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4

Mit dem Glockenschlage vier trat Herr Baumann ein, stellte seine Zylinder auf die Schreibkommode, legte den Kopf auf die Seite, zupfte die Vatermörder zurecht und schritt mit hochrotem Gesicht auf seine Nichte zu, um ihr nochmals sein Beileid an das arme Herz zu legen.

»Jan-Ohme, ich danke dir innigst; aber wie konntest du nur ...? Du bist auch nicht der Jüngste.«

»Du meinst wohl: hin und retour und nochmals hin und retour? Warum nicht? Um deinetwegen mach' ich noch ganz andere Sachen, weil ich von jeher die Überzeugung besitze: in Anna Donsbrügge ist Menschentum von nobelster Klarheit. Außerdem habe ich dir Rapportierung zu machen. Er ruht nun, er hat sich auf den Altenteil gesetzt, den er zwischen seinen vier Pfählen nicht finden konnte. Die Beerdigung war vom obersten Ende. Alles prima, von schönster Bekömmnis. Bloß – es war keine Liebe dabei, keine rechte Andacht. Nur so honoris causa, wie es die Schriftgelehrten benennen, denn wer in gesunden Tagen keine Teilnahme säte, kann eine solche von Todeswegen auch nicht in Beanspruchung nehmen. Du verstehst mich doch, Anna?«

»Ja, ich verstehe dich, Jan-Ohme,« und dann fragte sie hastig: »Hat ihm Cornelis ten Berg die letzte Ehre gegeben?«

»Seltsamerweise – nein. Ich hab' ihn gar nicht bemorken und wurde ordentlich fidel, als ich solches notierte.«

Sie atmete auf.

»Und die drei von den Katen?«

»Natürlich! alle drei in Person, und ich vertrete die Ansicht: sie sind um deinetwegen erschienen.«

»Wie meinst du das, Jan-Ohme?«

»Es ist so meine natürliche Ansicht, nicht der Umstände wegen, sondern der Verhältnisse halber. Aber lassen wir das. Wir haben an andere Dinge zu denken. Die Abberufenen schlafen und kommen nicht wieder. Kirchhofserde ist fett und lebt von den Toten. Anders wir, die wir noch Atem vom lieben Herrgott beziehen. Tod und Leben haben verschiedene Standpünkter. Was dem einen seine Uhl ist, ist dem andern seine Nachtigall. Ich hab's nie mit die Uhlen gehalten, mehr mit die Nachtigallen, und weil das so ist: wir wollen uns setzen, denn das da« – und er zeigte auf die offen liegende Urkunde – »erfordert Ruhe und bedachtsame Kalkulation, schon aus dem alleinigen Grunde, weil es dein leiblicher Vater war, der vor Notar und Zeugen seine knorzigen Einfälle hatte, Einfälle, die am Schwanz aufgezäumt waren. Solche Menschen geben einem Haselnüsse zu knacken. Es ist daher unbedingt nötig, dem Papier auf die Finger zu kucken.«

Sie winkte ab.

»Lassen wir das. Es liegt mir jetzt nicht. Ich muß immer dran denken: wäre er nur anders von mir gegangen, im Licht, ganz still und mit gefalteten Händen. Aber so, mit 'nem Fluch auf den Lippen und willens, mich niederzuschlagen ... Mein Herr und mein Heiland ...!«

Ihre Hände griffen ins Leere. Mit einem verhaltenen Schrei wankte sie rücklings, dem Tisch zu, und ließ sich dort nieder.

Jan-Ohme war dicht an ihre Seite getreten.

»Daran ist nichts mehr zu ändern. Die hiesigen haben meistens kein genügsames Ende gefunden. Schon Everhard und Franz met de Poggenhaar nicht. Nicht in den Kissen, sondern mit 'ner Wagenrunge in der Hand, sozusagen in Forschheit und mit allen Schikanen mußten sie direktemang vor die ewigen Assisen. So waren die Kerle. Das steht schon in den Akten verzeichnet. Aber wir haben hier nicht über diese Akten zu reden, vielmehr von dem, was auf stunds so notwendig ist wie die täglichen Brotschnitten.«

Er zog die dichten Augenbrauen zusammen.

