Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16

Ungefähr um dieselbe Zeit knisterte ein schmales Feuerchen in der Schwaterskat. Eine noch empfindliche Frühlingskühle schob sich von draußen in die Kammern hinein, wenig dazu angetan, am Lenz und Liebe und den ersten Lerchenjubel glauben zu lassen.

Dafür sollte das Feuerchen sorgen.

Wenigstens sorgte es für ein gewisses äußeres Behagen, aber nicht dafür, bedrängten und versonnenen Menschenherzen das große Mysterium der Auferstehungsfreude warm und wohlig zu verkünden.

In der Schwaterskat fröstelten die Seelen.

Das Heimchen geigte zwar noch, aber nicht mehr so anheimelnd wie am Sankt Nikolaus-Abend. Jülleckes Kasserollen auf dem Umsturz des offenen Herdes hatten nichts von ihrer früheren Sauberkeit eingebüßt, wenn sie auch mit dem munteren Blinken und Glitzern von einst und ehedem nicht mehr aufwarten konnten. Es war nur noch ein Leuchten und Lächeln von Zinn- und Messingbeschlägen in einem Sargmagazin. Eine tiefe Lebensmüdigkeit beherrschte die Räume, das Vorgärtchen, selbst die Blüten, die sich am Aprikosenspalier erschließen wollten, hatte hier was zu sehen und dort was zu sehen und betastete alles und jedes mit hageren und abgestorbenen Fingern.

Schon mit dem Frühesten war Klaas-Welm von der Emmericher Helling gekommen, hatte seine Katstelle aufgesucht und war dann zu seinem Bruder gegangen.

Arnt war nicht da.

Klaas-Welm murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und versprach später wieder anzurufen.

Barhaupt, nicht wissend, wohin und woher, war er über die Felder gepilgert.

Schon geraume Zeit hindurch hatten sich die beiden Brüder nicht mehr gesehen, und wenn der Zufall sie zusammenbrachte, ließen sie Gottes Wasser über Gottes Acker laufen, vermieden es ängstlich, die kommenden Ereignisse mit einem Wort zu berühren. Eine impulsive Scheu hielt sie ab, das Tuch von der geheimnisvollen Zukunft zu heben, sich durch wechselseitige Fragen die Stunden und Tage noch ernster und dunkler zu machen. Wer hätte ihnen auch Antwort gegeben, wer ihnen das Licht gezeigt in der Finsternis?! und wenn es ihnen gezeigt worden wäre – wem würde es scheinen in der seligen-unseligen Osternacht und wem die Krone des ewigen Lebens verheißen? O Herr, diese Fragen! und niemand gab Antwort. Das Weib ist Killer, ist wie eine verzehrende Flamme. Es hat Honig auf der Zunge und Galle im Herzen, und doch liegt in ihm Blühen und Werden, Gesunden und Auferstehen, der ewige Bestand des Genusses. Es ist mit ihm wie ein Weilen in schattigen Lauben, auf fruchtbaren Ackern, und dennoch ein Schreiten durch glühende Sonne, durch endlose Steppen, in deren vertrockneten Gräsern der Tod lauert. Und trotzdem: das Weib ist allmächtig. Es kann binden und lösen, anziehen und abstoßen, töten und wieder auferwecken von den Toten. Eine unermeßliche Sehnsucht beherrschte sie. Sie beteten das Weib an, hatten sich dem Weibe verschrieben. Es war ein Zagen und Bangen in ihnen wie im heißen Sommerwald, wenn die Zweige ängstlich zu rauschen beginnen, es am tiefen Horizont zwinkert, schwerfällig heranzieht, um bald darauf mit seinem Donner und Blitzen zu spielen.

Aber dann galt es.

Die Zeit war gekommen, und die Stunde regierte.

Die Dämmerung sah bereits fahl durch die Scheiben.

