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19

Der Knollenkamp rückte näher heran.

Die vollaubigen Pappeln, die ihn im weiten Ringe umstanden, säuselten freundlich im leichten Sommerwind. Die saftgrünen Blätter legten sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Dazwischen flimmerte es von Sonnenreflexen und silbernen Fäden. Hoch in den Wipfeln geckerten die Elstervögel, flogen ab und zu und sorgten sich um ihr zweites Gelege.

Immer höher wuchsen die Bäume aus der nächsten Umgebung.

Die langgestreckte weiße Gartenmauer kam in Sicht.

Blühende Feuerbohnen grüßten herüber. Was auf den Zierrabatten duften konnte und wollte, das duftete: Tausendschönchen, Nachtviolen, Kartäusernelken und Geranienstöcke.

Die Felder blieben zurück.

Verschnittene Taxushecken begannen den Weg zu begleiten.

Der majestätische Hof reckte sich schon in seiner ganzen Länge und Breite.

»Prrr!« machte Jan-Ohme. »Wir wären so weit, und nu forsch in die Höhle der Löwin! Ich halte den Daumen.«

Die tapfere Jungfrau fuhr aus ihrer behaglichen Ecke.

»Schon?!« fragte sie mit aufgerissenen Augen.

Nie in ihrem Leben hatte sie so selig geträumt und gesponnen, so an der Seite Jan-Ohmes, den Arm um seinen Nacken gewunden, von dem Gedanken eingeschaukelt, wie ihr ganzes Dasein hätte anders sein können, so ganz aus dem Alltäglichen heraus, ins Hohe hinein: Gutsbesitzerin ... Herrin auf dem Baumannshof ... Gattin ... vielleicht Mutter von ganz kleinen Kindern ... und wäre sie in den Erzählungen der wundersamen Sultanin Scheherezade bewandert gewesen, gewiß hatte sie sich für die Fee Peri Banu gehalten oder die köstlichen Worte aus der Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Bagdad vernommen: »Siehst du nicht, zur Freude brauchen wir der Dinge vier: Harfe, Laute, Klarinett und Flöte; und geleitet seien sie von vier Gerüchen: Veilchen, Anemonen, Myrten, Rosen; und die acht selbst wären nicht willkommen, fehlte Liebe, Gold und Wein und Jugendröte. So sei es, bis zu uns kommt der Vernichter der Freuden und der Trenner aller Gemeinschaft, der da sammelt für die Gräber ...« aber dann wieder ...

Sie wischte sich den süßseligen Traum aus den Augen.

»Ach Gott,« sagte sie traurig, »daß die feinsten Sächelchen des Lebens immer so fixe Beine besitzen!«

»Leider,« konstatierte der alte Herr, und während Jüllecke ausstieg und klopfenden Herzens dem Herrenhause zuschritt, warf er ihr ein Kußhändchen nach dem andern zu, machte kehrt und karriolte eifrigst nach Hause.

»Die macht's,« sagte er im Weiterfahren, »aber nicht dusemang und fortepiano, sondern mit der Kraft von 'ner biblischen Jungfer.«

Er dachte an Judith.

In einem lauten Schnalzer ging das Weitere unter.

An der Einfahrt wandte sich Jüllecke noch einmal um und sah dem Gefährt nach, das immer puppenhafter und winziger wurde.

Es war ihr komisch ums Herz.

Noch vor kurzem so traulich gewiegt, nur durch rosige Schaumwölkchen schwebend, mußte sie sich jetzt vollends umstellen, war sie nunmehr der kalten und nackten Wirklichkeit wiedergegeben.

Nein, dieser Wandel!

Im Schäschen hatte sie völlig neutralen, ganz und gar poetischen Boden unter den Füßen gehabt; hier aber war Knollenkamp-Erde.

Der kräftige Hof vertrug nicht den zarten Schmelz von Schmetterlingsflügeln.

Nur das kategorische Muß hatte hier Heimatsberechtigung, gebot ihr, sich demgemäß einzustellen und die übernommene Pflicht zu erfüllen. Das war sie sich auch selber schuldig. Sie wollte. Jan-Ohmes Worte: »Nu aber forsch in die Höhle der Löwin; ich halte den Daumen,« bestärkten sie in ihrem Vorhaben.

Also weshalb noch gezögert?

Beherzten Mutes durchschritt sie die Einfahrt.

Gleich darauf blieb sie stehen.

Die Ruhe des sonntagstillen Hofes empfing sie und machte sie irre.

