenigkeit ... alles das ist mit einem zarten Goldstaub behaftet, schwebt zwischen Himmel und Erde und verlangt äußerste Schonung. Man hat Langmut zu üben. Ich weiß das zu würdigen. So nur kann das vom Verstorbenen Niedergelegte vor Gott bestehen, nur so von der Kirche und dem eigenen Gewissen eingeschätzt werden. Ja, ja« – und seine Stimme gefiel sich darin, in einem Weihwasserkessel herumzuplätschern – »drei Jahre sind eben drei Jahre. Die lassen sich nicht fortdisputieren, die wollen durchlebt sein, die predigen tagaus und tagein: Geduld, Geduld und warte in Unterwürfigkeit.«

»Und dennoch,« fiel sie dazwischen, »es wäre besser gewesen ...«

Cornelis schmunzelte bittersüß, schob die beglaubigte Abschrift unter die linke Achsel, legte die Hände zusammen und ließ die Daumen umeinander kreisen.

»Nur Rücksicht, äußerste Rücksicht Euch gegenüber. Ich wollte Eure tiefe und berechtigte Trauer nicht stören. Ihr müßt mich doch kennen. Gebet Gott, was Gottes, und dem Kaiser, was des Kaisers. So heißt es in den Schriften des Herrn. Ich gehe noch weiter. Gebt den Betrübten, was der Betrübten, und ihr habt im Sinne des Erlösers und seiner Verheißung gehandelt. Dies in Erwägung gezogen, werdet Ihr mein Säumen begreiflich finden und wissen: nur um Euretwillen habe ich so lange gezögert.«

»Aber dann möchte ich fragen: Welchen Zweck verbindet Ihr mit dem jetzigen Kommen?«

»Hier die Antwort darauf.«

Er langte nach der notariellen Urkunde.

»In einer speziellen Sache ist noch heute Klarheit zu schaffen. Der Termin läßt sich nicht abweisen.«

»Mein Gott! wo steht das geschrieben? Ich meinerseits habe keine Sterbenssilbe davon im Nachlaß gefunden.«

»Nur zu natürlich,« sagte er feierlich, hob den Schriftsatz und las mit scharfer Betonung: »Als präsumtive Haupterbin, die gehalten ist, die oben angefühlten Legate nach bestem Willen und Wollen, na und so weiter ... doch mit dem Vorbehalt, daß sie ihr Magdtum höchstens auf drei Jahre befristet und sich binnen dieser Zeit nach einem Hochzeiter umsieht ... So richtig?«

»Ganz richtig.«

»Wenn nicht – beifolgendes Kodizill gibt Auskunft darüber.«

»Kein Wort mehr! Was soll das? Soeben habt Ihr anders gesprochen. Es scheint aber doch: Ihr geht über meine Trauer hinweg, um die Auslegung des Testamentes anzuschneiden und ins Rollen zu bringen. Wenn Ihr dieses bezweckt« – und über ihr Antlitz lief eine kalte und eiserne Hoheit – »so muß ich dringend ersuchen, solches vertagen zu wollen.«

»Nicht doch. Entschuldigt. Eine kleine Entgleisung von mir. Ich wollte anderswo hin. Aber hier dieses ... es verträgt keinen Aufschub und ist in jetziger Stunde zu regeln.«

Er atmete auf und sog pfeifend die Luft ein.

»Also was habt Ihr?« meinte sie kurz. »Ich harre der Dinge.«

»Ich bitte ergebenst ... Es handelt sich um die jenseits des Rheines auf Grietherorth unter dem Namen ›Priesterkoppel‹ gelegenen Klee- und Weizenparzellen.«

»Was soll es mit ihnen?«

»Sie stehen völlig außerhalb des getätigten Testamentes und wurden mir in persönlicher Angelegenheit von Eurem Vater verschrieben.«

»Verschrieben?! Warum das?« fragte sie heftig.

»Als Entgelt für geleistete Dienste. Ihr kennt die Geschichte. Hier diese Finger« – langsam hob er sie auf – »sie gaben ihm Ehre und Reputation zurück. Nichts weiter. Er zeigte sich dankbar. Für den Schwur die Parzellen.«

»Und Eure Beweise?«

Ihre Zunge war trocken geworden.

»Hier sind sie.«

Dem Aktenbogen entnahm er einen gesonderten Schriftsatz, vergilbt und mit ausgebleichter Tinte geschrieben.

