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17

Das Leuchten und Scheinen hielt an.

Immer voller und freier loderten die Scheiter in das mit Sternen übersäte Himmelreich. Das weite Land stand unter Flammengeleucht. Die Feuer von Grieth, von Wissel und vom Emmericher Eiland warfen sich wechselseitig ihre züngelnden Kaskaden zu, ihre strahlenden Bündel, ihre zuckenden Garben, ihre Myriaden von Feuerfliegen und goldenen Bienen.

Taghell lichtete sich die Nacht. Nur ein dunkler Fleck in dieser Glorie, eine schwarze Masse voller Rätsel und Fragen, ein Hof unter Schatten, in dessen Obstgärten nur Früchte gedeihen konnten, die wie die des Toten Meeres schon bei der leisesten Berührung in Staub und Asche zerfallen ... und doch diese Freude ringsum, diese Rufe der Sehnsucht, diese Jubel nach Umarmung und Liebe, diese heiligen Stimmen, die von den Schwingen der Flackersäulen getragen, allüberall sangen: »Halleluja! Ostern, Ostern! Christ ist erstanden!«

Nur der Hof hatte keinen Anteil daran. Er schien in der Auferstehungsnacht schlafen zu wollen, den ewigen Schlaf, den Schlaf, der kein Erwachen mehr kennt, der traumlos ist, wunschlos, ohne Leid und Erregungen, der mit erbarmungsloser Sicherheit in das graue Reich der Lautlosigkeit und des Schweigens hineinführt. Nur die Sterbekerzen fehlten, die Nonnen mit weißen Flügelhauben, um diesem Schlaf in die stumme Ruhe zu leuchten, ihn in die stumme Ruhe zu beten.

Die Gärten verwaist, die Kammer verödet, die Fenster geblendet.

Selbst in den Ställen keine Rührigkeit, kein dumpfes Aufstampfen, nicht das leiseste Klingen der Halfterketten.

Nur einer wachte in dieser florigen Umwelt.

Er hatte aufs neue seine alte Stätte bezogen.

Hochaufgerichtet stand er unter dem alten Birnbaum neben der Scheune, die Blicke unentwegt auf den Eingang des Herrenhauses gerichtet.

Er bewegte sich nicht, er redete nicht.

Monoton streifte er die Pockholzkügelchen seines Rosenkranzes übereinander, ohne Aufhören, mit der andächtigen Gemessenheit eines Feueranbeters.

Und noch ein anderer wachte – ein Stiller, ein Einsamer; aber nicht auf dem verwunschenen Knollenkamp unter dem alten Birnbaum neben der Scheune, sondern auf der höchsten Kuppe des nahen Leedeiches, an dem der Rhein hart vorbeitrieb und die breitausgelegten Flanken benagte. Er hatte seine Runde gemacht, die Posten von der großen Schleusenanlage bis zum Hechelkreuz hin besichtigt. Hier war es, wo die Bespreutungen abgesackt waren. Jetzt nicht mehr. Den Schaden hatte die Nothilfe beseitigt und alles aufs beste gerichtet. Ordnungsmäßig zog der Strom wieder seine geruhsamen Bahnen, mächtig wie das arbeitsame Leben, überschüttet von den Garben der Holzstöße, die an seinen Ufern brannten, rot wie Blut – die klopfende Ader der gesättigten Niederung, die er nährend, mit nie versagender Lebenskraft durchflutete.

Auch hier über den Wassern die Ostervigilien, die freien Brände, das Halleluja und das ›Christ ist erstanden‹, auch hier der Wille zur Freude, zur Daseinsbejahung des allewigen Gottes.

O ihr gesegneten, fruchtbaren und heiligen Wasser!

Arnt sah über den Rhein hin, zu Häupten das blauschwarze Tuch des Himmels, übersät mit silbernen Splitterchen, und um sich das österliche Land seiner Jugend.

Er hatte seine Arbeit vollendet, seinen Werkeltag im Schweiß seines Angesichts mit Ehren beschlossen. Es erübrigte sich, noch weiter die Nacht zu durchwachen. Sie hatte ihm nichts mehr zu bieten. Die Trift schmeichelte ihm zu Füßen, schwaderte ohne Grollen und Murren vorüber, war friedlich und willig wie ein gefügiges Tier im Stirnjoch geworden. Um seinetwegen hatte er nichts mehr zu schaffen.

Aber er blieb noch.

Er vermochte es nicht, sich von der Stelle zu reißen.