Und Arnt war nicht da, war drüben im Vorland, schritt die Deiche ab, prüfte Pegel und Wetterglas und maß die Stärke des Windes. Er sah über den Strom hin. Schwerfällig schaukelte das aufgewühlte Wasser an den glitschigen Werften vorüber. Die Frühlingsschmelze drückte von oben. Die vom Mittelrhein meldeten noch immer emsiges Wachsen. Keine unmittelbare Gefahr stand bevor, aber Vorsicht war nötig. Er hatte seine Orders gegeben, für alle Fälle die Nothilfe aufbieten lassen. Die von Hönnepel, Grieth und die von Bylerward standen bereit, hielten die mehr oder weniger gefährdeten Stellen unter Wache, jeden Augenblick im Begriff, die Schanzkorb- und Faschinenkolonnen in Bewegung zu setzen. Die Gevollmächtigten kamen und gingen. Die Posten wechselten. Stumm rückte die Ablösung vor, um ihre Pflicht zu erfüllen. Gegen die vierte Nachmittagsstunde wurde von oberhalb Ruhe gemeldet. Das Wasser zeigte keinen steigenden Trieb mehr, wälzte sich besonnener zwischen den Ufern und hatte die Lust verloren, über die Kappen zu stieren.

Die Mannschaften atmeten auf.

Die jungen Burschen, die den Faschinenkolonnen zugeteilt waren, dachten wieder an die gerichteten Scheiter, an die verschwiegenen Freuden, die ihnen die Osternacht bringen sollte.

Wie eine große Verwunderung lag es über Strom und Erde.

»Krone und Leier im Rhein schwimmen nicht ab,« sagte der Deichhauptmann, gab den Gevollmächtigten noch einige Befehle und suchte die eigene Ruhe, versprach aber auf Posten zu sein, wenn wider Erwarten Not an den Mann käme.

»Mit Gott denn! die Gefahr ist vorüber.«

»Mit Gott denn, Herr Deichhauptmann, und eine geruhsame Osternacht.«

»Ich danke den Herren.«

Nachdenklich schritt er über das eingedunkelte Land fort.

Um's Abendläuten sprach Klaas-Welm wieder in der Schwaterskat vor.

Jüllecke trat ihm entgegen.

»Noch immer nicht da. Er hat eben barbarisch zu schaffen, ist seit gestern noch nicht aus den Kleidern gekommen. Für so was, sollte ich meinen, müßte ihm gesetzlich ein besonderes Präsent überantwortet werden. Immer auf Tour, immer mit ganzer Schwungkraft bei seinen Dämmen und Deichen. Die Grafschaft Kleve bis nach Geldern hin sollte ihn in Gold einfassen lassen. Er verdient es doppelt und dreifach, denn sein Leben ist eine einzige Arbeit, voller Gottwohlgefälligkeit und Menschentum. So was muß die Welt doch preislich finden, ihm von dessentwegen ihre Guttat erweisen, sonst bleibt alles Schaffen und Wirken bloß ein Kartenspiel ohne Äßter und Trümpfe.«

»Selbstverständlich. Aber er fehlt mir. Ich muß ihn unbedingt sprechen. Ohne ihn versackt die Geschichte, bin ich ein verlorenes Stück Treibholz.«

»Ich weiß das, Klaas-Welm, und er hat auch versprochen ...«

»Ja, aber wann? Das kann doch nicht ewig so gehen. Der Boden wird mir heiß unter den Füßen. Wenn ich bloß wüßte ...«

Unruhig durchmaß er das Zimmer, schritt zur Türe, dann wieder ans Fenster und machte schließlich Miene, das Haus zu verlassen.

»Nu bleib' man. Es wird alles schon werden. Jeder muß sich mit seiner Arbeit benehmen; auch er hat die seine.«

»Das fördert mich nicht. Auch ich habe die meine. Aufs Geratewohl denn: ich will ihn schon finden.«

Er wandte sich der Schwelle zu.

Jüllecke hielt ihn zurück.

»Nicht nötig. Er kommt schon.«

»Aber ob zeitig genug?«

»Natürlich, denn er hat mir selber gesagt: Klaas- Welm soll warten. Unter allen Umständen. Ich habe mit ihm 'ne wichtige Sache in petto. Die soll heute perfekt werden.«

»Muß sie, unter jeder Bedingung. Ohne sie ist kein behagliches Leben mehr möglich. Aber wo alles hinaus will ... da hilft kein Händeauflegen ... kein Segnen ... kein Fluchen ...«

»Man Ruhe.«

»Die hab' ich.«

Er warf sich auf einen Stuhl zunächst der Feuerstelle und zählte die Fliesen.