Den Fetzen Papier hielt er ihr hin.

»Erkennt Ihr dies an?«

»Ja – es ist die Schrift meines Vaters.«

»Und was den Inhalt betrifft ... Laut Fassung steht mir das Recht zu, mit dem heutigen Tage Hand auf zwanzig Morgen der bezeichneten Schläge jenseits des Rheins zu legen. Vermessung ist nötig, eine conditio sine qua non, und ich hatte die Pflicht, Euch davon in Kenntnis zu setzen. Eure Anwesenheit dabei wäre erwünscht, und Ihr werdet nunmehr verstehen, weshalb ich mich bemüßigt fand, Eure Trauer zu stören.«

Ruhig begegnete sie seinen heißen Blicken.

»Ich verstehe,« sagte sie hart und brüchig. »In dieser Beziehung fehlt mir die Unterlage, mich dem letzten Willen meines Vaters entgegenzustellen. Ich sperre mich nicht. Im Gegenteil: das Nähere ist sofort in die Wege zu leiten.«

Sie ließ sich am Fenster nieder und deutete auf einen Stuhl in der Nähe: »Nehmt Platz, denn ich bin gern erbötig, dem Inhalt dieses Zettels als Lohn für getätigte Dienste Rechnung zu tragen. Es ist doch nicht zu ändern. Was Euch letztwillig zusteht, wird Euch nicht um Haaresbreite geschmälert. Befehlt nur. Schon morgen? Ich bin immer zu haben. Mögen Euch die Liegenschaften in Grietherorth zum Segen gereichen. Was eine ehrliche Schwurhand gewinnt, wird ihr auch ehrlich belassen. Daran läßt sich nicht rütteln. Ich sehe daher Euern Wünschen hinsichtlich der Vermessung und der notariellen Beurkundung entgegen. Also bitte: ich höre, aber kein Wort mehr über das offizielle Testament meines Vaters.«

Er warf den Kopf in den Nacken.

»Warum nicht?«

»Weil ich das ablehne, weil es auf Jahre hinausweist und Dinge betrifft, die mir Herz und Seele zerreißen, mir zumuten, wider Willen und Neigung den eigenen Körper betasten zu lassen. Den letzten Appell gebe ich selbst. Freiheit und Magdtum habe nur ich zu veräußern. Kein andrer. Mein Wesensinneres bleibt, wird von keinem verzettelt, und wenn er mit Engelszungen redete ... und der allein ist berufen, mir das Wunder zu geben ...«

Mit einem wehen Laut brach sie ab.

Sie wandte den Kopf und sah in den Tag hinaus, der immer grauer und dunstiger wurde.

Nur tief im Westen stand ein safrangelber Streifen. Stetig nahm er an Helligkeit zu, und dieses fahle Licht kam langsam aus der Ferne herüber, säumte den Hof und sah mit glanzlosen Augen in das blaue Zimmer hinein, um sich wegmüde um den Leib der Insichgekehrten zu legen. Aber unter der Berührung des Weibes – es wurde lebendig, es glitzerte auf, es wurde zur Flamme ...

Anna Donsbrügge in einem Glorienschein!

Stieren Sinnes verfolgte Cornelis diesen Wandel und Wechsel.

Eine gebieterische Macht büschelte von ihr aus. Er konnte sich dieser Macht nicht entziehen. Auf weichen Wollsocken krochen seine Blicke an sie heran, umschmeichelten sie, umtasteten sie, berauschten sich an ihrem entblößten Nacken, an den schwellenden Formen, ergründeten alle Geheimnisse ihrer verborgenen Reize. Eine trunkene Schau, ein Sichversenken in Sünde und Anbetung. So hatte er sie noch niemals gesehen, so begehrenswert, so mit allen Mysterien einer taumelsüchtigen Nacht umkleidet. Ihre Haare leuchteten schöner als die anderer Frauen, ihre Augen brannten verklärter, ihr Leib war der eines dämonischen Weibes.

»Anna,« kam es von zuckenden Lippen, »es ließe sich ja alles in Güte bereden.«

Sie fuhr herrisch herum.

