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2

Eine Lerche wirbelte hoch, eine zweite, eine dritte, und unter diesem Lerchenwirbel: Phöns met de Fleut. Hinter ihm tänzelte ein langer Flor von einem mausegrauen Zylinder herunter.

O dieser Phöns met de Fleut!

Wie ein Storch in einer Erbsenrabatte, so stakelte er über die blumigen Fluren, ganz Wehmut und Trauer und mit der bekümmerten Miene des ersten Repräsentanten in einem solennen Beerdigungsinstitut. Bei diesem Kostgänger des lieben Herrn paßte streng genommen gar nichts zusammen. Er verkörperte die reinste Dissonanz und den lieblichsten Unsinn. Für den gedunsenen Leib waren die Arme zu lang und die Beine zu spillerig, und sein entwaldeter Kopf schaukelte sich auf dem gestreckten Hals wie ein Kürbis auf einer Fitzbohnenstange. Auch hieß er eigentlich gar nicht Phöns met de Fleut, sondern Alphons Desiderius Kersken, was aber die Leute nicht abhielt, bei dem musikalischen Namen zu bleiben und ihn so und nicht anders zu nennen. Sein Fuchsgesicht erinnerte an das eines Parterreakrobaten. Die eine Hälfte vermochte zu lächeln, während die andere sich in Tränen auflöste, und kam Not an den Mann, war er imstande, mit dem linken Auge eine ganze Gesellschaft zu unterhalten und mit dem anderen ein Partiechen Sechsundsechzig zu spielen. Überall wurde er mit Begeisterung empfangen. Einen Beruf kannte er nicht, aber er gab sich elastisch und hatte sein Künstlertum. Phöns spielte die Ziehharmonika ebenso gut wie das Cornet à piston, vagabundierte zu gewissen Zeiten auf den benachbarten Jahrmärkten herum, ließ das Drehbrett kreisen oder beflügelte die derben Schenkel der Kirmesgäste mit einer feurigen Polka Mazurka, um sich dann wieder mit der Rolle eines beschaulichen Hamsters in seinem bescheidenen Häuschen am Rheindamm zufrieden zu geben. Er lebte gleich einem Flachsfinken in Gottes freier Natur, aber von andermanns Rübsen, darbte, ohne zu klagen, und schlang gleich darauf mit äußerster Resignation eine drei Spannen lange Mettwurst hinunter, die ihm irgendein Bauer zugesteckt hatte, ohne dabei eine Miene zu verziehen oder das geringste Wort zu verlieren. Herr Alphons Desiderius Kersken war prachtvoll. Er war ein König in seinem Reich, aber ein König in Lumpen. Er gab mit der Rechten, um mit der Linken doppelt und dreifach zu nehmen. Er hatte Geist und Fähigkeiten wie ein Gentleman, dazu die sonnigen Angewohnheiten eines mit sich selbst zufriedenen Säufers. Dieser niederrheinische Troubadour freute sich mit den Fröhlichen, trauerte mit den Betrübten, ehrte den Papst und seine Heiligen und beweinte die Toten. Er war nicht umzubringen. Wurde irgendwo eine Hochzeit gefeiert – Phöns mußte dabei sein. Galt es, nach altem Gebrauch eine respektable Weihnachtssau auszukegeln – Phöns durfte nicht fehlen. Alle Neuigkeiten fanden in ihm den besten Verbreiter. Seine Ziehharmonika hatte Klang und Farbe in der ganzen Umgebung, und wurde irgendwo die Sterbeglocke geläutet – Alphons Desiderius Kersken folgte ihrem Ruf wie ein Leichenhuhn mit mausegrauem Zylinder und keuscher Florpleureuse, ganz auseinander, bejammernswert und mit dem kummerroten Gesicht eines in sich gebrochenen Mannes.

So auch heute.

Seine Schritte waren getrommelte Wehleidigkeit, sein Inneres Staub und Asche, seine Gedanken flackernde Bemühungen, das Unvermeidliche mit Würde und Andacht zu tragen.

In dem unermeßlichen Grasmeer tauchte ein Hof auf.

Phöns blieb stehen und machte mit der Hand eine grandiose Bewegung.