Der Boden, auf dem er fußte, hielt ihn mit eisernen Klammern.

Er fühlte: auch von hier aus liegt der Knollenkamp in greifbarer Nähe, auch hier ist das Weib dir nahe, das du aus der Umarmung des weißen Todes gerettet, das dich umhalste, dessen Duft dich berauschte, dessen Pulse gegen die deinen hämmerten, um jetzt an der Brust des eigenen Bruders zu liegen, von seinen Lippen zu trinken, die Hoheit und Kraft des Mannes im Manne zu schmecken.

Seine Schläfen fieberten, sein Herz pochte bis zum Zerspringen.

Von ihr und ihrer Liebe hatte er nichts mehr zu hoffen. Du – achte die Gebote des Herrn! Du sollst nicht begehren ... nicht in Gedanken, nicht in Worten und Werken.

Er warf sich herum.

Seine Blicke krochen der eingebetteten dunkeln Masse auf gierigen Tatzen entgegen.

Sie umgriffen den Hof ... durchstießen die Mauer ... drangen in die verschwiegene Kammer ... und ringsumher standen die roten Fackeln gleich den Wächtern von Sion, schwertumgürtet, in blauem Eisen, mit ragenden Schilden. Myriaden von Funken sprühen von diesen Schilden, von diesen zuckenden Lanzenschneiden.

In seinen Taumelgedanken sieht er sie wachsen, zu Ungeheuern, zu Riesen. Sie marschieren zusammen, vereinigen sich, werden zu einer einzigen Lohe, die vorwärts eilt, die über Deiche und Rhein schlägt, die weder Anfang noch Ende findet, die aufsteigt und mit ihren glühenden Spitzen die Sterne umzüngelt.

Osterfeuer, nur Osterfeuer! und doch furchtbare Flammen, denn zwischen ihnen, wie von einem goldenen Rahmen gefaßt, das versiegelte Zimmer ... das Gemach nebenan mit den weißen Gardinen ... dem unsteten Flimmern des ewigen Lämpchens.

Er muß sich am Hechelkreuz halten, um nicht vor Weh und Leid in die Knie zu brechen.

Er sieht seinen Bruder ... er sieht das Weib, das über stille Herzen hinwegschreitet wie über Spreuicht ... zufrieden mit sich ... im Schmuck der braunroten Flechtenkrone ... kirchenstill in ihrer Gelassenheit und mit lächelnden Mundecken.

Sie ist wie eine, die ihre hohe Stunde erwartet, die sich ihr fügt, als wäre an dem einmal Beschlossenen nichts mehr zu ändern, so gefaßt ist sie, so ohne Bedrängnis, als wäre ihr geboten worden, lediglich auf ferne Geigenstriche zu hören oder mit den Quasten ihrer seidenen Gürtelschnur zu tändeln.

Er küßt ihre bleich gewordenen Lippen.

Sie nimmt alles hin wie einen Trunk köstlichen Weines. Sie kennt kein Zögern, kein störendes Hinhalten. Sie ist willenlos einer fremden Macht übergeben. Sie ähnelt einem reifen Kornfeld, mit dem der Wind spielt. Ohne daß ihre Sinne es wahrnehmen, läßt sie sich führen, wie das Kornfeld sich führen läßt, wenn es, von einer leichten Brise getragen, sich mit seinen Halmen und Grannen, seinen Spelzen und Blütensporen gegen den tiefen Horizont anwellt. Die Jahre der Bitternis, die hinter ihr liegen, vertauscht sie leichthin mit den wenigen Stunden, die süß sind wie Honig. So ist sie. Sie tut alles mit der Selbstverständlichkeit einer in sich gefesteten Frauenseele. Als wären die Sprüche und das Hohe Lied Salomonis ihr tägliches Brevier gewesen, so redet sie ohne Arg und Befangen.

Er hört es so deutlich, als wenn er neben ihr stünde.

»Ich schlafe, aber mein Herz wachet,« also beginnt sie. »Das ist die Stimme meines Freundes, der anklopft: Tue auf, meine Schwester, meine Geliebte, denn mein Haupt ist voll Taues und meine Locken voll Nachttropfen. Ich habe meinen Rock ausgezogen, wie soll ich ihn wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln? Und dennoch Geliebter ...«

Und sie nestelt ihr Haar auf, läßt es über die Schultern knistern, hinab zu den Hüften und bis zu den Kniekehlen hinunter.