»Was ließe sich in Güte bereden?«

»Ich bitte um wenige Worte, nur darum, Euch einen kleinen Abriß meines Innenlebens zu geben. Gott ist mein Zeuge, hier diese Zunge und hier diese Hände sind die eines Priesters ...« und Cornelis wurde zu einem Gerechten in Sion, zu einem Seelsorger, einem Diener des Herrn, nur darauf bedacht, seinem Nächsten die Schale des ewigen Heiles zu bieten. »Nein du, ich will nicht verletzen, nicht die Finger auf geschlagene Wunden legen. Mein Herz sucht andere Pfade. Ich will heilen und helfen, dem verwaisten Anwesen Stütze und Stärke verleihen, denn siehe: der Heimgegangene ... Wir verstanden uns redlich. Er gab mir sein Jawort ... und wenn auch noch vor wenigen Monaten ... Gott ja! es hat sich inzwischen vieles geändert. Die Gnade des Herrn erquickte mich, ging über mich fort wie der Schein einer geweihten Kerze. Ich komme mit reinen Händen und reinen Gedanken ...«

Er triefte vor Salbung.

»So ist es, so ist es!« und sein Antlitz nahm dabei einen stillen Glanz an, als habe er zeit seines Lebens mit einem biederen Paternoster- und Rosenkranzmacher in ein und demselben Bette genächtigt. »Ja, und da sollte ich meinen: legen wir allen Hader beiseite. Halten wir gute Nachbarschaft, nesteln wir im Sinne der Schrift ein trauliches Band christlicher Nächstenliebe von hüben nach drüben. Es dürfte sich lohnen. Was soll ich noch sagen? Nur eins noch,« und seine ineinandergelegten Finger begannen zu knacken. »Hier hämmert und pocht das. Ich möchte in den Abend hinaus, dort niederknien und beten: Erhöre mich, o Herr, wende dich mir zu und spende meinem kranken Herzen den benötigten Balsam. Aber bei Gott nicht,« und seine Stimme nahm einen schmerzlichen, allzu schmerzlichen Ton an, »es geht mir nicht um Besitz und Habe. Ich denke nicht dran. In dieser Hinsicht sind meine Wünsche kahl und leer und öde wie ein Stoppelfeld. Ich schürfe tiefer. Ich schürfe nach Liebe. Es liegt mir im Blut. Handeln wir nach dem Ermessen des Verstorbenen. Ihm sei die Ehre. Des Vater Segen baut den Kindern Haus und Hof, des Vaters Fluch reißt sie nieder.«

Er erhob sich, trat auf Anna Donsbrügge zu und stammelte mit fliegendem Atem: »Heute ist die Stunde gekommen. Weist sie nicht von Euch. Laßt mich nicht gehen, ohne das erlösende Wort auf den Lippen. Auch unsere Acker sollen sich wechselseitig befruchten, denn Ihr und ich ...«

»Kein Wort mehr!«

Allen Glorienschein hatte eine unbarmherzige Hand ihr vom Scheitel genommen.

Ihr Antlitz war fahl und bedrohlich geworden.

»Und da glaubt Ihr noch immer ...?«

»Ja du, ich glaube, ich glaube!«

»Daß ich gesonnen wäre ... obgleich ich noch im verflossenen Frühjahr ...?«

»Ruft den Toten nicht auf. Es hat sich vieles geändert. Uns sind Schranken gezogen, die sich nicht abbrechen lassen.«

»Schranken gezogen?! Für wen denn?«

»Anna, bedenkt ...«

»Keine Vertraulichkeiten. Ich verbitte sie mir.«

Ihr Fuß stampfte den Boden.

»Ah!« stöhnte er auf, »wo doch in klaren und nackten Schriftsätzen ...«

»Satt und genug. Meine Geduld ist zu Ende. Für mich sind keine Schranken gezogen. Ich bin, die ich bin, und mir selber nur Rechenschaft schuldig. Den letzten Willen eines befangenen Mannes – ich weise ihn von mir, zumal in seinen Konsequenzen, die mich in den reinsten Gefühlen verletzen. Die Urkunde ist nichtig für mich. Sie wurde zu Unrecht geschrieben. Was ist sie überhaupt? Nichts mehr und nichts weniger als der Schrei eines Abwegigen, eines Verzweifelten, den eine minderwertige Schwurhand der Einsicht und des klaren Denkens beraubte. Also – was wollt Ihr noch hier? Ich habe keine Gemeinschaft mit Euch und will keine haben. Euren Antrag – ich weise ihn ab, just so wie damals. Und die Begründung hierfür? Mag der Prozeß seinen Gang gehen. Mögen die Gerichte entscheiden, wie sie es vor ihrem Gewissen verantworten können ... über meinen Leib und meine Seele habe nur ich zu verfügen. Und wer es wagen sollte, diese Seele zu beschmutzen und diesen Leib zu betasten ...«

Wie ein Peitschenhieb knallte es über ihn fort.