»Wollen man Licht machen,« sagte Jüllecke, um doch etwas zu sagen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, nahm einen Span, zündete an und besorgte die Lampe.

Als sie damit fertig geworden, sah sie ihn noch immer auf der nämlichen Stätte, verschlossen, grübelnd, ohne Interesse für die nächste Umgebung. Sein Geist schweifte ab, suchte ins Leere hinein, ohne einen greifbaren Gedanken auf die Beine zu stellen ... und was er soeben getan hatte, das tat er noch immer: er zählte die Fliesen.

Unwillig war sie an seine Seite getreten.

»Mensch, was gibt's da zu kucken? Alles hat seine Zeit: Strümpfe zu stopfen und frische auf die Nadeln zu nehmen, aber sich die Steine zu besehen, als wenn sie rechtschaffene Lujerdors wären, das ist wie aus 'nem Antilopenkasten genommen. Also was hast du?«

Er gab keine Antwort. Nur in seinen stahlgrauen Augen zog es herauf.

»Herr Jeses, was ihr Kerle nicht habt!«

Sie kniffelte ihre Schürze zusammen. Ihr Gesicht rötete sich, legte sich in ernsthafte Falten. Herausfordernd begannen ihre Ohrgehänge zu klimpern.

»Nein – du, das ist kaum noch zu tragen. Wie kommt ihr zwei beiden mir vor, und wie soll ich euer Benehmen mir gegenüber in die richtige Beurteilung nehmen? Was ihr mir antut, das ist so, als sprächt ihr mir über kurz oder lang die Sterbegebete. Ich habe daraufhin schon mit meinem Herrgott geredet, aber er hat mir leider noch keine Antwort gegeben. Alles zerscherbelt mir unter den Fingern: Sprüche und Arbeit. Früher befanden sich die Katen voller Licht und Sonnenglanz. Das ist jetzt anders geworden. Nur noch Schatten und schwere Gedanken. Das dreht mir die Luft ab, wo ich doch Anspruch darauf habe, meinen Lebensabend in Genüglichkeit und mit frohem Gesicht zu beschließen.«

»Aber Jüllecke ...!«

»Klaas-Welm, keine Abers! Ich habe satt und genug schon am Halse. Das geht schon so Wochen hindurch, schon so Wochen und Monate. Ich bin reich durch euch geworden, um jetzt um so ärmer zu werden. Was denkt ihr euch denn? Musmaßlich geht das immer so weiter. Indessen – ich halt's nicht mehr aus. Es wird düster um mich, es will Nacht um mich werden. Ich möcht' 'ne Kammer haben, 'nen Sarg, wo man wenigstens seine Ruhe drin findet.«

»Jüllecke, laßt mich. Ich kann's nicht mehr hören.«

»Das glaub' ich. Das ist schon immer so gewesen. Ewert ist fort, ist über die Höhe, und ob er jemals retour macht, das kann Gott nur ermessen. Hochporten ist eben Hochporten, und was die Eifel mal hat, das hält sie für immer. Auch Arnt ist nicht wieder zu kennen, und Jan-Ohme hat ein Haar in der Suppe gefunden. Er hat sich gemausert. Sonst war er alle Tage zu haben. Da hieß es: Achtung, Jan-Ohme kommt! Jetzt aber kann er die Kat nicht mehr finden. Überhaupt nicht mehr finden, und wenn Jan-Ohme ausbleibt, dann ist das gerade so, als wäre das Matthäi am letzten. Dann kann der Herr Dechant getrost mit die Wegzehrung kommen und sich mit die heilige Ölung benehmen. Und nu sitzt du selber noch da wie Reue und Bußfertigkeit.«

Sie schlug die Hände zusammen.

»Christus! wenn ich so alles taxiere ...«

»Jüllecke!«

Er fuhr steil in die Höhe.