Und dann noch: ein saftiger, aufgepluderter kalkuttischer Bronzeputer kam stolz seines Weges und umkullerte sie. Den nackten, himmelblauen, mit hochroten Warzen und Karunkeln austapezierten Hals weit zurückgelegt, darüber den Schnabel mit dem lackfarbigen Nasenklunker, auf dem Kropf ein Büschel pferdehaarähnlicher Federschäfte, die metallisch schillernden Flügel steif auf dem Boden – also trenzte er im Kreise herum und ließ dabei sein herausforderndes ›Put put put, kurrekurrekurre‹ verlauten.

Das paßte ihr nicht.

Der impertinente Truthahn war ihr das Symbol des ganzen Anwesens, obgleich sie sich eingestehen mußte: ein starkes, ordnendes Einvernehmen hatte hier Großes geleistet. Seit ihrem letzten Besuch schien der Knollenkamp einen befreienden Atemzug getan zu haben. Jede Einzelheit lag im Blei und im Winkel. Geschirrkammern und Scheunen standen im frischen Kalt, das Holzwerk mit den gesamten Türen und Toren in neuer Beteerung. Die Dächer wiesen keinen Schaden auf ... und alles so blank, mit Kies bestreut, mit Kamm und Kardätsche gestriegelt! Oleanderbäume in weißgestrichenen Kübeln führten zum Herrenhaus hin. Jüllecke wunderte sich. Mit zwiespältigem Gefühl vernahm sie das gesunde Schnaufen des ebenrückigen Viehs in den Ställen, das helle Klirren der Halfterketten, das muntere Stampfen der glänzenden Rosse zwischen den Latierbäumen. Alles und jedes deutete auf Ordnung und Umsicht. Eggen und Pflüge reihten sich seitwärts nebeneinander. Die Streicheisen und Pflugmesser trugen nicht die geringste Spur ihrer geleisteten Arbeit. Heute war Sonntag, und eine säubernde Kraft hatte die Ackergeräte selbst von der geringsten Krume befreit.

Gerne hätte sie einen Fehler entdeckt, gerne dem Äußeren des Hofes etwas anhängen mögen.

Aber wider Willen mußte sie sich eingestehen: »Wenn ihre Gesinnung so rein ist wie das, was ich hier vor Augen bekomme, kann Anna Donsbrügge getrost von den ewigen Tischen essen.«

Auch das paßte ihr nicht.

Es ging ihr in ihrer jetzigen Verfassung wider den Strich, gegen Gesetz und Ordnung.

Hart mußte sie sein, unerbittlich, nicht nachgiebig.

Drum vorwärts!

Von dem impertinenten Truthahn und seinem herausfordernden Kullern begleitet, schritt sie unter den Oleanderbäumen dem Hause zu.

Hier angekommen, klingelte sie.

Ein blankes Mädchen erschien.

Sie musterte es mit kritischen Blicken. Vom Spitzenhäubchen, über das prallsitzende Kleid fort, bis zu den festen Schuhen herunter.

Auch hier alles im Lot.

Das wurmte sie bis in die innersten Nieren.

Eisig brachte sie ihr Anliegen vor, fragte nach der Gutsherrin und fand sich alsbald in einem freundlichen Zimmer wieder.

Herr Jeses, auch hier die subtile Aufmachung, das sorgliche Walten einer emsigen Frauenhand! Wohin sie nur blicken mochte: überall der gepflegte Urväterhausrat, die weißen Gardinen, die piekfeinen Polstermöbel und die anheimelnden Schildereien an den Wänden, Kupferstiche nach alten Meistern aus der niederrheinischen Schule: die Verkündigung, Christi Geburt, die Darstellung Christi im Tempel, Jesus mit der schönen Samariterin am Jakobsbrunnen, Ecce homo, Christus bei den Schwestern im traulichen Häuschen von Bethanien, während draußen am Fenster das Weinlaub plauderte und silberige Ölbäume ins Zimmer grüßten, die Kreuzigung und die Verklärung des Herrn.

Es erinnerte an das Gemach einer Klosterfrau, die das Gelübde ewiger Keuschheit gestammelt.

Lieber wäre es ihr gewesen, in einer sündigen Halle zu weilen, so wenig paßte das Ganze zu ihrer inneren Verfassung.

Inquisitorische Gedanken schlichen sich unter ihr seidenes Fürtuch. Strick, Stein, Gras und Grein schlugen die Augen auf. Der malleus maleficarum begann langsam zu pochen.

