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10

Noch eine kleine Viertelstunde vorher hatte es den Anschein, als wäre der Nordwest weniger bösartig, der Strom stiller und verträglicher geworden. Die Blinkfeuer mehrten sich. Ab und zu lief ein warmer Sonnenstrahl durch Schwaden und Nebel, die sich allgemach zu verteilen begannen. Der Rhein tobte nicht mehr; nur kurz lachte er auf, aber hart und mit tückischen Augen.

Merkwürdig ruhig!

Um diese Zeit machte ein Boot Anstalten, mit aufgesetztem Segel in das störrische Wasser zu gleiten ... drüben ... auf der anderen Seite ... oberhalb der einzelnen Gehöfte von Grietherorth, um der Strömung Rechnung zu tragen.

Am Himmel war laue Bewegung.

Aber nicht lange.

Der Rhein setzte wieder sein schlimmes Gesicht auf.

Fünf Minuten später: die alte Geschichte.

Aufs neue regierte der Sturm seine Peitsche und knallte wie ein besoffener Fuhrknecht auf Teufel komm' heraus ... und als sie auf Deck hasteten, alle, die da unten getafelt hatten, um Doortje aus der Taufe zu heben, schrie und schrillte es vom Vorder- zum Hintersteven, von den Mastwurzeln bis hoch in die Tops hinein, wütig, schaurig, entsetzlich, als pfiffe der Tod auf seinen eigenen Knochen.

Bis weit ins Land hinein hörte man das verfluchte Gepfeife.

Graupelstöße kamen herunter. Mit Flegelhölzern tackte und tobte es zwischen Himmel und Erde.

Im Hafen strömten die Menschen zusammen. Immer neue Gesichter, immer neue Gestalten. Alle drängten sich in die Nähe des Schiffes, verstört, mit stockigem Blut und verhaltenen Ängsten, als wäre von ihm und seinem Führer das Heil zu erwarten.

Der Baas stand auf Posten, barhaupt, nur mit dem Ölrock bekleidet, den ihm die Teerbox übergeworfen hatte.

Seine rostige, angefressene Stimme bolderte mit der Gewalt eines Donners: »Kommando an mich! Jedereins hat auf meine Orders zu hören, wenn's not tut. Sonst weg von den Planken!« und mit seinen schmalteblauen Blindmolläugelchen stieß er ins Graue hinein, durchschnitt er die rußigen Tücher, suchte er Mittel und Wege, Herr der Situation zu bleiben und Hilfe zu bringen.

Er war ruhig wie immer.

Die drei Könige standen dicht neben ihm auf Backbordseite.

Ihre Gesichter waren wie aus Eisen gegossen.

Sie fühlten es gegenseitig: hart und ungestüm pochten ihre Herzen gegen die Rippen.

Warum, das wußten sie selbst nicht.

»Baas,« fragte Klaas-Welm, »wo steckt's denn?«

Rennings deutete durch das Schleppen und Ziehen: »Möglich, da drüben ... just hinter dem Steamer ... Verfluchtig! muß der auch gerade da liegen,« und richtig: zweihundert Schritte vom diesseitigen Ufer entfernt, war ein holländischer Schlepper vor Anker gegangen, an Land durch mächtige Kabel dreifach gesichert.

Ein Katafalk, ein schwarzes Untier, buckte er hoch, angekettet, verholt und nicht mehr fähig, Bergfahrt zu nehmen, ungebärdig, in Rufweite nahe, Funken speiend, gelüstig, sich von den Trossen zu reißen, den armdicken Tauen und Trossen, an denen die Strömung sich brach, zischte und tosende Kaskaden verspritzte.

Der Baas spuckte aus: »Da sitzt das Malör drin.«

Die anderen drängten sich näher.

Immer neue Schreie kamen vom Land her.

Ein Laufen und Rennen.

Der Hafen füllte sich mit verlähmten Menschen.

Kopf an Kopf standen die Leute ... stemmten sich gegen das Blasen und Fauchen ... ließen sich von der aufgetriebenen Flut überschütten.