»Was willst du damit? Bedenke: wir sind nicht mehr Herren über unser Lassen und Wollen. Was wir zu tragen haben, ist ein schweres Geschick. Macht es nicht schwerer. Hier sitzt das und würgt das. Zurzeit kann ich mir selber nicht helfen. Wartet doch ab. Auch ich habe zu warten, und wenn nicht alles verquer geht ...«

»Zum Kuckuck mit's ewige Warten! Da wird einem ja das ›Gegrüßt seist du, Maria‹ lang zwischen den Zähnen. Hier wird nicht Drehorgel gespielt. Seid Männer und denkt dran: Ich will die Lauen ausspeien aus meinem Munde. Christus, diese geduldsamen Menschen!«

»Nicht weiter. Kein Wort mehr. Die Osternacht sieht uns. Entweder ich gehe durch Licht oder durch Finsternis. Im letzteren Falle ist Arnt an die Reihe gekommen. Gut, dann klimpert die Medaille eben auf die andere Seite.«

Mit einem Ruck brach er ab.

»Was heißt das?« fragte sie, als hätte sie einen Übersinnigen vor sich.

»Überlasse das uns – meinem Bruder und mir.«

»Und mir nicht, wo ich doch immer gesagt hab': Meine drei über alles!«

»Nein,« versetzte er schroff.

»Jesses! wo ihr alle doch immerzu meintet: Jüllecke, du wirst von uns auf Händen getragen?! Das soll nu mit einem Male nicht wahr sein, wie Spülichtabfall im Rinnstein verlaufen?! Das ist ja, um an Gottes allewiger Güte zu zweifeln. Aber ich weiß schon, ich weiß schon. Ihr habt mich über und wollt euch anderweitig befassen.«

Ihr erregter Busen war eine einzige Dünung.

Die Augen voll Wasser, trat sie ihm hart gegenüber.

»Hand aufs Herz und auf Ehre und Seligkeit: Klaas-Welm, ich soll ausgeklinkt werden?«

»Jüllecke, wie kommt Ihr darauf?«

Sie winkte ab. Ihre Bewegung war die einer würdigen und gemessenen Lichtjungfer, die ihr eigenes Totenhemd genäht hatte und jetzt dabei war, es sorgfältig auszuplätten und für alle Fälle in die Kirschholzkommode zu legen.

»Keine Worte, Klaas-Welm,« sagte sie mit einer Ruhe, die alles hinter sich ließ, was an die Freuden des irdischen Daseins erinnerte. »Still, wenn ich bitten darf. Es würde ja musmaßlich doch nichts mehr nützen. Ich hab' mir meine eigene Meinung gebildet und sage dir nochmals, ich soll ausgeklinkt werden. Allerdings: Gründe mankieren, aber alles in dieser Leidensgeschichte besitzt seinen unabweislichen und selbstverfertigten Ursprung. Jede Schuld trägt bereits ihr Richtschwert im Hosensack. Das weiß ich; ich weiß aber nicht, gegen wen ich es anwenden könnte, wenigstens jetzt nicht, obgleich ich das so in meinen Gefühlen besitze. Früher hab' ich gemeint, das Heil kommt vom Knollenkamp her, weil ich mir dachte, für euch wird dort der richtige Faden gesponnen ... indessen, nu muß ich sagen ...«

Ihre Ruhe verließ sie.

»Mensch, das kann nie und niemals ein gutes Ende nicht nehmen. Ein Herz-Jesu-Süppchen schmeckt besser. Das Elend kuckt durch die Fenster und dreht einem den Kopf in den Nacken. Und morgen ist Ostertag. Da steigt der Herr aus dem Grabe ... mit seinen heiligen Wundmalen. Aber die euern sind schlimmer. Ihr könnt nicht ... ihr liegt, wo ihr liegt, und habt die Sonne verloren ...«

Da war's alle mit Jüllecke.

»Herr Jeses! wenn ich euch drei so besehe: früher drei veritable Könige, die in der ganzen Gegend ihre mächtige Honorierung besaßen, und heutigen Tages: nur Trauermusik, keine Lebenstrompeten ...«

Sie warf sich die Schürze über den Kopf, wankte hinaus und ging ihrem Kämmerlein zu, als wäre ihr von Gott und aller Welt das tiefste und gebrannteste Herzeleid angetan worden.