»Anna, nimm's mir nicht übel, daß ich in diesem erhabenen und feierlichen Momentus, wo gewissermaßen die Stimme meines seligen Schwagers noch zwischen den Wänden hängt, diese Beantragung stelle. Du weißt doch, Geschäft und Totenlade stehen dicht beieinander.«

»Ich will nicht. Ich kann mich heute darüber nicht auslassen.«

»Du mußt, denn ich, als der leibhaftige Bruder deiner verstorbenen Mutter, habe darüber meine Meinung zu äußern. Ich bin der nächste dazu, der Prokrater deiner wirtschaftlichen Notdürfte, denn ohne dieselben bleibt die Hufkarr' im Morastus stecken und ist nicht mehr von der Stelle zu kriegen.«

»Nein,« wehrte sie ab. »So gut und lieb du auch bist ... aber wo das alles passiert ist: das Testament und die furchtbare Stunde ...«

»Das ist ja gerade der springende Kasus. Es handelt sich um dich und den Knollenkamp. Wollt ihr denn beide in der Ungelegenheit sitzen bleiben? Schon im Hinblick auf Cornelis ten Berg: besser ein eigenes Kalb als 'ne gemeinschaftliche Kuh. Ein Spierchen Gunst ist mir lieber denn zehn Pfund Gerechtigkeit. Wer schnell zugreift, hat schon halber gewonnen, und wer sich gegen die Verhältnisse sperrt, geht koppheister, als wäre er man so von der Koppel geschnitten.«

Das junge Weib sah ihn fassungslos an.

»Ich möchte jetzt nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht will. Ich muß erst den Toten verwinden. Er steht hinter mir und sieht mir über die Schulter. Darüber müssen noch Tage vergehen, noch Tage und Wochen, bevor ich mich entschließen kann, dem Furchtbaren zu begegnen und mit klaren Sinnen meine Maßnahmen zu treffen.«

Sie streckte ihm die Hände entgegen.

»Ich bitte dich: laß mich gewähren.«

»Ich taxiere das in gegenteiliger Hinsicht, aber von deiner Seite als Tochter gesprochen: Recht wirst du haben, denn das Sprichwort besagt: Immer dusemang und fortepiano, aber ich fühle: du und der Knollenkamp« – und Jan-Ohme nahm seinen Zylinder, bewegte ihn etliche Male auf und nieder und straffte sich hoch wie ein Karnickelbock am Sandfang – »du und der Knollenkamp, ihr zwei beiden, ihr habt 'ne Krankheit im Leibe, 'ne aparte und besondere Krankheit. Da kann kein Dokter nicht helfen. Aber Manneskraft und Mannesgewalt, die machen's und wollen ihre Betätigung haben. Sonst geht auch der beste Schmand von der Rahmmilch herunter.«

Sie flammte ihn an.

»Jan-Ohme ...!«

»Bleibt dabei, Anna. Das hat mir schon lange auf der Seele gelegen. Nichts für ungut, aber so in drei Wochen herum, wenn der Roggen herein ist, komme ich wieder. Das Weitere wird dann die Stunde ergeben, so Gott will, in deinem Interesse und wie ich's von der Zukunft erhoffe. Addio!«

Mit nachdenklichem Kopfschütteln verließ er die Stube, er, der Treuherzige, der Mann mit dem Gemüt eines Kindes, kehrte aber zurück und sagte: »Anna, da liegt's noch mit dem preußischen Kuckuck, so wie's hinflatterte, als er die Besinnung verlor, und so, wie du's hinnehmen mußtest in seiner ganzen Malpropertät und Schmerzhaftigkeit. Das kann ich nicht für voll estimieren und tu's nicht. Nicht um's Verrecken. Nötigenfalls steck' ich selbst dem Schriftstück ein Licht auf, so wahr ich mich Jan Baumann vom Baumannshof benenne, denn in diesem Falle ist dusemang und fortepiano nicht zu gebrauchen. Anna, ich habe die Ehre.«

Er legte die Hand auf die Klinke und trat in den Hausflur.

»I den Zackerzucker nochmal!«

Er öffnete nochmals und schob den Kopf durch den Türspalt.

»Was ich noch sagen wollte?! Also in drei Wochen, wenn der Roggen herein ist, kann's losgehen. Im übrigen: immer mutig und würdig, besonnen und gewissermaßen mit Schwungkraft. Ich habe mich meiner Ansicht begeben und mich deiner beigepflichtet. Es wird schon das Richtige sein. In drei Wochen kann man schon 'ne Lippe riskieren. Also wenn der Roggen herein ist ...«

Nun ging er wirklich, erst über den Hof fort, der großen Einfahrt zu, um von hier aus den Kommunalweg zu erreichen, der nach seinem eigenen Anwesen führte, dann durch lachende Wiesen, von denen noch einige des Schnittes harrten, immer weiter und weiter, bis er eins wurde mit dem nickenden Halmenmeer und dem zartvioletten Schaum von Salbei und Kuckucksblumen.