»Ich bin ein verschlossener Garten, eine verriegelte Quelle, ein versiegelter Born. Aber nicht lange. Meine Stunde erfüllt sich. Ich darf und kann mich meines Geschickes nicht mehr erwehren. Alles hat seine Bestimmung: auch daß Brunnen ihre Freiheit gewinnen und Siegel erbrochen werden.«

Sie lächelt.

Eine wachsende Sehnsucht ist in ihr.

Ihr Mund öffnet sich, ihre Blicke erschließen sich langsam.

Aber sie wandelt sich nicht. Sie ist ohne Erregung, ohne Leidenschaft; sie spricht ohne diese: »Der Winter ist gegangen, der Regen fort und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen, und die Turteltauben lassen sich hören im Lande. Ich bin schön wie die Blumen und sanft wie die Tauben« –- und sie hebt damit an, sich ihr Gewand langsam von den weißen Schultern zu streifen – »denn siehe, mein Haar ist wie der Purpur des Königs in Falten gebunden und mein Mund wie Granaten ...«

Der Stoff gleitet tiefer.

»Und meine Brüste wie die Trauben am Weinstock ...« und ihre nackten Arme breiten sich in stummem Verlangen seinem Bruder entgegen.

»Klaas-Welm! Klaas-Welm!«

Also das war das Ende.

Er fühlte einen stechenden Schmerz in den Schläfen.

Die Welt kreiste um ihn.

Mit Rauschen und Brausen fiel die role Flut über ihn her.

Er dachte nicht mehr, er sah nicht mehr.

Nur Finsternis und singende Flammen, nur singende Flammen und Finsternis.

Mit einem dumpfen Laut griff er ins Leere.

Er wähnte, den Rhein brausen und die Frühlingserde stöhnen zu hören.

Als hätte ihn eine grimmige Axt zwischen Stirn und Schläfen getroffen, so schlug er zu Boden.

Wie lange er ruhte, wie lange Körper und Seele sich trennten – er wußte es nicht.

Als er erwachte, schlingerte der Rhein still seines Weges, lagen die Osterfeuer gleich mageren, ausgebrannten Fünkchen auf dem schwarzen Tuch, das die ganze Gegend bedeckte.

Wie immer standen die Lampen des Himmelreiches hoch in der Höhe; nur ihre Bilder wechselten gleich den bunten Stein- und Flittergebilden in einem blauen Mahlstrom.

Er erhob sich und machte den Versuch, heiter zu scheinen.

Der Versuch mißlang.

Die Lippen verzerrten sich, nahmen einen grausamen Zug an.

Er warf den Kopf in den Nacken.

»Klaas-Welm,« sagte er schartig, »fast wäre ich an dir zum Lumpen geworden, wenn auch nur in Gedanken. Verzeih' mir. Wende dich nicht ab. Verkenne mich nicht. Ich wurde irre an mir. Aber nur für eine Augenblicksspanne. Unser Wort steht in Ehren, höher als jemals. Ja, du – wir bleiben die alten, die Unzertrennlichen, die Gottsucher und Finder, und sollten wir darüber das Licht nicht mehr sehen und unser eigenes Herzblut verzehren. Hier meine Schwurhand.«

Er streckte die Finger gen Himmel.

Dann ging er.

Straffen Sinnes schritt er seinem nicht ferngelegenen Heim zu.

Er war still und gefaßt. Nichts bedrängte ihn mehr, und still und gefaßt verfolgte er die ihm von Kindheit an bekannten Wege und Stege. Sie waren ihm in der Nacht so vertraut wie am hellichten Tage. Er wanderte an dichten Weidenbeständen vorüber, an verschlafenen Woijen und Kolken. Er vernahm das Plaudern der Frühlingswasser, das Murksen des Geflügels, das sich träumerisch im überständigen Ried und in den erwachenden Seggengräsern bewegte. Hier hatte er als Junge geweilt, seine Garne und Sprenkeln gestellt, hier im Grase liegend die Schilfdrossel belauscht, wenn bei ihr die Liebe sich regte und ihr unermüdliches ›Kärre-kärre-kiek‹ den letzten Glanz des sterbenden Tages begrüßte.

Mit dunkeln Augen sah die Jugend ihn an, die selige Zeit, die Erinnerung aus längst dahingegangenen Tagen.