»Nee, nee, nee,« hörte Klaas-Welm sie noch auf der Treppe jammern, »das tut seinen Krebsgang, das schwimmt kieloberst, das hat sich bereits sein Totenhemd über die Ohren gezogen. Heilige Jungfrau Maria, Mutter der Gnaden und Barmherzigkeiten!«

Droben wurde eine Türe geöffnet und wieder geschlossen.

In dem aufdringlichen Seufzen der Angeln tropften die Worte in ein kaum wahrnehmbares Raunen zusammen.

Der Einsame warf sich im Sessel zurück und machte wiederum Anstalten, die sauber ineinander gefügten Bodenplatten zu zählen.

Es gelang ihm nicht mehr. Seine Gedanken taten nicht mit. Sie waren anderweitig beschäftigt. Durch eine unwirtliche Gegend zogen sie hin, wo dunkle Schemen über ein dunkles Moor torkelten, sich schweigend begrüßten und zusahen, wie sich ihre grauen Gesichter in dem schwarzen Wasser der aufgeworfenen Torfgruben widerspiegelten ... und er hatte nicht acht, wie einer in den sanften Schein der Lampe trat, den Südwester über das Pflockholz stülpte und sich der Feuerstelle näherte.

Erst die Hand, die sich ihm schwer auf die Schulter legte, ließ ihn auffahren.

Er sah in das Gesicht seines Bruders.

»Die Stunde ist da,« sagte dieser.

»Ist da, aber ich warte schon lange.«

»Nichts für ungut, Klaas-Welm. Pflicht und Wasser sind stärker als der eisernste Wille. Das muß anerkannt werden. Ich wäre sonst früher gekommen.«

»Das weiß ich ... und wie steht es da draußen? Noch immer Gefahr?«

»So gut wie behoben. Die Strömung flaut ab, und wenn das Wetter so anhält, sind Rückschläge kaum zu erwarten. Nur in der Höhe des Hechelkreuzes sackten Deichgeschirr und Bespreutungen tiefer. Hat nichts weiter zu sagen. Es läßt sich schon halten,« und er legte seine Hand bedeutungsvoll in die seines Bruders: »Also Klaas-Welm ...«

Der verstand ihn.

»Ich bin im Bilde, mein Junge. Jüllecke stört uns nicht weiter, und wenn es dir recht ist ...«

»Gut, fangen wir an. Es ist ja doch nichts zu ändern. Auch jetzt, so schwer es auch wird: das Los muß entscheiden.«

Arnt zog langsam die Luft ein.

»Ist alles besorgt?«

»So wie du vorschlugst.«

»Dann bitte.«

»Hier dieses,« sagte Klaas-Welm, »ich hab's in Sankt Aldegondis durch Weihwasser gezogen ... um des Segens willen ... ein frisches Spiel ... und ist noch nicht durch fremde Hände gegangen. Seltsam, aber es war nicht anders zu machen. Für uns sind die Karten jetzt Heiligenbilder. Verstehst du?«

»Ja, ich verstehe.«

Der Deichhauptmann war um eine Tönung bleicher geworden.

»Gut denn, so mische ... zähle ab ... und wer die Kör-Dame erhält ...«

Hoch und breit stand sein Bruder vor ihm.

»Arnt, ich möchte nicht gerne. Nimm mir das Amt ab. Du bist der Jüngste. Es kommt aus geschickteren und freieren Händen. Was aber auch immer passiert« – und er stockte wie einer, der mit seinem Herrgott zu reden hatte, um ihm auf dem schweren Gang durch Not und Gefahr seinen Geist zu empfehlen – »du, wir bleiben die alten, die Unzertrennlichen, die Sucher und Finder und sollten wir darüber das Licht nicht mehr sehen und unser eigenes Herzblut verzehren. Was wir geloben, ist heilig. Einer von uns ist berufen ... und wem es zufällt: der andere hat sich zu fügen. Das ist oberste Satzung.«

»Warum sagst du das mir?«

»Arnt, es ist wie im Angesichte des Todes.«

»Und über den Tod hinaus.«

Sie traten an den Tisch, in den warmen Schein der Lampe, Arnt diesseits und Klaas-Welm jenseits der Tafel.