»Jesus Christus! erbarme dich unser!«

»Mutter der Gnaden, bitte für uns, sei bei uns in der Stunde des Todes!«

Immer lauter und wilder: »Jesus, in Not und Gefahr ...!«

Immer ängstlicher und flehender: »O du Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt – erbarme dich unser!«

»Blexem ...!«

Der Kapitän beugte sich vor. Seine Lichter wurden schärfer, stachen wie Dolche.

Da von achtern her: »Boot in Sicht!«

»Wo?!« brüllte der Baas.

»Backbord voraus! Rechts vom Holländer!«

»Dann Gnade dem Bootje!«

Alles sprang auf die andere Seite ... zuerst die drei ... die drei von den Katen ... auch Jan-Ohme ...

Es packte ihn wie im Fieber.

Ihm kam eine schreckliche Ahnung.

»Sollte da etwa ...«

Aber er beruhigte sich. Immer fortepiano. Den verteufelten Gedanken schlug er zu Boden.

»Unmöglich! Sie hat doch nicht den Satan im Leibe, um bei so einem Wetter ...«

Und wieder die Stimmen vom Ufer: »Herr, erbarme dich unser! Christe, sei mit uns!«

Das Spinnwebmännchen und Phöns met de Fleut waren mehr tot als lebendig.

Kistemaker lag auf den Knien und betete, wie er niemals in seinem schuldlosen Leben gebetet hatte, während Phöns nicht mehr wußte, ob ein hellichter Tag oder eine Nacht voller Planetenfeuer über ihn fortging.

»Boot näher in Sicht!« kam es von achtern.

Die drei Könige verhielten den Atem.

Ihre Blicke zuckten, sie sahen das Unheil. Da trieb es: vom Strudel gepackt ... oberhalb des Steamers ... Kurs auf die Trossen ...

Neue Graupelkörner schlugen auf Deck, peitschten durch Spieren und Wanten.

»Hoho!« schrie der Baas, »das ist ja dem verfluchtigen Trommpett sein miserablichtes Bootje!«

»Stimmt!« rief die Wache. »Mit dem ist sie übergefahren ... so gegen elfe herum ... auf die andere Seite ...!«

»Wer übergefahren?!«

»Die vom Knollenkamp, Baas!«

»Herr Jeses! Herr Jeses!«

Jan-Ohme mußte sich an der Reling halten, um nicht vor Entsetzen in die Knie zu sinken.

»Und alles Tuch gibt er her ... bei diesem Hundegeschlacker ... so'n Tollhans ...!«

Die drei von den Katen standen wie angeschmiedet. Das Blut war ihnen aus den Gesichtern getreten. Man hätte sie für tot ansprechen können, wäre nicht das heiße Leuchten unter ihren Brauen gewesen.

»Menschen in Not!«

Das Sprietsegel hoch, schoß das Boot über die kochende Tiefe, über Wogen und Gründe, wurde seitwärts gerissen, drehte sich um die eigene Achse und raste den schweren Trossen entgegen.

»'ne Seele! 'ne menschliche Seele!«

Immer näher und näher.

Da knatterte Rennings Befehl über Deck: »Achtung! Kommando ...!«

Die Herzen bluteten.

»Christe, erbarme dich unser!«

Ein einziger Schrei von hüben und drüben.

»Anna Donsbrügge ...! Anna Donsbrügge ...!«

Der Ruf stieg gen Himmel ... pochte dort an ... flehte um Rettung ...

Die drei hatten sich die Jacken vom Leibe gerissen.

Ihre Lichter blitzten wie Falkenlichter. Sie sahen: auf dem Seelenverkäufer da drüben – das Segelgeschirr knickte ab, tauchte ins Wasser.

Nur noch hundert Herzschläge – und der Kiel mußte auflaufen.

Rennings Stimme lärmte wie eine tolle Sirene.

»Jolle klar!«

Sie rasselte nieder.

»Freiwillige Tat! Ich rufe sie auf!«

Der Steuermann und die Matrosen sprangen zu. Auch Jan-Ohme wollte mit.

»Hiergeblieben!« klirrte der Baas, »du bist kein rheinbefahrener Mann. Es gibt bloß ein doppeltes Unglück. Riemen ein und los!«

Da aber ...

Die Jolle folgt nicht, verweigert den Dienst, kracht gegen die Planken zurück.