Hinter ihm versank das Weib, versanken die Träume, die sich mit dem Weib beschäftigten, zerfaserten die Worte von roten, geschweiften Lippen: »Ich bin schön wie die Blumen, sanft wie die Tauben des Waldes. Meine Brüste stehen hart gegeneinander wie Granatäpfel, wie die Schilde der Starken. Sie sind gleich den prallen Beeren am Weinstock, unwiderstehlich, unerläßlich, des höchsten Wunsches und des Lebens teilhaftig zu werden.«

Er wollte nichts mehr vom Weibe.

Es war für ihn abgetan.

Die weichen Arme hatten sich um einen anderen Nacken gelegt, um den seines Bruders.

Geheiligtes Land, geheiligte Erde. Er durfte dieses Land nicht entweihen.

Ein warmer, fruchtbarer Brodem entstieg dem rätselhaften Schoß der braunen Niederung.

Der starke Geruch tat ihm wohl.

Mit vollen Zügen sog er den Duft ein, trank er mit der ganzen Kraft eines Mannes, der wähnte, mit diesem Trunk das Genesen gefunden zu haben.

Nicht alle Flammen, die sich in Liebe verzehren, leuchten hell.

Die seine schwelte.

Da löschte er sie völlig aus, um sie nicht mehr zu sehen.

Damit glaubte er sich entsühnt, seinem Bruder und sich gegenüber.

Die letzten Bedenken waren von ihm genommen.

Ja, er war still und gefaßt, und still und gefaßt betrat er das Haus seiner Väter.

Auch hier die Stille der Osternacht.

Jüllecke war längst schlafen gegangen.

Er tastete sich vom Flur in die Diele. Überall Finsternis. Nur die Scheiben opalisierten, und wäre auf der offenen Feuerstelle nicht noch ein feines Glosen gewesen, er hätte keine Hand vor Augen gesehen.

Aus grauen Aschensäcken kam es von der Decke herunter.

Als er Licht geschlagen und die Lampe über der Anrichte in Brand gesetzt hatte, sah er unwillkürlich in den gegenüberhängenden Spiegel.

Er prallte zurück.

Narretei oder Wirklichkeit?!

Himmel! war da ein fremdes Antlitz, ein anderer Kopf in die blanke Scheibe gesprungen?

Er wischte sich über die Stirne, über den Schädel.

Nichts veränderte sich. Es blieb alles dasselbe.

Eisig fuhr es ihm über den Rücken.

Und er sah nochmals hinein, mit dem Zwang eines Irrsinnigen und mit heiserem Lachen.

»Auch das noch,« stammelte er mit blutleeren Lippen.

Mit Rauhreif, mit weißen Kristallen war es über seinen Scheitel gefallen.

»O du!« stöhnte er auf und wiederholte die Worte, die immer aufs neue seine Sinne erregten: »Du bist schön wie die Blumen, sanft wie die Tauben des Waldes. Deine Brüste stehen hart gegeneinander wie Granatäpfel, wie die Schilde der Starken. Sie sind prall wie die Beeren am Weinstock. Das ist vom Weibe gekommen.«

»Ja, du – vom Weibe.«

Ein Arm schob sich fest in den seinen.

Aus der düsteren Ecke neben der Feuerstelle war jemand an seine Seite getreten.

Arnt wandte sich und sah in ein weißes, entstelltes Gesicht.

»Klaas-Welm ...?!«

»Ich bin es. Wundert dich das? Ich sollte doch glauben, hier ist Freistatt für alle.«

»Freistatt für alle – gewiß. Aber wie soll ich das nehmen? Du wolltest doch ... und die Zeit kann nicht um sein.«

»Ist um,« sagte Klaas-Welm.

Seine Stimme erinnerte an den Ton einer geborstenen Glocke.

»Und bist schon lange zurück?«

»Seit einer Stunde. Es können auch zwei sein.«

»Unmöglich! dann warst du nicht drüben.«

»Ja, ich bin bei ihr gewesen.«

»Was?!«

Mit einem wuchtigen Griff hatte Arnt den Arm seines Bruders umklammert.

»Dann sage mir offen ...«

Der Kopf des Angeredeten sank langsam vornüber.

»Arnt,« versetzte er ruhig, »genau so wie Ewert. Besser schon, ich sähe den morgigen Tag nicht wieder. Ich habe keine gute Stunde gefunden.«

»Himmel und Herrgott! Mensch, ich ersticke. Will sie uns denn alle verderben?!«

Er reckte sich, als sähe er den Lauf einer Büchse auf sich gerichtet.

»Also keine gute Stunde gefunden?!«

Eine stumme Wut erschütterte den mächtigen Körper.