Eine Gerichtslaube mit besetzten Bänken, ein beinernes Kruzifix auf der schwarzgespreiteten Tafel, trübbrennende Kerzen und ernste Gesichter hätten ihrer Anschauung besser entsprochen.

Sie wußte, was sie hergebracht hatte und was sie hier wollte.

Nur keine Wehleidigkeit, keine schwächlichen Anwandlungen.

Hart auf hart mußte es kommen, unbedingte Klarheit mußte sie haben, vor Stuhl und Schrein mußte die vom Knollenkamp stehen, sonst wäre sie besser in ihren eigenen Pfählen geblieben.

Dabei trat ihr Jan-Ohme lebhaft vor Augen.

»Jüllecke, ich halte den Daumen.«

»Recht so, Jan-Ohme; ich habe für meine Getreuen zu kämpfen.«

Noch einmal glitten ihre Blicke über die friedlichen Darstellungen, über die Szene im Tempel, über das schlichte Heim in Bethanien, über die Verklärung des Herrn; aber auch jetzt blieben ihre Folgerungen unerbittlich wie die Kiesel an der Landstraße.

»Nein,« sagte sie unwillig, »es bleibt dabei: Klage, Rechtsweg, Entscheidung.«

Sie hatte nicht lange zu warten.

Anna Donsbrügge kam und trat ihr freundlich entgegen.

»Fräulein Nakatenus, wir haben lange nicht den Vorzug gehabt.«

Die ihr dargebotene Hand wußte Jüllecke unauffällig zu übersehen, machte sich an ihrem Pompadour zu schaffen und gab frostig zurück: »Allerdings – nein.«

»Seit dem Tode meines Vaters wohl nicht mehr?«

»Allerdings – nein.«

Sie zuckte die Schultern. Ihre Worte waren so kalt und abweisend geworden, wie die Flossen einer fetten Karausche.

»Ich erinnere mich: früher hatte der Knollenkamp öfters die Ehre.«

»Allerdings – ja. Das war zur Zeit, als die selige Mutter noch lebte. Bei der hatte man seine hohe Bekömmnis, seinen christkatholischen Standpunkt; denn sie war die Schwester Jan-Ohmes, machte das Ihre mit sauberen Händen und ist dem Knollenkämper, selbst in seinen traurigen Abschweifungen, stets 'ne akkurate Lebensgefährtin und Treuhänderin gewesen, wenn's auch manchmal in Biesternis ausgehen wollte. Das muß man als Hauptstück verfechten. Damals bin ich immer gerne gekommen, und allens was recht ist: vor dieser Frau muß ich auch heut' noch in Bewunderung stehen, denn jegliches, was man von ihr in Worten und Werken bezog, konnte man nur mit Estimierung und Andacht betrachten. Außerdem: sie kam vom Baumannshof her, hatte das Ihre geleistet, ist mir allzeit eine spezielle Freundin gewesen, so daß ich mir in jenen Tagen immerzu sagte: Jüllecke, du mußt heute zum Hof hin, um mit der netten Frau ein kommodes Plauderstündchen zu haben.«

»Um so schöner,« meinte die Gutsherrin, bemüht, einen möglichst zuvorkommenden Ton anzuschlagen, »wenn sich die alten Beziehungen wieder herstellen ließen.«

»Merci.«

Jüllecke sah über sie fort, als wäre sie ein leeres Gefäß, ein Ding ohne Inhalt gewesen. Das trauliche Haus in Bethanien, mit dem Weinlaub am Fenster und dem Säuseln der silberigen Ölbäume da draußen, interessierten sie mächtig.

»Fräulein Nakatenus, vielleicht ein Täßchen Kaffee gefällig?«

Das biblische Heim in Bethanien behielt seine Anziehungskraft.

Ohne einen Blick von der lieblichen Darstellung zu tun, stets mit Maria und Martha beschäftigt, auf die weisen Lehren und Ermahnungen des Nazareners lauschend, schüttelte die Angerufene abwehrend den Kopf, streifte die filierten Halbhandschuhe höher hinauf, ließ ihren vollbesetzten Pompadour baumeln und sagte: »Das könnte mir passen, obgleich ich mein Teil schon zu Hause genossen, denn für 'n Schälchen mit Kaffee hab' ich immer Verwendung; indessen: hier auf dem Knollenkamp muß ich mich dafür höchlichst bedanken.«

Der Pompadour baumelte stärker.

Jüllecke war auf die Darstellung des Herrn mit der schönen Samariterin am Jakobsbrunnen übergegangen.

Anna Donsbrügge merkte auf.