»Verdammich!«

Es geht ein Ruck durch die Menschen.

Über die drei von den Katen sprüht es wie Gotteskraft und Gotteserleuchtung.

Arnt springt vor.

»Unsinn! die kommen nicht vorwärts! die geraten ins Treiben!«

Seine Stimme wettert wie Stahl.

»Nur eins kann noch helfen: an die Trossen heran! Mir nach, wer ein Herz hat!« und mit der Stirn und der großen Seele eines Gewaltigen setzt er in den Gischt, in die tobende Strömung.

»Wo du bist, da sind auch wir, und wo du bleibst, da bleiben wir gleichfalls! Mit Gott denn!« und zwei blühende Leben folgen dem Bruder, ins Grausen hinein, in Tod und Vernichtung.

Über sie hin rast das Wasser, geht das Stöhnen des Rheines.

Dann nichts mehr. Nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören. Kein Rufen mehr von hüben und drüben.

Nur noch ein Wimmern und Beten, ein stummes Flehen und Bitten, ein wirres Stieren und Suchen.

Selbst der Sturm hat sein Rollen und Brüllen vergessen.

Jetzt tauchen sie auf, um wieder jäh verschüttet zu werden.

» All right!« stammelt der Baas, »aber das schmeckt nicht nach Butter und Honig.«

Seine Augen werden zu Stielaugen, zu Teleskopen.

Mein Gott!

Dem Trommpett sein miserabeles Bootje verfängt sich ... schlägt um ... kentert ... treibt ab ... kielaufwärts ... und an den Trossen: Anna Donsbrügge ...

»Christus!«

Sie klammert sich fest ... sie hält sich ... Schaum und Gischt wüten über sie hin ... Nacht und Finsternis hüllen sie ein ... Stimmen fallen über sie her ... weltferne, überirdische Stimmen ... die des Vergessens und der Ewigkeit.

Sie hört noch: »Anna Donsbrügge ...!«

Ihre Kräfte versagen ... die Hände lösen sich ... mit einem letzten Schrei fährt sie dahin, um in die gewaltigen Arme eines Starken zu gleiten.

Von Klaas-Welm und Ewert unterstützt, geht es stromabwärts, am Steamer vorüber, an den atemlosen Menschen vorbei, die da beten, die da weinen, die da hoffen und doch keinen Glauben mehr haben ... immer den Tod vor Augen, unter sich die bleierne Tiefe, das Stöhnen und Röcheln: »Wie lange noch, und ihr habt die ewige Ruhe gefunden.«

Wahnwitzige Kräfte! und diese Kräfte rudern und ringen, kämpfen Stirn gegen Stirn, auf Gedeih und Verderben ... und Gott ist mit ihnen, mit Mannestrotz und Mannesherrlichkeit, mit der Tat der Beherzten. In Treue fest, und ihr habt die Palme des Lebens erstritten! und noch bevor die Umwelt begriff, was geschehen, klang es von müden und verzerrten Lippen: »Gerettet!« und siehe: unterhalb des großen Kranen traten die drei aus dem schäumigen Wasser, ein stummes Weib in den Armen ... kaum noch Herr ihrer Sinne, mit weißen Gesichtern, ein wildes Grausen im Herzen, und doch sahen sie sich an, als wären ihre Blicke des Himmelreiches teilhaftig geworden.

»Du,« stammelte Klaas-Welm, »du hast das Beste geleistet, das Höchste, drum sollst du auch die Ehre besitzen,« und sie betteten die Triefende, die Besinnungslose in die Arme des Jüngsten ... und da straffte sich Arnt, als habe er das Sanktissimum empfangen, das da kommt von den Bergen aus heiligen Händen, und trug es zum Hafen, und trug es durch die Menge der Zugeströmten, und trug es mit der Liebe und Andacht eines von Gott geliebten Priesters, beglückt durch seine Tat, durch die seiner Brüder, beseligt durch den Hauch des jungen Weibes, das leise an seinem Herzen erschauerte, und er hatte nicht acht darauf, daß ein dünner Faden zähen Blutes ihm von der Stirne sickerte.

Kein Jubel, kein lautes Geschrei.

Überall nur stille Gesichter und entblößte Häupter.