»Pfui Teufel noch mal! die betrügt einen Heiligen um seine eigene Seele.«

»Ruhe – du!«

Klaas-Welm stand wie aus Eisen gegossen.

»Wage es nicht. Schreie das Haus nicht zusammen. Hebe den Stein nicht.«

»Du – und wenn ich dir sage ...«

»Auch dann nicht. Ich will nicht, und was auch passierte: ich bin nicht wert und berufen, ihr die Riemen zu lösen. Ich wenigstens nicht, denn wenn ich sie in ihrer ganzen Herbe und Reinheit umfasse: ein Sakrileg wäre geschehen.«

»Bist du von Sinnen?!«

Arnt packte zu. Mit zwingender Gewalt drückte er seinen Bruder in den nächsten Sessel hinein, dicht bei der Feuerstelle, beugte sich über ihn und raunte ihm zu: »Du siehst nicht mehr richtig. Dein Verstand steckt gleich 'nem verfahrenen Karren im Sumpf drin, und mir liegt es ob, ihm in die Speichen zu greifen.«

»Du?«

»Ja, ich. Drum höre mich an – du.«

Seine Stimme zerbrach, wurde fahrig und unsicher, um dann wieder hart und knochentrocken zu werden.

»Brüderlein, bist du mal im großen Sitzungssaal des Schlosses in Kleve gewesen?«

Klaas-Welm winkte ab.

»Also nein. Aber ich. Noch vor wenigen Wochen, damals, als ich nach der Bestallung durch den Landrat den Eid als Deichhauptmann in die Hand des ersten Worthalters legte. Damals in Kleve. Im historischen Saal, der nach Melissengeist duftete. Rings vergilbte Ledertapeten. Stockige Möbel, aus denen der Wurmfraß sickerte. Aber alles selten und kostbar. Und da an den Wänden, zwischen Mannen in schwarzen Kacheln und Schauben, bei Frauen von rührender Anmut, inmitten von spanischen und niederländischen Fahnen und solchen, die noch aus der Zeit des Großen Kurfürsten stammten – da sah ich sie: das dunkelrothaarige Weib, mit dem nackten gierigen Fleisch und den milchblauen Augen. Ein Bild nur, ein Bild in verwaschenem Rahmen, aber ein Bild, das eine wilde und siedende Geschichte erzählte.«

»Was für ein Bild denn?«

»Brüderlein, höre. Sie war schön wie die Sünde, schwül wie die Sommernächte, wenn sie über unseren Altwassern stehen – dies Weibsbild, und als ihre Augen mich trafen, da sagte ich mir: die hat einen heißen Puls und noch heißere Sinne. Protestantisch geboren, katholisch erzogen, vom Weihrauch umnebelt, vom Duft der Wachskerzen betäubt, brannte sie auf wie eine unersättliche Flamme, stand der Schattenriß ihres Leibes allzeit unter dem feinmaschigen Linnen wie eine große Verheißung. Das lockte. Am liebsten horchte sie auf die Schreie der brünftigen Hirsche im nahen Reichswald, strählte sie ihr kupferfarbiges Haar und berauschte sich selber im Spiegel.«

»Mensch, wo willst du hinaus?«

»Brüderlein, höre. Ich schweife nicht ab. Es geht alles seinen regelrechten und gewöhnlichen Gang. Die Landstände bangten um sie, bangten um das Herzogtum Kleve, um Jülich und Berg, sorgten um des Reiches Ruhe und Wohlfahrt. Sie blieb auf der Hut. Geifernde Bracken bewachten ihre Tür und ließen nur den passieren, dem sie die Reverenzvisite verstattete. Aber es waren gar viele: Herren und Knechte, Edle und Unfreie. Selbst Burgpfaffen. Sie bot das Höchste, um so viel wie gar nichts zu geben. Warum das? Weil sie eine teuflische Lust daran hatte, des Mannes Sinne in eine purpurblaue Nacht, in Wahnwitz und Irrsinn zu treiben. O diese Männer! Die furchtbare Schöne trank ihnen die Seele aus und machte sie elend ... und horchte lachend dabei auf das Röhren der brünftigen Hirsche.«

Eine heisere Stimme.