»Das mir!« schrie er auf.

Alles fördernde Menschentum streifte er ab. Er war kein Seelsorger mehr, kein Diener des Herrn, keiner von denen mehr, die mit dem Klingelbeutel arme Seelen einhamstern. Der Gänsehals drehte sich langsam aus der schwarzen Krawatte. Das Entenschnabelgesicht wurde grauer als Erde. Mit kleinen Messerchen stach es aus den aufgerissenen Augen.

»Mit diesem Bescheid soll ich gehen?« mahlte er zwischen den Zähnen.

»Ja, mit diesem Bescheid. Ich weiß keinen besseren.«

Zwei bleiche Gesichter standen sich dicht gegenüber, das eine entstellt, das andre wie aus lauterem Marmor gehauen.

Die Stunde hatte ihnen alles Blut aus den Adern genommen.

Sekunde um Sekunde verging.

Das Schweigen hielt an, und es war ein furchtbares Schweigen, bis Cornelis die Hand streckte und die kalten, grapsigen Totenfinger auf den Arm des blühenden Weibes legte.

»Ein Letztes ...«

Sie schüttelte sich. Vom Ekel gepackt, trat sie zurück.

»Rührt mich nicht an – Ihr! Und wenn ich zur Bettlerin würde und mein Leben bei den Büßerinnen ausleben müßte – ich will nicht. Mensch, du – Euch hängt ja noch der Dirnengeruch vom Emmericher Eiland zwischen den Kleidern ...«

»Verdammich!«

Seine Faust regte sich in der Tiefe, erhob sich, stand ihr dicht vor der Stirne.

»Herunter damit! wenn Ihr nicht wollt, daß ich die Hunde mobil gegen Euch mache.«

Er stieß ein Gelächter aus, als hätten zwei harte Hölzer gegeneinander geklappert.

»Die Hunde?! Wartet nur ab. Nicht mir, aber Euch kommen die Hunde. Die Stunde erfüllt sich. Ich präsentiere die Quittung. Ihr wißt doch: bleibt Ihr um meinetwillen in Eurem verfluchtigen Jungferntum stecken – nach drei Jahren: herunter vom Hofe! Kopuliert

Euch anderweitig der Pfaffe und ist kein Nachwuchs vorhanden, dann gleichfalls: in der bemessenen Frist – herunter vom Hofe! Das Testament springt gegen Euch an, wird zu einem scheußlichen Vieh, zu einer räudigen und bissigen Ratte. Das wäre perfekt ... aber das hier ... das hier, das muß noch seine Erledigung finden.«

Wiederum hatte er den verknitterten Fetzen gezogen.

»Das Resultat meiner Schwurhand! Die Liegenschaften jenseits des Rheines, auf der Priesterkoppel – sie schreien nach mir. Ich setze Termin an. Wollt Ihr dabei sein, dann sagt es – sonst: ich lasse ohne Euch die zwanzig Morgen vermessen.«

»Törichte Frage. Auch ohne Eure Aufforderung: natürlich will ich dabei sein. Ich lasse mein Recht nicht verkümmern. Glaubt Ihr denn, ich würde mich auf Euch und Euren Geometer verlassen? Ich denke nicht dran. Jede Krume wird in meinem Beisein gezählt und gewogen, jede Rute doppelt und dreifach abgeleint ... und käme der Tod: hier aus den Fäusten, aus den starren Fingern hätte er noch mein Recht und meinen Willen zu brechen.«

»Dann also Termin.«

»Je eher je besser.«

»Gut! also am kommenden Mittwoch?«

»Einverstanden. «

»Auf Grietherorth punkt elfe?«

»Auch dieses. Ihr braucht nicht zu warten.«

»Arm in Arm denn, und der Satan mag Euch die Anfahrt gesegnen.«

Sie lachte bitter auf.

Ihre Hand hob sich langsam.

»Cornelis ten Berg, dort ist die Türe.«

Gekrümmten Rückens und Galle zwischen den Zähnen verließ er das Zimmer.

Gleich darauf ratterte das Halbverdeck wieder über die trostlosen Wege.


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