»Da nimm sie.«

Arnt nahm und mischte die Karten, ließ abheben und legte die Blätter ... eins um das andere ... und zählte, während seine Stimme durch Schmerzen pilgerte und eine große Müdigkeit seine Hand überwältigte: »Treff-Sieben, Kör-Aß, Schüppen-Bauer, Rutten-Acht ... Kör-Dame ...«

Er war noch fahler und grauer als vorhin geworden.

»Kör-Dame,« sagte er nochmals.

So hart es auch klang: das Wort blutete.

Die beiden sahen sich starr in die Augen.

Sie schwiegen; aber Arnt reckte sich auf, als habe er Zentnergewichte zu tragen.

Dann trat er an die Seite des Bruders.

»Also du. Glück auf den Weg, es kam an den Rechten.«

Klaas-Welm versuchte zu lächeln, ohne das Lächeln zu finden.

»Arnt, Arnt!« brach es aus ihm heraus, »das kann unsere brüderliche Liebe zerreißen.«

»Du – vergißt du so schnell ... deine eigenen Worte ... und hast doch wie der heilige Paulus gesprochen? Also, was zweifelst du noch? Weshalb noch Bedenken?«

»Arnt, ich kann es nicht fassen.«

Er packte die Hand seines Bruders.

»Du, ich bitte darum: das Los soll noch einmal entscheiden.«

»Unter keiner Bedingung. Ich will deine Worte nicht wägen, sonst macht mein Herz ein paar rasende Schläge. Keine Ausflüchte – du, oder sind wir Kinder, die um Nußkerne würfeln? Den Ruf des Geschickes weist man nicht von sich. Werde froh deines Lebens und froh deines Weibes. So ist dir und uns allen geholfen. Über das weitere sorge dich nicht. Ich weiß, was du sagtest. Es war an uns beide gerichtet. Wir bleiben die alten und sollten wir darüber unser eigenes Herzblut verzehren.«

Seine Stirn brannte.

Er begab sich ans Fenster und sah in den Abend hinaus.

So stand er lange.

Da fühlte er: ein starker Arm legte sich ihm sacht um die Schultern.

Er wehrte ihn ab.

Er glaubte ein Schluchzen zu hören.

»Tränen, Klaas-Welm? Die Emmericher Helling würde allen Respekt verlieren, wenn sie es sähe. Denke an die alte Geschichte: Landgraf, hart sollst du werden ... auch mir gegenüber ... auch dir gegenüber ... und wenn du hinausgehst: ich begleite dich ein Stück deines Weges. Bis zum Fluchthügel. Von dort mache ich weiter. Möglich – ich habe dem Wasser noch in die Parade zu fahren, möglich auch nicht. Aber besser ist besser. Also bis später.«

Als Klaas-Welm aufschaute, war er allein auf der Diele.

Nichts regte sich um ihn.

Nur über sich vernahm er Jülleckes Stimme, ganz leise, gedämpft, in der monotonen Art von Einheimischen, die auf der Fahrt nach Kevelaer den Rosenkranz beteten ... und neben ihm, hinter der Feuerstelle, begann es zu pickern und heimlich zu schirpen.

Liebeseelchen!

Wie aus einer andern Welt geigte das Heimchen herüber.

Draußen aber zog der Abend seine silbernen Kreise, seine blanken Girlanden, seine leuchtenden Perlenschnüre.

So mutete auch die Kapelle des heiligen Grabes an, von wannen er aufstand, Christus, der Dulder, der mit Geißeln Gequälte, der mit Dornen Gekrönte, Christus der Herr, der ans Kreuz Geheftete, hoch auf Golgatha, im Angesichte Jeruschalajims und des Berges des Ärgernisses, um aufzufahren in das Reich seines Vaters.