»Arnt, bist du fertig?«

»Gleich, Brüderlein – gleich. Nur dies noch. So lebte sie. So peitschte sie Leiden und Lust auf, bis des Schreckens zu viel ward. Der Krug war übergelaufen. Die Unzufriedenen im Lande wünschten ihr den Hanfenen um den schneeweißen Hals. Gingen ihr nach, suchten sie in ihrer Buhlerei und Sünde zu fassen. Zu Düsseldorf im herzoglichen Schlosse geschah es. Nach einer toll durchfeierten Nacht lag das Weib erdrosselt zwischen den Kissen, während Pauken und Trompeten weiter hofierten. Das war ihr Ende.«

Im Gesichte Klaas-Welms ging eine rasche, grauenvolle Veränderung vor sich.

»Mensch,« stöhnte er auf, »von wem redest du eigentlich?«

»Ganz einfach. Von der Herzogin Jakobäa, Prinzessin von Baden, Herrin von Jülich, Kleve und Berg ... und genau so wie diese, wenn auch keine Herzogin und keine Herrin von Jülich, aber braunrot wie diese und genau so gewillt, des Mannes Sinne in Wahnwitz und Irrsinn zu geißeln ... die von da drüben ... die da in ihrer heillosen Marter und Gierde ...«

»Arnt, keinen Namen.«

»Und stünde ich am Rande des ewigen Nichts, ich sage dir trotzdem: sie trinkt uns das Blut aus.«

»Schweige. Kein Wort mehr.«

Klaas-Welm taumelte hoch.

Die beiden standen sich gegenüber wie zwei Männer unter zornigen Waffen.

Sehnen und Muskeln geharnischt, Stirn und Schläfen gepanzert, die Blicke aus blauem Stahl gehämmert, sahen sie herüber, hinüber, jeder mit des andern Gedanken beschäftigt.

»Arnt, ich weise dich ab. Das mit dem Bilde, das stimmt nicht, und würde es in diesem Augenblick lebendig ... und träte sie selbst aus dem Rahmen ... und wäre so schön, wie du sagtest ... und wäre so gierig auf Männer und doch so unbarmherzig und abwehrend ... und stünde jetzt vor uns ... diese Jakobäa von Jülich, von Kleve und Berg ... diese schweifende Hündin – nicht erdrosselt sollte sie werden, aber ein Beil in diesen zwei Fäusten: ihr Kopf müßte herunter ... und rot sollte sie liegen in ihrem eigenen Blute ...«

»Klaas-Welm, und die andre?«

»Rufe sie nicht mit dem nämlichen Atem.«

»Ausflüchte! Bleibe mir die Antwort nicht schuldig.«

»Gut denn, so wisse,« und Klaas-Welm verlor seinen Unmut, seine eherne Starrheit. Eine tiefe Traurigkeit schüttelte ihn. Er machte eine wehe Bewegung und sagte: »Gut denn, die andre. Käme sie in ihrer kirchenstillen Ruhe gegangen, so wie sie mir noch vor wenigen Stunden begegnete – auch jetzt noch: segnen würde ich sie, niederknien würde ich, um ihr die Füße zu küssen.«

Arnt stierte ihn an.

Wie eine grelle, metallische Musik klang es ihm zu.

Er verstand seinen Bruder nicht mehr.

»Wo du mit leeren Händen gekommen – auch da bist du willens ...?«

»Ja, auch da bin ich willens. Oh! sie hatte viel zu vergeben. Mehr als ich aufnehmen konnte und durfte, und trotz ihrer köstlichen Schätze: ohne sie zu entweihen, grausam gegen mich selbst, ein gänzlich Verarmter bin ich von ihr gegangen.«

Er wandte den Kopf und blickte in das spärliche Feuer. Der Augenblick erneuerte sich wieder, wo er das Schwerste seines Lebens durchkostet hatte. Er zählte die einzelnen Fünkchen, die sich spielend im Rauchfang verloren.

»Es ist furchtbar gewesen.«

Jedes Wort ähnelte einer harten Münze, die vom Prägstock taumelte.

Er fühlte eine leichte Berührung.

»Klaas-Welm, du willst damit sagen?«

»Nur dieses: ich glaubte, in ihren Armen zum König zu werden, und mußte einsehen: es war alles eitel und nichtig.«

»Also – sie hat dir nur Steine geboten?«

»Nicht Steine. Sie gab des Brotes in Hülle und Fülle, Kleinodien, wie nicht mehr zu finden. Aber glaubst du« – und seine Stimme flackerte auf – »ich hätte von diesem Brote gekostet, von ihren heiligen Schätzen auch nur das Geringste entwendet, wo ich gewahrte: es wird nicht mit Liebe gegeben, sondern einzig allein aus Pflichtbewußtsein, aus sittlicher Erwägung heraus? und deshalb: ich wollte kein Lump sein, kein Eindringling, und so bin ich wie Ewert gegangen.«

Ein kurzes Lachen.