»O, o, o!« seufzte er aus tiefster Weste heraus, »Knollenkampbauer, mußte das kommen, mußte das kommen?!«

Sein klagender Ruf holte die singenden Punkte aus dem Himmelreich. Langsam plumpsten sie in die Ackerfurchen zurück.

Der Lerchenjubel verstummte, dafür aber kam es in wehen und getragenen Lauten herüber: » Oremus«!

»Ja, lasset uns beten!«

Um Christi willen, was war das nur?! Warum geisterten diese geheimnisvollen Stimmen um das stattliche Anwesen, das immer mehr und mehr aus seinen dunkeln Laubmassen herauswuchs?! Sonst lag der Knollenkamp mit blanken Fensterscheiben stur und kantig an der gewaltigen Lehne des Binnendeiches, der, vom Rheindamm ausgehend und ein stagnierendes Wasser begleitend, die weiten Wiesen- und Weidendistrikte von Bylerward zu sichern hatte – und war jetzt öde und mit Sterbelaken umkleidet ... dieser imposante Hof! und lärmten doch sonst die Elstervögel in seinen saftgrünen Pappeln, grüßten die Türme von Grieth, Emmerich und Kalkar freundlich herüber, rumpelten die Hufkarren unermüdlich ab und zu, lachten Knechte und Mägde, bestellten die Raufen oder zogen mit weißgescheuerten Melkeimern in die Koppeln hinein, stand der fünfundsiebzigjährige Knollenkampbauer wie ein eingerammter Eichenpfahl an der großen Einfahrt, um von hier aus seine eisblauen Lichter über Roggen- und Weizenschläge revieren zu lassen, unerbittlich und hart, mit der Zähigkeit von eiligen Stößern, die etwas Jagdbares verfolgten ... und war jetzt alles von einer Totenhand berührt, unwirtlich und sonder Bekömmnis. Die Türme umschleierten sich, keine Wagen fuhren ab und zu, Knechte und Mägde hatten ihr Lachen verloren, keine Melkgeschirre blenkerten zwischen den Triften, und der Gutsherr stand nicht mehr als eingerammter Eichenpfahl in der großen Einfahrt ... er ruhte vielmehr, lag strack und steif in der abgeblendeten Kammer, mit porzellanenen Händen, ein Kruzifix zwischen den klammen Fingern – und sein Schlaf war ein ewiger.

» Oremus!«

Wer Stäwe Donsbrügge, den Knollenkampbauer, nicht gekannt hatte, der hatte auch die Kreise Kleve und Geldern niemals gesehen, niemals gehört, wie so ein Mensch eine Champagnerflasche entkorkte, um den Papst und die Kirche zu feiern und den Antaster seines Besitzes und Erbes in Grund und Boden zu fluchen, niemals sich umschauern lassen von der gewaltigen Einsamkeit des endlosen Landes, denn in ihm verkörperte sich der ganze Niederrhein, seine gesegneten Äcker, Himmel und Erde und alles, was im blauen Leinwandkittel atmete und den geschälten Weißdorn regierte.

Ja, lasset uns beten!

Stäwe Donsbrügge war von der Koppel geschlagen, unversehens, ohne noch die Sakramente empfangen zu haben, im Angesicht und im Beisein seines einzigen Kindes, in schwüler Stunde, als ein schlimmes Wetter heraufzog und Vater und Tochter sich gegenüberstanden, Auge in Auge, Stirn gegen Stirn und jeden Atemzug eines schweren Unglücks gewärtig.

Aber Gott war barmherzig gewesen.

Er wollte sich und dem Hofe die große Schande ersparen.

Mit starker Hand griff er in dem Augenblick ein, als der Alte in heller Wut nach einem Schemel tastete, um diesen Schemel zu wuchten und niederkrachen zu lassen. Aber da war er zusammengebrochen wie ein Schleusenwehr in der Sturmflut, unvermittelt, das brechende Auge auf seine Tochter gerichtet, in der Linken die Abschrift des Testamentes, das er noch vor wenigen Tagen in amtlicher Form und im Beisein des instrumentierenden Notars in Kalkar getätigt hatte.

Und dieses Testament ...