Und eine trat vor, ein derbes, blondes und freundliches Mädchen, den Abglanz inniger Glückseligkeit auf den verklärten Zügen, und sagte: »Kommt mit mir! Alles, was unser ist, das soll auch ihres sein,« und da gingen sie mit ihr und traten alsbald über eine einfache Schwelle.

Ob der niedrigen Tür aber stand in Ölfarbe geschrieben: »Theodor Kistemaker, Spezerei- und Kolonialwarenhändler.«

 

In Grieth hellten einzelne Fenster auf: in den Kramläden, den Wirtschaften und Ausspannungen. Andere gesellten sich ihnen. Auch dort, wo diejenigen wohnten, die es liebten, in den Dämmerstunden ihre Gedanken weiter zu spinnen oder mit ihren Öllämpchen sparsam umzugehen; aber wo sie auch brannten – überall zitterte die Erregung des Durchlebten noch nach, wurden die Ereignisse eifrigst besprochen, die noch vor kurzem das Schlimmste befürchten ließen.

»Meerstern, ich dich grüße – o Maria, hilf!« sangen und beteten viele.

Manche von ihnen zündeten vor dem Bildstock der Jungfrau ein spärliches Kerzchen an und ließen es knistern aus Dank gegen Gott und die ewige Vorsehung.

Selbst die Mondsichel, die zeitweilig durch die geöffneten Wolkentore spazierte, machte ein helles Gesichtlein.

»Meerstern, ich dich grüße!«

Es war ein seliges Genießen über die kleine Rheinstadt gekommen, ein freundliches Scheinen, und wenn auch die Straßenlaternen alle Mühe hatten, ihr dunstiges Licht gegen den steifen Wind zu behaupten, der noch immer mit ungeschwächter Heftigkeit seines Weges daherkam, die verrosteten Wetterfahnen drillte und mit brutaler Gewalt die Ziegel von den Dächern herunter holte – in allen Häusern freute man sich bis ans Halszäpfchen über die glückselige Wendung der Stunde.

Besonders in der Wirtschaft ›Zum blauen Pferdchen‹ am großen Markt und in der schlichten Behausung They Kistemakers.

Im ›Blauen Pferdchen‹ ging es zu wie an den muntersten Kirmestagen.

Der biedere Schankwirt hatte alle Hände voll zu tun, seinen Gästen gerecht zu werden.

Jeder wollte etwas Neues erfahren.

Die Stühle wurden nicht leer.

Bei delikaten Bierlagen erging man sich über den Wagemut und das herbe Geschick der Geretteten, feierte man die heroische Tat der heiligen drei Könige.

Der Polizeidiener Jaspers, der in Wesel bei den Pionieren gedient hatte, war ihr höchster Preiser und Lober.

Er fand nicht Worte genug, sie auf den stolzesten Gäulen reiten zu lassen, wobei ihm der begeisterte Postmeister Jansen jede packende Redewendung mit einem vollgestrichenen Seidel überjährigen Bieres belohnte.

Und erst im kleinen Häuschen, das der alte Kistemaker bewohnte!

Die Ladenklingel lärmte unermüdlich, was den Inhaber nötigte, sie mit Wollgarn zu umwickeln, um den Zudrang weniger störend zu machen.

Der Vorraum des Geschäftes wurde zu eng.

Immer neue mildherzige Seelen erschienen: der Kreisarzt, der Friedensrichter, der katholische und der evangelische Pastor. Selbst die hochbetagte Wehmutter des Ortes, ein Weibchen so dünn und fadenscheinig, daß es einem grauen Wichtelfräuchen ähnelte, hüstelte mit ihrem Stecken über die Schwelle und ließ es sich nicht nehmen, umständlich nach der Ärmsten zu fragen. Sie weinte und schluchzte und war ganz auseinander, hatte sie doch den ersten Schrei Annas auf dem Knollenkamp vernommen, sie in Windeln gebettet, als Stäwe Donsbrügge sagen konnte: »Nun ist mir mein erstes geboren. Merci, aber Gott gebe baldigen Nachwuchs in Hosen. Jungs sind mir lieber.«

Dessen erinnerte sie sich bis zur heutigen Stunde, Wort für Wort und Silbe um Silbe.