Sie fühlte: irgend etwas ist im Werden begriffen.

Die Stille hielt an.

Hier standen zwei Frauen dicht nebeneinander, die sich liebten und schätzten, aber auch zwei, von denen jede in der anderen die Bedrängerin ihres Glückes witterte.

Nein, und wie die Darstellung im Tempel so schön war, so belehrend aufgestellt und mit 'nem ebenholzschwarzen Rahmen versehen!

»Fräulein Nakatenus ...!«

»Was gefällig, Mamsell?«

»Dann nehmt wenigstens Platz. Der Weg von der Schwaterskat bis zum Knollenkamp will gemacht sein. Jüllecke, Ihr befindet Euch nicht mehr in der frühesten Jugend.«

Sie deutete auf einen bequemen Stuhl in der Nähe.

»Merci.«

Das pummelige Weibchen lächelte ihr unversöhnlichstes Lächeln. Die Ohrgehänge klingelten und zischelten dazu mit den Stimmchen winziger Reptile.

»Auch hierfür meinen erhabensten Ausdruck, denn ich befinde mich noch gut in die Beine; außerdem bin ich 'n stücklang in 'nem opulenten Schäschen gefahren. Da kann's ja nicht fehlen. Also warum denn? Es ginge wohl, aber es geht nicht. Man weiß nicht, wie's kommt und was bei die Sache herausspringt. Ich möchte vorher weder Süßholz noch Kompläsanzen beziehen. Das stört bloß und kann einem nur die eigene Würde benehmen. Jeder für sich und Gott für uns alle. So hab' ich's immer gehalten. Man ja keine Verpflichtungen! Mit so was kommt man nicht weiter. Wir wollen's daher lieber bei's Stehen belassen.«

Ihr Blick schweifte wieder ab.

Dieses Mal war sie auf den Ecce homo verfallen.

Ach, diese Marter und Pein! So mißhandelt zu werden! So unter der Dornenkrone und der Geißel zu stehen!

Sie dachte dabei an ihre beiden Getreuen, die sie in der Verbannung wähnte, in Botanybai oder auf den Pfefferinseln, in Fiebersümpfen und ewigem Durstland.

Das erschütterte sie, machte sie noch strenger und steifnackiger.

Ihre Äußerungen hatten wie Nadeln gestochen.

In Anna Donsbrügge stieg es auf, bald heiß, bald kalt, bald wie eine tosende Sturzwelle.

»Dann bitte: was verschafft mir die Ehre?« fragte sie unwillig.

»Schön!« sagte die Jungfer und ließ den Ecce homo schießen. Aber dieses ›schön‹ klang so fest und energisch, als hätte es Galle und Bitterkeit zwischen den Zähnen. »Was einen bedrückt und einem gewissermaßen das innere und äußere Wohlbefinden abdisputiert, das läßt sich so aus purem Handgelenk heraus nicht auf den Tisch des Hauses verzapfen. Das muß seine Überlegung besitzen. Ich will daher bloß zuerst festgestellt haben: ich bin heute morgen in die Kirche gewesen ... bei dem ehrwürdigen Herrn van Holten im Hochamt ... und hörte die Predigt ... und vernahm das Wort von 'ner gottwohlgefälligen Ehe und 'ner reinlichen Liebschaft. Nein, wie hat der geistliche Herr schmuckvoll und äußerst gesprochen und solche Menschen, die sich in dieser Gnade befinden, auch demgemäß gesegnet! Gott sei gedankt, daß es heute noch so welche gibt. Zum Beispiel Doortje Kistemaker und Rennings in Grieth, und hätte Herr Baumann sich rechtzeitig in Kopulation begeben, sein Verhältnis wäre prima Klasse gewesen. Er hatte es ausstellen können. Dahingegen« – und Jüllecke betonte das ›Darhingegen‹ so kräftig und gesinnungstüchtig, als käme sie jetzt auf eine ungemein heikle Sache zu sprechen – »darhingegen gibt es welche, die das sechste Gebot man spärlich beachten. Besonders bei solchen, die mit offenem Brustlatz dahinziehen und schöntun und offenkundig umherlaufen, als wären sie eigenst dafür da, den lieben Gott auf den blassen Tod zu verärgern.«