»Oremus!«

Die meisten Leidtragenden hatten sich bereits eingefunden: Gutsbesitzer, die Honoratioren der kleinen benachbarten Stadt und solche, die bei dem Verstorbenen in Kost und Arbeit gestanden hatten. Sie verteilten sich in einzelne Trupps zwischen den weitläufigen Scheunen und Geschirrkammern oder hielten sich neben der Freitreppe auf, die ins Herrenhaus führte. Die Geistlichkeit fehlte noch. Aber sie mußte bald kommen. Um die Zeit bis dahin auszufüllen, bewegte sich die Lichtjungfer, die den Alten eingekleidet und aufgebahrt hatte, unauffällig von einer Gruppe zur anderen, redete diesen und jenen an, erzählte von ihrem entsagungsreichen Handel und Wandel, um dann wieder beängstigende Stoßseufzer und Anrufe mit der Würde eines Paukenschlägers und der wohltuenden Milde eines Klerikers unter die Leute zu streuen, als sich plötzlich ein verhaltenes Kichern erhob: »Phöns met de Fleut!« und sich alle Gesichter der Einfahrt zuwandten.

Und Alphons Desiderius Kersken erschien.

Die rechte Hand auf die schäbige Weste gepreßt, den Mausegrauen mit der Linken als Futterschwinge vor sich hertragend, bekümmert, fassungslos und den Wasserkopf sorgenvoll hin und her bewegend, steuerte er geradeswegs auf eine Gruppe von Teilnehmern los, aus der drei imposante Gestalten herauswuchsen.

Es waren Männer wie aus Bronze gegossen, drei Brüder, einer dem andern so ähnlich wie eine Kiefer der andern, bodenständige Männer, mit der niederrheinischen Scholle von Anbeginn ihrer Tage verwachsen, selbstherrlich, ohne diese Selbstherrlichkeit im Munde zu führen, und immer bereit, ihre ganze Kraft in den Dienst der guten Sache zu stellen, und obgleich diese drei mit dem Abgeschiedenen nicht das geringste zu tun gehabt hatten, weder als Freunde noch als Verwandte, sondern lediglich erschienen waren, ihm als Nachbar die letzte Ehre zu erweisen, fand Phöns met de Fleut nicht Worte genug, ihnen sein tiefgefühltestes Beileid an Herz und Nieren zu legen, ihnen minutenlang die Hände zu schütteln, als gälte es, in diesem erhabenen Augenblick Abschied für immer und auf Leben und Sterben zu nehmen.

»Klaas-Welm,« redete er den ersten an, »kann es die Menschenmöglichkeit sein, so aus dem Leben zu müssen?! und er war doch kumpabel, mit die eigenen Speziestaler den Deich bis nach Grieth hin zu pflastern.«

»Phöns, wir alle müssen mal dran glauben.«

»Müssen wir, müssen wir. Leider!« und der Mausegraue deutete sacht auf den zweiten.

»Ewert, meinen gehorsamsten Ausdruck. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gepriesen bis in Methusalemstagen. Der Mann verstand es, 'ne reelle Bouteille Langkork auf den Kopp zu hauen und alle zu machen, und in diesem Momang: 'ne Handvoll Kirchhofserde und drei Vaterunser. Allens. Mortuus est, wie der Herr Dechant in der Gewohnheit besitzt, also zu sprechen. Gott, und dann Anna ...und dann Jan-Ohme noch ...!«

Er wandte sich dem dritten zu.

Nur ein Händeschütteln, aber ein Händeschütteln, als müsse es für die Ewigkeit halten. Sein Leid war zu schwer, zu tiefgründig und niederziehend, um dieses Leid in die gebührenden Worte zu kleiden. Dem dritten gegenüber konnte Phöns nicht mehr reden.

Bloß eins noch.

»Arnt...!« sagte er traurig. Er stülpte den Zylinder über, ließ die Pleureuse im Sommerwind schaukeln und wanderte ab – der großen Scheune zu, die im Schatten eines alten Birnbaums träumte und mit der einen Längswand den Hof nach der Feldseite zu abgrenzte.

Hier lehnte er sich gegen ein Aprikosenspalier, drückte sich sein baumwollenes Schnupftuch gegen die Lippen, krank vor Jammer und Elend, und hatte bei Gott und aller Welt von dem Verstorbenen weder Liebe und Freundschaft empfangen, noch die Versicherung erhalten, von ihm in seinem letzten Willen berücksichtigt zu werden, und doch schluchzte er über sein Taschentuch fort, als hätte er im Schatten des alten Birnbaums die Irrungen und Wirrungen und die wenig erfreulichen Überbleibsel eines verfehlten Lebens zu beweinen.