Unter heißen Tränen ribbelte sie ihre welken Finger gegeneinander.

»Ach, diese Not und dieses furchtbare Elend! Ich bitte Ihnen, wie steht's mit ihr?« und das schüchterne Männchen im schnupftabakfarbigen Rock, vor Güte und Süße triefend wie Honigwaben, machte den Mentor und Erklärer.

Er deutete an: Sterne ziehen herauf, und Sterne gehen unter. Ihr Stern aber ist nicht untergegangen. Er lebt, er strahlt in seiner früheren Reine und Schönheit.

»Gott sei gedankt!« krähte die Alte und arbeitete sich wieder auf die Gasse hinaus.

Er gestikulierte ihr nach: »Lena, morgen könnt Ihr Euch zwei Pfund Kaffee für gratis entnehmen.«

»Ich bedanke mich vielmals.«

»Adjüs, adjüs!«

Alles Leid und alle Beängstigung war ihm von der Seele genommen.

Welchen schönen und tapferen Mut er jetzt hatte!

Er dachte nur noch an die heroischen Männer: an seinen Schwiegersohn Rennings, an den forschen Jan- Ohme und die drei von den Katen.

Ja, die drei von den Katen!

Waren das Männer, waren das Männer!

Er wuchs mit ihnen, er fühlte mit ihnen und streckte sich in seinem Schnupftabakfarbigen, als würde ihm sein Laden zu schmal, als müßte er die Arme breiten, um alle Welt an seine Weste zu ziehen. Dabei apothekerte er nach allen Ingredienzien des Orients, nach denen des Nordens ... nach köstlichen Wohlgerüchen, als da waren: Zimt, Kardamomen und Muskatnüsse, Lebertran, Kayennepfeffer, Sennesblätter und Stearinkerzen, und während der Sturm an den Fensterkreuzen herumrappelte, durch die Schlüssellöcher näselte, scharfe Graupelkörner gegen die Scheiben trommelten und langgezogene Seufzer auf Lazarettschuhen vom Söller niederglitten, stand er jedem Vorsprechenden Rede und Antwort.

Er erzählte des längeren und breiteren, wie sein Doortje, die zukünftige Frau des gefeierten Rennings, die erste Hilfe geboten, die Verunglückte in sein bescheidenes Haus geleitet, sie umgekleidet, getröstet und gebettet, ihr die Haare gestrählt und, nachdem dieses geschehen, ihr Kamillentee eingeflößt habe ... und nun läge sie da, in der Guten Stube hinter dem Laden, noch schwach und verängstet, aber beseligt im Herrn ... und dann legte er die Hand vor den Mund, als wenn er damit andeuten wollte: »So, nun wißt ihr die näheren Umstände. Jetzt geht man wieder, aber leise, ganz leise, piano! wie Jan-Ohme sagt, denn sie muß auf stunds ihre genügliche Ruhe empfangen,« und dann wandte er sich an eine andere Gruppe, um ihr die nämliche Geschichte unter schmerzlichen Seufzern und langen Erklärungen in die Ohren zu flüstern.

Ach, wie das wohltat, wie das die ermatteten Lebensgeister wieder auffrischte! und dazwischen immer das bedeutsame Flüstern: »Ihr müßt heimelig gehen und leise, ganz leise!«

Silentium sanctissimum!

Ja, geht leise, ganz leise! und wollt ihr Anna Donsbrügge aufsuchen, so wendet euch links, an aufgespeicherten Kisten und Warenballen vorüber, dann pocht an eine niedrige Tür, über der ein ewiges Lämpchen zwischen vertrockneten Buchsbaumzweiglein flämmert ... und ihr werdet sie finden.

Auf einer gespreiteten und in Eile hergerichteten Ruhestätte – da lag sie.

Ihr braunrotes Haar war gelöst.

Ein abgedämpftes Licht warf seine milde Helle darüber hin.

Neben ihr saß Jan-Ohme und hielt ihre Linke umfaßt.

Doortje Kistemaker, noch immer erregt und mit verweinten Augen, hatte sich bei der brennenden Lampe niedergelassen.

Sie machte sich an einem kupfernen Kesselchen zu schaffen, unter dem ein blaues Flämmchen zirpte und züngelte.