»Aber Jüllecke ...!«

»So ist es,« fuhr sie eifriger fort, »ohne dabei an die dicke Peternell und Cornelis ten Berg vom Emmericher Eiland zu denken. Die befinden sich überhaupt außer der Gnade; den irdischen Bankerott haben sie selber schon weg und den überirdischen werden sie demnächst beziehen. Dessen ist Jan-Ohme mein Zeuge, dito Phöns met de Fleut. Nein, an die denke ich nicht. Desgleichen an die nicht,« ging es ihr noch mundfertiger von den Lippen herunter, »die auch heutigen Tages den ägyptischen Joseph nicht missen können und den altertümlichen König David in schwere Ungelegenheiten versetzen. Sie bedeuten für mich die Rückseite einer moralistischen Liebe und Ehe. Und diese Rückseite der Medaille ist furchtbar, denn sie wird bestraft mit Donner und Blitz und mit 'ner schwärzlichen Wolke am Himmelreich. Wehe denen, die sich als Buhlen benehmen! Sie sind schlimmer als Lüstlinge. Das hat der Herr Dechant alles schwungvoll heruntergepredigt und sich dabei auf 'ne reinliche Brautschaft mit nachfolgender Vermählung bezogen. Drum, so hat er in die Menschenherzen gesprochen, gehet hin, ihr Jünglinge und Jungfrauen, ihr Männer und Weiber, und folgt den Geboten. Nur mit 'nem goldenen Ringlein am Finger werdet ihr das himmlische Jerusalem finden.«

Völlig auseinander, wuscherte sie in ihrem Pompadour herum und brachte nach langem Suchen ihr Taschentüchlein zum Vorschein.

Mit schmerzlichem Seufzer führte sie es gegen die Lippen.

»Das war großartig gesagt und konnte einem den Atem benehmen, einen hineinführen in die Gärten, worin sich die lieblichen Myrtenbäumchen befinden. Das für die Bräute oder für solche, die es zu werden gedenken. Darhingegen Disteln und Dornen für alle, die sich nur der Männer bedienen, um sie ausnahmslos als sündhafte Objekte zu haben. Für diese ist das himmlische Jerusalem überhaupt nicht vorhanden, vielmehr das beschmutzte Tafeltuch der ewigen Hölle, denn Gott ist gerecht und unermeßlich in seinen glorreichen Werken.«

Die Gutsherrin unterbrach sie.

Sie war weiß übergossen.

»Die Worte seiner Hochwürden in Ehren,« sagte sie heftig, »obgleich ich so recht nicht verstehe, weshalb Ihr Euch bemüßigt seht, sie mir nochmals ans Herz zu legen.«

»Warum ich das tue und weshalb ich das tue?!«

Die Erregte brachte ihr Nastüchlein wieder an Ort.

»Nur aus purer Menschen- und Nächstenliebe heraus ... nur um Jesu Christi willen ... nur um darzutun, in welchem Elend ich sitze, in welcher Schmachhaftigkeit ich schon seit Monaten herumirre ...«

Ihre zitterige Rechte deutete auf den Ecce homo.

»Genau so wie dieser! Genau so wie er wurde ich an die Säule gebunden, mit Geißeln gestrichen, mit Essig verköstigt, habe auch ich meinen Ölberg und mein Golgatha gefunden; denn was meinen dreien passiert, das geschieht mir doppelt und dreifach. Kommt bloß nach der Schwaterskat hin und zu die übrigen Katen. Da ist nichts mehr Pläsierliches zu sehen. Da ist der Sonnenschein von den Dielen genommen. Da sitzt wer auf dem Sofa und kuckt mir die Kasserollen blind ... und kuckt mir die Freudigkeit zu den Türen hinaus ... und legt einem 'ne kalte Hand auf die Brust, daß man glauben könnte, der Schreinermeister Pollmann aus Huisberden sei fällig, um einem die sieben schwarzen Bretter an den Leib zu vermessen. Geht das so weiter, dann heißt das: Requiescat in pace, wie der Herr Dechant immer so redet. Das mußte ich sagen, obgleich ich Euch als 'ne wahre Prinzessin betrachte, mit Hof und Haus und zweihundertundachtzig Tagwerken fetten Niederungsbodens, das Rindvieh und die melken Kühe mal gar nicht gerechnet ... und dennoch: wenn Not an den Mann geht, und es geht Not an den Mann, dann mache ich mir auch vor 'ner richtigen Prinzessin nicht bange.«

Ihre Augen glühten.

Mit gekrampften Händen stand sie vor Anna Donsbrügge.