»Christus, und dann Jan-Ohme noch ...!«

Er wandelte sich.

Das fidelste Gesicht kam zum Vorschein. Ein Chamäleon hätte nicht schneller die Farbe geändert, als Phöns in diesem Augenblick aus dem Stadium des Florigen in das des Pläsierlichen hinüberwechselte. Eine ernste Krisis stand ihm bevor, und diese Krisis trat ein und löste sich auf durch eine näselnde Stimme, die bei den Leidtragenden herumhausierte und irgendetwas anpräsentierte.

»As 't üh belieft, Mynheer Gerpott.«

»As 't üh belieft, Mynheer Kermes.«

Die Stimme kam näher. Ein trübseliger Längeling, mit bläulichem Kinn, ganz in Schwarz gekleidet, barhaupt, etwas lahmen Fußes und einen langen Kreppstreifen hinter sich herziehend, beehrte die einzelnen Teilnehmer, um sie nach ortsüblichem Brauch und Herkommen für den Beerdigungsgang mit einem Wacholder zu stärken.

Wie der Pate des Todes schritt der Leichenbitter von einem zum andern, ein mächtiges Tablett mit unzähligen Schnapsgläsern vor sich her balancierend.

Er wandte sich an den alten Schäfer des Hofes.

»As 't üh belieft, Mynheer Strückerjans.«

»Danke.«

»Bitte, nehmen Sie bloß; es ist 'ne ›Blummesüte‹, Herr Schwaters.«

Immer näher und näher.

Der Mann am Aprikosenspalier wurde unruhig. Er befürchtete, übergangen zu werden, und streckte den Arm hoch.

»Mir auch! denn ich bin sozusagen auch einer von's Leichenbegängnis.«

»Ja so!« meinte der Angerufene, zog den Gänsehals ein und hielt ihm das Tablett unter die Nase.

»As 't üh belieft, Mynheer Phöns. Es ist um Gottes willen gegeben.«

»Merci und meinen gehorsamsten Ausdruck.«

Er langte zu und fingerte das größte Glas von der zinnernen Assiette herunter.

»Pompös und über alles Erwarten. Mit so was kann sich auch ein Toter befassen.«

Ein zweites wurde hinter die Binde gegossen, ein drittes, und er hätte sich noch ein viertes genehmigt, wären in diesem Augenblick nicht ernste und feierliche Trauerklänge über das sonnige Land gepilgert. Die Sterbeglocke schlug an und läutete ihn aus dem beglückenden Nebel des Fusels wieder in das Tal der Tränen hinein, zumal da sich die Tür des Herrenhauses öffnete, ein untersetzter Mann in den sechziger Jahren auf der mit Palm und welken Blättern bestreuten Freitreppe erschien und mit abgenommenem Hut die Erschienenen musterte. Er war die angeborene Ruhe, der vorbildliche Typ eines Grundbesitzers zwischen Rhein und Maas, Junggesell und auf dem Baumannshofe zu Hause, der, in der unmittelbaren Nähe von Grieth gelegen, bedeutsames Ansehen genoß und sich, unter Einrechnung der gesonderten Liegenschaften, seiner zweihundertundfünfzig Morgen schweren Weizenbodens erfreute. Herr Baumann, allgemein beliebt und angesprochen unter dem Namen ›Jan-Ohme‹, war etwas zu kurz in seinen unteren Potentaten geraten, dafür aber wurzelten sie um so fester auf seinem Erbe und Eigen, war sein Bäuchlein mit der schwergoldenen Kette um so stattlicher hinsichtlich seiner Rundung und Breite ausgefallen, lag sein Kopf mit den wohlgepflegten Sardellen, den grauen Hasenpfötchen und dem glattrasierten Gesicht so selbstverständlich zwischen den steifen Vatermördern, daß man sein unscheinbares Gangwerk als etwas Nebensächliches hinnehmen konnte, abgesehen davon, daß die silbernen Ringe in seinen Ohrläppchen ihm noch eine besondere Note verliehen.

Kurz, Jan-Ohme imponierte; er imponierte auch Phöns, denn kaum war dieser seiner ansichtig geworden, als der Mausegraue sich wieder in der Rolle einer vorgetragenen Futterschwinge gefiel, auf die Freitreppe zuwankte, um vor Jan-Ohme eine schmerzzerrissene Bewegung zu machen.