 

Es mochte ungefähr um die gleiche Stunde sein, als sich über die Katen, die ein kleines Stündchen westlich des Hofes lagen, ein behagliches und freundliches Sonnenlicht spreitete, besonders anheimelnd und zutunlich, schöner denn anderswo, hausten doch in dieser Gemarkung die drei stattlichen Männer, die im ganzen Kreise und darüber hinaus den Namen ›die heiligen drei Könige‹ führten. Dann aber noch ...

Vor der mittleren und opulentesten Katstelle stand eine gediegene und komplette Dame, eine Frau, die tapfer in die fünfzig hineinmarschierte, aber noch immer sagen konnte: »Was wollt ihr? Seht mich bloß an! Jüllecke Nakatenus ist trotz ihrer fünfzig noch gar nicht so ohne, hat noch immer ihre Ambitionen und kann es mit allen aufnehmen, die sich ein sanftes Matronenspeck zugelegt haben.« Sie trug die landesübliche Tracht: den breiten Beiderwandrock, die niederrheinische Knippmütz und die rotgoldenen Ohrgehänge, die bei jeder Bewegung gleich Feldmäuschen zwitscherten. Eine behäbige Schaffnerin, mit kregelen Äugelchen und untergeschlagenen Armen, auf denen sie mit einer gewissen Selbstgefälligkeit die nicht geringe Fülle ihres Busens gleichsam auf einer molligen Assiette anpräsentierte, suchte sie den Wiesenpfad ab, dessen schmales Band an quecksilbrigen Wässerchen vorüber schnurgerade nach dem tief in der Ebene liegenden Grieth führte.

Sie mußten bald kommen.

Stäwe Donsbrügge hatte doch jetzt seine Ruhe gefunden.

Wo sie nur blieben, die drei, die ihr ans Herz gewachsen waren wie Bast und Borke um den Splint eines Baumes?!

Aber sie kamen nicht und wollten nicht kommen.

Da trat Jüllecke Nakatenus in den Hausflur zurück, begab sich in die saubere, mit Plättchen und Kacheln belegte Diele und machte sich an der offenen Feuerstelle zu schaffen.

Das wohlige Scheinen und Blinzeln hielt an.

Die Schleufers-, Oster- und Schwaterskat taten sich gütlich an der pläsierlichen Laune eines der letzten Junitage.

Alle Läden standen geöffnet; das warme Gotteslicht hatte freien Zutritt in die niedrigen Stuben.

So war das nicht immer. Zeitweilig lagen die Fenster blind und verschlossen, und nur die Schwaterskat sah jahraus und jahrein mit offenen Augen in das weite und versonnene Land hin. Das hatte diese Bewandtnis. Wohnte da vor langer Zeit der Ökonom Jakob Schwaters auf seinem Stückchen selbsterworbener Erde, zufrieden und arbeitsam, in Gemeinschaft mit seiner schmucken Ehefrau, einer geborenen Maria Terlinden ... und das Weib gehörte zu denen, die für ihr Haar die Farbe des reifen Weizens ausgesucht hatten und für ihre Wangen die der Milch und des roten Mohns ... und war rank und üppig gewachsen und heiter wie die Tage um Pfingsten. Als sich ihre Zeit erfüllte, gebar sie ihrem Manne drei Knaben, gebar sie in einer einzigen Stunde, hart und schwer, aber mit lächelndem Munde. Den ersten, der die Wände beschrie, nannten sie Klaas-Welm, den zweiten Ewert und den letzten, der sich unter großer Bedrängnis die Welt eroberte, Arnt oder Arnold. Das erwartete Glück konnte nicht herzlicher begrüßt werden, als es geschah; allein die Freude währte nicht lange, denn bald darauf war ein liebes Blühen und Gedeihen zunichte geworden. Nicht daß den Kindern etwas geschehen wäre! Sie gaben sich wie heurige Häschen in einem frischen Lupinenfeld und freuten sich ihres irdischen Daseins. Auch das weizenblonde Haar des jungen Weibes behielt seine stolze Schönheit. Aber die Wangen! An die Stelle von Milch und Blut war die Kalkfarbe einer Kirchhofsmauer getreten, hatte der Tod seine Zeichen gedrückt, die unauslöschlich sind und alles Bestehen hinwegnehmen. An einem jungen Frühlingsmorgen trug man sie hinaus, auf den kleinen Gottesacker bei Wissel. Während sie bestattet wurde, stieg ein feines Gewölk auf. Es umschleierte den Friedhof, und ein warmer, fruchtbarer Maienregen fiel nieder.