»Nein, Mamsell, auch vor 'ner Prinzessin nicht bange! denn ich fühle: ich bin in diesem Momang das geistliche Gefäß und die strafende Hand unseres Herrn und Erlösers geworden. Man braucht nur Ohren zu haben, zu's Hören, und Augen, zu's Sehen: es will offenbar werden, die Münder werden sich auftun und davon musmaßlich reden. Das ist schon so seit Mathusalems Zeiten Mode gewesen und nichts dran zu ändern. Schadenfreude bleibt nun mal die aufrichtigste Freude, wenn es auch heißt: ungegönnt Brot macht die fettesten Bäuche. Ich kenne die Menschen. Das hakt bereits mit dem Sinter Klaas-Abend zusammen, und so schön es auch war – schon damals hatte ich 'nen schweren Stein auf der Seele. Ich denke dran bis an mein christliches Sterben, obgleich Ihr meine drei freundlich beehrtet und Euch in Eurer ganzen Liebreichigkeit anpräsentiertet.«

»Jüllecke, Jüllecke ...!«

»Bitte, mich nicht unterbrechen zu wollen. Jetzt habe ich zu sprechen, Mamsell, und wenn ich was Dämliches rede, Ihr braucht nur zu sagen: Jüllecke, beseht Euch die Türe gefälligst von der anderen Seite, und ich gehe mit Andacht. Bis dahin: jedem das Seine, jedem seine eingeborene Meinung. Hier sitzt das und will mir meine Ruhe nicht lassen, denn was damals passierte, was der Brief umfaßte, können nur die in Beurteilung nehmen, denen es zustand, in das Schreiben zu kucken ... sonst niemand, keine menschliche Seele, auch ich nicht. Nur eins steht für mich wie das Amen in der Kirche verfertigt: um Euretwegen hat Ewert fortgemacht, ist Klaas-Welm so gut wie gestorben, wird mein Jüngster und Bester denselbigen Weg gehn, und solches bedeutet für mich die letzte Station zum Kalvarienberg ... und einer wird kommen, ein Unsichtbarer, und mit Kreide an die Türen vermelden: Hier wohnten die drei, die wir die heiligen Könige nannten.«

Sie klingelte mit den Ohrgehängen, sie rang ihre Hände.

»Christus! das ist ja um Steine auf dem Kirchhof zu sammeln, um damit ein Beinhaus zu mauern!« und ihre Stimme verlor an Schärfe und Härte, wurde gelassen und sanft wider Willen, denn langsam und feierlich, wie eine große und schwere Anklage, kam es von bleichen Lippen herunter: »Anna Donsbrügge, ich mag wohl 'ne verkehrte Anschauung haben, mag wohl nicht bewandert sein mit den innersten Zuständen, aber mir sagt eine gläubige Einsicht: So viel ich beurteilen kann – vor Eurem Herrn und Heiland, könnt Ihr nicht mehr bestehen.«

Anna Donsbrügge ergriff ihre Hände.

Die Farbe ihres Gesichtes wechselte ständig: bald bleich wie das Tischtuch, bald wie ein fliegendes Feuer ... und sie, die da vor ihr stand, konnte sie die mit lauterem Herzen verdammen, ihr zurufen: »Was wollt Ihr? Ich bin nicht schuldig der Klage. Laßt mich zufrieden. Bin ich unter die sündigen Weiber gegangen?« Lag in dem Wirren und Wehen, das sie vorbrachte, nicht ein großes Stück bitterer Wahrheit verborgen? Redeten die Dinge nicht wider sie, standen die Lästerzungen nicht gegen sie auf? Hatte sie das Recht noch, sich die Schuldlose, die Reine zu nennen?

Ihr Atem flog.

Schuldig zu sein und doch kein Schuldbewußtsein zu haben!

Entsetzlich!

Sie umfaßte die Brust, als gedächte sie die Hefteln zu sprengen.

»Jüllecke, Ihr reißt mir das Herz auseinander.«

»Schon möglich, denn in dieser Verfassung ist der Mensch zu allem kumpabel. Aber den richtigen Weg kann er doch nicht mehr finden.«

Sie hob schmerzlich die Hände.