Mit zahllosen Ampeln geisterte es aus der Höhe herunter: winzige, lichtschwache Pünktchen, dann größere, geschliffene Edelsteine, die wie kleine Sonnen erschienen. Sie redeten in der Sprache des Evangelisten und sagten: »Und über ein Kleines – da: am Abend des Sabbats kamen Maria Magdalena und Maria Jakobi, das Grab zu besehen. Und siehe: es geschahe ein großes Erdbeben; denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein von der Tür und sagte: Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er vermeldet. Kommet her und sehet die Stätte!«

Ja, über ein Kleines! aber noch war die Stunde der Auferstehung nicht da. Sie mußte erst kommen. Allein der warme Duft der erwachenden Erde spendete bereits seinen Weihrauch. Die Winde des Abends säuselten Psalmen. O diese Nacht der Opfer und Verheißungen! Die goldenen Bilder am Himmelreich wandelten stetig umher, kreisten, zogen herauf oder versanken tief am Horizont. Dazwischen irrten vereinzelte Pünktchen, blitzten noch einmal auf, um dann spurlos zu schwinden.

Die neunte Abendstunde war längst vorüber.

Schon geraume Zeit harrte Klaas-Welm unter den Kappweiden des Fluchthügels, der, keine drei Büchsenschußweiten vom Knollenkamp entfernt, die ganze Umgebung beherrschte.

Arnt, der ihm bis zu dieser Stätte Geleitschaft gegeben, war schon rheinwärts gegangen, auf das große Schleusenwerk zu, von wo, wie er sagte, er die aufgestellten Wachen und Posten bis zum Hechelkreuz hin aufzurollen gedachte.

»Mensch, werde glücklich!«

Mit diesen Worten hatte er sich verabschiedet.

Sie waren mehr gedacht als gesprochen; aber ihm wollte die Brust auseinander, als er sie stammelte ... zerhackt, wie von einer Folter herunter und doch durchdrungen von herzgewinnender Treue und brüderlicher Liebe.

»Mensch, werde glücklich!«

Dann ging er.

Noch lange hörte man seine eiligen Schritte ... und wiederum begannen die winzigen, lichtschwachen Pünktchen zu reden, die geschliffenen Edelsteine, die wie kleine Sonnen erschienen: »Fürchtet euch nicht; ich weiß, daß ihr Jesum, den Gekreuzigten, suchet. Er wird unter euch sein, sobald es zu tagen beginnet.«

O dieses Gelöbnis!

Und doch keine Stimmen zu hören.

Nur die alten Pappeln, die den Knollenkamp umstanden, sprachen aus der Ferne herüber, wie Werdarufer im Gliede, um sich gegenseitig wach zu erhalten.

Hinter ihnen lag der Hof breit und mächtig am Boden, düster verhangen, mit einem Bahrtuch umkleidet. Er mußte tot und leer sein, von Menschen verlassen, ohne freundlichen Lampenschimmer, denn in seiner nächsten Umgebung regte sich nichts, stand kein Fenster in freundlicher Helle. Nur graue Wesen umlagerten ihn, hüllten ihn ein und zogen ihren schauerlichen Reigen um seine verschwiegenen Wände und Giebeldächer.

Klaas-Welm ließ kein Auge von der dunkeln Masse. Eine geheimnisvolle Kraft, wie die eines Magneten, büschelte von ihr aus, hieß ihn harren und warten, drückte ihn in Ängste und Zweifel hinein und gebot ihm, verworrenen Blicks in die Zukunft zu schauen. Aber er sah nur eine weiße Gardine, nur Schattenbilder, die sich auf dieser Gardine bewegten. Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er dachte an Ewert, an Arnt, an sich selber ... er gedachte der kommenden Stunde ... und er gedachte des Weibes, dessen Brüste sich gleich silbernen Buckeln erhoben, dessen Gang an den einer Fürstin erinnerte, wie er es gesehen hatte auf einem alten Bilde im Schlosse von Moyland. Er dachte daran mit der heißen Glut eines aufrechten Mannes, stolz auf sich selbst, auf sein Werken und Wirken, das er hinter sich hatte, und doch mit der Scheu eines Zweifelsüchtigen, nicht wert und berufen, von der Schönheit des Weibes zu kosten, sich seiner Huld zu erfreuen ... und war doch einer von den Stillen im Lande, einer von den Großen und Starken ...