Die reine und arbeitsfrohe Maria Schwaters, geborene Terlinden, war zu gut für diese Erde gewesen. Gott hatte sie den Seligen eingereiht, die sich um die Muttergottes bemühen und ihre Schönheit preisen mit Psalter und goldenen Harfen. Aber hier unten, zwischen den vier Wänden des mutterlosen Hauses, was sollte man tun und beginnen, wie die Sorgen der bangen Nächte hinwegnehmen und die mühsamen Tage ersprießlich machen?! und als Jakob Schwaters noch darüber nachsimulierte, immer an seine Frau dachte und des ihm überkommenen Geschenkes so recht nicht froh werden konnte, sprach eines Morgens eine junge und tatkräftige, eine weitläufige Verwandte der Abgeschiedenen vor, präsentierte sich als Jüllecke Nakatenus, von Millingen her, und sagte: »Sonder Komplimente: hier bin ich, und wenn ich richtig einlaufe, soll es mir angenehm sein, sonst nehm' ich's auch nicht verübel und mach' wieder nach Haus zu. Aber ich denke, wir können's probieren, um Jesu Christi willen und der Not Gottes wegen,« und da Jakob Schwaters keine Einwendungen machte, vielmehr herzlich froh war, solch ein prächtiges Menschenkind gefunden zu haben, blieb Jüllecke Nakatenus gleich an Ort und Stelle, richtete sich ein und musterte sich im Laufe der Jahre zu einer Sorgerin heraus, die in der ganzen Umgegend von sich reden machte. Ihre Adrettheit imponierte. Selbst Jan-Ohme vom Baumannshof war Feuer und Fett für die rundliche und preisliche Jungfer, und er wäre vielleicht auch noch weiter gegangen, hätte sein Junggesellentum, das ihm wie durchwachsener Speck und Schellrippchen am Leibe klebte, nicht mit dem tapferen Apostel Paulus gepredigt: »Heiraten ist gut, nicht heiraten ist besser.« Außerdem war er dem braven Jakob Schwaters verpflichtet, und so gefiel sich Jüllecke denn weiter in ihrem ledigen Zustand, führte das Hauswesen mit hingebender Liebe, aber auch mit vorbildlicher Strenge, so daß sich Hab und Gut mehrten und die drei Jungen zu tüchtigen Menschen gediehen. Als dann der alternde Jakob eines Abends im naßkalten Winter von seinen Feldern heimkehrte, ein eigenartiges Frösteln über ihn herfiel und er sich eingestehen mußte: »Man soll auch an die Ewigkeit denken,« da konnte er mit heißem Dank gegen Gott, gegen sein verstorbenes Weib und Jüllecke Nakatenus sein erbauliches Leben und seine drei Söhne betrachten. Ja, seine drei Söhne! Welch' hohe Gestalten! Welch' stolze Menschen! blauäugig, freistirnig, Enakskinder, Männer mit einem einzigen Herzschlag, mit zupackenden Händen, wert und berufen, als ritterlicher Schutz bei ihrem Fürsten zu stehen, einer zur Rechten, einer zur Linken, der dritte als Vorwacht, in blauem Stahl, den Helmsturz aufgeschlagen und das blanke Eisen zwischen den Fäusten ... drei hochgemute Seelen, gesetzt dazu, den Thron zu sichern, Gesetz und Ordnung zu hüten und allen Dunkelmännern gegen die Schädel zu knöcheln. Geradwinkelig, folgerichtig in ihrem Tun und Lassen und königstreu bis in die innersten Knochen – das waren die drei, die unter Jülleckes Führung die Kinderschuhe abgelegt, ihre Lehr- und Wanderjahre durchgemacht hatten und jetzt danach rangen, es immer weiter zu bringen und ihre Arbeit sonder Fehl und wurzelbeständig zu führen.

Der erste, Klaas-Welm: er regierte die Zimmermannsaxt, befehligte die Emmericher Helling als Besitzer und eigener Werkführer. Die von ihm gebauten Schiffe und Kähne fanden Bewertung bis tief nach Holland hinein.