Ab und zu warf sie einen sorglichen Blick auf die ihr Anvertraute, begann dann, kochendes Wasser über geschälte Zitronenscheibchen zu gießen, es zu seihen und mit Zucker und Zimt zu versetzen. Dabei betete sie heiß und inbrünstig, und was sie betete, rankte sich durch das einfache Zimmer mit dem lieben Blühen von Himmelschlüsselchen und weißen Rosen.

Und sie, die Gequälte, die Heimgesuchte, die Schmerzensreiche – sie ruhte gestreckt auf dem Rücken, ohne Bewegung, gefaßt und die Augen wie im Schauen geöffnet. Für Raum und Zeit hatte sie keinen Begriff mehr. Alles wanderte ab. Nur dann und wann: Posaunenstöße dröhnten ihr zu. Sie hörte verworrene Stimmen, die in die Ewigkeit pilgerten. Sie sah die unerbittliche Hand des Geometers, wie er mit ihr die Meßrute regierte, die Äcker absuchte, die gewonnenen Zahlen und Ziffern verbuchte. Ein Stück der Priesterkoppel nach dem anderen mußte sie hingeben. Und drüben

Cornelis! Dieses infernalische Grinsen an ihm, dieses Stieren und Gieren ... und wie er jede Bewegung des Meßbeflissenen mit seinen Blicken verfolgte. Sie hätte ihn umbringen mögen, ohne Reue und Leid zu erwecken. Und dann wieder das Poltern, das Schreien und Rufen! Vor ihr der furchtbare Steamer, wie er dräute und drohte ... die Trosse, das Knacken und Brechen des Segelgeschirrs ... Das Himmelsgewölbe fiel über sie her, Nebel und rauchschwarze Schatten, Sturm und Getöse. Sie glaubte, ins Bodenlose zu sinken ... und unter diesem Sinken und Sterben: alles Irdische verflüchtete sich. Alle Anfechtungen blieben hinter ihr. Ihr wurde so leicht, so wunderseltsam zumute. Sie hatte nichts mehr zu fürchten, nichts zu verlieren. Aus den Armen des weißen Todes glitt sie in andere Arme, von diesen umschlungen, in ein neues Dasein hinein. Sie vernahm klingende Spiele, überirdische Stimmen, Harfen und Geigen und selige Marienlieder ... dann einzelne Schläge, die in gewissen Intervallen von einer umschleierten Höhe herunter zu kommen schienen.

Es war so, als fielen geschmolzene Bleitropfen in eine bronzene Schale.

Sie zählte die einzelnen Schläge.

»Sieben Uhr,« hörte sie irgendwen sprechen.

Da wandte sie langsam den Kopf und fuhr sich mit der Rechten über die Stirne.

»Jan-Ohme,« sagte sie leise.

»Gott sei gedankt im dreimal hohen Himmel da oben!« rief dieser und tat einen Atemzug, der ihm das Leben wieder lebenswert machte, »da wären wir noch mit Gottes Gunst und Gnade am letzten Schlagbaum vorübergegangen, aber man knappemang und so ganz fortepiano.«

Sie lächelte.

»Durch Gottes Gnade und Hilfe ... und dann noch ...« und als sie Doortje gewahrte, winkte sie diese heran und streichelte ihr die Hand und sagte: »Ihr guten Menschen, ich danke euch beiden.«

»Wofür?« fragte Jan-Ohme. »Doortje – ja. Aber ich? Ich wurde ja nicht mal für würdig und kumpabel befunden, mit ins Bootje zu steigen. Doortje indessen ... und dann der Baas in seiner kommandierenden Forsche ... und dann noch ... und dann noch ...« und er wandte sich ab, räusperte sich und sah lange und umflorten Blickes in den matten Lampenschein.

»Nicht der näheren Umstände wegen ...« sagte er stumpf vor sich hin, »aber da sind noch die anderen ... die drei ... und wenn ich alles so überschlage: es war wie im Hochamt, als sie so kamen: Arnt in der Mitte, ein König, weiß wie ein Sterbelaken, und das Heiligtum tragend ... drei vom Niederrhein ... drei Männer aus der Bylerwarder Gemarkung ... Menschen in Gott ... den Tod hinter sich, den sie niedergehauen, und eine große Offenbarung unter den Rippen ...«

Er warf sich herum.