»Herr Baumann, um es mit einem Wort zu sagen, ich bin in die Pfanne gehauen. Ihr leiblicher Schwager ... heute rot, um morgen schon auf die Hobelspäne zu kommen. Dieses Malör... der größte Mann seines Jahrhunderts... der Pfleger der Witwen und Waisen ... Mitgefühl, Vertrauen und Liebe... Herr Baumann, nehmen Sie's 'nem alten Musikanten nicht übel...«

Er griff nach der Hand des Gutsbesitzers und schüttelte sie Minuten hindurch, auf Treu und Glauben und mit dem Ausdruck eines gutmütigen Amis, wie er noch kurz zuvor die Hände der drei ehernen Männer geschüttelt hatte, immer betonend, er würde sich glücklich schätzen, an Stelle von Stäwe Donsbrügge zwischen den gefirnißten Brettern zu liegen.

»Herr Baumann,« lamentierte er weiter, »mit dem Gefühl ist das eine besondere Sache. Aber wer so für die seligmachende Kirche, für Gott, König und Vaterland, wer so für seine mistenden Ochsen Erbarmnis hatte ... die diversen Langkork-Bouteillen mal gar nicht gerechnet ... wer so was in Estimierung genommen ...«

Er schluchzte, als wäre ihm das gebrannte Herzeleid angetan worden.

Jan-Ohme legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Phöns, alles schon richtig. Aber der Verhältnisse wegen und der näheren Umstände halber: immer dusemang und fortepiano.«

»Woso?« fragte dieser, und mit seinem Taschentuch fuhr er sich über den eierblanken Schädel.

»Weil ich als Schwager und Bruder der seligen Frau das in der Beurteilung habe.«

»Allerdings, allerdings! aber er ist doch sozusagen rips, mortuus est und mit der ewigen Krone versehen.«

»Ist er,« bestätigte Jan-Ohme und sah über den Hof weg, in die Felder hinein, wo sich zwischen den grünen Korngassen ein hochgetragenes Kruzifix zeigte. »Kein Zweifel, aber er war nebenher ein Krippensetzer und mit Mauke behaftet.«

Phöns entsetzte sich.

»Herr Baumann, wo seine mistenden Ochsen ...?!«

»Immer dusemang und fortepiano.«

Eine Bewegung entstand. Unter leisem Psalmodieren und dem Abgesang von Sterbegebeten zog die katholische Geistlichkeit in weißen Röcklingen und schwarzen Baretten auf die Stätte des Schweigens, woselbst der Knollenkampbauer das Zepter aus der knochigen Faust getan hatte, um es in andere Hände zu legen.

Gleichzeitig wurde der dunkle Sarg, im Schmuck seiner hellen Zinnbeschläge, aus dem Herrenhaus ins Freie getragen.

Phöns krümmte sich wie ein Wurm. Durch die hundertjährigen Pappeln säuselte ein Rascheln und Raunen. Alle Häupter entblößten sich, alle Hände machten das Zeichen des heiligen Kreuzes. Es war hart, unerbittlich und grausam, aber nicht mehr zu ändern: Stäwe Donsbrügge mußte von dem Erbe seiner Väter herunter. Sein Geschick war erfüllt, seine Mission zu Ende, und Gott regierte die Stunde.

Ja, lasset uns beten!

Die Kleriker setzten sich mit dem ragenden Kruzifix an die Spitze des Zuges.

Jan-Ohme, nachdem er die Honoratioren begrüßt und den drei ehernen Männern für ihr Erscheinen besonders gedankt hatte, begab sich unmittelbar hinter die Bahre und bat die Anwesenden, ihm Gefolgschaft zu leisten. Alle reihten sich ein nach Würde und Ansehen: die Grundbesitzer, die Kleinbauern und solche, die dem Verblichenen als Knechte oder Tagelöhner gedient hatten. Phöns schloß sich den letzteren an. Er tat es mit Absicht, aus einem tiefen Beweggrund heraus. Er wollte demütig sein, aller Hoffart bar und des Spruches eingedenk: Wer sich selber erniedrigt, der soll erhöhet werden vor Gott und den Menschen.

Graue Schattenflügel senkten sich über das Anwesen.