Der zweite! Ewert gehörte zu denen, die ihre Wildbahn weidgerecht pflegten und im benachbarten Reichswald als Hegereiter amtierten.

Der dritte – Arnt oder Arnold: er war haus- und bodenständig geblieben und als Deich- und Schleusenmeister für die Kreise Kleve und Geldern verpflichtet ... drei Brüder auf Reihe, in Gestalt und Wesen zum Verwechseln ähnlich, von den Weibern begehrt und doch noch immer zu haben ... und so in Treuen gesellt, wurden sie eines Tages von ihrem Vater zu einer stillen und großen Handlung berufen. Der Alte hob sich schwer in den Kissen, machte eine feierliche Bewegung und sagte: »Nu geht es bald in 'ner schwarzen Kutsche nach oben. Ich für meine Person kann mich als reisefertig betrachten. Drum macht keine misen Gesichter, steckt euch vielmehr 'ne Kalkpfeife an und wünscht mir 'ne pläsierliche Abfahrt. Mutter wartet schon und hat dem heiligen Petrus Rapportierung gegeben. Na also! für mich ist bestens Sorge getragen. Ich komme schon durch, zumal ich annehme: ihr seid mit mir so'n bißchen zufrieden gewesen. Ihr kennt meine Besitztitel. Nicht viel, aber es langt doch. Außerdem bestimme ich hiermit: Arnt, als in hiesiger Gegend ansässig und beamtet, bleibt auf der Schwaterskat sitzen. Ihr anderen seid dito heimatberechtigt, obgleich ihr euch draußen befindet, denn ich will, daß ihr alle Ärmel- und Tuchfühlung haltet und nicht auseinander geweht werdet wie Spreu oder Spinnweben. Heimat, Heimat!« und er deutete mit dem Daumen zitterig über die Schulter. »Die beiden Feuerstellen hierneben: die Schleufers- und Osterkat, ich habe sie heimlich erstanden. Klaas-Welm, die erste für dich, die andere für Ewert. So ist jedem geholfen, für alle Fälle und unter Berücksichtigung der näheren Umstände. Steckt man eure Pfeifen an, denn das wäre wohl alles. Ich für meine Person ... aber bläst da nicht jemand? Kommt da nicht einer gefahren? Es riecht so nach Firnis und Wagenschmiere. Ich glaube, der schwarze Postillon hat draußen getutet, ganz leise und sachte, aber doch immer so, daß man sich sagen muß: er wartet nicht gerne. Na, Jungens, adjüs denn!« und damit legte er sich auf die andere Seite, machte die Beine gerade und reiste mit spitzer, durchsichtiger Nase und heiterem Griemeln zu Muttern, zu der schönen Maria im Paradiese ... und während die drei noch standen, Hand in Hand und mit zuckenden Lippen, kam Jüllecke Nakatenus in ihrem schwarzen Kleid von Merinowolle auf Zehenspitzen ihres Weges gegangen und sagte: »Was der Verstorbene anordinierte, das ist bestens ausklamüsert und mit Liebe gegeben, und wenn ihr drei auch an verschiedenen Stellen in Profession steht, so hat doch jeder von euch seinen vorschriftsmäßigen Standpunkt, sozusagen sein eigenes Dach über dem Koppe, wenn er mal vorspricht. Dito kann er sich später hier auf seinem eigenen Grund und Boden in Pensionierung begeben und seine Tage beschließen, im Angedenken an seine selige Mutter und im schönen Hinblick auf seinen abberufenen Vater. So, das wollte ich sagen, und dann noch ... Ich selber habilitiere mich wie bisher auf der Schwaterskat ein, weil sie das Zentrum bedeutet, will dabei aber meine Augen auch auf die übrigen Stellen behalten, damit alles im Lot bleibt und wir weiter leben können in Gemeinschaft und Arbeit. Drum kommt, ihr heiligen drei Könige, und meldet mir, ob es so sein soll. Ich glaube, musmaßlich – ja.«

Ihre Stimme versagte. Es waren Tränen darin und helle Zukunftsträume, und siehe: die drei kamen näher heran, umringten Jüllecke und erklärten sie für den Pharus ihrer Tage und Nächte, dem sie zu folgen gedächten nach alter Satzung und in hergebrachter Weise ... und da blickte sie jeden einzelnen an, glättete die Falten ihres Kleides und lächelte, wie der Stern Gottes lächelte, als er über Bethlehem stand, über Bethlehem im Land der Verheißung. Ach! und es blühte alles um sie in weißen und violetten Farben, wie es noch heutigentages blüht in Galiläa, weiß und violett von Lilien und Hyazinthen, Lilien im Tal und Hyazinthen an den Ufern des Meeres von Magdala.