»Anna Donsbrügge, wie hab' ich gebetet für Euch: am kalten Stein ... am Altar von der ewigen Anbetung ... morgens und abends ... immer dasselbe ... immer drei Vaterunser ... immer vier ›Gegrüßet seist du, Maria‹ hintereinander. Und wenn ich früher den mächtigen Hof so betrachtete und Euch dann bekuckte ... und wenn ich Euch sah in Eurer ganzen Schönheit und Aufmachung, lieblich und herrlich anzuschauen, als ginget Ihr bei aller Werktätigkeit zwischen schneeweißen Nönnchen ... drei zur Rechten und drei an der anderen Seite ... immer bloß so durch Rosen und Lilien ... oh! da hab' ich mir allzeit gedacht und heimlich ausspekuliert, ob es nicht die Menschenmöglichkeit wäre, von Euch bis zu den Katen hin eine große und heilige Freude zu spinnen. Das wäre für mich das höchste Gefühl in meinem diesseitigen Leben gewesen, aber ja nicht von wegen der Äcker und Felder, von wegen des Hofes und seiner hohen Besitztümer halber. Gott im ewigen Himmel soll mich hierfür bewahren! nein, nur aus purer Anbetung und Liebe heraus sollte das alles geschehen. Und wenn ich dann meine drei so vor mir hatte, jeder berufen, ein Weib zur Königin zu machen, ihm die Mutterschaft zu geben, ihm Himmel und Erde vor die Füße zu legen ... wenn ich das alles so ausspekulierte, da glaubte ich an Euch, wie ich an die göttliche Vorsehung glaube, denn es mußte etwas Herrliches sein, Euch den Kopf in den Schoß zu legen, und nu muß ich in meiner Bitternis sagen: Nein, Anna Donsbrügge, Ihr könnt nicht vor Eurem Herrn und Heiland bestehen.«

»Jüllecke ...! Jüllecke ...!«

Die Gutsherrin war wie entgeistert.

Ihre Kraft versagte.

Dann ein müdes Gehen und Rascheln.

Am Fenster stand sie, den Kopf im Nacken.

»Jüllecke, ich?!«

Es klang wie ein ferner Schrei, wie ein Ruf, fern über dem Walde fort.

Von dorther kam es in schmerzlichen Lauten.

Und dann eine Stimme: »Wartet ab bis Johanni.«

»Was soll's mit Johanni? Weihnachten brachte uns nur Tränen und leere Hände. Als die Osterfeuer brannten, war es noch schlimmer. Da ging auch der Zweite verloren. Was kann uns da Johanni noch bringen? Höchstens, daß unsereins mit dem Kopf gegen die Wand läuft. Nein, Anna Donsbrügge, ich habe den Glauben an mich, an Euch und die Meinen in den Schornstein geschrieben. Das kann nicht mehr werden. Was tot ist, das muß auf den Kirchhof. Wunder gibt es nicht mehr, und für bloße Worte habe ich niemals nicht die richtige Achtung besessen.«

Sie winkte ab.

»Nee,« sagte sie stumpf und dumpf vor sich hin, »was kann mir die Zukunft noch Köstliches bieten? Nichts mehr, reineweg nichts mehr.«

Eine große Resignation hatte sich ihrer bemächtigt.

»Nur solche, die den Urständ aller Dinge ermessen, dürfen noch hoffen. Das können wir nicht. Wer in den Katen, in Gennep oder in Hochporten wohnt, hat's schon lange aufgegeben, auf muntere Blumenrabatten zu kucken. Mit uns geht's so allmählich vom Sabbat in den gewöhnlichen Alltag hinein und vom Alltag ins Elend. Was sind wir noch? Bloß Fliegen auf vergiftetem Zucker. Kommoder schon, wir lassen den Schreinermeister Pollmann aus Huisberden rufen. Der Mann weiß besser Bescheid als alle Dökters und Apthekers zusammen genommen.«

»Nein, Jüllecke, nein!« kam es aus qualvollem Herzen. »Laßt das! Was macht Ihr aus mir? Gehört auch Ihr zu denen, die abtrünnig werden, die sich abkehren und mit Fingern auf mich weisen? Bin ich wie die, die an den Straßenecken stehen und mit offenen Augen einherirren? Was wollt Ihr? Betrachtet mich richtig. Steht mein Leib nicht im Licht von goldenen Garben? Hat meine Seele ihr Leuchten verloren? Ich trage meinen Jesum Christum in meinen Gedanken und Werken, genau so wie Ihr ihn tragt in Euren Gedanken und Werken. Ich bete wie Ihr, ich glaube wie Ihr. Alles, was Wert hat, soll man nicht mit unlauteren Gedanken berühren. Mein Lebensbuch steht zu jedermanns Einsicht. Schlagt es nur auf. Wendet Seite um Seite. Ihr werdet keine schmutzigen Stellen drin finden ... und doch seid Ihr gekommen, solche zu buchen und mich sündig zu sprechen.«

Jüllecke wehrte entsetzt ab.