Ein junger Tonsurierter betete: »So fahre denn hin, christliche Seele! aus dieser Welt, im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, der dich erschaffen; im Namen Jesu Christi, des Sohnes, der für dich gelitten hat; im Namen des heiligen Geistes, der dir mitgeteilt worden ist; im Namen der Engel und Erzengel; im Namen der Throne und Herrschaften; im Namen der Fürstentümer und Mächte; im Namen der Cherubine und Seraphine; im Namen der Patriarchen und Propheten; im Namen der heiligen Apostel und Evangelisten; im Namen der gebenedeiten Märtyrer und Bekenner, der Mönche und Einsiedler; im Namen der Jungfrau Maria und aller Seligen! Heute noch mögest du in das Haus des ewigen Friedens aufgenommen werden, heute noch wohnen im gefeierten Sion! Durch Jesum Christum, unseren Herren. Amen.«

»Amen!« respondierte Phöns met de Fleut, »Amen, Amen! und so was soll ein Krippensetzer gewesen sein, einer mit Mauke behaftet?! so ein Mann mit fünfundzwanzig mistenden Ochsen ...! Herr Jeses noch mal!« und er gab einen Ton von sich, der weder Seufzen noch Stöhnen war, aber so erschütternd wirkte, daß selbst die umstehenden Scharwerker, die doch eine gehörige Portion Jammer vertragen konnten, mit ihrem Schwatzen innehielten und heimlicher sprachen.

» Oremus!«

Ein stilles, feierliches Licht ging über die Landschaft, ein kaum wahrnehmbares Wispern und Sensen, von dem man nicht wußte, woher es kam und wohin es wollte. Es duftete nach lauem Krepp und abgestorbenen Blumen, und unter diesem faden Geruch wurde der Knollenkampbauer von seinem eigenen Grund und Boden getragen.

Außer Phöns – niemand klagte um ihn, niemand weinte um ihn, denn Stäwe, so hoch sein Ansehen auch war und sein Name im ganzen Kreise gewertet wurde, niemals hatte ihn das warme Herdfeuer der Liebe umschienen. Von allen geehrt, aber auch von allen gefürchtet, nüchtern und eigenbrödelnd war er vom Beginn seiner Tage an durchs Leben gegangen. Er marschierte stets über knochentrockene Wege, aber diese Wege waren imstande, über andermanns Leiche zu führen. Ein Findling auf einer Ackerparzelle konnte nicht härter sein als er. Seine Hand lastete schwer auf Knechten und Mägden, und dennoch trug er Sorge um sie, als wären es seine leiblichen Kinder gewesen. Der Staat mit seinem fahrigen Wesen sagte ihm wenig. Dafür liebte er die alleinseligmachende Kirche. Er bewunderte sie. Sie verkörperte ihm das Unbeugsame, Zugreifende, Packende, das zielbewußte Handeln seines eigenen Menschen. Ihre Machthaber: jeder Bischof, jeder Pastor, selbst das einfachste Kaplänchen in der Diözöse, stand mit seinem Herzblut und in blauem Eisen vor dem, was sie lehrte und wollte. Das sagte ihm zu. Ecclesia militans! Ihr zu Ehren ließ er den Pfropfen knallen, beglückte er allsonntags den Klingelbeutel mit einem harten Speziestaler. Er lächelte selten, aber wenn er es tat, geschah es nur, um sich seiner unabsehbaren Roggen- und Weizenfelder zu freuen. Er schätzte sie höher ein als alle schönen Sachen und Sächelchen des irdischen Daseins. Sie galten ihm mehr als sein Weib, und als der Herr kam und sagte: »Konstanze Donsbrügge, geborene Baumann, ich nehme dein junges Leben hinweg, wie eine Sense einen Armvoll Halme hinwegnimmt, deine Zeit ist gekommen,« hatte er weniger Klage und Leid um sie, als wäre ihm ein minderwertiges Stück Kleefeld verhagelt, obgleich er sie, abgesehen von einer früheren Entgleisung, niemals gekränkt hatte in Taten, Worten, Gedanken und Werken. Sein sturer Erwerbssinn, seine unersättliche Liebe und Gier nach Äcker und Schollen hatten ihm Herz und Nieren verschrumpfelt. Er konnte nicht anders. Er mußte sein Leben leben, wie er es empfangen von Vater und Mutter, wie er es weiter durchlebt hatte bis zur unerwarteten und plötzlichen Stunde des Todes. Sein Abscheiden ging keinem ans Herz. Eher hätte man um einen Kiesel getrauert, der unter dem Eisen eines schweren Karrengauls in die Brüche gegangen. Warum sollte man auch? Er hatte gesät und geerntet. Seine Böden krachten unter der Fülle der Kornsäcke. Er hatte die fette, braune Erde in seiner Erregung vergewaltigt; sie hatte empfangen durch ihn, geboren durch ihn und war glücklich geworden durch die Inbrunst dieses stiernackigen Liebhabers. Aber diese Leidenschaft, dieser Minnedienst ging nicht zu den Menschen, erwärmte nicht, beseligte nicht, hatte mit Benignität und Duldsamkeit keine Gemeinschaft, und wenn er seine Hutungen inspizierte, seine Vorwerke und umbrochenen Fennen – er, der unbeugsame Herrenmensch und Niederungsbauer, der Kreisdeputierte, der Fels Petri – wenn er seine Schleusen aufsuchte, seine Vorgehölze, im blauen Leinwandkittel, die seidene Schirmmütze im Nacken, den geschälten Dorn in der Rechten führend und mit dem eckigen, undurchdringlichen Gesicht seine eigene Flurkarte umgreifend, dann fröstelte die Gegend, und Menschen und Vieh beeilten sich, aus seiner Nähe zu kommen. Selbst die Luderkrähen zogen ihren grindigen Schnabel aus dem Kleiboden, schwaderten auf und schaukelten lautlos über den Rhein fort ... und nun suchte er den ewigen Frieden, um zu wohnen im himmlischen Jerusalem, im Land der Verheißung.