Seit dieser Stunde hielten die drei noch fester zusammen als früher. Bei jeder Gelegenheit trafen sie sich, bei ernsten und heiteren, in Leid und Freud, bei klarem Sonnenlicht und dann, wenn der Himmel ein Auge zudrückte, um eine stille Träne zu weinen.

Dessen eingedenk, erwiesen sie ihrem Gutsnachbar auch gemeinsam die letzte Ehre, betraten sie gemeinsam den Gottesacker, warfen sie gemeinsam die übliche Handvoll Erde in die dunkle Grube.

Jetzt mußten sie sich bereits auf dem Rückwege befinden.

Jüllecke stand in heißer Erwartung. Immer wieder trudelte sie mit lieblichem Klingeln vom Eingang zur Diele, von der Diele zum Eingang und verfolgte den Griether Weg, auf dem die Getreuen anrücken mußten.

Jetzt war es so weit. Drei stattliche Punkte tauchten in der Niederung auf, schwenkten bei der Solo-Pappel etwas nach links ab und schritten dann, an schmalen Rohrbeständen vorüber, geradeswegs auf die Schwaterskat zu.

In 'ner guten Viertelstunde konnten sie diese erreicht haben.

Mit innigem Verstehen atmete Jüllecke auf, wartete noch, bis sie die drei ganz deutlich vor Augen hatte, und wandte sich dann endgültig der Diele zu, wo alles so anheimelnd blitzte und blinkte wie in der Kambüse eines deutschen Ostindienfahrers: die kupfernen Kasserollen und Zinnteller, die Schirtinggardinen, die Schildereien an den weißgekalkten Wänden, der Wasserkessel über der offenen Feuerstelle, die Kacheln und Kächelchen, der Binsenteppich auf den gescheuerten Steinfliesen ... und sie, ebenso blink und blank, mitten dazwischen, mitten in ihrem Reich, zwischen all den Herrlichkeiten und den notwendigen Sächelchen des täglichen Lebens. Eine weiße, gesinnungstüchtige Henne, die ihr eigenes Gelege bewundert, sah sie über den gespreiteten Tisch hin, über die bunten Tassen und Teller und den opulenten Weizenweck, in den sich die fetten Sultaninen wie niedliche Flintenkugeln eingefressen hatten. Sie freute sich der appetitlichen Aufmachung, des Tabakkastens, des Fidibusbechers und der irdenen Pfeifen, die der ganzen Tafel erst die richtige Weihe verliehen ... und sie stand so in tiefen Gedanken, in einer so gehobenen Stimmung, daß sie nicht wahrnahm, wie sich draußen laute Schritte erhoben, wie sie über die Binsenmatte gingen, wie einer ...

Dann aber: zwei feste, braune Hände legten sich ihr sacht über die Augen.

»Tag, Jüllecke!«

»Ewert, Klaas-Welm oder Arnt?!«

Eine derbe Stimme fiel ein: »Aber Jüllecke, ich sollte doch meinen ...«

»Dann seid Ihr ... Christus! der Kaptän Mynheer Rennings aus Grieth!«

»Bin ich noch immer, von der properen Takelage bis zum Kielschwein herunter.«

»Na, so was ...!«

Einem Brummkreisel ähnlich, drehte sich Jüllecke so fix auf ihrem kräftigen Untergestell, daß ihr züchtiger Beiderwandrock eine fidele Volte riskierte, und sah nun ...

Ja, sie hatte richtig gesehen.

Da stand er, breitbeinig, die Hände in die stämmigen Hüften, die Schirmmütze mit dem goldenen Anker tief in den Nacken geschoben.