Er sah einen Vogel vorbeistreichen, hoch in der Luft, mit breiten Fittichen und langsamen Fluges.

Am liebsten wäre er mit ihm in das ferne Reich des Vergessens gerudert.

O diese Zweifel!

Immer vielgestaltiger bewegten sich die Zeichen zwischen Himmel und Erde ... und zwischen Himmel und Erde wähnte er ein Weib wandeln zu sehen – das Weib seiner Träume: weißgekleidet, die Haare gelöst, einen Kranz von sieben Sternen um Schläfen und Stirne.

Er hob die Arme.

Matt sanken sie ihm am Leibe herunter.

Er rief einen Namen.

Er wurde von der Stille aufgenommen, als hätte er nie diesen Namen gerufen.

Ein weicher Ton ging über Wiesen und Woijen ... ein zweiter ... ein dritter ... noch verschiedene folgten.

Kein Glockengeläut. Es waren die Uhren aus den umliegenden Dörfern, die von Grieth und Wissel, die von jenseits des Rheines.

Zehn einzelne Schläge.

Da sah er: das erste Feuer flackerte auf. Es war das Feuer, das die Knechte und Mägde vom Baumannshof angefacht hatten: Jan-Ohmes Feuer ... ein zweites, ein drittes: die Feuer vom Emmericher Eiland. Auch hinter ihm fieberte es rot in den Himmel, eine glühende Zunge, die sich senkrecht emporstellte: es mußte bei Huisberden brennen ... und weiter zur Linken: die Basilika von Wissel stand in strahlender Lohe. Feuer, ringsumher Feuer, Scheiter, zu Ehren der Auferstehung entzündet, Feuer in geweihter Osternacht! und alle umzuckten den gespenstischen Hof, der schwarz in der Niederung ruhte: flammende Cherubim, die nebeneinandergereiht, die ernste Bundeslade bewachten ... Cherubim im weiten Bering, in nächster Nähe, Cherubim auf den Fluchthügeln, vor stillen Gehöften, Cherubim auf Dämmen und Deichen, schwertumgürtet, in goldenen Harnischen ... Halleluja! Engel des Herrn, Bezwinger der Nacht und der Finsternis.

Und dazwischen der Knollenkamp, ernst wie der Tod, stumm wie die Sendboten des Verhängnisses, leblos wie ein ausgeblasenes Auge.

Und immer noch nicht! immer noch nicht!

Aber da endlich!

Im Giebel zwinkerte es auf. Erst zögernd, dann freier, dann in treibender Helle.

Mit reißender Flucht stieß es ins Vorland.

Das Licht! das Licht!

Klaas-Welm, deine Stunde! – und jetzt Herr über sich selber, mit dem Willen und Wollen eines Drängers und Stürmers, berufen, des Weibes Lust und Liebe am Herzen des Weibes zu finden, schritt er dem Licht zu. Klaas-Welm, deine Stunde! – und er schritt sieghaft dahin, über Äcker und Triften, über Furchen und Rinnsale, durch die Einfahrt hindurch, an der langen Gartenmauer vorüber, hinein in die weißen Arme des Unerforschlichen ... und sah nicht: neben der großen Scheune erhob sich eine hohe Gestalt ... und schwieg ... und folgte ihm mit langsamen und traurigen Augen.

Und das Licht erlosch.

Über den engeren Hof ging wieder der Hauch des Finsteren, des Insichgekehrten, des Öden. Nur die Cherubim leuchteten weithin durch die einsame Gegend, Engel des Herrn, Verkünder der Osterfreude.

»Also doch,« sagte der Alte und legte die Hände zusammen: »Herr, laß' sie nicht schuldig werden. Sei mit ihr und hüte sie, auf daß sie rein bleibe wie die Munstranz in die Kirche. Wehe dem, der durch Sünde hindurchgeht. Nur keine Sünde, nur keine Sünde! Herr, sei ihrer armen Seele barmherzig!«

In der schmalen Gasse, die zum Schafstall führte, zerrieselte sein Schatten.


 << zurück weiter >>