»Wenn das nichts besagt, wenn das nicht belohnt werden soll mit Glockenläuten, mit's bengalische Licht, aus der menschlichen und göttlichen Liebe heraus, dann weiß ich nicht, was überhaupt auf der Welt noch übrig bleibt, um präliminiert und beleuchtet zu werden.«

Sie sah ihn fassungslos an und doch mit einem heiligen Glanz unter den Brauen.

»Jan-Ohme, Jan-Ohme! – du, wo sind sie zu finden?«

Sie richtete sich auf und tastete nach seinen Händen.

»Immer man ruhig. Sie haben sich mittlerweile von wegen des verwässerten Zeugs und ihrer Rekolljierung halber bei meinem Freund Rennings benommen, und wenn's nicht zu viel für dich wird ...«

»Nein,« sagte sie ernst und sank mit gefalteten Händen in die Kissen zurück, »ich möchte sie sprechen.«

»Soll denn geschehen, aber bloß dusemang und fortepiano. Ich werde selbst hinmachen und die Sache besorgen. Von da muß ich mich noch ins ›Blaue Pferdchen‹ begeben, um das Nötige in die Reihe zu bringen; dito der Neugierde wegen, was inzwischen noch alles passiert ist. Außerdem: der Hof ist verständigt, hat Order empfangen. Zwischen neun und zehn kann das Schäschen parat sein. Also bis gleich denn. Aber bedenkt: nicht immer geben die Könige. Von Zeit zu Zeit werden sie auch in Honorierung genommen.«

Damit war er aus dem Zimmer gegangen.

Doortje kam näher.

» As 't üh belieft,« sagte sie glücklich, beugte sich nieder und bot ihr ein Glas mit Zitronenwasser.

Sie trank und dankte mit schwacher Stimme und begann wieder zu träumen.

Dieses Mal schönere und freundlichere Bilder.

Sie ging durch silbriges Neuland, im warmen Sommerblust, hinter sich die stillen Gehöfte und vor sich, weit in der Niederung, die dunkelblauen Wälder von Moyland. Jedes Fleckchen Erde atmete Frieden und ernste Beschaulichkeit. Sie war nicht allein, nicht verlassen. Einer war bei ihr und zwar einer, der das Ringen hinter sich hatte und nun sich der Liebe des erkämpften Weibes erfreute. Sie schritten Hand in Hand wie verwunschene Königskinder. Nun war alles Leid von ihnen gefallen. Ab und zu schlug eine Wachtel herüber, weit drüben, wo der langgestreckte Paternosterdeich den bleichen Horizont abgrenzte. Der Tag verdämmerte und glitt unauffällig in den Abend hinein. Die Felder und Wiesen dufteten stärker. Gegen den Rhein hin erhoben sich geruhsame Pappeln. In ihren sommerschweren Laubmassen verfing sich das letzte Glühen des Tages. Gleich Kardinälen, die den Abendsegen spendeten, standen die Bäume. Das Korn blühte, feierte seine Liebesstunde. Die heilige Weihe der Gemeinschaft ging vor sich. »Ach du!« sagte sie in Sehnsucht erschauernd. Mann und Weib in der großen Einsamkeit. Ein stummes Geheiß, und ihre Körper drängten zusammen, ihre Seelen, ihre zuckenden Lippen. Da schlang sie ihre Arme um ihn her, wild, in Verzückung, und sie küßte ihn mit dem Kuß ihres Mundes ... um sich das Stammeln und Flüstern der Halme, über sich das erste Flinzeln der Sternchen, die geheimnisvoll ihr junges Leben entfalteten, und sie bemerkte es nicht ...

Kaum hörbar pochte es an.

Die Tür seufzte, und das Spinnwebmännchen steckte mit verhaltenem Räuspern den Kopf durch die Spalte.

»Wenn es erlaubt ist!« sagte er schüchtern. »Ich möchte nicht stören; aber ich bitte: die drei von den Katen.«

»Ah!«

Unauffällig hatte Doortje das Zimmer verlassen.

Die Tür klinkte hinter ihr zu, und es war so, als wäre eine große und stolze Tat, ein unfaßbares Geschehen in die Stube getreten.