Reverenz vor dem Kapitän und Kohlenhändler Bartje Rennings aus Grieth! Das war einer mit Ärmeln! klein, aber nicht unterzukriegen, und trotz der kurzen Ständer und des mächtigen Oberkörpers ein Kerl wie vom Schleifstein herunter, riemig und sehnig, dabei kregel und herausfordernd wie ein aufgepflanztes Bauklötzchen. Und erst dieser Kopf, das brandrote Gesicht mit der steifen Bartfräse, die sich von Ohrläppchen zu Ohrläppchen hinzog: ein graumelierter Taukranz, der zwischen dem gekröpften Kinn und der Halsbinde üppig herausstichelte. Alles prima und aus dem besten Laden bezogen. Rennings stellte seinen eigenen Mann auf. Niemand konnte gegen ihn an. Nur wenige fanden den Mut, ihre gegensätzlichen Ansichten wider die des Kapitäns marschieren zu lassen, und wenn sie es taten, standen sie meistens da als überstochene Trümpfe. Seine Stimme war rostig, angefressen, mit Schimmel überzogen, aber diese Stimme konnte rollen wie die des Herrn bei einem schweren Gewitter. Gott, und die Augen! Die reinsten Vergißmeinnichtaugen.

Gutmütig und klein, als wären sie einem Blindmoll gestohlen. In ihnen spiegelten sich die sanftesten und lieblichsten Bilder. So schien es. Allein gleich Lanzenspitzen und Elmsfeuer begehrten sie auf, wenn es die Stunde verlangte. Doch nur selten, in den äußersten Fällen ... und heute ruhten sie so gütig und wohlwollend auf Jüllecke Nakatenus, daß diese ordentlich verlegen wurde, die Lider senkte, ihren Schürzenzipfel zerknüllte und schließlich in die Worte ausbrach: »Ich bitte Ihnen, Mynheer Rennings, Ihr seid nicht auf dem Begräbnis gewesen?!«

»Unmöglich! Ich konnte den Anschluß nicht finden. Allerdings, ich habe toujours in Respekt gegen Stäwe Donsbrügge gestanden, denn der Mann hatte seine gehörige Arbeit geleistet. Indessen: es ging nicht. Absolut nicht zu machen. Erst vor drei Stunden bin ich mit meinem ›Klaartje van Orsoy‹ auf Bergfahrt in Emmerich vor Anker gegangen ... dann zu Klaas- Welm auf die Helling, um von wegen meiner neuen Bestellung ... na und so weiter ... Aber nicht da ... dann auf meinem krummen Beinwerks nach hier, weil ich mir sagte: Die Sache pressiert. Ist er nicht auf der Helling zu treffen, kann's nur die Schwaterskat sein. Also ich hin, und wenn ich nicht ungelegen erscheine ...«

»Aber ich bitte, Mynheer! Ich bitte äußerst, Herr Rennings! Sie müssen gleich da sein. Bitte, plaziert Euch. Darf ich vielleicht ein Köppchen mit Kaffee ...?«

»Soll mir angenehm sein.«

»Und dann noch, Herr Rennings« – und sie erhob ihre Patschhände und stellte Daumen und Zeigefinger liebevoll gegeneinander – »ich spendiere 'nen piekfeinen Weck, heelsüt, met Rosinne drin, sonder Stengels en Pöntjes.«

Ihr rotes Züngelchen schleckerte über die Lippen.

»Dann allerdings,« sagte der Kapitän, hing seine Mütze am Zapfenbrett auf, knöchelte vergnügt die Finger gegeneinander und glitt mit innigem Wohlbehagen über die saubere Ausstattung hin, über die Schildereien, den sumsenden Wasserkessel, die kupfernen Kasserollen und Zinnteller und über all die sonstigen properen Dinge, die die Diele in der Schwaterskat zu einer der gemütlichsten und nettesten am ganzen Niederrhein machten.

Jüllecke zitterte bei dieser Musterung vor innerem Bangen, wußte sie doch, dem strengen Blick des Kapitäns blieb nicht das powerste Mangkementchen, nicht die geringste Betätigung einer sonst stubenreinen Fliege verborgen. Das feinste Sonnenstäubchen konnte ihn wirbelsinnig machen. Aber Gott sei gedankt! er nickte befriedigt, er nickte, als hätte er ein großes Wort auf der Zunge, und das hatte er wirklich und sagte: »Jüllecke, meinen innigsten Beifall. De Jonkheer van de Koning van Holland kann het Pallais in Amsterdam nicht feiner aufmunterieren. Es ist ein Pläsier-Jokus, so was zu sehen. Toujours en vedette. Auch hier alles erster Klasse, von der obersten Takelage bis zum Kielschwein herunter.«

Jüllecke strahlte. Der Busen geriet in eine selige Dünung, ihre Augen nahmen einen mutigen Glanz an.