Ja, lasset uns beten!

Langsam ging es an dem alten Birnbaum und der großen Scheune mit dem Aprikosenspalier vorüber. Die verschnittenen Bocksdornhecken blieben zurück, die Ställe, die Gesindewohnungen, die Geschirrkammern.

Das wehe Säuseln und Rascheln in den alten Baumkronen wurde stärker. Irgendwo winselte ein Hund, klingelte eine Halfterkette.

Die Lichtjungfer, die vor einer kleinen Viertelstunde den Leidtragenden zugesprochen hatte, stand jetzt mit leeren Augen, einen Rosenkranz zwischen den wächsernen Fingern, hoch auf der Freitreppe. Von hier aus hielt sie die Heerschau ab über den Paradezug des Todes.

Sie hatte keine Einwendungen zu machen. Alles klappte ihrer Anordnung und der Satzung gemäß. Jeder tat seine äußerste Pflicht und Schuldigkeit. Die Bruderschaft der Sebastianer aus Grieth und die marianische Kongregation von Wissel gliederten sich zielbewußt ein, ohne die geringste Störung zu verursachen. Die beiden Kirchenfahnen bauschten sich rechtzeitig in der leichten Sommerbrise. Der silberne Kruzifixus gespensterte heilverkündend dem Zuge voran. Sein Leuchten tat dem Herzen der Inspizierenden wohl.

Mit der Linken fuhr sie über ihr schwarzes Kleid aus Merinowolle. Sie glättete zufrieden die einzelnen Falten und Fältchen. Um ihre Mundecken spielte ein Lächeln, das nicht von dieser Welt war, sondern dem Toten galt und denen, die bereits an den ewigen Tischen saßen.

Als der Sarg die große Einfahrt passierte und sich dem Kommunalweg zuwandte, der über den Leedeich nach Grieth führte, machte sie kehrt, schlug etliche Male gegen die Haustür und sagte mit ihrer warmen und weichen Stimme, die dennoch so deutlich und eindringlich erschien wie die eines Kanzelredners: »Anna Donsbrügge, kommt vör! Ihr könnt nu erscheinen.«

Sie sprach nicht vergebens.