»Also doch – wie Ewert gegangen. Erst dieser ... dann du ... und ich möchte jetzt wissen ... Nein, ich will es nicht wissen. Sie ist nicht besser als jene, nicht weniger gierig als das Weib im Schlosse zu Kleve, im historischen Saal an der Ledertapete, zwischen den stockigen Möbeln, aus denen der Wurmfraß sickert, inmitten von spanischen und niederländischen Fahnen und solchen, die noch aus der Zeit des großen Kurfürsten stammen ... und wie du schon sagtest: rot müßte sie liegen in ihrem eigenen Blute ... und die vom Knollenkamp ist just so entsetzlich wie Jakobäa von Baden, Herzogin von Jülich, Kleve und Berg.«

Klaas-Welm war kalkig geworden.

Die Faust hob sich mächtig, stand drohend zwischen Decke und Diele.

»Jetzt aber satt und genug ... und gälte es meinem eigenen Bruder: es könnte sich ein Unglück begeben.«

Der Arm sank herunter.

»Arnt, ich flehe dich an, und ich sage dir nochmals: Ich war nicht würdig, ihr die Riemen zu lösen. Eine Heilige ist sie.«

Ein häßliches Aufbegehren. Ein trockenes Hüsteln.

»Also – noch immer?«

»Ja, immer und allzeit! Das wirst du später erfahren, wenn du an die Reihe gekommen bist.«

»Ich?!«

»Ja – du! und hingehen wirst du, wenn die Stunde dich ruft.«

»Ich – niemals!«

»Du mußt.«

»Das wollen wir sehen.«

»Arnt, Arnt, zerstöre dein Glück nicht!«

»Mag es zertöppern ... und so wahr ich noch meine fünf Sinne behaupte ...«

Mit irren Blicken stierte er um sich. Das Geschick seiner Brüder lastete auf ihm, drückte ihn nieder, schnürte ihm die Kehle zusammen. Er wurde das Bild der Herzogin nicht los. Es trat aus dem Rahmen. Es inkarnierte sich. Es gewann Leben und Atem. Er fühlte den heißen, wonnigen Leib dieses herrischen Weibes. Und wie leicht gekleidet sie war! Kaum, daß ein Schleier sie einhüllte. Jakobäa und Anna Donsbrügge wechselten ineinander über. Wurden ein und dieselbe. Von weichen Armen glaubte er sich in die verschwiegene Kammer gezogen. Das ewige Lämpchen winkte herüber. Es knisterte, lockte ...

Apage, satana!

Er suchte die Wände ab, die Ecken der Diele, und wußte doch nicht, was er begehrte.

Da sah er.

Neben dem Spiegel hing ein beinernes Kreuzlein. Daneben steckte ein Bündlein geweihten Buchses.

Jüllecke hatte es am verflossenen Palmsonntag in der Wisseler Kirche einsegnen lassen ... durch Johannes van Holten ... mit weißen, priesterlichen Händen.

Das war es.

Buchs und Kruzifix entriß er der Wand und hielt es seinem Bruder entgegen.

»Was willst du damit?«

Klaas-Welm sah in ein entstelltes Gesicht.

»Hier auf Kreuzlein und Palm will ich bekunden, will ich dir dartun ...«

Der Entsetzte drückte ihm Hand und Kreuzlein herunter.

»Kein Sakrileg! aber ein Letztes für dich. Ich stehe als Warner. Gib dich nicht auf. Gib Anna nicht auf. Einer von uns ist berufen. Ewert und ich waren es nicht ... aber du! und hingehen wirst du.«

Arnt riß sich los.

Der Gekreuzigte stand hoch in der Luft.

»Dann wisse, aber höre genau zu. Teufelslisten und Teufelswerke werden hier mit Engelszungen angepriesen. Und weiter: der König starb, es lebe der König! So denkst du. Ich bin anderer Ansicht und lehne es ab, als dritter gekreuzigt zu werden. Drum laß dir gesagt sein: Ginge ich hin, aus freien Stücken heraus, so wie ihr beiden es tatet – Palm und Kruzifix sollen mir die Hand hier verdorren, sollen sie brandig machen, verekeln, verstümmeln ...«

Mit heiserem Lachen brach er an der Tafel zusammen.