»Aber Mynheer ...!«

»Sonder Komplimente ... und erst die Scheiegardinjes ...!« Scheibengardinchen, soviel wie Fenstervorsetzer.

Der rechte Arm des Kapitäns hob sich auf. An diesem Arm wurzelte eine klobige Pranke. An dieser wieder ein majestätischer Zeigefinger, und diesen Zeigefinger machte er lang und deutete mit ihm, gleichsam als Feldherrnstab, auf die blütenweißen Fenstervorsetzer, die dem freundlichen Raum ein paradiesisches Aussehen verliehen.

»Nein, Jüllecke, diese Scheiegardinjes ...!« und er bügelte diese ›Scheiegardinjes‹ so gediegen mit seiner verrosteten Stimme aus, als wären sie direkt aus der ersten Feinplätterei in Kleve bezogen.

Das mußte dem rundlichen Mädchen ja überaus wohltun. Es streckte sich denn auch wie eine Miezekatze, der eine liebevolle Hand etliche Male über das Fell streichelt. Ihre Seele büschelte einen magischen Glanz aus, und ihre Lippen stammelten: »Merci, Mynheer! O diese Ehrung, Herr Rennings!« und noch ganz benommen von dem soeben Gehörten, verfiel sie in ihr vornehmstes Hochdeutsch, das sie nur dann in Anwendung brachte, wenn der Herr Dechant sie anredete oder die Jungfrauen des Paramentenvereines bei ihr vorsprachen, um sie zu bitten, in der nächsten Versammlung den Vorsitz zu führen, und sagte: »Aber es sind mal bloß die alten, Mynheer, obgleich ich gestern dabei war, ganz funkelnagelneue in die Rahmens zu spannen. Aber pißten die Dinger? Sie pißten unter keiner Bedingung und wollten nicht pissen. Schön sagte ich mir, da wollen wir's mal mit die andre Kante versuchen. Aber was soll ich Euch sagen, Herr Rennings – da pißten sie auch nicht, obgleich ich das Vaterunser dreimal hintereinander hersagte, von vorn und von hinten. Na, da ließ ich's bei die alten bewenden, und die pißten wie immer.«

»Jüllecke, wenn ich Euch so ankucke ...« und der Kapitän prustete los mit der barbarischen Stimme einer Sirene im Emmericher Hafen, wobei er mit Mittel- und Zeigefinger etliche Male zwischen Halsbinde und Bartfräse durchschliff, um sich bei diesem Lachkrampf vor dem Ersticken zu hüten. »Jüllecke, dann laßt sie man weiter pissen, bis die neuen sich anschicken, just wie die alten zu pissen. Nein, diese Scheiegardinjes ...!«

»Aber Mynheer ...!«

Jüllecke hatte sich energisch und ungehalten in die Bluse geworfen. Sie roch Lunte.

»Ich musmaße,« sagte sie dem unbändigen Kapitän direkt vor die Stirn, »Ihr wollt Euch über mir monkieren, Herr Rennings. Das wäre doch äußerst.«

»Warum denn?«

»Von wegen die Scheiegardinjes, weil sie nicht pißten.«

»Jüllecke,« und das Lachen prasselte aufs neue über die Verärgerte hin wie Hagel und Schloßen. »I den Deibel noch mal! Ich mich über Ihnen monkieren! Das reinste Gegenteil ist hier jung geworden und will seine Verköstigung haben. Ihr seid ja 'ne echte Wunderprinzessin! Schneewittchen und die Jungfrau Maria haben keine feineren Scheiegardinjes besessen ... niemals im Leben ...!«

»Wenn es denn so ist ...«

»Justemang so! und wäre ich nicht schon halber verfreit und versprochen ... Jüllecke, Jüllecke ...!«

Er hielt beide Arme gebreitet.

»Holla!« und wieder tutete er wie eine Steamer- Sirene, denn drei Schatten fielen urplötzlich über ihn her, drei imponierende Schatten, und diese Schatten gehörten den drei ehernen Männern, die dem Begräbnis beigewohnt hatten und jetzt in die Schwaterskat traten.

»Hallo, Klaas-Welm, Ewert und Arnt!«

»Tag Baas, und herzlich willkommen! Jüllecke ...!«

»Ist schon alles besorgt. Der Kaptän gibt sich die Ehre, und ich sage euch, Kinder« – und ihr Züngelchen kam wieder zum Vorschein – »heelsüt, met Rosinne drin, sonder Stengels en Pöntjes. Ich bitte, die Herren.«


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