»So nicht. Das ist niemals die Meinung.«

»Aber sie war es, denn sonst ... warum könnte ich sonst nicht vor meinem Herrn und Heiland bestehen?! Jegliches hier auf dem Hofe befindet sich an der ihm zugemessenen Stelle. Nur in den Sinnen der Gutsherrin ist alles verkehrt und verworren. Das meint Ihr und das meinen die Leute, die Euch in den Ohren gelegen. Fort mit allem, was die Menschen betreiben und reden. Mir ist alles ein Tun, was sie sagen und bringen. Nur meinem Gewissen, nur mir gegenüber bin ich Rechenschaft schuldig ... nur mir gegenüber ... und wer mir das zu verwehren gedenkt, über den gehe ich fort wie über dürre, raschelnde Kränze.«

Und Anna Donsbrügge wuchs. Sie wuchs wieder in ihren Stolz und in ihre Selbstbeherrschung hinein. Sie rang sich empor, wenn auch noch immer unter dem Zwange: hie Liebe, hie Scholle. Ihre Brust atmete freier. Sie dachte milder und gütiger, wenn sie auch fühlte: von deinem Herzen sickert Tropfen um Tropfen. Sie vergab allen denen, die gegen sie waren.

»Jüllecke,« sagte sie leise, »ein Leichtes ist es, Wunden zu schlagen, ein Schweres, sie wieder zu heilen. Vor den Menschen mag ich seltsam erscheinen, vor Gott ist das anders. Ich habe ihm nichts zu verhehlen. Aber Ihr wißt nicht, was ich durchlebte und noch immer durchlebe. Ihr dürft es nicht wissen. Diese bleiernen Tage, diese durchweinten Nächte! Diese Leidenskette, die ich hinter mir schleppe! Wer fühlt es ... wer sieht es ... wer hört es ...?! Könnte ich das Vergessen doch finden!«

Ihre Worte waren kaum noch zu hören.

Und dann wieder: ihre Nasenflügel öffneten sich über den zuckenden Lippen. Die alte Sehnsucht wurde aufs neue lebendig.

»Nein,« brach es aus ihr hervor, »ich will nicht vergessen. Ich will nicht Abschied nehmen von dem, was ich liebe!«

Sie faßte nach ihrem pochenden Herzen.

»Wenn ich nur könnte: hier, das hier möchte ich nehmen, zwischen meinen Händen Euch zeigen. Euch zurufen: Seht dieses Herz an! Seht, wie es leidet und duldet! und so wahr mir Gott helfe: alle drei sind mir das Höchste auf Erden. Besonders der eine ... der Jüngste ... Ich darf es nicht sagen. Ich wüßte auch nicht, wie ich es anfangen sollte. Wie sollte ich können?! Ich wäre nicht Weib mehr. Arnt ...! Arnt ...! und das ist die Not in mir, und das ist der Jammer in mir! Jüllecke, wartet doch ab. Es geht um das Letzte. Und was ich sage, das ist wie ein Schwur auf den Fingern. Wartet die Johannisnacht ab. Vielleicht ist dann alles behoben, vielleicht kann ich dann sagen: Mir ist wohl. Ich habe den Herrn gefunden.«

Und dann ein flüsterndes Bitten: »Jüllecke, helft mir!«

»Ach Gott!« seufzte die Ärmste, »ich bin wohl bei die falschen Propheten in die Schule gewesen! Nur Spiegelbilder! falsche und häßliche, und nu muß ich sehen ...« und das allbarmherzige Jüllecke trat näher heran, mit gebreiteten Armen, zögernd, bittend, mit wimmernden Ohrgehängen, die Augen voll Tränen, das gedemütigte und erlöste Herz voller Liebe und Güte ... immer näher und näher ... kaum fähig, sich aufrecht zu halten ... und da geschah es: Anna Donsbrügge, die stolze, die Herzogin unter den niederrheinischen Weibern, die hohe, im Schmuck der braunroten Flechtenkrone – engumschlungen stand sie mit Jüllecke Nakatenus, der ehrsamen Jungfer, die vor ihre heiligen drei Könige getreten war wie eine streitbare Heldin.

Nur noch ein Flüstern und Raunen.

Ein verhaltenes Schluchzen.

Jüllecke lächelte in ihr Weinen hinein.

»Johannisnacht,« sagte sie leise. »Ich warte. Möge es eine frohe Johannisnacht werden, eine Nacht voller Liebe, bis Euch Gott mit Kindern gesegnet,« und die Abendsonne legte sich über die beiden, über den Hof, über die Schildereien an den Winden, über das weite Land voller Schönheit und Reinheit.


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