»Reicht mir die Hände! Reicht mir die Hände! obgleich ich mir sagen muß, ich bin dieser tapferen Hände nicht würdig.«

Ihr Kopf senkte sich rücklings.

Die Augen glänzten wie die einer Verklärten.

»Wir grüßen Euch, Anna Donsbrügge,« sagte der Älteste.

Er wollte noch weiter sprechen, verstummte jedoch in tiefer Erregung. Sein Wort flatterte dahin wie ein zerrissenes Segel im Sturm.

Sie erhob sich aufs neue.

»Kommt näher, reicht mir die Hände, auf daß ich die Wahrheit begreife, daß ich euch besser sehe und finde. O, ihr Getreuen! In euch fühle ich die Kinder des Lichts. Laßt mich euch danken. In euch wohnt die Auferstehung, das Leben und die Kraft der Mächtigen ...« und als sie den Jüngsten begrüßte und die Wunde bemerkte, die quer über die Stirn lief, zuckte sie auf und erbleichte.

»Heiliges Blut!« sagte sie tonlos, kaum hörbar. »Nun verstehe ich alles. Tropfen davon sind auf mich nieder gegangen. Wie soll ich vergelten! Ach, wenn ich könnte! Ich möchte jeden von euch ... Mein Gott, was soll aus mir werden ...! Und du ... und du ...!«

Mit einem leisen Schrei fiel sie in die Kissen zurück, einen schmerzlichen und doch alles umfassenden Blick in den Augen.

»Ihr Lieben, ihr Guten ...!«

Da legte Klaas-Welm seine Hand auf die ihre. Er hatte sich wieder gefunden und sagte: »Sturmzeit und Wassernot! Das ist es. Was wir getan haben, ist nicht hoch anzuschlagen, denn Pflicht bleibt Pflicht, wenn sie auch freiwillige Tat ist. Jedoch, daß Ihr es seid, dem sie zugute kam, das ist für uns 'ne besondere Freude. Nicht fröhliche Stunden, nicht solche, die spielerisch sind und Kränze in den Haaren tragen, bringen die Menschenherzen zusammen, sondern harte und unbarmherzige. Diese Erkenntnis nehmen wir mit uns. Der heutige Tag, Sturmzeit und Wassernot sind nicht vergebens gewesen. Wir sehen uns wieder, Anna Donsbrügge.«

»Ja,« raunte sie glücklich, »wir sehen uns wieder. Kommt nur; ich bin immer zu finden.«

Klaas-Welm knüllte die Mütze zusammen und gab seinen Brüdern ein Zeichen.

Da gingen sie stumm und ernst aus der Stube. –

Um dieselbe Zeit saß Jan-Ohme mit seinem Freunde Rennings und anderen im ›Blauen Pferdchen‹ zusammen.

Er hatte diverse Bouteillen Champagner auffahren lassen, von wegen der barbarischen Tat, wie er sagte.

Sein Gesicht ähnelte einem Paradiesapfel um Martini herum.

Alle umdrängten ihn, alle prosteten ihm zu, und als die Nachricht noch kam, daß das ausgesetzte Boot den verunglückten Trommpett noch heil eingebracht hatte, war des Jubels kein Ende.

»So'n Dämel!« wetterte der Baas, »aber was nützt das! Mag Gottes Sonne toujours auch die Dämels bescheinen. Ich hab' nichts dagegen, wenn es auch weh tut, so 'nen Unbewußten auf dem Wasser zu haben.«

»Und Cornelis ten Berg?« fragte der begeisterte Postmeister hinter seinem perlenden Glas.

»Der?!« wieherte Jan-Ohme. »Muckertum und Unkraut wissen sich zu salvieren. Der Hundsfott sitzt noch immer auf der anderen Seite und besieht sich seine zwanzig Morgen auf der Priesterkoppel. Mögen sie ihm in die Schwurfinger fahren. Karamba!«

Eine Stunde später kutschierte er im bequemen Schäschen mit Anna Donsbrügge ganz dusemang und fortepiano dem Knollenkamp zu.

Der Sturm hatte nachgelassen, nur die Bäume rauschten noch tief in der Niederung.


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