Kreuz und Buchs fielen zu Boden.

Eine Stimme war bei ihm.

»Du – lache nicht so. Was man mit Lachen beginnt, wird man mit bitterem Weinen bereuen. Das Weib steht wider dich auf. Arnt, du wirst meiner gedenken. Meine Zeit ist um. Auch auf der Emmericher Helling. Ich habe Auftrag in Holland. In Gennep. Der Neubau kann nur an Ort und Stelle geschehen. Es ist nichts dran zu ändern. Ich bin nicht anmaßig, aber es macht mir doch Freude. Monate können darüber vergehen. Bis dahin – leb' wohl.«

»Also – auch du?« kam es schroff von der Tafel her.

»Arnt, lebe wohl.«

Harte Schritte gingen eiligst hinaus, verloren sich jenseits des erwachenden Gärtleins.

Als der Deichhauptmann aufschaute, dämmerte es in die Diele herein.

Eine Merle bäumte auf und sagte den Tag an.

Immer heller wurde der Ostermorgen, immer freier und lichter.

Im himmlischen Frühlicht lief es ihm siedendheiß über die Seele.

Was nun?

Sein Hirn brannte. Ein unsägliches Dürsten war in ihm. Er dürstete nach dem Weib und seiner Umarmung ... und jetzt wußte er erst, wie er die vom Knollenkamp liebte, aber auch haßte.

Er erhob sich und begab sich ins Freie. –

Über das weite niederrheinische Land riefen die Osterglocken.

Sie waren von Rom zurückgekehrt, von der heiligen Stadt, und jubelten jetzt, als sollten sich irdische und überirdische Stimmen verschwistern, um hunderfältige Freuden und Seligkeiten in die Herzen der Menschen zu tragen.

Unter diesem Geläut klingelten die Schneeglöckchen, erwachten die Veilchen unter den Bocksdornhecken, grünten die Stachelbeersträucher, stießen die Pfingstrosen mit ihren braungoldigen Kolben aus der warmen Gartenerde.

Und der Auferstandene schritt im weißen Kleide, mit roten Wundmalen über die Fluren und segnete alles: Fernen und Nähen, Himmel und Erde, Tote und Lebendige, Blumen und Gräser. Unsichtbare begleiteten ihn: seine Apostel und Jünger. Zu ihnen redete er, da er Zweifelsüchtige unter ihnen fand, und sagte: »Sehet meine Hände und Füße. Sehet das Mal auf der Seite. Ich bin wirklich und wahrhaft dem Grabe entstiegen. Drum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Und lehret sie halten, was ich euch befohlen habe. Denn wisset: ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.«

Die Glockenklänge sangen wie früher. Sie reihten sich wieder aneinander wie die Begebnisse des täglichen Lebens. Sie sangen den Morgen ein, sie riefen um die Mittagszeit, sie beteten in herkömmlicher Weise den ›Engel des Herrn‹.

So ging das Tage und Wochen.

Immer schöner wurde die Welt, sie flockte und grünte, sie ließ sich mit rosigem Schaum übergolden, mit köstlichem Duft überwölken. Sie schmückte sich wie eine junge Braut, die ihre seligste Stunde erwartet. Sie ähnelte einer üppigen Frau, die sich sehnsüchtig streckte, um das Empfangen vorzubereiten.

Es war preislich zu hören: alle Geschöpfe lobeten Gott.

Nur die Katen lagen in eisigem Schweigen.

Zwei von ihnen waren völlig verwaist, die Türen verriegelt, die Läden vorgelegt und abgeblendet. Kein Hund bellte im Hof, keine freundlichen Gewächse rankten sich in den sonst so mit Liebe gepflegten Gärtchen, keine Tauben rokuzeten auf den Dächern.

Es war so, als wäre eine mißratene Hand über die kleinen Gehöfte und ihre fruchtbaren Schollen gefahren.

Was kommen mußte, hatte sich schmerzlich erfüllet: von den heiligen drei Königen war nur einer daheim geblieben, und Jüllecke Nakatenus stand tagtäglich ums Abendläuten vor der Haustür ... und wartete ... und sah in die Ferne, ob die beiden anderen nicht kämen.

Aber sie kamen nicht und kamen nicht.

Nur fremde Menschen, die sie wenig interessierten, gingen vorüber.

Da klingelte sie weh mit ihren Ohrgehängen und legte ihre Hand über die Augen, denn die Tränen wollten ihr kommen.


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