Eine hohe Frauengestalt war aus dem Hausflur an ihre Seite getreten, ein Weib mit herbem Gesicht und ruhiger Sicherheit. Was zwischen ihr und ihrem Vater geschehen war, stand noch auf ihrem bleichen Antlitz geschrieben, und dieses Antlitz war königlich und trotzdem mit einer Dornenkrone umwunden. Wer kannte Anna Donsbrügge nicht?! Alle kannten sie, alle, die auch ihren Vater gekannt hatten, über Xanten fort bis weit ins Geldrische hinein. Sie kannten ihren Eigenwillen, ihr reines Magdtum, ihre seltsame Schönheit. Sie wußten, daß Johannes van Holten, derzeiter Pfarrer von Wissel und Ehrendomherr von Münster, ihr Erzieher und Lehrer gewesen, und sie wußten auch, daß er gesagt haben sollte: »Meine Augen sehen und meine Ohren hören, und was sie sehen und hören, ist nicht in die Luft gezeichnet oder ein Klingen, das zwischen Himmel und Erde hängt und gar nichts bedeutet. In Anna Donsbrügge sind zwei Naturen verkörpert. Sie hat das Gemüt eines Kindes und den stolzen Sinn einer schönen Pantherkatze. Und wenn sie in ihre Jahre gekommen – sie wird ein Weib sein nach dem Herzen Gottes, wie nicht mehr zu finden. Der Schrei nach dem Manne wird sie beherrschen. Aber sie wird fern davon sein, eine törichte Jungfrau zu heißen. Sie wird mit vollen Händen geben, ohne daß die Linke weiß, was die Rechte verausgabt, aber sie wird auch ihr Eigen und Erbe verteidigen mit der Entschlossenheit eines Fahnenträgers, der sein seidenes Tuch zu beschützen hat, selbst auf verlorener Walstatt. Sie wird eine Kampfnatur sein, just wie ihr Vater. Drum trage ich Sorge ... und trage doch keine Sorge, denn ich weiß, sie hat das Gemüt eines Kindes, wenn auch den stolzen Sinn einer Pantherkatze ... und solche Menschen wissen die beschwerlichen Pfade des Lebens zu überwinden, durch sich und die Gnade des Herrn.«

Wer kannte Anna Donsbrügge nicht?! Alle kannten sie, alle, die in der Niederung wohnten, über Xanten fort bis weit ins Geldrische hinein. Sie kannten ihren Eigenwillen, ihr reines Magdtum und ihre seltsame Schönheit.

Ja, dieses herbe Magdtum, diese sieghafte Schönheit und dieser wilde verhaltene Schmerz um die Mundecken! alles das zwang in die Knie, legte einen Hermelin um ihre Schultern, um die Schultern von Anna Donsbrügge – und machte sie einer Herzogin ähnlich, einer Fürstin in Trauer.

Mit heißen Augen stand sie zwischen den Türpfosten. Mit diesen Augen folgte sie dem Sarge, dem Leichengefolge, bis sie untertauchten in dem Blust und Blühen des warmen Sommertages.

Da streckte sie sich und preßte ihr weißes Tuch gegen die Lippen.

»So!« atmete die Lichtjungfer auf, »nu hat der Knollenkamp Ruhe.«

»Wie meint Ihr das, Lena?«

»Ich meine man so, um dessentwegen und aus einem besonderen Grunde. 'nen ewigen Knüppel im Nacken zu haben, macht keine Freude. Es ist doch kommoder, ohne den Alten zu hausen.«

»Lena, über einen Toten spricht man nur Gutes.«

»Ich weiß das, mit Respekt zu vermelden. Das braucht mir keiner zu sagen. Niemand, keine menschliche Seele. Da ist weiter nichts bei. Aber jeder ist so, wie er ist. Auch der Knollenkampbauer. Keine Liebe und kein richtiges Mitleid. Man hat doch auch seine Augen, mit Respekt zu vermelden. Selbst die Fliegen sind nicht an den Toten gegangen. Auch die Kerzen wollten so richtig nicht brennen. Ich hab's schon gemorken. Solche Menschen sind vom Herrgott gezeichnet.«

»Schweigt und geht an die Arbeit. Öffnet die Läden und laßt Luft in die Kammern. Ihr seid hart wie ein Kiesel.«

»Nur bei Zeiten, und wenn ich es so in der Empfindung besitze. Das kann niemand mir abdisputieren, denn ich kucke durch Bretter.«

Dann ging sie.

Die Gutsherrin folgte. Sie schritt über den Flur in das Zimmer zur Linken, wo alles noch nach Weihrauch, gestreutem Buchsbaum und welken Blumen duftete – und alles öde und leer war.


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